In einer Nacht, woanders - Katerina Poladjan - E-Book

In einer Nacht, woanders E-Book

Katerina Poladjan

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Beschreibung

Mascha ist Mitte dreißig, Lehrerin und in einer unglücklichen Beziehung zu Mira. Ein Anruf aus Bykovo, dem Ort ihrer Kindheit, reißt sie aus ihrem Alltag. Sie soll das Haus ihrer verstorbenen Großmutter ausräumen und verkaufen. Dort lebt immer noch der geheimnisvolle Pjotr. Die Begegnung bringt ein Karussell der Erinnerung in Gang: Welche Geheimnisse verbarg die Großmutter, die eine Raumfahrtingenieurin in sowjetischen Diensten war? Wovon war die Mutter getrieben, die mit der Wirklichkeit nie zurechtkam, ein wildes Kind war und mit siebzehn Jahren schwanger wurde? Welche Rolle spielte Pjotr, den die Mutter aus Eifersucht auf die Großmutter verführte? »In einer Nacht, woanders«, der Debütroman von Katerina Poladjan, ist ein dichtes Gewebe von Realität, Traumsequenzen, Splittern der Vergangenheit – ein surreales Eintauchen in die Untiefen einer Kindheit.

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Seitenzahl: 202

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Katerina Poladjan

In einer Nacht, woanders

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Mascha ist Mitte dreißig, Lehrerin und in einer unglücklichen Beziehung zu Mira. Ein Anruf aus Bykovo, dem Ort ihrer Kindheit, reißt sie aus ihrem Alltag. Sie soll das Haus ihrer verstorbenen Großmutter ausräumen und verkaufen. Dort lebt immer noch der geheimnisvolle Pjotr. Die Begegnung bringt ein Karussell der Erinnerung in Gang: Welche Geheimnisse verbarg die Großmutter, die eine Raumfahrtingenieurin in sowjetischen Diensten war? Wovon war die Mutter getrieben, die mit der Wirklichkeit nie zurechtkam, ein wildes Kind war und mit siebzehn Jahren schwanger wurde? Welche Rolle spielte Pjotr, den die Mutter aus Eifersucht auf die Großmutter verführte? »In einer Nacht, woanders«, der Debütroman von Katerina Poladjan, ist ein dichtes Gewebe von Realität, Traumsequenzen, Splittern der Vergangenheit – ein surreales Eintauchen in die Untiefen einer Kindheit.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Katerina Poladjan schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt »In einer Nacht, woanders« folgte »Vielleicht Marseille« und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht »Hinter Sibirien«. 2019 erschien ihr Roman »Hier sind Löwen«. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. Mit »Zukunftsmusik« stand Katerina Poladjan auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 und wurde mit dem Rheingau Literatur Preis 2022 ausgezeichnet.

Inhalt

[Widmung]

[Hauptteil]

[Danksagung]

Für Nastja und Viktor

Der Flug hat drei Stunden Verspätung, und ich rechne nicht mehr damit, noch zu fliegen. Ich solle kommen, schnell kommen. Sonst würde das Haus verkauft, stand in dem Brief, und das könne ja nicht sein, es sei doch meine Kindheit. Was wissen die über meine Kindheit, habe ich gedacht und nicht geantwortet. Es ist ein Haus. Es ist Holz, Stein und Glas. Weiter nichts, habe ich gedacht. Es ist der Garten mit den albernen Birken und ein Teich, in dem eines meiner Kaninchen ertrunken ist. Dann, einige Tage nach dem Brief, der Anruf von Pjotr. Pjotr, der mit dem Hängeauge. Kommst du? Ich hörte, wie seine Stimme zitterte, und sagte ja.

Das Haus ausräumen. Ich soll das Haus ausräumen und verkaufen, denke ich. Wie soll das gehen? Ich habe keine Ahnung, wie man ein Haus verkauft. Ich lebe in einer kleinen Wohnung. Ich zahle jeden Monat meine Miete und habe sonst keine Verpflichtungen. Jetzt soll ich ein Haus ausräumen, in dem zwei Familien Platz hätten, wenn sie zusammenrücken würden. Das Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Mit der Veranda, auf der mein rotes Pferd stand, in der Ecke neben der Holzbank. Ich soll auf den Dachboden gehen, wo ich das letzte Mal mit neun oder zehn Jahren gewesen bin. Dorthin, wo der kleine grüne Mann wohnt. Unter der Dachluke hatte ich ihm ein Bett gemacht aus Watte und Blättern. Mit ihm habe ich die wichtigsten Dinge besprochen. Ich saß auf den Dielen, es roch nach verbranntem Holz, und ich malte mir aus, wie ich im Alter an einem Ort mit heißen Quellen leben würde. Ich dachte, du hättest mich vergessen, sagte er jedes Mal beleidigt, wenn ich einige Tage nicht oben war. Er war sehr klein, sein Kopf passte in eine Walnuss. Er sei ein gebrochener Mann, sagte er. Ich habe ihn getröstet und ihm versichert, dass ich es sei, die viel zu groß geraten ist. Dafür verlangte er einen Beweis. An deinem Geburtstag, versprach ich ihm. Zum Glück konnte er sich nicht erinnern, wann er Geburtstag hatte.

Jetzt sitze ich im Flugzeug, erinnere mich, dass meine Großmutter immer sagte, die russische Fluggesellschaft sei die beste. Aeroflot ist sicher, und es gibt gutes Essen, sagte sie. Neben mir sitzt ein dicker Mann mit der zufriedenen Miene eines Bäckers, dem die Brötchen besonders gut gelungen sind. Sein Blick wechselt unaufhörlich zwischen dem kleinen Anschnallzeichen über dem Sitz und dem großen, rosa geschminkten Mund der blonden Stewardess. Sie lächelt ihm aufmunternd zu, und er gibt das Lächeln an mich weiter. Ein dummes Spiel unter erwachsenen Menschen, die sich nicht einfach bei der Hand nehmen können.

Draußen ist es stürmisch, und die Stewardess verteilt mit der Beharrlichkeit des Tapferen Zinnsoldaten Bonbons, die mich an die roten Hähne erinnern, rote Lutscher, die es an einem Stand am Ulitzki-Prospekt gab, dort, wo meine Großmutter arbeitete. Rote Zuckerhähne, die eine alte Zigeunerin verkaufte. Jedes Mal, wenn ich mit meiner Großmutter an diesem Stand vorbeiging, wünschte ich mir so einen Hahn. Und jedes Mal erzählte mir meine Großmutter die Geschichte von den schmutzigen Zigeunern, die in der gusseisernen Wanne zuerst ihre Füße waschen, um dann in derselben Wanne den Zucker für die Hähne zu schmelzen. Es sei ein Ritual, mit dem sich die schmutzigen Zigeuner an den weißen Russen rächten.

Das habe ich nicht verstanden, aber ein anderes Kind hätte es auch nicht verstanden. Irgendwann habe ich so einen Hahn in einem Mülleimer im Park entdeckt. Ich habe ihn in meinen Schal gewickelt und später im Bett gegessen. Ich versuchte, dabei keine Geräusche zu machen, weil meine Großmutter nebenan vor dem Fernseher saß. Sie schaute Eiskunstlauf. Damals wurden Irina Rodnina und ihr Partner, der im Haus meiner Großmutter nicht namentlich erwähnt wurde, weil es hieß, er wäre besser Koch geworden, Olympiasieger. Manchmal hockte ich bei ihr auf dem braunen Cordsofa und stellte mir vor, dass ich später auch Eiskunstläuferin sein würde. In einem Tüllkleid, das aussieht wie eine Torte. Du hast zu kurze Beine für den Eiskunstlauf, sagte meine Großmutter, als ich ihr von meinem Wunsch erzählte. Du darfst dich nicht immer nur im Schlitten ziehen lassen. Du musst laufen und deine Beine trainieren. Vielleicht wachsen sie noch, deine Mutter hat auch lange Beine. Aber ich glaubte so fest an meinen internationalen Durchbruch, dass ich mich trotzdem im Schlitten ziehen ließ.

Mein Schlitten sah aus wie ein kleiner Thron. Auf dem Holz lagen Robbenfelle. Sogar die Lehne war mit Fellen gepolstert. Wie eine aufgeblasene kleine Königin saß ich darin und beobachtete den Hintern meiner Großmutter, der vor mir hin und her wippte. Meine Großmutter hatte einen sympathischen Hintern. Rund und ohne Ritze. Ich stellte mir vor, dass er nach Mottenkugeln roch. Als ich ihr das einmal sagte, hat sie nur die Augenbrauen nach oben gezogen. Sie sah meistens jung und streng aus, auch den beleidigten Zug um den Mund hatte sie fast immer. Nur wenn Männer in der Nähe waren, egal welchen Alters, blühte sie auf. Ihre Stimme wurde laut, ein wenig schrill, und sie fingerte in ihrer Handtasche nach der Zigarettenschachtel. Ich mochte es nicht, wenn sie rauchte. Es sieht schick aus, sagte sie. Graziöse Trägheit. Es gibt Frauen, denen steht es, und es gibt Frauen, die sehen mit Zigarette nur blöd aus. Vulgär und blöd, wie die Tanja. Es hat mit einer allgemeinen Sorglosigkeit zu tun, sagte sie. Auch das habe ich nicht verstanden. Ich habe weggesehen und gewartet, dass die Männer wieder verschwanden.

Das Flugzeug stürzt plötzlich in ein Luftloch, und der Dicke greift panisch nach meiner Hand, hinterlässt einen dünnen Schweißfilm auf meinem Handrücken. Jetzt hätte ich Lust, eine Zigarette zu rauchen. Am liebsten sind mir Hände von alten Menschen. Haut wie Pergamentpapier. Trockenheit, die mir Zuversicht gibt. Mein Nachbar trinkt schon den dritten Rotwein. Er will mit mir anstoßen. Darf ich Ihnen etwas bestellen, fragt er auf Englisch. Ich will nein danke sagen, sage aber: Ja gern. Ich nehme noch so einen Tomatensaft. Seine Augen glänzen, und ich stelle mir vor, wie er als kleiner Junge auf einem bunten Teppich sitzt. Es hilft mir, meine Gesichtszüge zu entspannen. Vielleicht hat er Familie oder eine ernsthafte Krankheit. Er reibt sich das linke Auge und ändert umständlich die Sitzposition. Dabei rutscht sein kariertes Hemd ein wenig nach oben, und ich kann seinen Bauch sehen. Eine helle, haarige Rolle.

Ich denke über die Drehung der Erde um ihre Achse nach, sagt er. Die Erde, die sich dem Augenblick nähert, da sich entscheiden wird, ob sie sich weiterdreht oder für immer stehenbleibt. Ein regloser Ball im erkalteten Raum. Es passieren Dinge auf der Erde, und wir sind hier oben über den Wolken und können nur Mutmaßungen anstellen. Auf meinem letzten Flug nach London habe ich mir vorgestellt, dass die Maschine nicht landen kann. Alle Landebahnen waren verschwunden. Es gab einfach keine Flughäfen mehr. Verstehen Sie? Ist das nicht verrückt? Ja, das ist verrückt, denke ich und lächle höflich. Sein Englisch ist besser als meins, deshalb hoffe ich, dass er mir keine komplizierten Fragen stellen wird.

Bringen Sie mir noch so einen Wein, ruft er der Stewardess zu. Kommen Sie aus Moskau, fragt er mich. Nein, sage ich, ich lebe in Berlin. In Berlin, wiederholt er und sieht mich anerkennend an. Eine Stadt, an die ich immer geglaubt habe. Ich habe oft in Berlin zu tun. Jedes Mal, wenn ich dort bin, besuche ich einen Freund. Ein Chinese, er hat in der Kantstraße ein kleines Restaurant. Wir haben uns in Tokio kennengelernt. Ist das nicht verrückt, ein Chinese in Tokio? Er hat da eine Schwägerin besucht. Kennen Sie Tokio? Nein, antworte ich. Berlin ist eine gute Stadt, sagt er und hat seinen Rotwein wieder zur Hälfte ausgetrunken. Ich sehe auf meine Uhr. Noch eine halbe Stunde. Erst gestern habe ich ihn besucht, spricht er weiter. Mittlerweile sieht er nicht mehr mich an, sondern sucht den Blick der Stewardess. Sie weiß, dass sie beobachtet wird, und zieht die Lippen nach. Ich schließe die Augen. Wo wohnen Sie in Berlin? Ich kenne mich ein wenig aus, sagt er und dreht sich wieder zu mir. In der Nähe der Kantstraße, sage ich. Das gibt es ja nicht! Dann kennen Sie das Lokal meines Freundes vielleicht. Es gibt dort viele asiatische Lokale, sage ich.

Wir müssen uns wieder anschnallen, und er verstummt. Seine Hände krallen sich in den Sitz. Gleich haben Sie es geschafft, höre ich mich sagen. Er reagiert nicht, macht Atemübungen. Wovor genau haben Sie denn Angst? Haben Sie Angst, dass wir abstürzen? Haben Sie Angst, allein zu sterben? So früh zu sterben? Er antwortet nicht, und von seiner Schläfe rinnt ein kleiner Bach.

Es ist dunkel geworden. Ich sehe die Lichter der Stadt unter mir. Was ist, wenn es den Moskauer Flughafen wirklich nicht mehr gibt? Das Flugzeug wird im Dunkeln kreisen und kreisen. Verehrte Passagiere, wird der Pilot sagen, wir können in Moskau leider nicht landen und müssen nach Berlin zurückfliegen. Ich bitte dies zu entschuldigen. Es wird ein entrüstetes Stimmengewirr geben. Nur mein Nachbar wird sich umständlich erheben, einen Rotwein bestellen, der Stewardess einige schmutzige Dinge ins Ohr flüstern und laut verkünden: Sie brauchen sich gar keine Hoffnung zu machen, auch in Berlin wird es keine Landebahn mehr geben. Der richtige Zeitpunkt also, das Rauchverbot aufzuheben!

Bei uns zu Hause mussten alle im Garten rauchen. Stehen und rauchen unter Birken. Meine Großmutter veranstaltete ständig irgendwelche Feste. Ein Namenstag, das Neujahrfest nach dem alten Kalender, die Geburt eines Nachbarkindes oder ein tragischer Tod im Dorf oder im Nachbardorf – Anlässe fanden sich immer. Wie ein aufgezogener General lief sie von Zimmer zu Zimmer und gab Anweisungen an das Personal, das aus mir, Pjotr und unserem Hund Muchtar bestand. Sie konnte es nicht ertragen, unbeschäftigte Gesichter zu sehen. Von mir wurde erwartet, mit den Erwachsenen mitzulachen und zum richtigen Zeitpunkt zu gehen. Mein Zimmer war ganz hinten rechts, am Ende des Flurs, und wenn es im Winter stark geschneit hat, dann habe ich nur Weiß gesehen, wenn ich aus dem Fenster blickte. Eine Schneehöhle. Irgendwoher kam Lachen, und später gab es Wodka, Streit, Tränen. Irgendjemand weinte immer, und irgendjemand verließ immer mit einer nervösen Notwendigkeit das Haus und schwor, nie mehr wiederzukommen. Am nächsten Morgen stand der Grießbrei schon früh auf dem Herd, und meine Großmutter hatte den beleidigten Zug um den Mund, als hätte ich sie abhalten sollen, bis tief in die Nacht zu feiern. Du musst doch nicht feiern, dachte ich. Jedenfalls nicht so oft und nicht so laut.

Als ich die Augen öffne, haben sich alle erhoben und sind dabei, ihr Handgepäck einzusammeln. So viele Stufen aus einem Flugzeug, so viel kalter Wind, so viele bunte Lichter. Wieso habe ich das Angebot abgelehnt, mich vom Flughafen abholen zu lassen, denke ich. Pjotr hat mich dreimal gefragt, er könne sich ein Auto leihen. Ich weiß nicht, warum ich abgelehnt habe. Vielleicht, weil ich nicht bei der Beerdigung meiner Großmutter war. Ich habe versucht, ihm das zu erklären, und er hat nur gesagt: Ist gut, Mascha. Jetzt muss ich die Bahn nach Bykovo nehmen. Wo der Schlüssel versteckt ist, weiß ich ja. Aber ich habe vergessen, wie groß die Stadt ist und wie kalt es hier sein kann.

Ich stehe am Gepäckband, mir gegenüber der Dicke. Er meidet meinen Blick und wartet ungeduldig auf seinen Koffer. Geld habe ich auch nicht gewechselt, denke ich. Wieso habe ich mich darauf eingelassen? Es ist nur ein Haus. Da kommt mein Rucksack. Es wäre einfacher, wenn mich jetzt jemand zum Tee erwarten würde. Tee mit viel Zucker, dazu dicke Scheiben Brot und Kochwurst. Eine Couch im Wohnzimmer, auf der ich schlafen könnte. Und viele Fragen.

Ich nehme meinen Rucksack. Ich bin kein Rucksacktyp. Normalerweise reise ich mit meinem kleinen Rollkoffer oder meiner braunen Tweedtasche, ein Erbstück von einer Großtante, aber der Koffer ist verliehen und die Tasche unauffindbar. Mit siebzehn wollte ich mit einer Freundin Europa bereisen. Dafür habe ich diesen Rucksack bekommen. Das Ticket war teuer. Bis nach Südfrankreich sind wir gefahren, dort wurde unser Zelt gestohlen. Wir haben unser Geld in wenigen Tagen ausgegeben, und meine Freundin hat sich verliebt. Ich wurde noch etwas geduldet, dann ist sie mit dem Franzosen weitergezogen. Ich fuhr wieder nach Hause, hatte kaum schmutzige Wäsche und nur vier Fotos in meiner Kamera. Vielleicht holen der Rucksack und ich unsere verpasste Europatour jetzt nach. Mein Sitznachbar ist verschwunden, schade, ich hätte gern gesehen, ob er abgeholt wird, und wenn ja, von wem. Ich gehe zum Ausgang. Da sind sie, all die Menschen mit Tee und Couch, und niemand darunter, der auf mich wartet.

Ich muss herausfinden, welcher Zug nach Bykovo fährt. Vom Bahnhof in Bykovo sind es drei Kilometer bis zum Haus, das weiß ich noch sehr genau. Aus dem Bahnhof raus, links ein kleiner Kiosk, an dem man stinkende Zigaretten und Kwass kaufen kann, und rechts das Haus von Pjotr. Die Straße hoch, dann links in Richtung Friedhof. Das Birkenwäldchen, der ausgetrocknete Teich. Auf dem Weg herumstreunende Hunde, einige sagten auch Wölfe. Ich sehe einen Touristeninformationsstand. Das ist eine Erleichterung. Hier werde ich alles erfahren, hier werde ich Geld wechseln und mich aufwärmen.

Vor mir steht ein Paar aus Kanada. Auch sie haben Rucksäcke, und sie haben eine Straßenkarte, auf der die Dame hinter dem Tresen mit ihrem spitzen, lackierten Nagel Linien zieht. Der Junge ist hübsch und könnte jede Kopfbedeckung tragen, so einer ist das, denke ich. Das Mädchen dreht sich um und lächelt mich an. Ohne zurückzulächeln, erwidere ich ihren Blick. Sie ist ungeschminkt, hat rötliche Haare und runde Stofftierglasaugen. Wir sind gleich fertig, sagt sie. Die Stadt ist so groß. Wir müssen eine Herberge finden, weil es schon so spät ist. Wenn wir Pech haben, müssen wir heute im Gorki-Park übernachten. Sie lacht über ihren Witz und guckt dann verschämt zur Seite. Das würde ich Ihnen nicht raten, sage ich und klinge wie eine Nachrichtensprecherin in den Wechseljahren. Wieso schaffe ich es nicht, freundlich zu sein, denke ich. Ich weiß, sagt sie lachend, das war ein Scherz. Der Gorki-Park muss sehr gefährlich sein. Da würden wir nicht übernachten, oder? Sie fasst ihren Freund am Arm. Ich habe nicht zugehört, sagt er und verstaut die Karte in der Seitentasche seines Rucksacks. Ich sehe, wie sie ihm etwas ins Ohr flüstert. Er dreht sich noch einmal um und küsst ihr die Stirn.

Ich habe noch ganze zwei Stunden, bis die nächste Bahn nach Bykovo fährt. Ich wechsle Geld, kaufe mir eine Schachtel Zigaretten und gehe nach draußen. Ich lehne mich mit dem Rücken an eine Wand und blicke über den Platz vor dem Flughafengebäude. Ich sehe Fußabdrücke im frischen Schnee, Spuren von Menschen, deren Wege sich zufällig kreuzen, rauche eine Zigarette. Sie schmeckt mir nicht, sie stinkt, und ich würde lieber etwas essen. In einem Lokal sitzen mit dem kanadischen Paar und Pläne für den morgigen Tag machen. Wir könnten zusammen ins Museum gehen, ich würde ihnen meine Lebensgeschichte erzählen und die Rolltreppen in der Metro rauf- und runterfahren. Wir würden uns in die engen Züge schieben und das nasse Fell einatmen. Jedes Kind in Moskau hat sich schon einmal vorgestellt, wie es wäre, mit der Rolltreppe tief in die Erde hinabzugleiten, immer weiter. Zum blinden Maulwurf, der einen nicht gehen lassen will.

Vor mir stehen einige Taxis. Die Fahrer rauchen und hören Radio, oder sie telefonieren. Auf der anderen Seite stehen die privaten Autos, die die Fahrten entweder viel billiger oder viel teurer anbieten. Dort unterhalten sich die Fahrer, lachen laut und reiben sich die Hände. Es ist kalt, und mein Mantel ist nicht warm genug. Lange kann ich nicht mehr hier draußen bleiben. Brauchen Sie ein Taxi, ruft einer der Fahrer. Ich fahre mit der Bahn, sage ich viel zu leise. Was, ruft er wieder. Er kommt zu mir herüber. Wo müssen Sie denn hin? Ich brauche kein Taxi, sage ich und: Was würde eine Fahrt nach Bykovo kosten? Nach Bykovo, wiederholt er und pfeift wie ein indischer Straßenjunge durch die Zähne. Was wollen Sie denn in Bykovo? Da ist ein kleiner Flughafen und weiter nichts. Da war ich schon seit Jahren nicht mehr. Ich auch nicht, sage ich. Es tut gut, mit jemandem zu sprechen. Es tut gut, meine Sprache zu sprechen. Ich muss das Haus meiner Großmutter ausräumen. Ich weiß noch nicht, ob ich es verkaufen will. Ich kenne mich nicht aus, ich wohne in einer Mietwohnung, sage ich. Warum erzähle ich ihm das? Jetzt fahre ich Sie erst mal hin, sagt er und greift nach meinem Rucksack. Wie viel wird es kosten, frage ich. Nun, wir fahren bestimmt zwei Stunden, aber das müssen Sie ja wissen. Wie viel können Sie bezahlen? Ich kann Ihnen dreißig Euro geben. Er stellt den Rucksack wieder ab. Oder fünfzig. Geben Sie mir hundert, und ich fahre Sie. Ja, ist gut, sage ich und steige ein.

Im Auto riecht es nach Ei. Um diese Zeit mit der Bahn zu fahren würde ich Ihnen nicht raten, sagt er. Meine Großmutter ist immer zu dieser Zeit mit der Bahn gefahren, denke ich. Er würde gern plaudern. Ich schweige und sehe nach draußen. Sehe die Nacht in einer Stadt, die mir fremder scheint als jede andere Stadt. Die Straßen wie trübe Flüsse. Eine zähe, dunkelgraue Masse, durch die wir hindurchmüssen. Der Schnee ist woanders, sagt er. Der Schnee ist in Bykovo.

Ich denke an die kleine Wohnung meiner Eltern. Eine Zweizimmerwohnung in einem grauen Klotz. In einer Seitenstraße gab es ein Kino. Dort habe ich «Die Schneekönigin» gesehen. Bei meinen Eltern war ich zu festen Besuchszeiten. Am Samstag oder Mittwoch und nie mit Übernachtung. Es war wie ein großes Missverständnis. Meine Eltern tuschelten und wiesen sich gegenseitig an, mit mir zu spielen. Abends vor dem Essen kam meine Großmutter, um mich abzuholen. Sie war Abteilungsleiterin im Institut für Medizinisch-Biologische Probleme im geheimen Auftrag der sowjetischen Raumfahrt. Mein Vater bekam Geld, weil er sich dort als Testperson zur Verfügung stellte, und sie kauften einen Fernseher. Die Tage waren dann für uns alle erträglicher. Vormittags sahen wir Zeichentrickfilme und später Western, produziert irgendwo im Kaukasus. Warum muss ich dorthin, habe ich meine Großmutter einmal gefragt. An einem Mittwoch oder Samstag. Weil sie dich sehen müssen. Sie müssen sehen, wie du dich entwickelst, welchen Charakter du bekommst, sagte sie. Welchen Charakter du bekommst, wiederholte ich immer wieder im Kopf und sagte schließlich, vielleicht bekomme ich keinen Charakter. Sie wandte sich zu mir und sah mich empört an. Als hätte sie vergessen, was uns verbindet. Wenn du keinen Charakter bekommen willst, dann solltest du im Wald bei einer Hasenfamilie leben, sagte sie. Ich war damals sechs, und die Vorstellung, unter Hasen zu leben, erschien mir nicht realistisch. Wenn sie mich abholte, tat sie es still und mit vorwurfsvollem Blick. Mein Vater schaltete den Fernseher aus und verteilte noch rasch einige Spielsachen auf dem Fußboden.

Sehen Sie, hier hört der Matsch auf, und der Schnee beginnt, sagt der Fahrer. Ich mag seine Hände, denke ich. Große, sehnige Hände. Eckige Finger. Der linke kleine Finger fehlt zur Hälfte. Er macht das Radio an, und eine weibliche Stimme wirbt für ein neues Restaurant, das Sushi und traditionelle russische Küche anbietet. Donnerstags gibt es Livemusik, und ab halb sechs bekommt man Cocktails zum halben Preis. Wollen Sie Radio hören, fragt er. Nein, sage ich, und er schaltet es wieder aus.

Bis nach Bykovo will ich nicht mehr atmen. Ich bin so schläfrig, dass ich kaum die Augen offen halten kann. Die Gedanken wie ungebetene, dreiste Gäste, die nicht gehen wollen, die sitzen und weitersaufen, auch wenn das Kind im Nebenzimmer schläft und jeden Moment aufzuwachen droht. Sie reden und reden und sagen Dinge, die niemand hören will. Sie erinnern mich an ein Leben, das ich hätte führen können. Sie lachen über mich und über mein Zuhause. Sie lachen über die Bilder, die ich an meine Wände gehängt habe, über die Blumen, die ich aufgestellt habe, und über den Geruch in meiner Wohnung. Ich schäme mich für meine Gäste.

Ich schrecke hoch und sehe das Haus von Pjotr. Hier können Sie mich rauslassen, sage ich. Ich gebe ihm widerwillig die hundert Euro, nehme meinen Rucksack und steige aus. Bei Pjotr brennt kein Licht. Vielleicht hat er mich vergessen. Habe ich ihm gesagt, wann ich ankomme? Ich kann mich nicht erinnern, aber ich muss es ihm gesagt haben, denn er wollte mich ja abholen, doch es brennt kein Licht. Er hat es tatsächlich vergessen. Vielleicht sitzt Pjotr jetzt beim alten Mischa in der Dorfkneipe. Das macht nichts, ich weiß ja, wo der Schlüssel ist. Er ist im Schuppen.