Historical Herzensbrecher Band 5 - Louise Allen - E-Book
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Historical Herzensbrecher Band 5 E-Book

Louise Allen

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Beschreibung

NUR DIR GEHÖRT MEIN HERZ von ALLEN, LOUISE
Bislang fristete die aparte Hebe ihr Dasein als Mauerblümchen, aber unter den feurigen Küssen von Alexander Beresford, einem adligen Major, blüht sie auf. Ungeduldig wartet sie auf seinen Heiratsantrag. Bis ein Brief all ihre Träume zerstört: Alexander soll längst einer anderen versprochen sein!

GESUCHT: EIN LORD ZUM HEIRATEN von CREE, ANN ELIZABETH
Heirat aus Liebe? Niemals! Chloe macht sich auf die Suche nach einem ruhigen und leidenschaftslosen Ehegatten. Viscount Salcombe schließt sie von vornherein aus, obwohl er ihr Avancen macht. Nein, dieser heißblütige Mann kann nicht der Richtige sein - doch weshalb hat sie in seiner Nähe immer Schmetterlinge im Bauch?

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Seitenzahl: 547

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Louise Allen, Ann Elizabeth Cree

HISTORICAL HERZENSBRECHER BAND 5

IMPRESSUM

HISTORICAL HERZENSBRECHER erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Neuauflage in der Reihe HISTORICAL HERZENSBRECHERBand 5 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2004 by Louise Allen Originaltitel: „The Earl’s Intended Wife“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Roy Gottwald Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 446

© 2003 by Annemarie Hasnain Originaltitel: „The Viscount’s Bride“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Elisabeth Tappehorn Deutsche Erstausgabe 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 499

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733759407

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

Nur dir gehört mein Herz

1. KAPITEL

Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, an dem Hebe Carlton auf Malta den gut aussehenden Gentleman zum ersten Mal zu Gesicht bekam und sofort eine Abneigung gegen ihn fasste. Bis zu diesem besagten Mittwoch hatte ihr Leben hauptsächlich aus solch gewöhnlichen Tagen bestanden. Danach allerdings hatte es, wie sie sich später erinnerte, nur noch wenige Tage gegeben, die so normal gewesen waren. Sie hätte freimütig zugegeben, dass sie nicht deshalb ablehnend auf den Fremden reagiert hatte, weil sie gegen attraktive Männer oder den Anblick einer schmucken Militäruniform gefeit war. Sie neigte auch nicht dazu, vorschnelle Urteile zu fällen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass die Menschen im Allgemeinen viel interessanter waren, als man auf den ersten Blick glaubte. Dieser Mann jedoch hatte etwas ihr Unerklärliches an sich, das sie in Unruhe versetzte. Hinter der Gardine stehend, beobachtete sie ihn aufmerksam, während er mit Commodore Sir Richard Latham entlang der schattigen Seite des Platzes auf ihr Haus zukam.

Der Commodore, der zukünftige Gatte ihrer verwitweten Stiefmutter, hatte sich zum Lunch angekündigt, wie stets, wenn es seine Pflichten im Hauptquartier der beim Hafen stationierten Schwadron zuließen. Heute indes traf er etwas später als sonst ein. Er und sein Begleiter waren in ein Gespräch vertieft, unterbrachen es jedoch, ehe sie die Straße überquerten. Dadurch bekam Hebe die Gelegenheit, den Fremden genauer zu betrachten.

Danach fand sie ihn noch unsympathischer, denn sein regelmäßig geschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht zeigte einen strengen, überaus ernsten Ausdruck. Sie stellte sich vor, er sei einer von den enteigneten Johannitern, die erst vor einigen Jahren unter Napoleon von Malta vertrieben worden waren und noch immer mit den neuen englischen Oberherren über ihre Rückkehr verhandelten.

„Hebe!“, rief ihre Stiefmutter ungeduldig aus dem Entree. „Kommt der Commodore nun oder nicht?“

„Er ist auf dem Weg zu uns, Mama.“ Hebe lief zum Treppenpodest. „Er steht mit einem Armeeoffizier auf der anderen Seite des Platzes, und es hat den Anschein, dass er einen Gentleman mitbringt.“

Mrs. Carlton setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Handelt es sich um einen jungen Mann?“, erkundigte sie sich.

„Hm, ich schätze ihn auf Ende zwanzig, vielleicht dreißig.“

Hebe war nicht überrascht, als die Stiefmutter daraufhin eine Schere vom Tisch neben der Eingangstür nahm und ihr, während sie ins Freie trat, über die Schulter zurief: „Ich schneide noch schnell ein paar Blumen für den Tisch.“

Hebe seufzte und kehrte zum Fenster zurück. Jeder neue Offizier einer Waffengattung erregte das Interesse der Stiefmutter und führte zu konzentrierten Anstrengungen, Hebe dazu anzuhalten, sich so zu benehmen, dass ihm sogleich auffiel, welch gute Partie sie war. Auch dieser Fremde, der aussah wie ein Mönch, würde bald Mrs. Carltons Machenschaften ausgesetzt sein. Es stand jedoch zu vermuten, dass er ihrer Stiefmutter gewachsen sein würde.

Als Hebe ihren Platz hinter den Gardinen wieder eingenommen hatte, befanden der Commodore und sein Begleiter sich immer noch auf der anderen Straßenseite. Hebe hatte den Eindruck, dass sie über Geschäfte redeten, da der streng aussehende Gentleman ein ledernes Portefeuille bei sich hatte, das er jetzt dem älteren Offizier aushändigte. In diesem Moment erblickte Sir Richard Mrs. Carlton. Hebe konnte die Stiefmutter von ihrem Standort aus nicht sehen, war indes sicher, dass sie so tat, als schnitte sie Blüten, während sie sich vor dem Spalier mit Bougainvillea dekorativ in Szene setzte. Die beiden Herren zogen ihre Hüte und verneigten sich.

Nunmehr barhäuptig, bot der schwarzhaarige Fremde Hebe einen besseren Blick auf sein ebenmäßig geschnittenes Gesicht mit den eindrucksvollen dunklen Augenbrauen und dem markanten Kinn. Ihre Überzeugung, dass er etwas Mönchisches habe, verfestigte sich, da seine Miene keinerlei Bewunderung ausdrückte, ganz im Gegensatz zu den meisten Männern, die ihre Stiefmutter zum ersten Mal trafen.

Plötzlich sah er auf, als sei er sich bewusst geworden, dass er beobachtet wurde, und schaute in Hebes Richtung. Hebe zuckte zurück. Der Eindruck, einen Asketen vor sich zu haben, schwand im Nu. Jetzt kam der Gentleman ihr eher wie ein Raubvogel vor, der bereit war, sich auf seine Beute zu stürzen. Sein Blick hatte etwas Durchdringendes. Kein Wunder, dass er ihr von Anfang an Unbehagen erzeugt hatte.

Sie redete sich ein, er könne sie nicht bemerkt haben, und strich rasch das Kleid glatt. Die Stiefmutter würde nicht erbaut sein, wenn Hebe zum Essen erschien und nicht adrett aussah. Mrs. Carlton hatte sich längst mit der Tatsache abgefunden, dass ihre Stieftochter keine Schönheit und nicht einmal hübsch zu nennen war und diesen Makel auch nicht dadurch auszugleichen trachtete, dass sie durch herausragende häusliche Fähigkeiten wenigstens einen älteren Herrn für sich einnahm, der nach einer tüchtigen, anpassungsfähigen Frau suchte. Dennoch bemühte Mrs. Carlton sich weiterhin, Hebe dazu anzuhalten, sich stets wie eine junge Dame zu präsentieren. Manchmal hatte sie damit Erfolg, aber im Moment verspürte Hebe nicht das geringste Bedürfnis, in irgendeiner Weise ungewöhnlich zu wirken und die Aufmerksamkeit des Fremden zu erregen.

Kurz nachdem die beiden Gentlemen den Platz überquert und zusammen mit ihrer Stiefmutter das Haus betreten hatten, eilte Hebe die Treppe ins Entree hinunter und verlangsamte dort ihre Schritte, um das Gespräch im eleganten Empfangssalon belauschen zu können. „Wir sind immer darauf vorbereitet, Sir Richard bei unserem bescheidenen Mittagsmahl zu Gast zu haben. Sie machen nicht die mindesten Umstände, Major. Ich wäre entzückt, wenn Sie bleiben könnten.“

„In diesem Fall nehme ich Ihre freundliche Einladung gern an“, erwiderte der Fremde mit tiefer, kühl wirkender Stimme.

Hebe fand, das habe nicht gerade sehr begeistert geklungen. Der Ton war höflich, wenngleich unbeteiligt gewesen. Zweifellos hatte der Commodore bereits eine Andeutung gemacht, durch die sein Begleiter verstanden hatte, dass Mrs. Carlton die zukünftige Mrs. Latham war. Daher fühlte er sich vermutlich in Gegenwart der üppigen Blondine, der man die von ihr eingestandenen dreißig Jahre abnahm, sicher genug.

„Da bist du ja, meine Liebe“, rief Mrs. Carlton aus, als Hebe zögernd auf der Türschwelle stehen blieb. „Meine Stieftochter Hebe, Major“, fügte sie hinzu. „Und das ist der ehrenwerte Major Alex Beresford, Hebe.“

Hebe begrüßte den Gast, und er verneigte sich.

„Guten Tag, Miss Carlton.“ Seine Worte hatten wieder kühl geklungen, und sein Gesicht war ausdruckslos. Hebe war ihm jetzt so nah, dass sie das erstaunlich strahlende Blau seiner Augen bemerkte. Es war der Raubvogel, der sie in diesem Moment anschaute, nicht der Mönch.

Seine Gleichgültigkeit und ihr plötzlich erwachtes Interesse an ihm verstimmten sie. Natürlich fühlte sie sich nicht zu ihm hingezogen, wenngleich ihr beim Klang seiner Stimme ein seltsamer Schauer über den Rücken gerieselt war. Nein, es lag einfach daran, dass die Armeeoffiziere ihres Bekanntenkreises im Allgemeinen freundliche und fröhliche Menschen waren.

„Wollen wir ins Esszimmer gehen?“, fragte Mrs. Carlton, ergriff Sir Richard am Arm und steuerte mit ihm zur Tür. Dadurch war Major Beresford genötigt, Hebe zu begleiten. Schweigend brachte er sie zu ihrem Stuhl, half ihr beim Platz nehmen und setzte sich neben sie. Nachdem die Vorspeisen serviert worden waren, verwickelte Mrs. Carlton Sir Richard in ein Gespräch, und Hebe wartete ein wenig belustigt darauf, ob der Major so höflich sein und sich mit ihr unterhalten würde.

„Leben Sie schon lange auf Malta, Miss Carlton?“ Unter den gegebenen Umständen war das eine ausgesprochen angemessene und vernünftige Frage. Die Stimme des Majors hatte nicht im Mindesten gelangweilt geklungen. Dennoch hatte Hebe den Eindruck, dass Beresford die Situation, in der er sich befand, sehr missfiel.

Sie überlegte, warum er so zurückhaltend war. Sie hatte beschlossen, ihn eher als ein spannendes Rätsel denn als strengen, ziemlich einschüchternden Menschen zu betrachten, und das erleichterte es ihr, neben ihm zu sitzen. „Seit drei Jahren“, antwortete sie. „Mein Vater war mit seiner Schwadron auf Malta stationiert. Meine Mutter starb vor zehn Jahren. Vier Jahre später hat mein Vater zum zweiten Mal geheiratet. Wann immer es möglich war, sind meine Stiefmutter und ich ihm von einer Marinebasis zur anderen gefolgt. Vor zwei Jahren raffte ihn das Fieber dahin. Wir sind jedoch hier geblieben.“

So, das war eine lange Antwort mit einer Menge von Daten gewesen. Jetzt musste der Major etwas sagen.

„Tatsächlich?“

„Möglicherweise kehren wir, wenn meine Stiefmutter Sir Richards Frau geworden ist, nach England zurück. Wir haben jedoch noch keine festen Pläne gemacht. Es hängt so viel davon ab, wohin die Schwadron verlegt wird.“ Schweigen. „Es wird bestimmt interessant sein, England nach so langer Zeit wiederzusehen.“

„Bestimmt.“

„Ist Ihr Regiment schon lange hier stationiert, Major? Ich habe nicht gewusst, dass neue Verbände hergekommen sind.“ Hebe konnte die Uniform nicht einordnen.

„Sie sind an Truppenbewegungen interessiert, Miss Carlton?“ Er hob leicht eine dunkle Augenbraue und verzog einen Mundwinkel. Wäre sein Blick belustigt gewesen, hätte Hebe das Zucken seiner Lippen für ein Lächeln gehalten.

Er hielt sie also für eine dieser leichtsinnigen Frauen, die hinter jedem Mann in Uniform her waren. Sie biss sich auf die Unterlippe, um keine scharfe Antwort zu geben, und lächelte ihn strahlend an. Sie wünschte sich jedoch, die Courage zu besitzen, ihm zu sagen, er müsse keine Angst haben, da er der letzte Mann auf Malta sei, dessen Interesse sie erregen wolle.

„Nein, nicht mehr als jemand, der eine einigermaßen gute Beobachtungsgabe hat, Sir. Wir Exilanten wissen, welche Kriegsschiffe eingelaufen, welche Regimenter gelandet, abgereist oder angekommen sind. Davon sind die aus der Heimat eintreffenden Nachrichten abhängig, die Post, die Leute, die man einlädt oder bei Veranstaltungen trifft.“

Hebes Lächeln schien den Major nicht zu beeindrucken. „Ein etwas eingeschränktes Gesellschaftsleben auf einer so kleinen Insel.“

Hebe war sich bewusst, dass ihre Stiefmutter sie aus dem Augenwinkel beobachtete. „Ich denke, dass es nicht eingeschränkter ist als das, was die Einwohner von Brighton oder Harrogate führen. Würden Sie mir freundlicherweise die Butter reichen, Major?“

Er kam ihrer Bitte nach und schaute dabei unglücklicherweise auf, sodass er noch bemerkte, dass Mrs. Carlton ihrer Stieftochter anerkennend zunickte. Hebe zog in Betracht, plötzliche Kopfschmerzen vorzutäuschen und das Speisezimmer zu verlassen, doch die brennende Neugier bewog sie zum Bleiben, obwohl sie zunehmend misslauniger wurde. Ehe sie vom Tisch aufstand, würde sie von Beresford eine klare Antwort oder zumindest ein ehrliches Lächeln bekommen, und wenn es das Letzte sein sollte, was sie tat.

„Werden Sie lange auf der Insel bleiben, Major?“

„Das hängt davon ab.“ Wie gebannt betrachtete Hebe seine schlanken, um das Glas geschlossenen Finger. Sie hinterließen einen Abdruck auf dem von Kondenswasser beschlagenen Kelch, als er ihn abstellte.

Sie rief sich zur Ordnung und fragte abrupt: „Wovon?“

„Von meinen Befehlen“, antwortete er frostig.

„Aha! Natürlich werde ich Sie nicht weiter ausfragen, Major.“

„Nein?“ Er wandte sich ihr halb zu und richtete den durchdringenden Blick auf sie. „Und worüber reden wir, Miss Carlton, wenn Sie entschlossen sind, mich nicht weiter auszufragen?“

Befremdet hielt sie seinem harten Blick stand. Ärger drückte sich in ihren grauen Augen aus. Die Stimme dämpfend, damit das andere Paar sie nicht verstehen konnte, erwiderte sie: „Ich bin sicher, Major, Sie finden es unerträglich langweilig, dass man von Ihnen erwartet, mit einer jungen Dame Konversation zu machen. Ich schlage vor, Sie ziehen die Möglichkeit in Betracht, die fragliche junge Dame könne diese Aufgabe gleichermaßen ermüdend finden.“

Diese Bemerkung führte zumindest zu einer Reaktion. Hebe hielt den Blick weiterhin auf die Augen des Majors gerichtet, die jetzt einen anderen Ausdruck bekamen – den von Verärgerung, Zorn und, wie sie plötzlich, über ihr Benehmen beschämt, begriff, von Ermüdung. Nun, da sie ihn voll anschaute, bemerkte sie, dass er dunkle Schatten unter den Augen hatte. Sie begriff, dass seine ausgeprägte Kühle nur ein Schutz war, damit er sich auf den Beinen halten, konzentrieren und imstande sein konnte, an diesem ihm unerwünschten Mittagessen teilzunehmen, zu dem Sir Richard ihn genötigt hatte. Sie richtete den Blick auf Beresfords Teller und sah, dass er kaum etwas gegessen hatte.

„Miss Carlton“, begann er.

„Oh je!“, äußerte sie zittrig, aber laut genug, um die Aufmerksamkeit der Stiefmutter und des Commodore zu erregen. „Oh je! Mir ist auf einmal so schwindlig. Würden Sie mich bitte in den Garten begleiten, Major?“

Rasch erhob der Major sich und ergriff sie am Arm. Sie stützte sich leicht auf ihn. „Nein, nein, Mama. Es ist alles in Ordnung, wenn es unseren Gast nicht stört“, wandte sie sich an ihre besorgte Stiefmutter. „Ich will mich nur einen Moment in die frische Luft setzen.“

Mrs. Carlton warf einen kurzen Blick auf Hebes Gesicht, das tatsächlich etwas bleich war, und fand, die Möglichkeit sei so gut wie jede andere, um ihre Stieftochter und den attraktiven und zweifellos heiratsfähigen Mann zusammenzubringen. Im kleinen Hintergarten herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Dienstboten. Daher würde Hebe gut beaufsichtigt sein. „Wenn Sie nichts dagegen haben, Major, wäre ich Ihnen dankbar.“

Sobald man sich im Korridor befand, entzog Hebe Beresford ihren Arm und warf ihm einen langen Blick zu. „Es tut mir leid, aber ich denke, Sie sollten sich ausruhen. Der Garten ist dafür der kühlste Ort.“ Sie brachte ihn zu der offenen Tür am Ende des Ganges.

„Ich soll mich ausruhen?“ Stirnrunzelnd schaute der Major sie an. „Aber Sie haben gesagt, Ihnen sei …“

„Schwindlig. Ja, ich weiß. Das war eine Notlüge. Ich nehme jedoch an, Sie wollen nicht, dass Sir Richard merkt, wie unwohl Sie sich fühlen. Maria, eine Kanne Limonade, bitte, und zwei Gläser“, wandte Hebe sich an das gerade ins Haus kommende Dienstmädchen.

Major Beresford duckte sich unter dem tief herabhängenden Klettergewächs, das den Ausgang zum Garten überwucherte, und ging mit ihr in den Schatten des kleinen, gepflasterten Hofs. Leise plätscherte Wasser aus dem an der Wand angebrachten Löwenbrunnen, und zwei mit Fransen verzierte weiße Hängematten hingen nebeneinander.

„So, legen Sie sich hin“, befahl Hebe streng und schüttelte die Kissen auf. „Wenn Sie ein Glas Limonade trinken und dann eine halbe Stunde schlafen, werden Sie sich beim Erwachen erholt fühlen.“

Der Major war offensichtlich nicht daran gewöhnt, von jungen Damen Befehle entgegenzunehmen. Diese neue Erfahrung schien jedoch eindrücklich zu sein, da sie zumindest zu Fügsamkeit führte. Er setzte sich auf die Hängematte, ließ die langen Beine herunterhängen und betrachtete Hebe. Sie sah ein ehrliches Lächeln um seine Mundwinkel erscheinen.

„Ich denke, Sie sollten auch Ihren Rock ausziehen“, fuhr sie fort. „Dann schlafen Sie besser.“

„Ich nehme an, dass Ihre Mama gleich erscheinen wird, um zu sehen, was hier vorgeht!“, erwiderte der Major, ohne Anstalten zu machen, den Uniformrock aufzuknöpfen.

„Oh nein“, widersprach Hebe, schwang sich in die andere Hängematte und schaukelte hin und her. Dann schob sie hinter sich die Kissen zurecht und sah ihn an. „Nun machen Sie schon. Ziehen Sie den Rock aus. Mindestens eine halbe Stunde lang haben wir nichts zu befürchten. Mama wird es genießen, sich ohne mich mit Sir Richard unterhalten zu können. Es wird sie entzücken, dass wir hier miteinander flirten.“

„Tun wir das?“ Den Blick auf Hebe gerichtet, begann der Major an den Knöpfen zu nesteln.

„Natürlich nicht! Aber Sie sind erschöpft. Nach etwas Ruhe werden Sie imstande sein, Ihre Angelegenheiten mit dem Commodore viel effizienter zu erledigen. Geben Sie mir den Rock. Ich werde ihn auf den Hocker legen.“

Sie sah ihm zu, während er sich Limonade einschenkte und das Glas in einem Zug zur Hälfte leerte. In dem weißen Hemd wirkte er weniger wie ein Raubvogel und überhaupt nicht wie ein Mönch. Sie beobachtete, wie er austrank, und betrachtete seine breiten Schultern, als er sich danach auf die Kissen zurücklegte. Auch seine langen Beine fielen ihr auf, als er sie in die Hängematte schwang. Er beugte sich vor und stellte das Glas auf dem Gartentischchen ab. Dann trafen sich ihre Blicke.

„Woran haben Sie erkannt, dass ich müde bin? Ich hätte nicht gedacht, dass man mir das anmerkt.“

„An Ihren Augen und den Schatten darunter. Außerdem haben Sie kaum etwas gegessen.“

„Und ich war sehr unhöflich zu Ihnen.“ Plötzlich machte er ein reumütiges Gesicht, und Hebe schmunzelte. „Wissen Sie, Miss Carlton, ich würde, so erschöpft, wie ich bin, lieber mit Ihnen flirten als schlafen.“

Sie bemerkte, dass ihm die Lider zufielen. „Ich flirte nie mit jemandem, Major.“

Er runzelte die Stirn. „Nie? Sie sind wirklich eine ungewöhnliche junge Dame, Miss Carlton.“

„Oh nein“, widersprach sie. „Ich bin sehr normal.“ Seine Augen waren geschlossen. Er war eingeschlafen.

2. KAPITEL

Hebes Vermutung, wie lange sie und Major Beresford ungestört sein würden, erwies sich als richtig. Als die Standuhr im Entree schlug, stieg sie leise aus der Hängematte, schenkte das Glas des Majors voll und schüttelte seinen Uniformrock aus. Sie bedauerte, ihn wecken zu müssen. Zögernd streckte sie die Hand aus. Eine schwarze Locke war ihm in die Stirn gefallen. Unschlüssig hielt sie mitten in der Bewegung inne. Beinahe hätte sie ihm das Haar zurückgestrichen. Was fiel ihr ein? Dann berührte sie leicht seine Schulter. Er zuckte zusammen und wachte sofort auf. Er wusste sogleich, wo er sich befand, schwang die langen Beine aus der Hängematte und sprang zu Boden. Hebe händigte ihm seinen Rock aus. Er hatte ihn in dem Moment angezogen, als Stimmen aus dem Gang herüberdrangen.

„Hier! Nehmen Sie das!“ Hebe drückte ihm das Limonadenglas in die Hand und drängte ihn dann nachdrücklich auf einen der zwischen den eingetopften Pflanzen verlaufenden Wege. Sie selber setzte sich sittsam auf einen Schemel, nahm die Handarbeit an sich, die sie morgens liegen gelassen hatte, und fing zu sticken an.

„Hebe! Schätzchen!“ Mrs. Carlton erschien im Garten. Ihr hübsches Gesicht drückte nur leichte Besorgnis aus. Ihre Miene entspannte sich beim Anblick der Stieftocher, die vollkommen gefasst wirkte und sich wie durch ein Wunder einer netten, damenhaften Beschäftigung hingab.

„Fühlst du dich besser, mein Liebes?“, säuselte Mrs. Carlton. „Wo ist der Major?“

„Ich bin hier, Madam.“ Er kam um die Ecke. „Ich habe Ihren hübschen Garten bewundert. Was für ein friedlicher Ort! Ich vermute, dass Sie ihn gestaltet haben, nicht wahr?“

Hebe zog die Augenbrauen hoch. Die Müdigkeit schien von ihm abgefallen zu sein, oder aber Schmeicheleien waren seine zweite Natur. Schweigend wartete sie darauf, ob die Stiefmutter sein Lob akzeptieren würde. Der Garten war nämlich bereits angelegt und bepflanzt gewesen, als man das Haus bezogen hatte.

„Was für ein hübsches Kompliment, Major! Sagen Sie, bleiben Sie lange auf Malta?“

„Vielleicht zwei, drei Wochen, Madam. Ich warte auf ein Schiff nach Gibraltar.“

„Sie sind also nicht bei Ihrem Regiment?“, erkundigte Sara Carlton sich beharrlich.

„Nein, Madam. Ich war auf den Ionischen Inseln, wohin ich Depeschen gebracht habe.“

Mrs. Carlton war viel zu sehr mit der Überlegung beschäftigt, ob zwei oder drei Wochen ihr genügend Zeit ließen, zumindest eine Abendgesellschaft zu veranstalten, als dass sie bemerkt hätte, wie ungewöhnlich es für einen Armeeoffizier war, von seinem Regiment getrennt um das Mittelmeer zu reisen und Depeschen abzuliefern. Die Tatsache, dass er allein war, erschien ihr nur hilfreich. Getrennt von seinen Kameraden war es viel wahrscheinlicher, dass er es als angenehm empfand, wenn für seine Unterhaltung gesorgt wurde.

Hebe war nicht entgangen, dass er eine ausweichende Antwort gegeben hatte. Der ausdruckslosen Miene des Commodore nach zu schließen, war auch ihm das aufgefallen. Hebe nahm an, dass Sir Richard genau wusste, was Beresford vorhatte. Ihr kam der Gedanke, dass es sich bei dem Major um jemanden vom Geheimdienst handelte. Voll neu erwachten Interesses schaute sie ihn an.

„Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Madam“, sagte Beresford und hob Mrs. Carltons Hand zum Kuss an die Lippen. „Auf Wiedersehen, Miss Carlton.“ Hebe legte die Stickerei beiseite, stand auf und gab ihm die Hand. „Ich hoffe, Sie werden sich bald wohler fühlen“, bemerkte er höflich.

„Es geht mir bereits besser. Zweifellos war ich heute Vormittag zu lange in der Sonne“, erwiderte sie gefasst. „Vielen Dank, dass Sie mir Gesellschaft geleistet haben.“

Major Beresford sah Hebe einen Moment lang an und lächelte dann. „Nein. Ich danke Ihnen, Miss Carlton.“

Ein Gefühl der Wärme überkam sie. Wenn er auf diese Weise lächelte und ihr in die Augen schaute, konnte sie in ihm weder einen Mönch noch einen Jagdfalken sehen, sondern nur einen sehr attraktiven Mann, der ihre Gesellschaft genossen zu haben schien. Und plötzlich war sie zutiefst durch die Vorstellung beunruhigt, er könne weiterhin dieser Ansicht sein.

Kaum hatte die Haustür sich hinter den beiden Offizieren geschlossen, richtete Sara Carlton voll glühender Begeisterung den Blick auf ihre Stieftochter. „Meine liebe Hebe! Ich hätte nicht gedacht, dass du so geschickt sein würdest, den Major sogleich für dich einzunehmen! Meiner Meinung nach ist er bereits halb in dich verliebt.“

Hebe errötete. „Ich bitte dich! Rede nicht solchen Unsinn, Mama“, sagte sie, während sie Sara in den Salon folgte. „Ich habe ganz gewiss nicht versucht, ihn in irgendeiner Weise für mich zu interessieren. Zweifellos hat er mich, eine ziemlich gewöhnliche junge Dame, der behilflich zu sein er eine Weile genötigt gewesen war, längst vergessen. Warum sollte er sich meiner erinnern?“

„Wir müssen unverzüglich deine Garderobe auffrischen“, antwortete Mrs. Carlton und nahm auf dem Kanapee Platz. „Dem Himmel sei Dank, dass Sir Richard uns im letzten Monat die neueste Ausgabe des Adelsregisters überlassen hat“, fuhr sie fort und griff nach dem Band, der auf dem Beistelltisch lag. Sie schlug ihn auf und blätterte eifrig. „Also … Abbotsford, Avery, Bottley, Brandon, Beresford. George Beresford, dritter Earl of Tasborough, vermählt mit Emilia … Söhne: William, Viscount Broadwood und der ehrenwerte Major Alexander Hugh Beresford. Dem Himmel sei Dank! Der Major ist nicht verheiratet!“

„Vielleicht hat er sich seit der Veröffentlichung des Buches vermählt“, warf Hebe ein. „Oder er ist verlobt.“

„Das werden wir herausfinden“, erwiderte Mrs. Carlton entschlossen.

„Ich werde ihn jedenfalls nicht danach fragen“, erklärte Hebe, ging zum Fenster und schaute sehnsüchtig ins Freie. Was für ein schöner Tag für einen Spaziergang!

„Du meine Güte, nein! Das wäre fatal!“, meinte Mrs. Carlton. Allein der Gedanke entsetzte sie. „Ich werde Sir Richard bitten, für uns den Familienstand des Majors herauszufinden. Ich werde ihm sofort einen Brief schreiben. Je eher wir wissen, woran wir sind, desto besser, denn Major Beresford wird uns ganz bestimmt schon morgen die Aufwartung machen.“

Es vergingen jedoch drei Tage, ohne dass etwas von ihm zu hören oder zu sehen war. Mrs. Carlton war niedergeschlagen und geneigt, sich mit Sir Richard zu streiten, der nach eingehender Befragung nur vage antwortete, er sei sicher, Major Beresford sei irgendwo auf der Insel sehr beschäftigt.

Am vierten Tag verließ Hebe frühmorgens das Haus, ging zum Markt und tätigte Einkäufe für das Mittagessen, bekam jedoch nicht den gewünschten Fisch. Auf dem Heimweg schlenderte sie an der St.-Lazarus-Festung entlang, lehnte sich schließlich an die schattige Mauer und überlegte, wie spät es sein mochte. Wahrscheinlich war es ratsam, sich zu beeilen. Plötzlich fiel ihr ein kleines Fischerboot auf, das den Teil des Kais ansteuerte, in dessen Nähe sie sich befand. Ein Junge von ungefähr neun Jahren, der ein Stück entfernt gesessen hatte, stand auf, nahm seinen Weidenkorb an sich und kam in ihre Richtung. Sie nahm an, er wolle seinen Vater, den Bootseigentümer, treffen. Vielleicht lohnte es sich zu sehen, was der Fischer gefangen hatte, denn es konnte sein, dass er ihr etwas von seinem Fang verkaufen würde. Sie wartete und beobachtete das anlandende Boot, das nur einige Yards von ihr entfernt festmachte. Das Segel nahm ihr die Sicht auf den Fischer. Geduldig harrte sie aus, derweil er es einholte. Kaum hatte er sich aufgerichtet, bemerkte sie, dass er kein Einheimischer war, obwohl er sich wie ein solcher angezogen hatte. Bei dem hochgewachsenen, unrasierten schwarzhaarigen Mann, der ein einfaches Hemd und Leinenhosen trug und barfuß war, handelte es sich um niemand anderen als Major Alex Beresford.

Hebe entschloss sich zu bleiben, wo sie war. Sie mochte nicht den Eindruck erwecken zu spionieren. Unter solchen Umständen wollten Geheimdienstoffiziere gewiss nicht von Zufallsbekanntschaften gesehen werden. Vielleicht war der Major tatsächlich fischen gewesen, aber vielleicht hatte er auch etwas ganz anderes erledigt.

„Bongourno!“, rief der Junge, kniete sich hin und hielt dem Major den Korb hin.

Major Beresford grinste. „Bongourno, Pauli. Kif int?“

„Danke, es geht mir gut, Signor Alex“, antwortete der Junge. „Das war korrekt, nicht wahr? Mama sagt, ich müsse üben, wenn ich für die Engländer arbeiten will.“

„Ja, das war wirklich fehlerfrei, Pauli. Halt den Korb ruhig. Ich habe einen guten Fang gemacht.“

Der Major warf Fische in den Korb und schaute plötzlich auf. Wieder hatte er diesen raubvogelhaften durchdringenden Blick, der Hebe so beunruhigt hatte. „Wer ist da?“, rief er ungehalten.

„Ich bin es“, antwortete sie gefasst, löste sich von der Mauer und verließ den Schatten der Festung. „Guten Morgen, Major. Sie sprechen sehr gut Maltesisch.“

„Guten Morgen, Miss Carlton. Ich kenne ungefähr sechs Redewendungen und zwanzig Wörter. Der Rest ist eine Mischung aus Griechisch, Französisch und Italienisch. Das scheint jedoch zu reichen. Wieso sind Sie so früh hier?“

„Ich war auf dem Markt, habe jedoch nicht die Fische bekommen, die ich haben wollte. Mir scheint, Sie hatten mehr Glück. Würde Ihr junger Freund mir einige verkaufen?“

Pauli hielt ihr seinen Korb hin. „Ghal bejgh. Welche möchten Sie haben, Madonna?“

„Kemm?“, fragte sie.

„Irhis hafna.“ Pauli nannte eine hohe Summe.

„Gholi wisq! Das ist nicht billig“, wandte sie ein und machte ein entsetztes Gesicht. „Ich möchte nur einige Fische haben. Den da. Und diesen hier, und die Rotaugen.“

Pauli verringerte den Preis.

Sie gab ihm das Geld. Er wickelte die Fische in die Palmblätter, mit denen sie ihren Korb ausgelegt hatte. „Sahha!“, verabschiedete er sich und rannte winkend davon.

„Sahha!“, rief Alex ihm hinterher und schaute dann Hebe an. „Sie haben mehr als nötig gezahlt. Seine Mutter und seine kleinen Schwestern werden stolz auf ihn sein. Er hat mich angesprochen, nachdem er mich zum ersten Mal in den Hafen zurückkehren sah, und mir angeboten, zum Ausgleich für die von mir gefangenen Fische Aufträge für mich zu erledigen. Er macht Besorgungen, überbringt Nachrichten und isst alles, was ihm in die Hände fällt.“

Lächelnd sah Hebe den Major an. Viele Fragen lagen ihr auf der Zunge, doch sie sprach sie nicht aus. Seit Beresford sich auf Malta befand, waren erst wenige Tage vergangen. Bestimmt hatte er nicht die Zeit gehabt, sich ein Boot zu kaufen. Zudem war Hebe überzeugt, dass es kein einheimisches war. Konnte er mit diesem kleinen Kahn von den Ionischen Inseln hergekommen sein? Wenn ja, war es kein Wunder, dass er so erschöpft ausgesehen hatte.

„Werden Sie das Boot jetzt hier vertäuen?“, erkundigte sie sich beiläufig.

„In der Tat“, antwortete er belustigt. „Hier ist weitaus mehr Platz als in der Nähe des Fischmarktes. Warum? Wollen Sie irgendwohin gebracht werden?“

„Ja“, gab Hebe zu. „Ich habe einen ziemlich weiten Weg hinter mir, noch dazu in unpassenden Schuhen. Jetzt tun mir die Füße weh.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt haben? Wo ist Ihre Zofe?“

„Ich nehme sie selten mit“, erklärte Hebe. „Außerdem laufe ich gern. In Malta ist man sicher.“

„Wie bitte? Keine dreisten Offiziere, die Sie anstarren?“, scherzte der Major und brachte das Boot dicht an den Kai. „Kommen Sie. Ich bringe Sie, wohin Sie wollen. Geben Sie mir den Korb.“

Hebe tat, wie ihr geheißen, setzte sich auf die Kaimauer und wollte ins Boot springen.

„Nein, warten Sie!“, befahl der Major. Er umfasste ihre Taille und hob sie an Deck. Sie staunte, wie mühelos er das tat, da sie nicht dem Bild einer ätherischen Sylphe entsprach, das ihre Stiefmutter bei jungen Damen für ideal hielt.

Das kleine Boot schaukelte. Der Major geriet jedoch nicht aus dem Gleichgewicht. Er stellte sie auf die Bodenplanken, ließ sie jedoch nicht gleich los. Plötzlich wurde sie sich nicht nur seiner Kraft, sondern auch seiner Nähe und der Wärme seiner Hände bewusst. Er hatte das Hemd halb geöffnet, sodass ein Teil seiner sonnengebräunten Brust zu sehen war. Hebe schien den Blick nicht von den schwarzen gekräuselten Härchen wenden zu können.

Dann gab der Major sie frei und half ihr, sich zu setzen. „Ich befürchte, Sie werden nasse Füße bekommen“, sagte er sachlich. Es schien ihn nicht zu beeindrucken, dass man sich so nah war, wohingegen sie sich dadurch ziemlich beunruhigt fühlte.

Sie schluckte. „Das spielt keine Rolle“, erwiderte sie etwas befangen. „Es sind alte, abgetragene Schuhe. Deshalb tun mir die Füße ja so weh.“

„Wohin soll ich Sie bringen?“

„Zum Fischmarkt, wenn Sie so freundlich wären, Major.“

„Sagen Sie Alex zu mir“, forderte er sie lächelnd auf. „Schließlich habe ich in Ihrer Hängematte geschlafen. Ich meine, das rechtfertigt eine gewisse Formlosigkeit.“

Hebe erwiderte das Lächeln. „Also gut, ich bin einverstanden, aber nur, wenn Sie mich Hebe nennen.“

Einen Moment lang betrachtete Major Beresford sie. „Sehr gern“, sagte er dann. „Aber Circe wäre vielleicht der richtigere Name. Wohnen Sie nicht am Palace Square, in der Nähe des erzbischöflichen Palastes?“

„Das ist richtig“, bestätigte Hebe und überlegte, wer in der griechischen Mythologie Circe gewesen war.

„Wenn Sie nichts mehr beim Fischmarkt zu erledigen haben, wäre es doch sinnvoller, Sie zur Elmo-Bucht zu bringen. Von dort kann es bis zu Ihnen nach Haus nur einige Minuten dauern“, meinte Alex und setzte das Segel.

„Aber das ist viel zu weit“, protestierte Hebe. Doch bei der Aussicht auf die Fahrt bekam sie glänzende Augen.

Er holte das Vertäuungsseil ein, stieß mit der Ruderpinne das Boot von der Mauer und drehte das Segel in den Wind. „Was ist daran schlimm? Werden Sie seekrank?“

„Ganz bestimmt nicht“, versicherte Hebe. „Ich wollte nur nicht, dass Sie einen solchen Umweg machen.“ Der Major lächelte. Eine Weile fuhr man schweigend weiter. Hebe beobachtete ihn und bemerkte erneut, wie müde er um die Augen aussah. Ganz bestimmt war er länger als eine Nacht unterwegs gewesen.

„Müssen Sie Bericht erstatten?“, fragte sie mit Unschuldsmiene.

„Wie bitte?“ Fragend hob er eine Augenbraue. „Nach einem nächtlichen Fischfang?“

„Gewiss nach mehr als nur einer Nacht“, platzte sie unbedacht heraus. „Eher drei. Und nach einem so langen Zeitraum haben Sie keinen sehr guten Fang eingebracht. Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht ganz bei der Sache waren.“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich so lange fort war? Vielleicht weil ich Ihnen nicht die Aufwartung gemacht habe?“

„Gewiss nicht! Ich kann jedoch nicht glauben, dass Sie nur letzte Nacht unterwegs waren, wenn ich Ihren Bartwuchs sehe. Und Ihr Blick ist müde, wenngleich nicht so sehr wie neulich. Aber damals hatten Sie eine viel längere Reise hinter sich, nicht wahr?“

Der Major sah Hebe durchdringend an. „Und was schließen Sie daraus?“

„Dass es besser wäre, Sie rasierten sich, ehe jemand anderer Sie sieht und zur selben Schlussfolgerung gelangt.“

„Ich schlage vor, dass Sie diese Sache nicht ins Lächerliche ziehen.“ Prüfend musterte er Hebe. Sie errötete. „Vielleicht bin ich ein französischer Spion und fahre nun aufs Meer hinaus, wo ich Sie über Bord werfen werde, ohne dass jemand mich dabei sieht.“

Seine Stimme hatte so kalt und drohend geklungen, dass Hebe sich verzweifelt umblickte. Man befand sich jetzt außerhalb des Hafens. Links war in der Ferne Dragutt Point zu erkennen. Man würde bald durch den auffrischenden Wind weit auf offener See sein.

Hebe nahm sich zusammen. „So ein Unsinn! Ich weiß sehr gut, dass Sie ein englischer Geheimdienstoffizier sind.“

„Und woher ist Ihnen das bekannt?“

„Ich bin keine dumme kleine Debütantin. Ich habe eine gute Beobachtungsgabe und bin sehr wohl imstande, zwei und zwei zusammenzuzählen. Ich bin schon neulich zu dieser Erkenntnis gelangt, habe jedoch niemandem etwas davon erzählt. Das werde ich auch nicht tun. Sie können also aufhören, mich wie ein spanischer Inquisitor anzusehen.“

„Wie ein was?“ Befremdet riss der Major die Ruderpinne herum, und das Segel flatterte. Leise fluchend konzentrierte er sich wieder darauf, das Boot zu steuern.

„Wie ein Inquisitor, und zumindest wie ein sehr strenger und finsterer Mönch.“

Er wirkte sprachlos. Daher fügte Hebe boshaft hinzu: „Meine Zofe Maria sagte, Sie hätten das Aussehen eines schönen, grimmigen Heiligen.“

„Ich nehme an, Sie erwarten, dass mir die Bezeichnung ‚schön‘ schmeichelt?“, fragte er und lachte auf. „Nein, antworten Sie mir bitte nicht. Um Himmels willen, Hebe, ersparen Sie mir weitere Hiebe gegen meine Selbstachtung!“

Hebe schmunzelte. Man war nun auf dem offenen Meer. Die Wellen waren höher. Sie hatte jedoch nicht die Absicht, schon jetzt darauf hinzuweisen. Plötzlich amüsierte sie sich sehr.

„Wollen Sie nicht finster und grimmig aussehen?“, fragte sie scherzhaft.

„Ganz bestimmt nicht. Ich bin ein ganz gewöhnlicher englischer Offizier, der nichts anderes im Sinn hat als seine Truppenübungen und wann das nächste Fest stattfindet. Wollen Sie nicht wissen, was ich auf Malta tue?“

„Nein.“ Sie war schockiert. „Ich würde nicht im Traum daran denken, eine solche Frage zu stellen. Selbst wenn man noch so vorsichtig ist, läuft man stets Gefahr, etwas Unpassendes zu äußern. Und Malta ist ein Nest französischer Spione. Jedenfalls macht man uns das glauben.“

„Vielleicht kein Nest. Ich nehme jedoch an, dass es etliche gibt. Du meine Güte! Sehen Sie, wie weit wir schon auf dem Meer sind! Wenn wir weiter so vorankommen, ist Sizilien unser nächster Anlaufpunkt. Ich werde großen Ärger mit Ihrer Mutter bekommen. Der Gedanke allein alarmiert mich. Halten Sie sich fest. Ich wende.“

Hebe tat, wie ihr geheißen, und reagierte gelassen, als die Gischt ihre Röcke nass machte. Das Boot wurde gewendet und fuhr zur Insel zurück. Sonnenlicht glitzerte auf den Wellenkämmen. Möwen kreischten, und überall waren Segelboote zu sehen. Es war ein wunderschönes Bild. Sie wusste, dass sie sich ewig an diesen Augenblick erinnern würde.

„Was meinten Sie damit, dass Sie keine dumme kleine Debütantin sind?“, fragte Alex plötzlich.

„Habe ich das gesagt? Das hätte ich nicht äußern dürfen. Die meisten Debütantinnen sind nett.“

„Die meisten? Rechnen Sie sich nicht zu Ihnen?“

„Oh nein“, antwortete Hebe fröhlich. „Dafür bin ich zu alt. Ich bin nie offiziell in die Gesellschaft eingeführt worden. Als wir nach England zurückkehren konnten, damit ich dort debütiere, hatte Mama soeben Sir Richard kennengelernt. Daher sind wir hier geblieben.“

„Das kommt mir Ihnen gegenüber ziemlich ungerecht vor.“

Hebe zuckte mit den Schultern. „Hier kenne ich alle Leute und gehe zu jedem Fest.“

„Und Sie haben zahlreiche Verehrer?“ Alex steuerte in die Bucht von St. Elmo. Man war fast zurück. „Vielleicht einen Verlobten, der mich zur Rechenschaft ziehen wird, weil ich Sie ohne Duenna in meinem kleinen Boot mitgenommen habe?“

Hebe lachte ehrlich belustigt auf. Er zog die Augenbrauen hoch. „Ich habe viele Freunde“, erwiderte sie und schmunzelte bei der Vorstellung, dass eine Traube von Bewunderern sie belagerte. „Aber keine Anbeter, und ganz gewiss keinen Verlobten.“

„Warum ist das so erheiternd? Hier gibt es so viele Offiziere.“

„Und viele hübsche Mädchen, mit denen sie sich amüsieren können.“ Das Boot stieß gegen die Kaimauer. Alex ergriff das Vertäuungsseil, machte jedoch keine Anstalten, nach dem Steiper zu greifen.

„Und Sie?“, fragte er sachlich.

„Wie Sie vielleicht bemerkt haben, bin ich keine Schönheit, was Mama häufig beklagt.“

„Nein“, stimmte er zu.

Wenngleich Hebe hohle Komplimente verabscheute, war sie über diese Offenheit dennoch pikiert. „Und auch nicht hübsch“, fuhr sie fort.

„Ganz gewiss nicht hübsch.“ Schließlich erhob sich Alex, um das Boot festzubinden. Mit tränenfeuchtem Blick bewunderte sie die Mühelosigkeit und die Kraft, mit der er diese Arbeit verrichtete.

Er beugte sich zu Hebe und half ihr auf die Füße. „Wie ungalant von Ihnen, Major!“, sagte sie, um dem Gespräch eine Wende ins Scherzhafte zu geben. „Sie hätten protestieren und äußern müssen, ich sei der Inbegriff einer hübschen Frau, auch wenn wir beide wissen, dass das nicht stimmt.“

„Ich sage lieber etwas, das wahr ist, und was wir beide glauben können.“ Der Major hielt Hebes Hand fest, als sie sich erhob. Sie war ihm sehr nah. Das kleine Boot schaukelte sacht und war plötzlich wie eine in sich geschlossene, abgeschiedene Welt.

„Sie sind nicht schön, Hebe“, äußerte Alex leise, „aber die wenigsten Menschen sind das.“

Sie schaute ihn an und fand, er sei es.

„Und Sie sind auch nicht hübsch. Gutes Aussehen verflüchtigt sich schnell. Man erlebt eine herbe Enttäuschung, wenn man mittleren Alters ist. Nein, Hebe! Sie sind etwas viel Besseres, und sehr viel gefährlicher.“

Das Atmen fiel ihr eigenartig schwer. „Was bin ich?“

Er ließ ihre Hand los und umfasste ihr Gesicht. Leicht strich er ihr über die Wangen. Verwirrt senkte sie den Blick. „Sie sind bezaubernd.“

„Bezaubernd?“ Sie riss die Augen auf und starrte den Major erstaunt an. „Bezaubernd? Ich?“

Er ließ sie los und hob den Korb aus dem Boot. „Das hat man Ihnen doch bestimmt schon gesagt, nicht wahr?“

„Nein. Noch nie. Aber ich flirte auch nicht, Major.“ Vorsichtig stieg sie über das auf dem Boden des Bootes liegende Netz und fragte sich, ob ihre zitternden Beine sie an Land tragen würden.

„Ja, ich entsinne mich, dass Sie das geäußert haben. Ich versuche jedoch nicht, mit Ihnen zu schäkern.“ Der Major ergriff erneut ihre Hand. „Treten Sie auf die Seitenwand und halten Sie sich an der Mauerkante fest. Ja, genau so.“

Hebe wurde von ihm auf den Kai gehoben. Sie drehte sich um und schaute den Major an. „Vielen Dank, dass Sie mich hergebracht haben“, sagte sie. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange von Ihren Pflichten abgehalten.“

Er lächelte Hebe an. „Überhaupt nicht. Es war mir ein Vergnügen. Wenn Sie das Tau herunterwerfen würden. Dann fahre ich weiter. Und ich werde Ihren Rat beherzigen.“

„Welchen Rat?“

„Mein Rasierzeug mitzunehmen, wenn ich länger als eine Nacht unterwegs sein werde. Hat Ihnen je jemand gesagt, dass Sie eine gute Beobachtungsgabe haben?“

„Oh ja!“, antwortete sie und lachte herzlich auf. „Das erzählt man mir dauernd. Man nennt das jedoch undamenhafte Neugier. Auf Wiedersehen, Alex.“

„Auf Wiedersehen, Circe.“

Sie nahm ihren Korb und trat den Heimweg an. Als sie einen Blick zurück zum Kai warf, sah sie das Boot schon weit draußen in der Bucht.

Daheim angekommen, übergab sie ihre Einkäufe dem Stubenmädchen und eilte in ihr Zimmer. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, nahm sie den Strohhut ab und setzte sich an den Frisiertisch. Im Spiegel sah sie dieselbe Hebe, die morgens das Haus verlassen hatte, die graue Maus mit dem freundlichen Lächeln.

Sie beugte sich vor. Major Beresford hatte etwas anderes gesehen, jemand anderen. Jemand Bezaubernden. Gefährlich.

„Bezaubernd“, sagte sie. Hatte er sie geneckt? Mit ihr geflirtet? Er hatte jedoch versichert, dass er das nicht tat. Sie neigte dazu, ihm zu glauben. Was hatte er gesehen? Braunes, zu einem Knoten geschlungenes Haar, dessen Fülle man so nicht erkennen konnte. Graue Augen mit langen Wimpern. Hebe furchte die Stirn. Ziemlich ausgeprägte Wangenknochen. Die Erinnerung, wie der Major ihr mit seinen schlanken Fingern darüber gestrichen hatte, verursachte ihr einen Schauer. Die Nase. Bei ihrem Anblick rümpfte Hebe sie. Eine sehr normale Nase mit Sommersprossen. Der Mund. Er war zu breit. Sie hatte jedoch ebenmäßige weiße Zähne, und das war etwas Positives.

Nein. Es gab nichts in ihrem Gesicht, was das Wort „bezaubernd“ gerechtfertigt hätte. Vielleicht hatte der Major gemeint, sie habe ein reizendes Wesen. Das sagten alle Leute, die zu jungen Damen, welche plump, zu groß oder so wenig bemerkenswert waren wie Hebe, nett sein wollten. Welch reizendes Wesen die liebe Hebe hat … Und wie schade, dass sie so unansehnlich ist.

Stirnrunzelnd schaute sie ihr Spiegelbild an. Dennoch hatte der Major sie …

„Mama.“ Sie rannte in den Flur. „Bist du noch in deinem Zimmer? Wer war Circe?“

3. KAPITEL

Circe?“ Mrs. Carlton betrachtete ihre Stieftochter erstaunt. „Irgendwo bei Papas Büchern liegt noch ein Band mit griechischen Sagen. Warum willst du das wissen?“

Hebe war jedoch schon verschwunden. Sie war in das Zimmer ihres Vaters geeilt und ging die Buchrücken in den Regalen nach dem fraglichen Titel durch. Schließlich fand sie ihn, nahm den Band an sich und blätterte ihn durch, bis sie zu dem Kapitel kam, das Odysseus und seinen Reisen gewidmet war. „Circe“, las sie, „Tochter des Sonnengottes Helios und der Perse, einer Seenymphe. Zauberin, Herrin der Insel Aeaea, die die Macht hatte, Menschen in Wölfe, Löwen oder Schweine zu verwandeln.“ Der Vergleich mit der Sagengestalt war nicht sehr schmeichelhaft. Circe schien eher eine Hexe als etwas anderes gewesen zu sein. „Sie verwandelte Odysseus’ Mannschaft in Schweine. Er zwang sie jedoch, seine Männer zurückzuverwandeln, und blieb ein Jahr lang bei ihr, ehe er seine Reise fortsetzte.“

Der Major verglich Hebe also mit einer Zauberin, die solche Macht über den großen Helden gehabt hatte, dass er ein ganzes Jahr auf ihrer Insel geblieben war. Hatte er damit zum Ausdruck bringen wollen, dass sie ihn verzauberte, damit er auf Malta blieb? Das war lächerlich, denn er war nicht sein eigener Herr, sondern musste reisen, wohin er abkommandiert wurde.

„Warum wolltest du wissen, wer Circe war?“, erkundigte sich Mrs. Carlton beim Betreten des Raums.

„Major Beresford hat sie erwähnt“, antwortete Hebe ehrlich.

„Oh. Hast du ihn heute Morgen gesehen?“

„Ja. Ich habe ihn beim Fischmarkt getroffen.“

„So ein unausstehlicher Mensch! Drei Tage lang hat er sich hier nicht blicken lassen, und dann musst du ihn ausgerechnet dort treffen. Du hast bestimmt ausgesehen wie ein Hausmädchen, das einkaufen war.“

„Er war nicht in Valetta, Mama“, erwiderte Hebe.

„Nein? In diesem Fall verzeihe ich ihm. Aber es gilt, keine Zeit zu verlieren. Wir müssen die Einladungen für unsere Soirée am Dienstag verschicken. Ich habe die Sache nicht mehr verfolgt, weil ich so enttäuscht darüber war, dass er uns nicht besucht hat.“

„Uns bleiben doch nur zwei Tage, Mama. Werden die Leute es nicht eigenartig finden, dass wir so kurzfristig zu der Gesellschaft einladen?“

„Das ist mir gleich“, antwortete Mrs. Carlton in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie sich für eine beliebte Gastgeberin hielt. „Ich werde schreiben, ich hätte mich plötzlich zu einer kleinen informellen Zusammenkunft entschlossen.“

„Sollten wir nicht warten, bis Sir Richard dir heute Abend gesagt hat, ob der Major verheiratet ist oder nicht? Wir vergeuden sonst nur eine Menge goldgerandeter Einladungskarten.“

Die Stiefmutter schien den ironischen Unterton nicht bemerkt zu haben. „Ein kleines Fest ist erst recht vonnöten, um uns aufzuheitern, falls der Major nicht mehr ledig ist“, sagte sie ernst. „Aber wir sollten nicht verzweifeln. Komm mit, damit wir die Liste machen können.“

Hebe verbrachte den Rest des Tages damit, Einladungskarten zu schreiben und von Major Beresford zu träumen. War er verheiratet? Wenn er das war, sollte er jungen Damen nicht sagen, sie seien bezaubernd. Männer neigten indes zum Flirten, besonders Armeeoffiziere. Sie fand es jedoch sehr angenehm, dieses Kribbeln im Magen zu verspüren und eine gewisse Aufregung und Vorfreude zu empfinden. Das war eine neue Erfahrung. Vielleicht war das der Grund, warum Debütantinnen es genossen, so viel zu kokettieren. Kein Mann hatte je versucht, mit Hebe zu schäkern, da jeder von ihnen viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, ihr von den eigenen Problemen zu erzählen. Oder hatte man in ihr lediglich jemanden gesehen, der nur eingeladen worden war, damit die hübscheren jungen Damen besser zur Geltung kamen?

War die eigenartige Beziehung, die sich zwischen ihr und Major Beresford zu entwickeln schien, eine Liebelei? Vielleicht mochte er sie einfach nur und fand sie unkonventionell und daher amüsant? Und was wünschte sie sich überhaupt? Zum jetzigen Zeitpunkt ließ die Fantasie sie im Stich. Sie war nur sicher, dass der Major ganz gewiss nicht vorhatte, ihr, einer unscheinbaren, sehr gewöhnlichen jungen Dame, einen Heiratsantrag zu machen, ganz gleich, was ihre Mama denken mochte.

Sie war in einem Zustand größter Aufregung, als man sich schließlich abends zu Tisch setzte. Mrs. Carlton war viel zu klug, um den Commodore mit neugierigen Fragen zu bestürmen, ehe er sein erstes Glas Wein geleert und etwas gegessen hatte. Sie wartete, bis das Dinner beendet war und er verkündet hatte, es sei ausgezeichnet gewesen.

„Es freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat, Sir Richard“, erwiderte sie. „Ach, übrigens habe ich mich entschlossen, am nächsten Dienstag eine Soirée zu veranstalten. Ich hoffe, Sie können daran teilnehmen.“

„Aber sicher, meine Liebe“, antwortete der Commodore. „Ich bin entzückt über die Einladung.“

„Glauben Sie, dass Major Beresford teilnehmen würde?“

Belustigt schaute Sir Richard Hebe an. Sie errötete, und er zwinkerte ihr zu. „Ich kann natürlich nicht sagen, welche Verpflichtung er hat, bin jedoch sicher, dass er gerne kommt, falls er frei ist.“

„Es muss so schwierig für ihn und für viele andere Offiziere sein, dass ihre Frauen und Familien so weit von ihnen entfernt sind“, äußerte Mrs. Carlton mitleidig.

„Sicher“, stimmte der Commodore zu. „Major Beresford ist jedoch nicht verheiratet und auch nicht verlobt, soweit ich weiß. Er erwähnte, sein Vater dränge darauf, dass der ältere Bruder endlich die Ehe eingeht. Aber weder er noch sein Bruder seien geneigt, dies zu tun, und das beunruhige Seine Lordschaft.“

Was war besser? Jetzt sofort enttäuscht zu sein, oder mit dem Flirten, falls man das, was Hebe mit dem Major verband, so nennen konnte, fortzufahren und unweigerlich den Schmerz erleben zu müssen, ihn, wenn der Reiz des Neuen verflogen war, sich einer hübscheren Dame zuwenden zu sehen?

Aber warum sollte sie aufgeben? Warum sollte sie nicht so wie jede andere Debütantin junge Männer für sich einnehmen? Erfahrung, sagte eine innere Stimme. Selbst die Mutter, die allen Grund hatte, ihrer Stieftochter das Beste zu wünschen, verzweifelte ob Hebes Aussehens und ihres Benehmens. Jedermann mochte Hebe; niemand begehrte sie.

Nun, Major Beresford empfand offenbar mehr für sie als nur Sympathie. Er würde sich diese Gefühle jedoch nicht bewahren, wenn sie weiterhin eine graue Maus blieb. Manchmal hatte sie sich darüber gewundert, dass diese oder jene Debütantin als so schön und reizend galt, obwohl sie in Hebes Augen ziemlich gewöhnlich war. Diese jungen Frauen glaubten jedoch entweder an ihre Ausstrahlung, oder sie gaben das vor. Irgendwie bekamen sie dadurch eine Aura. Das war einen Versuch wert.

Hebe redete sich ein, bezaubernd zu sein. Sie erinnerte Männer an die Tochter einer griechischen Nymphe.

Die Einladungen für die Soirée waren verschickt worden, und beruhigenderweise erhielt man viele Zusagen, darunter ein höfliches Schreiben von Major Beresford, der mitteilte, er sähe der Gesellschaft mit Entzücken entgegen. Mrs. Carlton bedauerte, dass sie ein halbes Dutzend Debütantinnen hatte hinzubitten müssen, Konkurrenz für Hebe. Ihr war jedoch klar gewesen, dass die Mütter, wenn sie den Anschein erweckte, deren Töchter zu übersehen, Hebe nicht mehr einladen würden, und das hätte fatale Folgen gehabt.

Sie erlaubte Hebe, eine Topasparüre zu tragen, die viel besser zu ihrem neuen Abendkleid passte als die Perlen, die das Mädchen ursprünglich hatte tragen wollen. Als Hebe sich schließlich vom Schemel vor dem Frisiertisch erhob und ihr Spiegelbild betrachtete, hatte sie den Eindruck, dass sie sich vielleicht nicht grenzenlos täuschte, wenn sie sich einredete, bezaubernd zu sein, denn die junge Dame, die sie erblickte, war zwar nicht unbedingt hübsch zu nennen, aber elegant und eindrucksvoll.

Freundlich, aber etwas geistesabwesend begrüßte sie kurz darauf die Gäste. Dann schlug die Uhr neun Mal an, und Major Beresford erschien. Hebe schluckte schwer. Sie war sofort davon überzeugt, dass er nicht das mindeste Interesse an ihr hatte und sie sich lächerlich machte. Er hob Mrs. Carltons Hand zum Kuss an die Lippen und wechselte einige Worte mit ihr, ehe er sich Hebe zuwandte.

Sie zwang sich, ihn anzusehen, und streckte den Arm aus, um ihn zu begrüßen. Er ergriff ihre Hand, hob sie an und sagte: „Guten Abend, Miss Carlton.“ Einen Moment lang glaubte sie, er werde einen Kuss darauf hauchen. Stattdessen drückte er ihr Handgelenk an seine Wange. „Bin ich gut genug rasiert?“, fragte er gedämpft.

Sie spürte, dass sie errötete, entzog sich ihm jedoch nicht. Schließlich ließ er sie los. „Perfekt“, antwortete sie. Es kostete sie indes große Mühe, dem Drang, ihn wieder zu berühren, nicht nachzugeben.

„Entschuldigen Sie, Mrs. Carlton“, sagte er verlegen. „Ich halte die anderen Gäste auf. Ich wollte Ihrer Tochter nur Gelegenheit geben, sich davon zu überzeugen, dass ich den Rat beherzigt habe, den sie mir neulich gab.“ Er verneigte sich leicht und ging in den Salon. Atemlos schaute Hebe ihm hinterher.

„Ich verzweifle an dir, Hebe“, zischte Mrs. Carlton ihr zu, nachdem alle Gäste begrüßt worden waren. „Ja, wirklich! Du hast Major Beresford den Eindruck vermittelt, ein Blaustrumpf zu sein, weil du mit ihm über klassische Mythologie geredet hast. Nun muss ich auch noch hören, dass du ihm Ratschläge erteilst! Es wäre ein Wunder, wenn er dich nicht für einen anmaßenden Bücherwurm hält!“ Da Hebe schwieg, drehte Mrs. Carlton sich zum Salon um. „Ich glaube, die Gäste sind alle da. Gehen wir hinein und versuchen wir den Schaden zu beheben, den du angerichtet hast.“

Hebe atmete tief durch und folgte verhalten lächelnd der Stiefmutter. Selbst der Anblick des Majors, der mit einer Gruppe hübscher Debütantinnen plauderte, brachte ihr Selbstbewusstsein nicht ins Wanken.

„Guten Abend, Hebe … Ich meinte, guten Abend, Miss Carlton.“

Sie wandte sich zur Seite und erblickte Jack Forrester mit zweien seiner Freunde. Er war Mrs. Forresters ältester Sohn und bei Männern wie Frauen gleichermaßen beliebt. Hebe war mit seinen Schwestern befreundet, doch bis jetzt hatte er ihr nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

„Guten Abend, Jack, Paul, William.“

„Sie kommen doch zu Mamas Ball, nicht wahr, Hebe?“, erkundigte sich Jack leise.

„Ja, ich freue mich darauf.“

„Werden Sie mir einen Walzer reservieren?“ Er deutete Hebes überraschte Miene falsch. „Ja, ich weiß. Wagemutig von Mama, nicht wahr? Sie meinte, einige der älteren Damen könnten Anstoß nehmen. Sie will jedoch nicht, dass der Ball langweilig wird. Sie können doch Walzer tanzen, nicht wahr, Hebe?“

Zufällig konnte sie das. Bisher hatte jedoch kein Mann sie dazu aufgefordert. „Selbstverständlich“, bestätigte sie. „Natürlich werde ich mit Ihnen Walzer tanzen.“

Seine beiden Begleiter traten zu ihr. „Jetzt lass uns zu Wort kommen, Jack!“, verlangte William Smithson. „Sie werden doch auch uns einen Walzer reservieren, nicht wahr, Miss Carlton?“

„Ja, natürlich“, antwortete sie und erblickte sich in dem über dem Kamin hängenden Spiegel. Sie sah eine hochgewachsene junge Dame, die von attraktiven Gentlemen umringt war. Das konnte sie kaum glauben.

Major Beresford befand sich an der anderen Seite des Raumes und sprach mit Mrs. Forrester und Hebes Stiefmutter. Mrs. Carlton schien keine Zeit verloren zu haben, um ihre Freundin auf diesen heiratsfähigen Gast aufmerksam zu machen, damit er zum Ball eingeladen wurde. Würde er kommen? Hebe beschloss, anderen Männern keine Zusagen mehr zu geben, bis sie das wusste. Wie schrecklich, alle Walzer vergeben zu haben, ehe der Major sie um einen bitten konnte! Dann kam ihr die Tatsache, dass sie, die nette, unscheinbare Hebe, sich Sorgen darum machte, ihre Tanzkarte freizuhalten, so unwahrscheinlich vor, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte.

Schließlich wurde zum Tanz aufgespielt, und der Major kam zu ihr. Sie machte die Herren miteinander bekannt. Irgendwie schienen ihre Freunde jedoch zu ahnen, dass sie unerwünscht waren. Sie entschuldigten sich rasch und mischten sich unter die Gäste.

„Nette Burschen“, meinte Alex.

Hebe nickte lächelnd. „Sie haben sich soeben mit Mr. Forresters Mutter unterhalten?“

„Ja“, bestätigte er. „Sie hat mich zu ihrem Ball eingeladen.“

„Werden Sie daran teilnehmen?“

„Nur, wenn Sie mir versprechen, mir den ersten Walzer aufzuheben, Circe.“

„Ich habe bereits drei Walzer vergeben. Ich weiß nicht, wie viele gespielt werden.“

„Tanzen sie den ersten mit mir. Dann bleiben die anderen für Ihren jungen Verehrer und seine Freunde. Ich nehme an, Sie werden mir jetzt vorhalten, dass es Ihnen nicht gestattet ist, mehr als einen Walzer mit mir zu tanzen, nicht wahr?“

„Ja. Mama wäre nicht einverstanden. Aber bei allen anderen Tänzen würde sie keine Einwände erheben.“ Plötzlich fiel es Hebe sehr leicht, sich mit dem Major zu unterhalten. Lag das an ihrer neuen Selbstsicherheit? Oder einfach nur an seiner Gegenwart? Sie wusste es nicht.

„Circe …“

„Ich weiß nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll, wenn Sie mich mit einer Zauberin vergleichen, die Männer in Schweine verwandelt hat. Mama hat geäußert, ich solle nicht in Büchern über griechische Mythologie lesen, weil alle Sagengestalten ein höchst unpassendes Leben geführt hätten.“

Alex lachte auf. „Was kann Sie damit meinen?“

„Nun, sie würde sagen, Circe sei der Spross aus einer höchst anstößigen Liaison. Zeus’ … hm … Freundschaften mit jungen Frauen würde sie überhaupt nicht erwähnen. Können Sie sich Mama vorstellen, wie sie dem Minotaurus eine Moralpredigt über seine schlechte Angewohnheit hält, Menschen zu fressen?“

Alex hatte Mühe, eine ernste Miene zu wahren. Er schluckte schwer. „Vielleicht sollte sie eine Gesellschaft zur Unterdrückung von Lastern in der Mythologie gründen? Es scheint Gesellschaften zur Unterdrückung von fast allem zu geben.“

„Oh nein! Wenn Sie das ganze unschickliche Benehmen eliminieren, bleibt von den Geschichten nichts übrig!“ Hebe bemühte sich sehr, nicht laut zu kichern, und bemerkte Miss Dyson, die sie überrascht und sichtlich irritiert anschaute.

Charlotte Dyson war die Ballschönheit der Saison und daran gewöhnt, die ungeteilte Aufmerksamkeit aller heiratsfähigen und attraktiven Männer zu genießen. Ihr Vater war Admiral, und man wusste, dass sie eine große Mitgift bekommen würde. Ihr blondes Haar, ihre großen blauen Augen und ihre wohlgeformte Figur wurden sehr bewundert. Sie war auch nicht daran gewöhnt, dass gut aussehende Männer sich nicht um sie bemühten oder nicht sehnsüchtig darauf warteten, ihr vorgestellt zu werden. Ebenso wenig war sie daran gewöhnt, die unscheinbare Hebe mit einem Kavalier zu sehen, den sie für sich beanspruchte.

„Ein entzückendes Fest, Miss Carlton.“

„Ich bin so froh, dass es Ihnen gefällt, Miss Dyson. Darf ich bekannt machen? Miss Charlotte Dyson. Der ehrenwerte Major Alexander Beresford.“

Man begrüßte sich. „Sind Sie schon lange auf Malta, Major?“, erkundigte sich Miss Dyson und schlenderte in der Annahme weiter, er werde sich zu ihr gesellen und sie begleiten.

„Ich bin erst seit einigen Tagen hier, Miss Dyson. Eine sehr schöne Insel. Entschuldigen Sie, aber ich glaube, der Herr mit den roten Haaren versucht, Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.“ Alex verneigte sich und ging mit Miss Carlton weiter. Die wütende Miss Dyson sah sich Mr. Horace Philpott gegenüber, einem linkischen, nicht sehr begüterten jungen Mann, der sie hoffnungslos vergötterte.

„Das war boshaft“, raunte Hebe dem Major zu und versuchte vergeblich, innerlich nicht zu triumphieren.

„Es tut mir leid.“ Er hatte nicht im Mindesten reumütig geklungen. „Ist Miss Dyson eine besonders gute Freundin von Ihnen? Habe ich Sie ihr entzogen?“

„Nein, sie ist keine meiner Freundinnen. Sie hat jedoch damit gerechnet, dass Sie bei ihr bleiben.“

„Und Sie stehen lassen. Ja, das ist mir aufgefallen. Aber nur, weil sie hübsch ist …“

„Hübsch? Sie ist die anerkannte Ballschönheit der Saison.“

Verschmitzt schaute Alex Miss Carlton an. „Ich gebe Ihnen einen Rat. Wenn Sie das nächste Mal aufgefordert werden, eine schöne Frau zu bewundern, dann fragen Sie sich, wie sie mit vierzig aussehen mag. Noch besser wäre, Sie sehen ihre Mutter an und überdenken Ihren Standpunkt noch einmal.“ Er schaute sich um. „Ich glaube, ich mische mich jetzt besser unter die Gäste, denn sonst bekomme ich Ärger mit unserer Gastgeberin, weil ich Sie zu sehr in Anspruch nehme. Darf ich Sie später zu Tisch begleiten?“

Hebe wusste, dass ihre Stiefmutter ihre Unterhaltung mit dem Major mit ungetrübter Freude verfolgte. Sie errötete und nickte. „Ja, bitte. Und wem soll ich Sie jetzt vorstellen?“

Sie ließ den Major bei einer fröhlichen Gruppe von Marineoffizieren zurück und stellte fest, dass sie plötzlich Mittelpunkt des Interesses war. Sie wurde beobachtet und nahm an, dass man auch über sie redete. Sie bemerkte, dass die Debütantinnen eifersüchtig und neugierig wirkten, die Matronen jedoch erfreut feststellten, wie die liebe Hebe sich entpuppte, vorausgesetzt, sie hatten keine Töchter, die sie unter die Haube bringen mussten. Und die jungen Herren sahen in ihr nicht mehr eine Art sympathischer älterer Schwester, sondern eine ungewöhnlich gewinnende junge Dame.

„Was ist mit der kleinen Hebe passiert?“, hörte sie Lady Ordleigh zu Mrs. Winston sagen. „Das Kind ist ja plötzlich aufgeblüht.“

Hebe, die von den Damen nicht bemerkt wurde, hielt den Atem an. „Ja, stimmt. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, sie hübsch zu nennen, aber heute Abend ist sie es. Sieh dir an, wie die jungen Männer sich um sie scharen. Ich frage mich, was dazu geführt hat.“

Erstaunt ging Hebe weiter zu einer kleinen Gruppe, die sich miteinander unterhielt, und beteiligte sich an dem Gespräch.

Schließlich kam der Major zu ihr und erkundigte sich, ob er sie jetzt zu Tisch führen dürfe. Sie zuckte leicht zusammen. „Oh! Major Beresford! Entschuldigen Sie mich bitte, meine Herrschaften. Ich esse besser eine Kleinigkeit, falls Mama irgendwelche Hilfe benötigt.“ Sie hängte sich beim Major ein, doch kaum war man im Korridor, ging er nicht mit ihr ins Speisezimmer weiter, sondern in den Garten. Sie protestierte schwach, wurde jedoch zielstrebig zwischen die Büsche geführt, wo man ganz außer Sicht war.

„Was ist los, Circe?“ Alex wandte sich ihr zu, sodass er im Licht der Laternen, die in den Zweigen aufgehängt waren, ihr Gesicht sehen konnte. „Sie sind kreidebleich. Ich glaube, Sie haben Tränen in den Augen. War eines der kleinen Biester bösartig zu Ihnen?“

„Nein. Jedermann war sehr freundlich. Ich bin nur nicht daran gewöhnt …“ Ihr versagte die Stimme. Es war lächerlich, aber sie würde gleich weinen.

„Nicht an Feste gewöhnt? Sind Sie sicher? Sie sind eine so gute Gastgeberin.“ Der Major legte ihr leicht die Hände auf die Schultern, und die Berührung war beruhigend.

„Nicht daran gewöhnt, hübsch zu sein. Die Leute schauen mich an.“ Hebe senkte den Blick. Nun, da sie das Geständnis gemacht hatte, war es ihr peinlich. Jetzt würde der Major sie auslachen.

Er schüttelte jedoch missbilligend den Kopf. „Sie haben mir neulich nicht gut zugehört, Hebe. Nicht hübsch. Bezaubernd. Sie waren immer bezaubernd. Sie haben lediglich nie Wert darauf gelegt, das zu zeigen. Kein Wunder, dass Sie so durcheinander sind, nachdem Sie Ihrer Ausstrahlung freien Lauf gelassen haben.“

Der Major lachte leise, doch das störte Hebe nicht. Sie zwinkerte unter Tränen. „Meinen Sie? Nein, Sie machen sich über mich lustig.“

„Nur ein bisschen. Was würde dazu führen, dass Sie sich wohler fühlen?“

„Ein Glas Wein“, schlug sie vor.

„Vielleicht gleich. Vorher finde ich jedoch …“ Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie an sich gezogen und senkte seinen Mund auf ihren.

Sie war noch nie geküsst worden. Sie hatte nie jemanden getroffen, den sie küssen wollte, da ihr das immer befremdlich vorgekommen war. Jetzt war sie nicht im Mindesten befremdet. Alles war jedoch sehr seltsam. Die Lippen des Majors drückten fest und warm auf ihre. Sie schienen ihr stumm Fragen zu stellen, die sie nicht begriff, auf die etwas in ihr aber dennoch antworten wollte.

Sie verspürte gänzlich neue Regungen, die ihr unverständliche Botschaften sandten und ihr sagten, sie solle sich eng an ihn schmiegen. Sie war zu schüchtern, um dem Drang zu folgen, doch wenn der Major sie weiterhin so küsste, würde sie …

Er hob den Kopf und blickte auf ihre geschlossenen Lider. „Hebe?“

„Hm.“

„Sieh mich an.“ Sie tat, wie ihr geheißen, blinzelte und sah in seine blauen Augen, die einen ihr gänzlich unvertrauten Ausdruck hatten. Sie bekam einen trockenen Mund. „Also, vergisst du jetzt diesen Unfug mit dem Hübschsein?“

„Und konzentriere mich darauf, Circe zu sein?“ Vertrauensvoll lächelte sie Alex an und fragte sich, ob ihr Herz gleich zu schlagen aufhören würde.

„Ich weiß nicht, in was du mich verwandelt hast“, erwiderte er kläglich und schob sie ein Stück von sich, um sie an seine Seite zu nehmen und ihr den Arm um die Schulter zu legen. Sie konnte sein Gesicht nicht mehr sehen.

„Nicht in ein Schwein“, versicherte sie ihm und bedauerte, dass er sie nicht mehr küsste.