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Eines Abends im Herbst wird das mittelalterliche Dorf Simmershavn in Schonen von feindlichen Kriegern heimgesucht. Auch Hjalmar fällt dem Überfall zum Opfer, doch im Moment höchster Gefahr erscheint im Sturm ein Reiter der Geisterkavalkade der Wilden Jagd und zieht ihn auf sein Pferd. Als Hjalmar erwacht, hat er zunächst sein Gedächtnis verloren. Mit der Zeit lernt er die vermeintlich schrecklichen Geister als Freunde und Unterstützer kennen, die in den Herbststürmen über das Land rasen, um ihrem Anführer, dem Harlekin, beizustehen. Für Hjalmar eröffnet sich eine fantastische Welt aus Legenden und ungezähmter, wilder Natur. Mythisch wie die Reiter sind auch die Geschichten, die sie erzählen, und die Geschichte, die sie selbst umgibt …
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Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Inhalt
Prolog: Ein Heulen im Sturm
Kapitel 1: Hjalmar
Kapitel 2: Der Türst
Kapitel 3: Fährtenlesen
Kapitel 4: Aello
Kapitel 5: Der Harlekin
Kapitel 6: Fion
Kapitel 7: Die fliegenden Holländer
Kapitel 8: Tirivit
Kapitel 9: Ein Seufzen im Moor
Kapitel 10: Eine Blume aus Eis
Kapitel 11: Das Lied der Nixe
Kapitel 12: Mittwinter
Kapitel 13: Frau Holle
Kapitel 14: Schneeflocken
Kapitel 15: Melisande
Kapitel 16: Ein Tanz mit dem Wolf
Kapitel 17: Risle
Kapitel 18: Windtochterliebe
Kapitel 19: Chateau l'orage
Kapitel 20: Flammen im Wind
Kapitel 21: Die Erlen am Ufer
Kapitel 22: Eine Falle für den Wolf
Kapitel 23: Ein nächtlicher Ausflug
Kapitel 24: Schneeglöckchen
Kapitel 25: Die Herrin Eibe
Epilog
Nachwort
Geschichten und Anspielungen
Ohrenbetäubender Donner riss die Familie aus dem Schlaf. Senkrecht saßen sie auf ihrer Bettstatt, noch halb betäubt vom Traum. Draußen ging ein Unwetter nieder. Große, schwere Regentropfen schlugen gegen die Hauswände und ein starker Wind klapperte zornig an den Läden. Ein Blitz tauchte kurz das Innere des Hauses in ein grelles Licht.
Hjalmar sah seine Mutter, wie sie sanft seine Schwester streichelte, deren Augen vor Schreck weit aufgerissen waren. Unmittelbar folgte der Donner und das kleine Mädchen schrie angstvoll auf.
„Ruhig Kind, ist doch nur ein Sturm“, versuchte seine Mutter sie zu beruhigen.
Von der anderen Seite des Raumes kam ein heiseres Lachen.
„Ein Sturm? Pah, das ist die Jagd, die wieder ihr Unwesen treibt!“
Die Stimme kam von der alten Alma.
„Still Mutter, du machst dem Kind noch mehr Angst“, schimpfte Hjalmars Mutter nun und auch sein Vater gab ein unwilliges Grunzen aus dem Bett von sich.
Die Jagd, dachte Hjalmar und spürte einen eisigen Rückenschauer. Er war kein Angsthase wie seine Schwester, aber die Vorstellung, dass die Wilde Jagd jetzt dort draußen spukte, gruselte ihn schon.
Er lauschte dem Tosen des Windes. Unbarmherzig stürmte er durch das Dorf, riss an den Häusern, polterte an den Türen und ließ das Gebälk knirschen.
Vorsichtig stand Hjalmar auf und trat ans Fenster. Der Wind hatte einen der Läden fast vollständig abgerissen und pfiff wie wild, als wolle er ihn dem Haus nun ganz entreißen.
„Nicht! Komm da weg, Bub!“, kreischte da die alte Alma so laut, dass seine Schwester erneut erschrocken aufschrie und nun auch der Vater gerade im Bett saß.
Hjalmar hatte sich ebenfalls sehr erschreckt und war hastig vom Fenster zurückgetreten.
„Alma, was ist denn?“, fragte sein Vater streng.
„Der Hjalmar hätte fast hinausgesehen, herrjemine“, krächzte die Alte, „wenn er nun die Jagd gesehen hat …“
„Beruhige dich, Alma“, beschied sie sein Vater, „und was dich angeht“, wandte er sich Hjalmar zu, „sofort zurück ins Bett. Es stimmt schon, was die Alma sagt. Wenn die Jagd da draußen umgeht, ist es besser für Menschen, drinnen zu sein.“
Wieder krachte ein Donner und der Wind fauchte dazu.
Hjalmar tat sofort, was sein Vater verlangte, während seine Schwester weinte und Alma jammerte.
„Wenn er sie nun aber doch gesehen hat … der arme Junge. Nicht, dass sie ihn holen!“
„Alma, hör schon auf“, befahl sein Vater scharf, aber es lag eine gewisse Unsicherheit in seiner Stimme. Unsicherheit über die gewaltige Natur und das unheimliche Geisterheer, das draußen vorüberzog und dem kein Mensch beikommen konnte. Odin oder der Christengott würden sie vor dieser Gewalt beschützen! Flüchtig streifte die Hand des Vaters das einfache Amulett, das er zusammen mit dem kleinen Kreuz immer um seinen Hals trug.
„Die Götter stehen uns bei.“
Erneut zerschlug Donner die Luft. Hjalmar warf ein letztes Mal einen verstohlenen Blick zum Fenster, bevor er zum Heulen des Windes einschlief. Kurz war es ihm noch, als hätte er am Himmel etwas vorübereilen sehen, aber er konnte später nicht mehr genau sagen, was es war, und hatte es noch später lange vergessen.
6 Jahre später
Es wurde Winter in Schonen. Die Bäume begannen bereits, ihr Laub abzuwerfen, und harrten nun der Kälte, die da kommen würde. Schon jetzt überzog morgens ein eisiger Reif die Gräser und der Wind vom Meer war kalt und schneidend geworden.
Hjalmar beeilte sich, zur Schmiede zu kommen. Er sollte für die Bootsbauer unten an der Werft neue Nägel holen. Sein Vater, der Häuptlingdes Dorfes, hatte dort ein Schiff in Auftrag gegeben, das im kommenden Frühjahr auf Jungfernfahrt gehen sollte. Vielleicht wurde es noch vor der Julfeier fertig. Hjalmar konnte es kaum erwarten, dass prächtige Schiff auslaufen zu sehen. So lange hatten sie nun schon daran gebaut, manchmal war es ihm gar erschienen, als würden sie nie fertig. Doch nun war das Ende in Sicht und sie konnten bald alle die Frucht ihrer Arbeit bewundern.
Fröhlich über diesen Gedanken erreichte er die Schmiede, die in der Mitte des Dorfes gegenüber des großen Hauses lag, in dem er mit seiner Familie lebte. An der Esse erblickte er den hünenhaften Schmied, der bereits eifrig am Werke war.
„Hallo, Meister Gorn!“
Der Schmied sah kurz auf und lächelte Hjalmar aus klaren blauen Augen an.
„Was gibt es, Junge?“
Seine Stimme war dunkel und brummig. Zusammen mit seiner hohen und breiten Gestalt erschien der Schmied Hjalmar immer wie ein Bär. Zuweilen hatten er und seine Schwester auch überlegt, ob Gorn nicht wirklich aus dem Wald stamme und dorthin immer zu Vollmond zurückkehre. Der Vollmond war wichtig, sagte die alte Alma immer. Vor allem wenn sich Menschen in Wölfe oder andere Tiere verwandelten. Hjalmar hatte zwar noch nie einen Tiermenschen gesehen, aber die alte Alma behauptete steif und fest, dass es sie gebe und dass sie an anderen Orten schon schlimmes Unheil angerichtet hatten.
„Nun, Junge, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit“, riss Gorns Stimme ihn zurück aus seinen Gedanken.
„Ich … ich soll Nägel für Meister Sven holen.“
Der Schmied nickte stumm.
„Lass dir drinnen von Abel welche geben. Und dann sieh zu, dass sie heute noch bei Sven ankommen und du nicht weiter Löcher in die Luft starrst.“ Dabei blickte Gorn ihn aber nochmal belustigt an, sodass Hjalmar wusste, dass er ihm nicht wirklich grollte.
Er lächelte flüchtig zurück und betrat dann das Haus, in dem der Schmied mit seiner Frau und seinem Sohn lebte.
„Hallo, Hjalmar!“, begrüßte ihn auch direkt ein strohblonder Junge in seinem Alter mit einer auffallenden Zahnlücke.
„Hallo, Abel!“, rief Hjalmar fröhlich und lief zu seinem Freund.
„Hier sind deine Nägel“, grinste Abel schon und reichte ihm einen kleinen Sack, in dem es munter klirrte.
„Aber woher weißt du …?“
„Ich habe gelauscht, was du draußen mit Vater geredet hast.“
Wieder grinste Abel und offenbarte erneut seine markante Zahnlücke, die Hjalmar immer an ein gemeinsames Erlebnis mit ihm erinnerte. Sie hatten damals versucht, selbst ein Boot zu bauen und wie die Wikinger früher auf große Fahrt zu gehen, um wilde Abenteuer zu erleben. Ihr Boot war am Ende zwar nur ein kleines Floß gewesen, aber dass sie dann nicht wirklich hatten aufbrechen können, hatte daran gelegen, dass Abel beim Zu-Wasser-Lassen des Floßes auf den nassen Steinen ausgeglitten war und sich bei dem Sturz den Schneidezahn ausgeschlagen hatte. Und so hatte Hjalmar erst den Freund versorgen müssen, aber er war nicht traurig, denn er wusste, dass er früher oder später sowieso ganz sicher mit Abel auf große Fahrt gehen würde.
„Danke, Abel“, sagte er, „treffen wir uns nachher wieder am Deich?“
„Na klar! Aber pass auf, dass dieses Mal Finja nicht mitkommt. Die stört nur!“
Hjalmar nickte. Seine kleine Schwester war ziemlich oft sehr nervig und jetzt mischte sie sich auch noch in den Bau ihres nächsten Wikingerbootes ein. Und das alles nur, weil seine Mutter darauf bestanden hatte, dass er sie mitnahm, wenn er nachmittags loszog. Dabei verstand Finja überhaupt nichts vom Bootsbau und von Wikingern erst recht nichts.
„Ich versuch's, dass ich sie nicht wieder mitnehmen muss.“
„Nicht versuchen, machen“, grinste Abel, „das sagt Vater immer.“
„Meiner sagt das auch“, lächelte Hjalmar und verabschiedete sich dann, um die Nägel abzugeben.
Natürlich hatte seine Mutter auch dieses Mal darauf bestanden, dass er Finja mitnahm, und so musste er es schließlich mal wieder akzeptieren und zog mit seiner Schwester gemeinsam los zu dem nahegelegenen Waldstück am Deich, wo die Bäume einen kleinen Bach verbargen, der ins Meer führte. Hier befand sich auch ihre kleine Werft.
Von dort, wo sich die Weiden sanft dem Wasserlauf zuneigten, hörte man auch schon die Geräusche emsigen Arbeitens. Abel war gerade dabei, ein Stück Holz zurecht zu sägen. Er arbeitete zwar nicht mit an den Schiffen im Dorf, aber Hjalmar war sich sicher, dass sein Eifer mangelnde Erfahrung im Schiffsbau wieder wettmachte. Zumal er selbst auch nicht ganz so genau wusste, wie man tatsächlich ein hochseetüchtiges Schiff baute. Er hatte sich einige Sachen bei den Schiffsbauern abgeguckt und versuchte das, was er täglich sah und lernte, nachzumachen.
„Wenn du nervst, kannst du gleich wieder nach Hause gehen“, warnte er seine kleine Schwester.
„Ich nerv doch gar nicht!“, erwiderte sie und streckte ihm die Zunge heraus.
Dann lief sie auch schon zu Abel und fragte ohne Begrüßung, wie es ihre Art war, einfach drauf los.
„Was machst du da?“
„Ich säge.“
„Und was sägst du?“
„Holz.“
„Wofür ist das Holz?“
„Für das Boot, für was denn sonst?“
„Kann ich helfen?“
„Du kannst helfen, indem du uns nicht störst“, schaltete sich Hjalmar ein und warf Abel einen entschuldigenden Blick zu, dass er seine Schwester doch hatte mitbringen müssen. Sein Freund schüttelte nur den Kopf.
„Manno, das ist ungerecht! Ich will auch helfen!“, beschwerte sich das Mädchen.
„Hör mal, Finja“, versuchte es Abel auf dem diplomatischen Weg, „wir müssen die Bretter für den Rumpf fertigmachen und dann …“, er überlegte angestrengt, „irgendwie zusammenbinden, oder?“ Hilfesuchend sah er Hjalmar an.
„An der Werft stecken sie sie irgendwie ineinander. Sie sägen dafür so eine Scharte in das Holz.“
„Hm“, Abel schien sich nichts Rechtes darunter vorstellen zu können, zuckte dann aber mit den Schultern.
„Wir können sie auch zusammennageln. Schau, ich hab extra Hammer und Nägel mitgebracht!“
„Sehr gut! Damit können wir es auch versuchen“, stimmte Hjalmar zu.
„Aber Hjalmar, nicht versuchen … Machen!“, grinste sein Freund und trat an eine Weide heran, an deren Stamm ein solider Hammer lehnte. In seinen Händen wirkte er aber etwas zu groß.
„Oh ja, darf ich auch mit dem Hammer schlagen?“, fragte Finja aufgeregt.
Die beiden Jungen musterten das kleine Mädchen skeptisch.
„Hm, du kannst vielleicht den Nagel festhalten“, überlegte Abel.
„Aber nicht, dass du sie statt den Nagel ins Holz haust“, erinnerte sich Hjalmar an seinen Auftrag, er solle gut auf die Schwester aufpassen. Noch so eine undankbare Aufgabe.
„Dann halt lieber das Holz fest. Und du auch Hjalmar!“, wies Abel die Geschwister an.
Etwas beleidigt, dass er dieselbe Aufgabe wie die kleine Finja ausführen sollte, ging Hjalmar langsam zu den bereits fertigen Holzplanken und legte einige auf den Waldboden. Sie waren unterschiedlich lang, breit und dick, anders als in der Werft, aber dort bauten sie ja auch keine Wikingerboote. Von daher …
„Wie groß wird das Boot denn am Ende?“, hörte er wieder die hohe Stimme seiner Schwester fragen.
„Groß genug für Abel und mich“, antwortete er geistesabwesend und versuchte im Kopf die Planken zu einem fertigen Boot zusammenzusetzen.
„Und was ist mit mir?“
„Du kommst natürlich nicht mit.“
„Wie gemein!“
„Haltet jetzt die beiden Holzbretter fest“, bat Abel und holte einen Nagel hervor, den er mit akribischer Genauigkeit und mit vor Konzentration heraushängender Zunge in Position zu bringen versuchte.
„Ich halt hier und du dahinten fest, Finja“, wies Hjalmar sie an.
„Nein! Wenn ich nicht mitdarf, helf ich auch nicht mit!“ Beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Auch gut.“ Er zuckte mit den Achseln und wartete darauf, dass Abel begann.
Der hatte den Nagel endlich zu seiner Zufriedenheit positioniert und holte mit dem Hammer aus. Es dauerte ein paar Schläge, bis der Nagel im Holz verschwunden war.
„Hm.“ Abel betrachtete skeptisch sein Werk. Die zwei Planken schienen jetzt verbunden, aber als er probehalber die obere der beiden anhob, löste sie sich fast sofort von der unteren.
„Es hat noch nicht geklappt“, stellte er fest.
„Vielleicht sollten wir sie auch noch zusammenknoten“, überlegte Hjalmar.
„Ich habe keine Schnur dabei, die muss ich nächstes Mal von Vater ausleihen.“
„Stimmt es eigentlich, dass dein Vater sich bei Vollmond in einen Bären verwandelt?“, plapperte Finja wie aufs Stichwort los. Ihre Unzufriedenheit, dass sie nicht mitfahren durfte, schien innerhalb kürzester Zeit verflogen zu sein.
„Wie kommst du denn darauf?“, wunderte sich Abel.
„Die alte Alma hat erzählt, dass es Menschen gibt, die sowas können.“
Abel machte große Augen.
„Auch in Bären? Ich dachte das geht nur mit Wölfen!“
„Ja, von Wölfen hat sie auch was erzählt“, plapperte das Mädchen weiter, „und dass drüben in Sölvesborg die Schweden einen Werwolf aufgehängt haben.“
„Echt?“
„Ja, sagt die Alma.“
„Vater sagt, dass Alma manchmal faselt.“ Hjalmar hatte seltsamerweise das Gefühl, sich für die Frage seiner Schwester entschuldigen zu müssen, obwohl er sich ja selbst insgeheim auch dasselbe fragte. „Aber er schimpft auch immer viel über die Schweden, von daher kann's schon sein, dass sie da Leute aufhängen.“
„Aber einen Wolfsmenschen kann man doch nicht durch Hängen töten!“, behauptete Abel sofort. „Und man sollte es auch besser nicht versuchen, weil sie doch viel stärker als jeder Mensch sind.“
Die Geschwister nickten zustimmend. Auch sie kannten die Geschichten und wussten, dass es ein Segen von Odin war. Die Auserwählten durften aber niemals in der Nähe anderer Menschen bleiben, weil sie sie sonst in ihrer Raserei auffressen konnten. Alma hatte aber auch erzählt, dass in anderen Häuptlingstümern höher im Norden Werwölfe mit den restlichen Kriegern auf Beutezug gingen und Angst und Schrecken verbreiteten.
„Ist der Schmied einer von ihnen?“, fragte Finja ehrfürchtig.
Abel schien darüber nachzudenken. Dann schüttelte er den Kopf.
„Ich glaube nicht. Zumindest habe ich es noch nicht bemerkt. Aber wenn ich morgens aufstehe, liegt er im Bett und ist, glaube ich, auch nachts nicht in den Wäldern. Aber vielleicht …“ Ein schelmisches Grinsen huschte über sein Gesicht, als er sich vorstellte, der Sohn eines legendären Gestaltwandlers zu sein.
„Kannst du dich dann auch verwandeln?“ Finjas Augen leuchteten aufgeregt und sie blickte Abel gespannt an.
Der grinste sie an, fletschte die Zähne, hob die Hände und krümmte die Finger zu Krallen. Dann heulte er auf und sprang einen Satz auf Finja zu, die erschrocken aufschrie und zurückwich.
Lachend klopfte sich Abel auf die Schenkel und auch Hjalmar lachte von Herzen über den Streich an der Schwester. Einen Moment schien Finja nicht zu verstehen, dann stemmte sie zornig die Hände in die Hüften.
„Ihr seid gemein!“
„Tut mir leid, Finja“, entschuldigte sich Abel lachend und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
„Du bist so ein Feigling, Schwesterchen“, lachte auch Hjalmar.
Finja streckte ihm die Zunge raus.
„Gar nicht wahr!“
„Lass sie, Hjalmar“, winkte Abel ab, „wer hat schon keine Angst vor Werwölfen. Jeder Mensch, der alle Sinne beisammen hat, sollte zusehen, dass er Land gewinnt, wenn er so eine Bestie sieht.“
„Oder er sollte besser um sein Leben reiten, denn wenn er rennt, ist der Wolf schneller als er“, fügte Hjalmar hinzu.
„Aber der Wolf ist auch schneller als so manches Pferd. Und vor allem geht es durch, wenn die Bestie zu nahe kommt“, widersprach Abel und Hjalmar nickte. Am besten sollte man einem solchen Wesen wohl niemals begegnen, wenn einem etwas an der eigenen Haut lag. Trotzdem verspürte Hjalmar auch eine tiefe Faszination gegenüber diesen Geschichten und insgeheim hoffte er doch, eines Tages mal einen Tiermenschen zu treffen.
„Ich kann schon gut reiten“, erklärte seine Schwester.
„Schneller als ein Werwolf wärst du niemals!“, behauptete Hjalmar.
„Aber schneller als du!“, erwiderte sie frech und Hjalmar holte empört Luft.
Es mochte stimmen, dass er nicht gerade ein begnadeter Reiter war, er konnte mit Pferden einfach nichts anfangen, aber er lernte ja auch noch. Aber dass seine Schwester vor seinem Freund behauptete, dass er …
„Macht doch nichts, Hjalmar!“, lachte ihn Abel an, der sein Unbehagen bemerkt hatte, „wozu muss man gut reiten können, wenn wir auf dem Meer unterwegs sind?“
Da hatte sein Freund recht. Er ließ es gut sein und wandte sich wieder den Planken zu.
„Vielleicht können wir den Nagel auf der anderen Seite umbiegen, sodass er ganz steckenbleibt.“
„Gute Idee!“
Abel hob den Hammer wieder auf und drehte die beiden Planken um.
„Wenn ich mitkomme, müssen wir aber auch Ringelblume mitnehmen“, meldete sich wieder Finja zu Wort. Dass sie auch nicht einfach mal ruhig danebenstehen konnte. Immerzu musste sie plappern, dachte Hjalmar genervt.
„Ringelblume?“, fragte Abel verwundert.
„Eins von Vaters dummen Pferden“, erklärte Hjalmar missmutig.
„Ringelblume ist nicht dumm! Und sie mag Ringelblumen. Darum habe ich sie so genannt“, verkündete das kleine Mädchen stolz. „Und sie mag es nicht, wenn ich sie alleinlasse. Darum muss sie mit auf das Wikingerboot.“
„Du kommst überhaupt nicht mit“, beschied sie ihr Bruder, aber sie schien ihn einfach überhört zu haben.
„Und Wolle möchte ich auch mitnehmen. Er liebt Wasser und auf dem Meer gibt es ja eine ganze Menge davon. Und Fräulein Grunz muss auch mit, weil sie Wolle und Ringelblume sonst sicher ganz doll vermisst.“
„Wenn wir sie mitnehmen, kommt wohl der halbe Stall mit“, flüsterte Abel seinem Freund zu und ein koboldhaftes Lächeln umspielte dabei seine Lippen.
„Sie kommt nicht mit!“, stellte Hjalmar klar. Er mochte sich gar nicht vorstellen, seine nervtötende Schwester mit auf sein großes Abenteuer zu nehmen. Sie sollte sich gefälligst ihr eigenes suchen!
„Aber Finja, so viele Tiere passen doch gar nicht auf unser Schiff“, versuchte ihr Abel zu erklären.
„Ja, deshalb muss es größer sein! Mutter und Vater wollen bestimmt auch mit. Und was ist mit deinen Eltern?“
„Nun … Weißt du, Wikinger segeln nur mit anderen Wikingern …“
„Und ohne Frauen!“, warf Hjalmar ein.
„Das stimmt doch gar nicht! Die Alma hat erzählt …“
„Ja, ich weiß, aber das ist unser Wikingerboot und wir nehmen nur andere Wikinger mit.“
„Aber ich bin auch ein Wikinger!“, behauptete Finja.
Zweifelhafte Blicke trafen sie.
Abel seufzte.
„Pass auf, wenn du uns hier hilfst, dann darfst du vielleicht auch mitkommen.“
„Ehrlich?“, Finja sprang vor Freude in die Luft. „Ich kann euch viel helfen, ihr werdet schon sehen!“
Fassungslos sah Hjalmar seinen Freund an. Er fühlte sich verraten. Der zuckte aber nur die Schultern.
„Ist ja erstmal nur drüber nachdenken“, versuchte er sich zu entschuldigen. Und an Finja gewandt, die zu den beiden hinzugetreten war, „halt einfach das Holz hier fest, damit es nicht beim Hämmern wegrutscht.“
Das Mädchen nickte eifrig und lächelte die beiden Jungen glücklich an.
„Und ich darf wirklich mitkommen?“
„Wir versuchen, Platz für dich zu machen“, entgegnete Abel vage.
„Vater sagt immer: Nicht versuchen, machen“, erwiderte Finja.
Verdutzt sah Abel sie an. Dann lachte er und kurze Zeit später fiel auch Hjalmar in das Lachen von ihm und seiner Schwester ein.
Viele Stunden vergingen und allmählich begann es zu dunkeln. Das Zwitschern der Vögel, die nun langsam wieder zu ihrem Nest im Wald zurückkehrten, nahm zu und war bald lauter als das Plätschern des kleinen Baches und das Hämmern der Kinder. Auch der Wind hatte merklich aufgefrischt, bewegte nun die Kronen der Bäume und ließ die Arme der Weide spielerisch über das Wasser streichen. Die Sonne zeichnete bizarre Schatten, die über den Waldboden zuckten, und malte in roten Farben die Landschaft.
„Gleich geht die Sonne unter, dann müssen wir wieder zu Hause sein“, sagte Finja und warf ihrem Bruder einen Blick zu, der bestätigend nickte. Es wurde ohnehin zu dunkel, um noch richtig arbeiten zu können.
Und so verstauten sie das Holz und die fertigen Planken wieder an den Weiden und deckten sie mit Moos zu, damit sie im Regen nicht nass wurden. Denn, dass es regen würde, darauf wies sie der sich verdunkelnde Himmel hin.
„Gut, Zeit zu gehen“, sagte auch Abel und verstaute die Nägel in einem Beutel an seiner Hose und legte sich den großen Hammer über die Schulter, „treffen wir uns übermorgen wieder hier?“ Und an Finja gewandt fügte er hinzu, „du kannst auch gerne wieder mitkommen, wenn du möchtest.“
„Natürlich, gern!“, freute sich das Mädchen und strich sich etwas Erde vom Kleid.
Auch Hjalmar nickte zustimmend. Er wollte es nicht ganz zugeben, aber so nervig, wie er es befürchtet und wie es auch zuerst ausgesehen hatte, war es mit seiner Schwester dieses Mal doch nicht geworden. Ganz im Gegenteil hatte er das Gefühl, dass sie heute viel geschafft hatten. Das Wikingerboot gewann langsam immer mehr an Form.
Zu dritt stapften sie durch den Wald und Finja erzählte irgendwas vor sich hin, worauf die beiden Jungen gelegentlich eine Antwort fanden. Schließlich passierten sie den Waldrand und näherten sich dem Dorf. Da stockte Abel plötzlich und schnupperte in die Luft.
„Riecht ihr das?“
Die beiden Geschwister reckten ebenfalls die Nasen in die Luft.
„Das riecht nach Feuer“, sagte Hjalmar, „Mutter hat bestimmt schon den Topf aufgesetzt.“
„Nein, es riecht nicht nach Essen. Einfach nur … nach Feuer.“
Er warf dem Freund einen Blick zu.
„Seht nur!“ Erschrocken zeigte Finja auf etwas und als Hjalmar ihrem Finger folgte, erschrak auch er zutiefst. Ein roter Schein zeigte sich hinter dem Hügel, der sie vom Dorf trennte. Ein Schein, der nicht von der Sonne stammen konnte, die neben ihnen gerade hinterm Wald versank.
Aufgeschreckt und von einer mulmigen Ahnung getrieben rannten sie den Deich empor.
„Oh nein!“
Die Hütten, die Häuser, selbst die kleine Kirche, alles stand in Brand. Die Flammen leckten über die Dächer und sprangen von Gebäude zu Gebäude, verzehrten alles. Dazwischen konnten sie dunkle Schemen ausmachen, die hektisch hin und her rannten. Das mussten die Dorfbewohner sein. Sven, Gorn, Vater. Sie brauchten Hilfe! Was war nur geschehen?
Die drei rannten wie wild auf das brennende Dorf zu und schrien nach ihren Eltern. Finja hatte begonnen zu schluchzen und in Hjalmars Kopf zuckten die Gedanken umher wie das Feuer an den Hütten.
„Vater! Vater!“, rief er, als er immer näher ans Dorf herankam. Der starke Wind vom Meer schob ihn vorwärts, als wolle er ihm helfen, zu seinem Ziel zu gelangen. Die Hitze schlug ihm entgegen und die Flammen erhellten die Dämmerung. Er hörte Menschen schreien, sah ächzende Balken vom Feuer geschwächt wegbrechen und roch den alles überdeckenden Geruch von Rauch und Asche. Zwischen den Hütten tauchten plötzlich zwei Gestalten auf. Hjalmar blieb abrupt stehen.
Ihm war, als würde die Zeit für einen Moment anhalten, als die beiden Männer sich ihm zuwandten und ihn anblickten. Sie waren in Leder gekleidet und hielten blanke Schwerter in Händen. Das waren keine Männer aus dem Dorf.
„Finja“, flüsterte er, wusste aber nicht, ob seine Schwester tatsächlich neben ihm stand oder noch auf dem Deich war, „lauf weg.“
Langsam, ganz langsam schien die Zeit wieder weiterzulaufen. Schritt für Schritt wich Hjalmar zurück. Zu seinem Entsetzen sah er, wie die Männer auf ihn zukamen … und schließlich losstürmten.
Er wirbelte herum und hetzte den Hügel empor, den er zuvor heruntergekommen war. Er sah seine Schwester und Abel, die ihn erschrocken anstarrten.
„Lauft weg!“, schrie er mit einer schrecklichen Angst, packte das Mädchen an der Hand und zog es hinter sich her. Wie von Sinnen lief er über den Hügel, nahm nichts war außer der Hand, die er fest in seiner gepackt hielt. Hinter sich hörte er das Schnaufen und Keuchen der Verfolger. Der Wind, der ihm erst den Rücken gestärkt hatte, drückte nun wie eine Wand gegen ihn. Es war ihm, als käme er gar nicht voran. Ein Schrei zerfetzte die Luft und eine schreckliche Gewalt riss die kleine Hand von ihm fort. Er fuhr herum und sah seine Schwester im Gras liegen. Er half ihr auf und zog sie weiter, die Verfolger waren immer näher und näher gekommen. Wo sollte er nur hin? Es gab keine Rettung. Trotzdem zog er sie mit verzweifelter Kraft weiter und weiter. Seine Lunge schmerzte höllisch, sein Herz drohte zu zerspringen, aber er durfte jetzt nicht stehen bleiben.
Plötzlich ging ein Ruck durch seinen gesamten Körper und er wurde nach hinten gerissen. Er hörte Finja vor Furcht erstickt aufschreien und landete dann mit dem Gesicht voran auf Sand. Sofort sprang er auf. Ein Mann hatte seine Schwester an den Haaren gepackt und stieß sie nun zu Boden. Tränen der Angst standen in ihren Augen und, als er ihren Peiniger ansah, füllte sich sein Herz mit einem Entsetzen, das er nie gekannt hatte. Schwach hörte er hinter sich das Meer rauschen unter dem zornigen Fauchen des Windes.
Der Mann grinste böse und hob sein Schwert. Wie erstarrt sah Hjalmar durch einen dunklen Schleier, wie der Krieger auf seine Schwester zutrat, die panisch auf dem Rücken vor ihm davonzukriechen versuchte. Sie würde es nicht schaffen. Bei diesem Gedanken durchzuckte es ihn und ohne zu denken schrie er auf, stürmte nach vorn und warf sich mit seinem gesamten Gewicht gegen den fremden Krieger. Der schien nicht damit gerechnet zu haben und geriet ins Stolpern, sodass Hjalmar ihn mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war, die Fäuste gegen den Lederpanzer hieb. Doch es war zwecklos. Der Mann war viel stärker als er. Er stieß in höhnisch lachend fort und versetzte ihm einen Schlag mit der stumpfen Seite des Schwertes, dass ihm der Kopf klingelte. Halb benommen torkelte er zurück, sah nur unscharfe Umrisse des Mannes, der langsam auf ihn zukam. Dieses Mal explodierte sein Kopf, er riss die Hand an die Schläfe, spürte einen schrecklichen Schmerz und wich zurück. Zwischen den Sternen, die sein Blickfeld trübten, sah er den Mann, der sein Schwert ein letztes Mal hob, auf ihn zukam … und plötzlich verschwand. Hjalmar sank auf die Knie und musste sich abstützen. An seiner Wange fühlte er etwas hinablaufen und, als er danach tastete, durchzuckte ihn erneut ein so heftiger Schmerz, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde.
„Hjalmar, du musst aufstehen.“
Wie aus weiter Ferne hörte er eine Stimme, die seinen Namen rief.
„Hjalmar, bitte komm schon!“
Etwas packte ihn am Arm. In plötzlich wiederkehrender Angst sprang er auf und blickte in die vor Entsetzten geweiteten Augen von Abel.
„Komm mit, schnell!“
Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht ganz.
„Finja“, stöhnte er.
„Sie ist hier, komm schon!“
Und tatsächlich, neben Abel stand seine Schwester wie ein verschrecktes Reh. Mit weit aufgerissenen Augen klammerte sie sich an dessen freie Hand. In der anderen hielt sein Freund den großen Hammer und hinter ihm ... lag etwas im Sand.
„Komm jetzt!“
Hjalmar rannte seinem Freund hinterher, der Finja seinerseits hinter sich herzog. Sie rannten den Strand entlang Richtung Wald, wo ihre Wikingerwerft lag. Und sie rannten schnell. Irgendwas in Hjalmars Kopf schmerzte sehr stark und die Umgebung verschwamm ihm immer mehr vor Augen.
„Abel“, keuchte er, aber es war kaum mehr als ein Flüstern, das er zustande brachte. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen und er musste alle Kraft aufbringen, um einen Schritt vor den anderen zu setzen.
Hinter sich hörte er einen Schrei und erschrocken warf er einen Blick zurück. Aber es war nichts zu erkennen. Vielleicht aus dem Dorf. Das Dorf … Er musste weiterlaufen. Die Schemen von Abel und Finja konnte er in der zunehmenden Dunkelheit kaum noch ausmachen. Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Weiter … Er musste weiter … Er durfte nicht … Er hörte etwas Platschen. Und wieder. Er kam kaum noch voran, sah auf seine Füße und erkannte, dass er knöcheltief im Meer stand.
„Nein“, keuchte er und stapfte verzweifelt zurück an den Strand.
„Abel“, wieder kaum mehr als ein Flüstern. „Finja.“
Kraftlos sank er in den nassen Sand. Eine Welle streichelte sein Bein, während die ersten Regentropfen auf ihn hinabfielen.
Schwer atmend versuchte er sich weiterzuschleppen und dann sah er endlich den Umriss, der suchend am Strand entlangzugehen schien. Er versuchte zu rufen, aber nur ein Husten kam aus seiner Kehle. Fast wäre er an ihm vorbeigelaufen, aber die Panik, dass Abel ihn verpassen könnte, verlieh ihm schier unmenschliche Reserven.
„Hier“, krächzte er gegen die Kraft, die ihm die Luft abschnüren wollte.
Und tatsächlich kam der Umriss näher und wurde zu einem Menschen. Aber nicht zu Abel. Die schreckliche Erkenntnis ereilte ihn zu spät.
Verzweifelt wollte Hjalmar wegkriechen, aber hinter ihm war nur das schwarze Wasser der See.
Ein dunkles Tuch schien sich auf seine Sinne legen zu wollen, doch er gab noch nicht nach.
„Finja“, flüsterte er, „Finja.“
Dann sah er nur noch unscharf den verblassenden fremden Krieger, der auf ihn zukam. Das wütende Fauchen des Sturmes klang wie das Schnauben eines Pferdes, das sein Reiter wild antrieb, jäh hinabzwang und mit donnernden Hufen den Strand entlanggaloppierte. Das Kreuzen von Waffen, das Aufschreien eines Mannes vor Angst und Schmerz, gefolgt von einem wilden Ruf und Donnern und Gewitter. Gebell von Hunden ganz nah. Eine Hand packte den Jungen und zog ihn auf den Rücken des Pferdes. Der Wind trug ihn fort, hoch in die Lüfte, davon, davon.
Heja, Heja!, hallt es über das Meer. Und der Sturm bricht in seiner ganzen Wildheit herein, fegt über das Land, zerreißt die Feuerschwaden, bricht die Wolken und macht jegliche Verfolgung unmöglich. Denn nur eines jagt in einem solchen Sturm. Die Jagd. Die Wilde Jagd.
Eine sanfte Brise weckt ihn. Immer noch erschöpft öffnet er die Augen und weiß nicht, wo er ist. Eine Zeitlang liegt er einfach nur so da und starrt in den beruhigend blauen Himmel. Dann schiebt sich ein gutmütiges Gesicht in sein Blickfeld.
„Na, ausgeschlafen, Schlafmütze?“
Lächelnd zwinkert ihm das Gesicht zu und verschwindet dann wieder aus seiner Sicht. Er muss sich langsam aufrichten, um es erneut zu sehen. Es ist das Gesicht einer Frau. Sie könnte etwa in dem Alter seiner Mutter sein. Freundlich sieht sie aus, mit nur ganz leichten Falten im Gesicht. Sie trägt Fell und Leder, aber viel wichtiger hält sie auch eine dampfende Schale in den Händen, die sie ihm nun mit einem warmen Lächeln anbietet.
„Iss erstmal, Junge, damit du wieder zu Kräften kommst. War ja ein ganz schöner Ritt, nicht wahr?“ Sie zwinkert ihm zu und er nickt freundlich, auch wenn er nicht weiß, was ihre Worte bedeuten. Zu sehr verlangt es ihn nach der dampfenden Schale, die nach Bohnen mit Speck riecht. Er hat keine Ahnung, wann er das letzte Mal etwas so Gutes gerochen hat, und langt tüchtig zu. Die Frau wartet geduldig ab, bis er fertig ist, nimmt die leere Schale entgegen, entfernt sich kurz und kehrt dann mit einer zweiten Portion zurück.
„Verrätst du mir deinen Namen, Junge?“, fragt sie und schaut ihn aufmerksam an.
„Hjalmar“, sagt er mit noch rauer Stimme und merkt erst jetzt, wo sein Hunger langsam gesättigt ist, dass er gar nicht wirklich unter freiem Himmel liegt, sondern in einem seltsamen Zelt, das keine Decke zu haben scheint. Der Himmel ist klar über ihm zu sehen, aber an den Seiten verhüllt eine Zeltwand die Umgebung.
„Hjalmar. Welch wundervoller Name. Wo kommst du her?“
„Simmershavn.“
An den Wänden hängen auch Felle von allerlei Tieren. Manche davon kennt er nicht, andere sind ihm gut vertraut. Hier ein Wolf, dort ein Hirsch und sogar ein Bär. Dazwischen hängen auch vereinzelt Speere und ein Bogen lehnt an einer kleinen Bettstatt.
„Simmershavn …“
Die Frau nickt bedächtig und streichelt ihm dann über den Kopf. Er ist davon so überrascht, dass er sie so groß ansieht, dass sie lachen muss.
„Weißt du auch, wer ich bin?“
Er nimmt noch einen Löffel des köstlichen Eintopfes und schüttelt stumm den Kopf.
„Ich bin Estrilda. Dort, wo du herkommst, kennt man mich vielleicht unter einem anderen Namen. Ich bin die Frau des Türst.“
Der zweite Name klingt vertraut, wenngleich er nicht sagen kann, warum.
„Wenn du aufgegessen hast, kann ich dich zu ihm führen. Er möchte dich sprechen und sich vergewissern, dass es dir wieder besser geht.“
„Hab Dank, Herrin“, antwortet er so, wie er es gelernt hat. Aber es entlockt der Frau wieder nur ein anmutiges Lachen.
„Nenn mich bitte Estrilda, Hjalmar. So ist es mir lieber.“
Er nickt und, als er aufgegessen hat, erhebt er sich vorsichtig. Zu seiner Erleichterung hat er keine Schmerzen. Kurz flammt in seinem Geist ein Bild von einem dunklen Strand auf und von dem Wind, der darüberheult. Aber ebenso schnell ist das Bild wieder verschwunden und er kann die kurze Eingebung nicht deuten. Also runzelt er nur die Stirn und folgt der Frau aus dem Zelt hinaus.
Der Sonnenschein umfängt ihn und eine leichte Brise streicht über sein Gesicht. Es riecht nach Äpfeln und Kastanien und aus dem Wald ringsumher zwitschern die Vögel friedlich. Er sieht sich überrascht um. Die Lichtung, auf der er nun steht, ja, der ganze Wald scheint zu leuchten. Die Farben des Herbstes präsentieren sich in bunter Pracht und sind so intensiv, dass es ihm fast so vorkommt, als würde er sie das erste Mal sehen.
„Das Licht ist heute besonders schön“, sagt Estrilda, die seine Faszination bemerkt hat. Sie geht zu einer nahen Kastanie und streicht sacht über die alte Rinde. Ein warmes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. Langsam segelt ein Blatt im Wind nach unten und legt sich auf die Schulter der Frau. Vorsichtig, als könne es zerbrechen, nimmt sie es in ihre Hand und betrachtet es nachdenklich.
„Komm, Hjalmar.“
Einen Moment genießt er noch das friedliche Gefühl, das er hier empfindet, dann folgt er der Frau durch den Wald, gehüllt in einen warmen Umhang der Geborgenheit. Er lauscht dem Gesang der Vögel und dem beruhigenden Rauschen der Blätter, durch die sanft der Wind fährt. Nahe ihres Weges hört er auch das leise Plätschern eines Baches und er sieht ein Reh, das sich dort erfrischt. Dann hört er das nahe Gebell von Hunden und tritt schließlich mit der Frau auf eine weitere kleine Lichtung, auf der ein großer Mann steht und ihnen schon entgegenblickt.
Seine Züge sind hart, doch die Augen mustern neugierig den jungen Besucher.
„Ah, du bist erwacht.“
Hjalmar kommt an Estrildas Seite langsam näher auf den großen Mann zu. Sein Haar ist pechschwarz und auch er ist in dunkles Leder gekleidet, das durch den langen Gebrauch gezeichnet ist. Das Bellen der Hunde schwillt an und plötzlich bricht eine Meute aus dem Unterholz und jagt auf den Mann zu. Es sind große, schwere Hunde, gebaut, um ihre Beute zu Tode zu hetzen. Doch der Mann zeigt keine Angst. Er wendet sich ihnen leicht zu und geht schließlich sogar in die Knie, um einen von ihnen hinter den Ohren zu kraulen. Einen großen, massiven Jagdhund mit nur einem Auge.
„Du brauchst keine Furcht vor ihnen zu haben. Das sind nur meine Hunde“, sagt der Mann ruhig und fährt weiter durch das Fell des großen Tieres, „und das ist Grimm“. Er gibt dem Einäugigen einen sanften Klaps und der macht sich auf den Weg zu Hjalmar, der stehengeblieben ist und nun unwillkürlich zurückweicht. Nun bleibt auch der Hund stehen und legt den Kopf schief.
„Nur keine Angst, er tut dir schon nichts.“
Neugierig beobachtet der Mann, wie der Junge vorsichtig einen kleinen Schritt auf den gewaltigen Hund zu macht, der sich auch seinerseits wieder in Bewegung setzt. Langsam streckt sich eine Hand aus. Der Hund begutachtet sie kritisch und schleckt sie schließlich ab. Ein Lächeln legt sich über Hjalmars Gesicht.
„Na, Grimm, wollen wir Freunde sein?“
Wieder legt der Hund den Kopf schief und beschaut sich den Jungen genauer. Dann bellt er einmal, dreht sich um und trottet davon zu seinen Kameraden, die hinter dem Mann gewartet haben.
Dieser nickt anerkennend und streicht sich durchs Haar.
„Ich bin der Türst“, verkündet er und bei seinen Worten kommt ein leichter Wind auf. „Dort, wo du herkommst, kennt man mich unter vielen Namen. Häufig nennt man mich den Schimmelreiter.“
Schimmelreiter … Auch der Name kommt Hjalmar bekannt vor, aber es will ihm nicht einfallen, wo er ihn schon mal vernommen hat.
„Mein Name ist Hjalmar“, stellt er sich vor, „ich komme aus Simmershavn, das liegt in Schonen.“
„Ah, eine schöne Gegend, zweifellos. Erst letztens waren wir dort“, der Mann wirft der Frau einen Blick zu, die daraufhin den Kopf schüttelt. „Sag mir, Hjalmar aus Simmershavn, wie verstehst du dich aufs Reiten?“
Hjalmar muss überlegen. Er ist in seinem Leben sicher schon geritten. Er erinnert sich vage an das Gefühl, auf dem Rücken eines Pferdes gesessen zu haben. Aber die Erinnerung ist unbestimmt. Es ist fast so, als hätte ein tiefer Nebel seinen Kopf ausgespült, und so sehr er sich auch müht, er kann die Antwort auf die Frage nicht in sich selbst erkennen.
„Ich … ich …“, versucht er es trotzdem, aber die Frau unterbricht ihn freundlich.
„Ich bin mir sicher, dass er das lernen kann. Es mangelt hier ja nicht an ausgezeichneten Lehrern, nicht wahr?“
Sie wirft ihrem Mann einen Blick zu und der lacht leise.
„Das ist wohl so. Hjalmar von Simmershavn, wenn du es begehrst, so werde ich dich das Reiten lehren. Und noch viel mehr, wenn du dazu bereit bist.“
Freudig nickt der Junge, kommt ihm dieses Angebot doch wie eine große Chance vor, wenngleich er nicht sagen kann, wieso er so denkt. Es scheint an der Art des Mannes vor ihm zu liegen. Am Türst. Aufrecht und fröhlich steht er da, beide Hände in die Hüften gestemmt mustert er seinen neuen Schüler.
„Sehr schön! Wir fangen sofort an, folge mir.“
Er fährt herum und marschiert die Lichtung entlang auf eine alte, beinahe zerfallene Hütte zu. Sie ist von Moos und Brombeerranken überwuchert und fast hat der Wald sie sich zurückgeholt. Aber nur fast. Hjalmar folgt ihm ebenso wie die Frau und die großen Hunde, die aufgeregt an ihrem Herrn hochspringen, als ahnten sie schon einen fantastischen Spaß. Doch der Türst wimmelt sie ab und pfeift durch zwei Finger. Da kommt hinter der Hütte ein junges Mädchen hervor mit kastanienbraunem Haar. Sie eilt zu der Gruppe und nimmt die Hunde in Empfang. Kurz wirft sie Hjalmar einen neugierigen Blick zu und ist ebenso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht ist, mit den Hunden im Schlepptau.
„Wer war das?“, wundert sich Hjalmar.
„Das war die Clara“, erklärt Estrilda. „Sie hilft uns mit den Hunden und den Pferden.“
„Und außerdem ist sie auch eine Schülerin von mir genau wie du jetzt“, ergänzt der Türst und geht ihnen voran um die Hütte herum. Dort ist ein kleiner Stall gebaut worden, in dem vier prächtige Pferde stehen. Der Türst nähert sich einem großen Schimmel und legt ihm sanft die Hand auf die Nüstern. Wohlwollend schnaubt das Tier und der Mann führt es aus dem Stall heraus und schwingt sich mit einem Ruck auf den Rücken des Pferdes. Einen Sattel braucht er nicht. Fasziniert, aber auch etwas bang, schaut Hjalmar das große Tier an und den Mann, der nun nochmal deutlich größer als zuvor erscheint. Mit einem auffordernden Lächeln bietet er ihm die Hand an.
Wieder durchzuckt ein Bild seinen Kopf. Ein Strand. Eine Welle. Blut im Wasser. Jemand ruft aus weiter Ferne seinen Namen.
Er kneift die Augen zusammen, doch die Eingebung ist schon verschwunden. Er schüttelt irritiert den Kopf, erblickt wieder die Hand vor sich und ergreift sie. Mit Leichtigkeit wird er auf das Pferd gezogen und sitzt nun hinter dem Türst.
„Halt dich gut fest“, warnt dieser ihn, „ich werde dir einen Einblick geben, was es heißt, mit uns zu reiten.“
Sofort schlingt Hjalmar seine Arme um den Rücken des Türst.
„Seid nicht zu lange weg. Er ist immer noch schwach und muss sich erholen“, hört er die mahnende Stimme der Frau und ihr Gemahl bestätigt ihren Wunsch knapp. Dann hört er wieder ein Bellen und sieht den einäugigen Grimm auf sie zu springen. Hinter ihm läuft das junge Mädchen und versucht verzweifelt, ihn zurückzurufen. Aber der Hund hat den Schimmel schon erreicht und der Mann vor ihm lacht schallend.
„Schon gut, Clara. Dann kommt Grimm eben auch mit uns.“
Betreten schaut das Mädchen zu Boden und nickt dankbar. Dann hebt sich ihr Blick noch einmal und trifft den Hjalmars. Ihre Augen sind von einem Grün, das er in seinem gesamten Leben noch nicht gesehen hat.
Plötzlich geht ein Ruck durch das Pferd und es prescht davon. Die Luft zischt an ihnen nur so vorbei und die Konturen der Bäume ringsum verschwimmen, als der Türst durch den Wald jagt. Das Tempo ist für Hjalmar so gewaltig, dass er sich arg konzentrieren muss, nicht herunterzufallen, und er klammert sich mit aller Kraft an den Reiter vor sich. Neben sich hört er unvermittelt ein freudiges Gebell und kann gar nicht glauben, dass irgendein Hund bei diesem wilden Ritt mithalten könnte. Aber, als er vorsichtig zur Seite blickt, sieht er ihn doch neben ihnen einherjagen.
„Heja! Heja!“, spornt der Reiter sein Pferd an und die Farben des Herbstes lösen sich auf, werden zu immer neuen Farben. Der Wind fährt ihm durchs Haar und hebt sie empor, immer höher und höher.
„Keine Angst, Hjalmar!“, ruft ihm der Reiter zu und das Pferd steigt in die Lüfte. Nicht mehr donnern die Hufe über den Waldboden, sondern galoppieren sicher gen Himmel. Der Wind wird stärker und stärker und schließlich … Kein Auge kann den Reiter mehr erfassen, der auf seinem Pferd so schnell wie der Wind selbst ist. Tannen und Kiefern neigen sich, als er an ihnen vorüberprescht, und es heult durch die Wipfel.
„Heja! Heja!“
Immer schneller, immer schneller! Hjalmar klammert sich verzweifelt an den Türst und fürchtet doch, jeden Moment herabzustürzen.
„Keine Angst, Hjalmar!“, schallt es durch den Wind zu ihm und er kneift die Augen zusammen. Der Wind heult ihm um die Ohren, doch, statt an ihm zu zerren und vom Pferd zu werfen, drückt er ihn fest an das Tier und stützt ihn. Langsam öffnet er wieder die Augen und sieht unter sich den Herbstwald im Licht der untergehenden Sonne leuchten. Ein wilder Wind fegt durch ihn hindurch und wiegt die Bäume in einem unsichtbaren Rhythmus, den Hjalmar aber selbst nur umso besser spüren kann. In der Ferne sieht er Berge, Täler, Flüsse und Seen. Ja, sogar das Meer meint er ausmachen zu können.
„Heja! Heja!“
Er spürt die starken Muskeln des Pferdes unter sich. Spürt, wie es immer weiter beschleunigt. Es ist so ganz anders, als er es erwartet hat. Wenn das Reiten ist, dann ist er in seinem Leben noch nie geritten, weiß er. Vor ihnen öffnet sich das Gelände und einzelne Gebäude sind zu erkennen. Der Reiter wendet sein Pferd ihnen zu und sogleich sind sie dort. Er zwingt das Tier hinab und prescht über Häuser und Dächer. Sein fröhliches Lachen hallt weit über den Ort und auch Hjalmar spürt eine wilde Freude in sich aufsteigen. Der Wind faucht an seinem Ohr, scheint ihnen zu folgen und fährt genau wie sie über die Häuser und Dächer und reißt sogar dort etwas Reet herab. Im Sturm des Ritts sieht er Menschen, die zu ihren Häuser rennen und versuchen, die Wäsche zu retten, aber der Wind ist schneller, entreißt sie den Leinen und trägt sie davon.
„Ha! Aus dem Weg, ihr Leute!“, ruft der Türst und prescht wild mitten durch die kleine Ortschaft, zersprengt eine Schar Gänse und lässt Straße und Fensterläden im donnernden Galopp der Hufe erzittern.
„Schneller! Schneller!“, schreit Hjalmar und jauchzt vor Freude, als das Tempo tatsächlich nochmal zunimmt, sie den kleinen Ort hinter sich lassen und über das Land fliegen, über Berge und Täler, Flüsse und Seen.
Als sie das Meer erreichen, werden sie langsamer und das Pferd schnaubt und sinkt zu einer Klippe hinab, die hier in die See hinausragt. Grimm hechelt an ihrer Seite und schnüffelt in die Luft. Es ist mittlerweile dunkel geworden und nur die Sterne spenden Licht. Bäume erheben sich schwarz hinter ihnen und vor ihnen liegt der steinige Strand. Etwas in der Ferne erkennt er schwache Lichter, vielleicht wieder ein Dorf?
„Und wie gefällt dir das Reiten?“, fragt der Türst.
„Es ist fantastisch! Noch nie habe ich etwas so sehr genossen!“
Ein fröhliches Lachen antwortet ihm und der Reiter wendet sich zu ihm um. Seine Augen lachen ebenfalls, aber dann werden sie nachdenklich.
„Du kannst bei uns bleiben, weißt du.“
Hjalmar nickt.
„Aber es muss dein eigener Wunsch sein.“
„Das ist es“, antwortet Hjalmar fest.
Der Türst schaut ihn jedoch ernst an. Dann zeigt er auf die entfernten Lichter am Meer.
„Weißt du, wer dort lebt?“, fragt er.
„Nein, das weiß ich nicht.“
Nachdenklich nickt der Reiter vor ihm.
„Nun gut. Wir reiten heim.“
Und er will das Pferd wenden, da kommt Hjalmar eine Idee.
„Verzeih mir, darf ich die Zügel nehmen?“
Kurz stutzt der Reiter.
„Du kannst es ausprobieren.“
Und er schwingt sich vom Pferd und lässt den Jungen aufrücken. Aufgeregt will Hjalmar nach den Zügeln greifen, aber es gibt gar keine. Er beugt sich vor und tätschelt den Hals des Schimmels, aber auch hier findet er kein Zaumzeug.
Er wendet sich um und trifft den ruhigen Blick des Türst.
„Wenn du es möchtest, trägt es dich überall hin, wo du willst.“
Er blickt wieder nach vorn.
„Bring mich zurück zur alten Hütte im Wald“, sagt er und das Pferd hebt den Kopf und dreht die Ohren. Vorsichtig drückt er seine Fersen in die Flanken des Tieres. Es tut einen Schritt vor. Dann noch einen und noch einen. Und plötzlich fegt es davon. Hjalmar ist so überrascht, dass er fast heruntergestürzt wäre, aber eine Hand hält ihn sicher auf dem Tier. Sie galoppieren durch die Nacht, über das Meer. Sein Gefühl sagt ihm, dass die Hütte in einer anderen Richtung liegt, und sofort ändert das Pferd seinen Kurs und prescht zurück. Vor sich sieht er nun den Mond, der langsam über den Himmel zieht. Er ist diese Nacht noch nicht voll, gerade mal eine halbe Sichel, die aber zunimmt. Wie er ihn so betrachtet, merkt er, dass er immer größer und größer wird.
„Auch wenn der Mond sicher ein schönes Ziel ist, so befindet sich dort nicht die Jagdhütte, zu der wir wollen“, hört er es hinter sich leicht amüsiert. „Sieh nur, wir wollen dorthin.“
Und in seinem Geist entsteht das Bild der Hütte und sofort reagiert das Pferd darauf, passt seine Richtung an und stürmt über die nächtliche Landschaft, springt durch Wolken und jagt schließlich im gestreckten Galopp über den Wald dahin. Hjalmar greift in die Mähne des schönen Tieres und ruft: „Schneller, schneller!“
Und mit dem ansteigenden Tempo nimmt auch seine Euphorie zu. Wilde Freude erfasst ihn. Er spürt auch um sich herum, wie der Wind zunimmt und ihn wie ein Freund begleitet. Und gemeinsam jagen sie durch die Nacht.
Kaum Zeit scheint für ihn vergangen zu sein, aber der Mond steht schon hoch am Himmel, als sie schließlich wieder die verlassene Jagdhütte erreichen. Vorsichtig hilft ihm der Türst, den Schimmel zu landen, und führt ihn in den Stall.
„Das war doch für den Anfang gar nicht schlecht!“
Begeistert atmet er die klare Nachtluft. Es scheint ihm ein Traum in Erfüllung gegangen zu sein.
Grimm verabschiedet sich bellend und trabt davon. Auch Hjalmar ist müde und folgt dem Türst zu einem Feuer, an dem sich die Hunde bereits zusammengerollt haben und schlafen.
Die Nacht träumt er von Wind und Pferden … und von einem brennenden Strand.
Die Zeit beschert ihnen einen goldenen Herbst. Die Sonne scheint fast jeden Tag und macht es nur allzu verlockend auszureiten. Der Türst bringt es Hjalmar bei und seine Begeisterung nimmt stetig zu. Manchmal begleitet sie Estrilda, die ebenfalls eine ausgezeichnete Reiterin ist. Auch die junge Clara, die so alt wie Hjalmar selbst ist, reitet ab und zu mit ihnen, häufiger zieht sie aber mit dem Türst oder allein los, um zu jagen, was sie am Abend gemeinsam verspeisen. Jagen soll Hjalmar noch nicht und ihm ist es nur recht, hat er doch viel zu viel Freude am Reiten selbst. Er bekommt eines der vier Pferde aus dem Stall, einen Fuchs mit Namen Lips, und stürmt mit ihm durch Wald und Flur. Durch die Lüfte begleitet ihn stets der Türst und oft kehren sie zu der Klippe am Meer zurück, wo sich in der Ferne ein kleines Dorf zeigt. Dann fragt ihn der Reiter.
„Weißt du mittlerweile, wer dort lebt?“
Und immer antwortet er selbst: „Nein, das weiß ich nicht.“
Wenn er nicht reitet, so hilft er bei alltäglichen Dingen, versorgt Pferde und Hunde, hilft beim Kochen oder stopft Kleidung. Beim Essen sprechen der Türst und seine Frau auch von anderen Reitern, aber er hat außer den dreien sonst keine gesehen.
„Du wirst sie schon bald kennenlernen“, verkündet Estrilda und ein sanftes Lächeln umspielt ihre Lippen dabei.
„Aber erst, wenn du ein passabler Reiter geworden bist“, ermahnt ihn der Türst und erinnert Hjalmar daran, weiter zu üben. Und so geht die Zeit ins Land. Er lernt, sich ohne Probleme auf dem Pferderücken zu halten und das Pferd auch in jedem Gelände zu kontrollieren. Der Wind ist sein steter Begleiter und er lernt, auch ihn zu begleiten.
Eines Abends sitzt er mit der jungen Clara auf einem Baumstamm vor der alten Jagdhütte und lauscht den Geräuschen des Waldes. Knacken im Unterholz, Zwitschern der Vögel und das Summen und Zirpen der geschäftigen Insekten.
„Früher bin ich immer mit dem Türst zu einem einsamen Berg in den Ebenen geritten“, erzählt sie ihm gerade, „da haben wir immer kurz gerastet und sind dann zurück. Dort gab es viele kleine Ortschaften und aus einer davon komme ich.“
„Und wie hat es dich zum Türst und Estrilda verschlagen?“, fragt Hjalmar.
Clara seufzt schwer.
„Ach, ich bin von zu Hause fortgelaufen und war lange alleine unterwegs. Da habe ich irgendwann auf der Straße ein schönes weißes Pferd gesehen, ganz allein, verstehst du? Und, weil ich so lange gelaufen war und mir die Füße wehtaten, bin ich aufgestiegen. Da kam der Türst und fragte, was ich da auf seinem Pferd mache. Und, als ich ihm alles erzählt hatte, meinte er, ich könne ihn begleiten. Und, tja, da bin ich jetzt.“
„Du bist von zu Hause weggelaufen? Warum?“
„Du klingst verwundert. Hattest du es denn so schön bei dir zu Hause?“
Er blickt sie irritiert an.
„Natürlich“, sagt er fest, aber in ihren Augen liest er Zweifel. Dann zuckt sie aber nur die Schultern.
„Nun, bei mir war es nicht so. Meine Eltern sind gestorben, als ich noch sehr klein war, und ich lebte dann bei meinem Onkel und seinen Söhnen … Und dort war es nicht schön.“
Hjalmar nickt nachdenklich. Er kann sich überhaupt nicht vorstellen, warum man von seiner Familie weglaufen sollte. Bei ihm war es doch immer schön, oder? Angestrengt versucht er, sich genauer zu erinnern, aber wie so häufig kommt er nicht gegen den dichten Nebel in seinem Kopf an.
„Was ist mit dir?“, fragt Clara ihn.
„Ich weiß nicht genau“, beschämt schaut er zu Seite, „ich weiß, dass ich aus Simmershavn komme, aber, wo das liegt, weiß ich nicht. Und auch nicht, was ich dort gemacht habe.“
Er schweigt eine Weile.
„So war es bei mir zuerst auch“, versucht das junge Mädchen ihn zu trösten, „mit der Zeit wird es dir schon wieder einfallen so wie mir.“
„Ja, vielleicht.“
Er greift in das Gras vor sich, ruft einige Stängel ab und zerknotet sie in seinen Händen.
„Der Türst reitet mit mir oft zu einer Klippe am Meer und fragt mich immer nach den Leuten, die dort leben. Aber ich kenne die Antwort nicht. Weißt du es vielleicht?“
Clara überlegt kurz.
„Ich kenne einige Klippen am Meer und weiß von ein paar Dörfern dort. Von manchen weiß ich sogar, wie sie heißen“, erklärt sie stolz, „aber warum reitest du nicht einfach hin und schaust nach, wer dort wohnt?“
„Ja, ich …“
Tatsächlich ist ihm diese Idee schon mal gekommen, aber immer, wenn er genauer darüber nachdenkt, hält ihn irgendeine Ahnung davon ab.
„Wenn du willst, kann ich mit dir reiten“, schlägt Clara vor und ihre Augen leuchten vor Vorfreude. Sie reitet mindestens ebenso gerne wie er selbst und verspürt genau dieselbe Euphorie wie alle anderen Reiter hier.
Auch Hjalmar freut sich über den Gedanken zu reiten.
„Na schön!“
Er springt vom Baumstamm auf und Clara tut es ihm nach. Sie rennen zu den Ställen und holen ihre Pferde.
„Wir müssen noch Estrilda Bescheid sagen“, erinnert sich Clara und Hjalmar nickt.
Kurze Zeit später preschen sie beide durch den Wald. Clara ist eine gute Reiterin und auch etwas schneller als Hjalmar, der zwar schon viel gelernt hat, aber noch nicht ganz so gut wie seine neue Freundin ist. Der Wind umfängt sie und wild stürmen sie dahin. Fröhliches Lachen erklingt in den Wäldern, als ein schneller Windhauch durch sie hindurchfegt.
Schließlich haben sie die Klippe am Meer erreicht. Abrupt hält Hjalmar sein Pferd an. Clara stoppt ebenfalls und wirft ihm einen fragenden Blick zu. Er aber mustert nur misstrauisch die Dächer des Dorfes, die sich dem Abendrot entgegenstrecken.
„Komm schon“, fordert ihn das Mädchen auf, „dann kennst du endlich die Antwort auf die Frage vom Türst!“
Hjalmar weiß auf einmal nicht mehr, ob er die Antwort tatsächlich wissen möchte, aber er fasst sich ein Herz und trabt langsam über den Waldweg auf das Dorf zu. Seine Freundin gesellt sich zu ihm.
„Nur keine Bange, wer auch immer dort wohnt, kann uns sowieso nicht sehen“, versucht sie ihm Mut zu machen.
„Was?“, fragt er verwundert. „Sie können uns nicht sehen?“
„Weißt du das nicht? Andere Menschen können uns nicht sehen, wenn wir auf unseren Pferden sitzen“, erklärt sie.
„Das wusste ich nicht. Warum ist das so?“
Das Mädchen zuckt nur die Schultern.
„So ist das eben. Menschen können uns nicht sehen, aber sie können ja auch nicht so reiten wie wir.“
„Hm“, macht Hjalmar und ist ein weiteres Mal erschrocken, wie schwer es ihm fällt zu erkennen, was normal ist und was nicht. Der unselige Nebel in seinen Gedanken ist ihm zuweilen eine Plage.
Langsam nähern sie sich den Häusern.
„Sieh nur!“, ruft Clara und deutet auf etwas.
Manche der Häuser sind beschädigt. Schwarze Balken ragen wie die Knochen von Skeletten empor. Ein Zaun, der eine verwaiste Wiese umzäunte, ist an vielen Stellen umgeknickt und zerbrochen. Sie folgen weiter dem Weg und kommen an anderen Häusern vorbei, die aber ganz gewöhnlich aussehen. Sie sind aus Holz und mit Stroh und Reet gedeckt und nicht größer als ihre Jagdhütte. Am Wegesrand wachsen einige Gänseblümchen, aber auch hier haben manche Gebäude eine seltsame schwarze Verfärbung.
„Wo sind die Menschen?“, wundert sich Hjalmar.
Er späht durch ein Fenster in eins der Häuser, aber es ist niemand da. Auch auf dem Weg kommt ihnen niemand entgegen. Sie reiten schweigend weiter, passieren einen Hof, auf dem nur wenige Rinder grasen und hören endlich die Stimmen von Menschen.
Zwei Frauen kommen mit Wassereimern des Weges. Sie schleppen schwer, aber ihr Gesicht zeigt, dass sie Mühe gewohnt sind. Einfache Hauben bedecken ihr Haar und ihr Kleid ist an vielen Stellen geflickt und dreckig. Sie sprechen kein Wort und schenken den beiden Reitern keine Beachtung. Hjalmar stößt den Atem aus, den er angehalten hatte.
„Siehst du, sie können uns nicht sehen und hören“, sagt Clara und stößt spaßeshalber eine der Frauen leicht mit dem Fuß an.
„Nicht, lass das!“, ruft Hjalmar erschrocken, obwohl die Frau überhaupt nicht auf die Berührung reagiert. Er ist seltsam angespannt. Dieser Ort behagt ihm nicht.
Clara lacht nur aufmunternd.
„Komm schon!“
Sie reiten weiter. Eine kleine, ärmliche Kirche erhebt sich zu ihrer Rechten und ein alter Priester sperrt soeben das Portal auf, um die Messe vorzubereiten. Aus einer Schenke klingt Gelächter und Musik und die beiden Reiter lenken ihre Pferde an ein Fenster, um hineinzuschauen.
An den Tischen sitzen Männer und Frauen, lachen, scherzen und zechen dabei, doch die Gesichter wirken seltsam leer. Ein pausbäckiger Wirt eilt von Tisch zu Tisch, tränkt die Durstigen und sättigt die Hungrigen. Eine Frau sitzt allein und löffelt eine Suppe. Ein bärtiger Mann kommt zu ihr und sagt irgendetwas, aber sie winkt ab und schickt ihn fort. Als sie aufgegessen hat, stellt sie den Teller auf den Tresen, bedankt sich und geht allein ihrer Wege.
Die Reiter folgen ihr in gemessenem Abstand zu einem großen steinernen Haus im Zentrum des Dorfes. Man kann es nur über eine Leiter betreten und, wenn diese eingezogen ist, ist ein Zutritt nicht leicht möglich. Jetzt ist die Leiter aber heruntergelassen und die Frau klettert an ihr hinauf und verschwindet im Inneren. Einige Möwen sitzen auf dem Dach und putzen ihr Gefieder.
Gegenüber des steinernen Hauses steht wieder ein Gerippe. Es ist noch stärker beschädigt als alle anderen Häuser, die sie hier gesehen haben. Alle Wände sind eingefallen und das Dach ruht als Schutt obenauf.
„Was ist hier nur passiert?“, flüstert Clara.
Hjalmar wendet den Blick ab und schaut stattdessen den Weg runter zum Meer. Von dort kommen ihnen zwei Gestalten entgegen. Klein und dunkel zeichnen sie sich gegen das Licht der untergehenden Sonne ab. Eins ist ein Mädchen, das andere ein Junge. Sie sind in ein Gespräch vertieft und schauen nicht auf, als sie näher kommen. Plötzlich muss der Junge lachen und offenbart eine auffällige Zahnlücke.
„Nein!“
Erschrocken reißt Hjalmar die Augen auf, als Bruchstücke seiner Erinnerung aufleuchten. Sein Pferd steigt. Er krallt sich in die Mähne, wirbelt mit dem Tier herum und galoppiert davon. Vorbei an der Ruine, an dem steinernen Haus, an der Schenke an der Kirche und an den Gänseblümchen. Weiter und weiter prescht er davon, seine Sicht getrübt von Tränen.
Clara findet ihn schließlich an der Klippe, wie er übers Meer starrt.
„Was ist los? Was ist passiert?“, fragt sie außer Atem, aber Hjalmar schüttelt nur den Kopf. Er weiß nicht, was er sagen soll. Irgendetwas hat ihn erinnert. An einen Sturm und einen Strand.
„Warum bist du weggeritten?“, fragt ihn Clara.
„Ich … ich weiß es nicht.“
Eine einzelne Träne läuft ihm übers Gesicht.
Sanft spürt er eine Berührung an der Schulter und blickt auf. Besorgte grüne Augen mustern ihn und schenken ihm ein Lächeln.
„Alles wird gut, hörst du?“
Ihre Stimme ist zaghaft, aber so voller Verständnis, dass er schließlich traurig nickt.
Eine Weile schauen sie gemeinsam über das Meer und lauschen dem gleichmäßigen Rauschen der Brandung. Es ist schon spät, als sie mit ihren Pferden zur alten Jagdhütte zurückkehren.
„Zielen … und Schuss“.
Der Pfeil segelt durch die Luft und zischt an der Scheibe vorbei.
„Gleich nochmal. Zieh die Sehne ganz zum Ohr, nur so nutzt du maximale Kraft.“
Der Türst marschiert neben Hjalmar auf und ab und überprüft dessen Bogentechnik. Neben ihm schickt Clara einen Pfeil auf die Reise, der sich mit einem Surren in die Zielscheibe gräbt.
„Getroffen!“, freut sie sich.
„Versuchs nochmal und dieses Mal geh einige Schritte weiter zurück. Und versuch, näher in der Mitte zu treffen“, weist der Türst sie an. Sie nickt artig und tut, wie geheißen.
Hjalmar bemüht sich derweil mit dem nächsten Pfeil.
„Halte den Atem an, wenn du zielst, und lass ihn entweichen, wenn auch der Pfeil fliegt.“
Er konzentriert sich, will dieses Mal nichts falsch machen, hält den Atem an, zielt und …
„Noch einmal“, verlangt Türst.
„Warum klappt es nicht? Ich ziele genau auf die Scheibe“, beschwert sich Hjalmar.
„Immer weiterüber, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Achte auf den Wind.“
Und er beißt die Zähne zusammen und nimmt einen neuen Pfeil. Achte auf den Wind. Es geht doch kaum ein Lüftchen, worauf soll er da schon groß achten. Doch da spürt er es. Ganz leicht fühlt er den Wind, die Brise. Es ist ganz anders als beim Reiten, aber doch … Er legt an, zielt, und …
„Getroffen!“ Vor Begeisterung springt er in die Luft und reckt den Bogen empor.
„Na, geht doch. Sogar genau ins Schwarze. Dann auch mit dir ein paar Schritte zurück und auf zum nächsten Versuch.“
„Guter Schuss“, beglückwünscht ihn Clara.
„Danke, deiner war aber auch nicht schlecht.“
Sie lächelt breit und schießt ihren nächsten Pfeil, der sich abermals tief in das Holz bohrt.
„Weiter zurück“, verlangt der Türst und streicht eine Linie in den Waldboden. „Wer zuerst bei dieser Linie angekommen ist und trifft, bekommt einen Preis“, verkündet er und schaut lächelnd seinen beiden Lehrlingen zu, die in plötzlich großer Eile Pfeil an Pfeil auf die Scheibe abfeuern.
„Konzentriert euch“, ermahnt er sie.
Hjalmar konzentriert sich, ist aber auch gleichermaßen ehrgeizig, schneller zu schießen als seine Freundin. Er spürt den Wind dieses Mal nicht und schießt weit vorbei. Darüber ärgert er sich so sehr, dass auch der nächste Pfeil sein Ziel verfehlt. Clara dagegen ist treffsicherer. Er reißt sich zusammen und versucht es erneut. Da ist er wieder. Der Wind, der den Pfeil tragen soll. Und Schuss. Mit einem befriedigenden Zittern bleibt der Pfeil stecken und Hjalmar geht ein paar Schritte weiter zurück. Zielt wieder …
„Gewonnen!“, ruft Clara und springt auf und ab.