Hochsensible Männer - Tom Falkenstein - E-Book

Hochsensible Männer E-Book

Tom Falkenstein

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Beschreibung

Warum die Welt feinfühlige Männer braucht Die Forschung zum Thema Hochsensibilität wurde in den 1990er-Jahren von Elaine Aron eingeleitet. Dieses Phänomen geht mit tiefer Informationsverarbeitung, einer Tendenz zur Überstimulation, hoher Emotionalität und sensorischer Empfindlichkeit einher. Der hochsensible Mann ist zusätzlich noch mit dem gängigen Rollenklischee konfrontiert. Immer wieder erleben Psychotherapeuten wie Tom Falkenstein, wie diese besonders tiefsinnigen Klienten unter ihrer angeborenen Temperamenteigenschaft leiden. Sie schämen sich für ihre Empfindsamkeit. In seinem Buch beleuchtet der Autor alle Aspekte der Hochsensibilität aus Sicht des Mannes: Merkmale, Angrenzung zu psychiatrischen Diagnosen – und vor allem: den selbstfürsorglichen Umgang mit der eigenen Sensibilität. Zahlreiche Übungen sowie Interviews mit hochsensiblen Männern, die gut mit ihrer Disposition leben, zeigen auf: Das Ziel ist nicht, weniger sensibel zu sein, sondern seine Stärken schätzen und einsetzen zu lernen. "Das Buch zeigt auf, wieso wir hochsensiblen Männer von der gegenwärtigen Männlichkeitskrise nicht nur besonders betroffen sind, sondern auch die besten Voraussetzungen dafür haben, diese Krise als Chance zu nutzen. Ein wichtiges und nützliches Buch, das Druck wegnimmt und praktische Werkzeuge an die Hand gibt. Danke, Tom Falkenstein!" (Georg Parlow, Autor von "zart besaitet") „Endlich: Ein fachlich fundiertes Buch speziell für Hochsensible Männer! Die tief gehende Auseinandersetzung mit Männlichkeit und Sensibilität ist dazu angetan, unsichere Hochsensible Männer zum Umdenken anzuregen und nachhaltig in ihrem Selbstwert zu stärken. Das Buch wirkt als kraftvolle Ermutigung, sich in der feinsinnigen und empfindsamen Wesensart anzunehmen und einzubringen. Ein wichtiger Beitrag zum Empowerment von hochsensiblen Männern.“ (Ulrike Hensel, Autorin und Coach für HSP) „Tom Falkensteins Buch zeichnet sich durch Präzision, Klarheit und Sachlichkeit aus. Ein einzigartiges und ermutigendes Buch für alle Männer, die ihre hochsensible Wesensart besser verstehen und sinnvoll nutzen möchten." (Brigitte Küster, ehemals Schorr, Autorin mehrerer Bücher zum Thema Hochsensibilität) "Hochsensibilität ist ein faszinierendes Thema, welches zunehmend an Popularität gewinnt. Tom Falkensteins Buch über Hochsensible Männer ist ein wichtiger Beitrag in diesem relativ neuen Gebiet. Die wissenschaftliche Fundierung auch aufgrund empirischer Forschungsresultate sowie die zahlreichen praktischen Vorschläge werden vielen Männern (und Frauen) dabei helfen, ihre Hochsensibilität besser zu verstehen und mit ihr im Einklang zu leben." (Dr. Michael Pluess, Queen Mary University of London) „Tom Falkenstein argumentiert kenntnisreich und engagiert, immer die Autonomie seiner Leser respektierend, die letztlich selbst am besten entscheiden könnten, ob und wie sie seine Anregungen mit den eigenen Erfahrungen verknüpfen. Gegen Ende schlägt er in wenigen Sätzen die Brücke von der individuellen zur strukturellen Ebene und ermutigt seine Adressaten, sich nicht aufs Private zu reduzieren, sondern zu schauen, „wie Sie als sensibler Mann helfen können, das traditionelle, teilweise problematische Bild des ‚starken Mannes‘ gesellschaftlich zu verändern. Die nächste Generation von jungen heranwachsenden Männern braucht dringend mehr Freiheit und Vielfalt in der Frage, was es heißt, Mann zu sein.“ (Psychologie Heute, Ausgabe 3/2018) „Tom Falkensteins Buch hebt sich wohltuend von der Vielzahl derzeitiger Publikationen zum Thema Hochsensibilität ab. Er führt fundiert in die wissenschaftliche Literatur zum Thema Hochsensibilität ein, die er durch anschauliche Fallbeispiele ergänzt. Der zweite Teil des Buchs enthält umfangreiche Anregungen, wie hochsensible Menschen Strategien der Achtsamkeit, Imagination und Selbstfürsorge für das eigene Wohlbefinden nutzbar machen können. Ein wahrhaftig inspirierendes Buch – nicht nur für Hochsensible Männer!“ (Prof. Dr. Margrit Schreier, Jacobs University Bremen)

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Seitenzahl: 363

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Tom FalkensteinHochsensible MännerMit Feingefühl zur eigenen Stärke

Über dieses Buch

Die Welt braucht feinfühlige Männer

Das Phänomen Hochsensibilität geht mit tiefer Informationsverarbeitung, einer Tendenz zur Überstimulation, hoher Emotionalität und sensorischer Empfindlichkeit einher. Der hochsensible Mann ist zusätzlich noch mit dem gängigen Rollenklischee konfrontiert. Immer wieder erleben Psychotherapeuten wie Tom Falkenstein, wie diese besonders tiefsinnigen Klienten unter ihrer angeborenen Temperament­eigenschaft leiden. Sie schämen sich für ihre Empfindsamkeit. In seinem Buch beleuchtet der Autor alle Aspekte der Hochsensibilität aus Sicht des Mannes: Merkmale, Abgrenzung von psychiatrischen Diagnosen – und vor allem: den selbstfürsorglichen Umgang mit der eigenen Sensibilität. Zahl­reiche Übungen sowie Interviews mit hochsensiblen Männern, die gut mit ihrer Disposition leben, zeigen auf: Das Ziel ist nicht, weniger sensibel zu sein, sondern seine Stärken schätzen und einsetzen zu lernen.

„Das Buch zeigt auf, wieso hochsensible Männer von der gegenwärtigen Männlichkeitskrise nicht nur besonders betroffen sind, sondern auch die besten Voraussetzungen dafür haben, diese Krise als Chance zu nutzen. Ein wichtiges Buch, das Druck wegnimmt und praktische Werkzeuge an die Hand gibt. Danke, Tom Falkenstein!“ – (Georg Parlow, Autor von „Zart besaitet“)

Tom Falkenstein ist Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Berlin.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2017

Coverfoto: © Victor_Tongdee – istockphoto.com

Übersetzung der Interviews: Christa Broermann

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2017

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-493-2

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-693-6 (EPUB), 978-3-95571-695-0 (PDF), 978-3-95571-694-3 (MOBI).

Für Ben

„Dieser Betrag an Empfindsamkeit ist eine überaus häufige Beigabe einer Persönlichkeit und trägt oft mehr zu deren Reiz bei, als dass sie einem Charakter Abbruch täte. Einzig wenn schwierige und ungewohnte Situationen kommen, pflegt sich der Vorteil in einen oft recht großen Nachteil zu verkehren, indem dann die ruhige Besinnung durch unzeitgemäße Affekte gestört wird. Nichts wäre aber unrichtiger, denn diesen Betrag an Empfindsamkeit als einen eo ipso krankhaften Bestandteil eines Charakters zu werten. Wenn dem wirklich so wäre, so müsste man wahrscheinlich etwa ein Viertel der Menschheit als pathologisch betrachten.“1

„Eine gewisse angeborene Empfindlichkeit führt zu einer besonderen Vorgeschichte, das heißt zu einem besonderen Erleben der infantilen Ereignisse, welche ihrerseits auch nicht gleichgültig bleiben für die Entwicklung der kindlichen Weltanschauung. Ereignisse, verknüpft mit starken Eindrücken, gehen nie spurlos an empfindsamen Menschen vorüber. Es bleiben Spuren davon bekanntlich oft für das ganze Leben wirksam. Und solche Erlebnisse können auch einen bedingenden Einfluss auf die gesamte geistige Entwicklung eines Menschen ausüben.“2

(C. G. Jung über besonders sensible, empfindsame Menschen, 1913)

Vorwort

Ich mag hochsensible Männer sehr gerne, und das allein schon wegen dem, was sich hinter diesen beiden Worten verbirgt. Erstens sind es Männer, und ich umgebe mich normalerweise gerne mit Männern. Und zweitens sind sie hochsensibel. Für mich bedeutet das, dass ich mit diesen Männern tiefsinnige Unterhaltungen führen kann. Oberflächlicher Small Talk ist sehr langweilig für hochsensible Menschen. Diese Männer hingegen haben Ideen und machen sich Gedanken. Sie sind in der Regel besonders gute Zuhörer. Sie zeigen oft Wärme und Empathie. Und gräbt man etwas tiefer, findet man ihre spirituelle Ader. Sie handeln im Allgemeinen ethisch und gewaltfrei. Natürlich sind sie niemals perfekt, glauben Sie mir, aber das hat ja auch etwas Gutes.

Somit mag ich die Kombination: sensibler Mann. Wenn Sie diese Zeilen lesen, dann nehme ich an, dass die beiden Worte entweder Sie selbst beschreiben oder jemand, der Ihnen etwas bedeutet. Dieses Buch hat zum Ziel, die beiden Attribute „sensibel“ und „männlich“ auch in Ihrem Kopf als etwas Wunderbares zu vereinen – so, wie ich es tue.

Bitte machen Sie als hochsensibler Mann den entscheidenden Schritt, sich selbst wertzuschätzen – nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Rest von uns. Wir, die Welt, brauchen Sie wirklich sehr. Was wir von Ihnen brauchen, ist, einen Weg zu finden, die Welt positiv zu beeinflussen, denn Sie haben das, was es dazu braucht – tiefgründige Gedanken, die Fähigkeit, die besten Lösungsstrategien zu finden, Mitgefühl für andere und ethisches Handeln. Aber wir möchten, dass Sie dies auf eine Weise tun, die sich für Sie richtig anfühlt. Und wir möchten, dass Sie heilen, falls Sie in Ihrem Leben emotionale Verletzungen erlitten haben, und sich geerdet und zentriert fühlen, nicht überstimuliert. Nichts ist so wichtig, dass Sie dafür ein Burn-out riskieren sollten. Damit ist längerfristig niemandem geholfen. Dafür müssen Sie aber auf Ihr inneres Gleichgewicht achten und es stets erneuern, und dieses Buch ist eine wahre Schatzkiste von Möglichkeiten, wie Sie dies am besten machen können.

Lassen Sie mich etwas über den Autor des Buches sagen. Als ich Tom Falkenstein 2015 das erste Mal traf, mochte ich ihn sofort. Als ich ihn daraufhin etwas besser kennenlernte, merkte ich schnell, dass er das Zeug dazu hatte, dieses Buch zu schreiben: Er besitzt ein gutes Verständnis von den wissenschaftlichen Hintergründen von Hochsensibilität und verfügt über genug Praxiserfahrung, um Ihnen eine Fülle von lebensnahen Übungen und Gedankenimpulsen präsentieren zu können. Vor allem aber ist er ein Psychologischer Psychotherapeut, was auch bedeutet, dass er Hochsensibilität von psychischen Störungen unterscheiden kann. Manchmal passiert es, dass hochsensible Menschen eine Diagnose erhalten, obwohl sie an gar keiner Störung leiden. Manchmal kommt es vor, dass hochsensible Menschen auch psychisch erkranken. Und manchmal möchte eine Person unbedingt glauben, dass ihr einziges Problem ihre Hochsensibilität ist, obwohl das eigentliche Problem ein ganz anderes ist und sie gar nicht hochsensibel ist. Als Psychotherapeut kann Tom Falkenstein hier gut differenzieren und wird Ihnen dies ebenso vermitteln.

Aus all diesen Gründen habe ich Tom sehr gerne bei der Arbeit an seinem Buch unterstützt. Wir hatten mehrere Videoanrufe von Berlin nach San Francisco. Er stellte ausgezeichnete Fragen, und ich finde, dass wir auch Spaß zusammen hatten. Während unserer Zusammenarbeit merkte ich, dass ich ihm vertraute, und ich wünschte, Sie könnten ihn auch kennenlernen. Aber ich bin mir sicher, dass Sie seine Stimme als Autor dieses Buches als warm, authentisch, kompetent und erfahren erleben werden – eben hochsensibel, genau wie Sie.

Elaine Aron

San Francisco, im Februar 2017

Einleitung

„Ich hasse an mir, dass ich so sensibel bin!“ Mein Klient, Mitte zwanzig, saß mir gegenüber und brachte seinen Ärger mit dieser Aussage auf den Punkt. Es war einer der ersten warmen Frühlingstage in London, und plötzlich herrschte Stille im Raum. Der junge Mann war seit einiger Zeit in der psychiatrischen Klinik, in der ich damals als Psychotherapeut arbeitete, wegen wiederkehrenden Depressionen in Behandlung. Im Rahmen seiner Therapie stießen wir immer wieder indirekt auf das Thema Sensibilität. Doch dies war der erste Moment, in dem er sich selbst offen als sensibel bezeichnete und sein Selbsthass, den er aufgrund seiner empfundenen Sensibilität verspürte, deutlich wurde. Für ihn war es ein schmerzlicher, aber wichtiger Punkt in der eigenen Auseinandersetzung mit seiner hohen Sensibilität, unter der er seit seiner Kindheit litt. Für mich war es ein Schlüsselmoment in meiner beruflichen Laufbahn, weil der Klient sehr klar benannte, worauf ich in meiner Arbeit als Psychotherapeut über die Jahre immer wieder gestoßen war, ohne dafür einen Namen gehabt zu haben oder das Phänomen konkret benennen zu können – bis zu diesem Zeitpunkt: der hochsensible Mann.

Während meiner Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten in Berlin war ich immer wieder auf einen bestimmten Kliententyp gestoßen, den ich als besonders sensibel, tiefsinnig, intuitiv, gewissenhaft, oft introvertiert und manchmal schüchtern erlebte. Diese Klienten kamen alle aus den verschiedensten Gründen zu mir in die therapeutische Behandlung, etwa aufgrund von Depressionen, Angststörungen oder Beziehungsproblemen. Sie hatten jedoch alle eine darunterliegende, unterschwellige Wesensart gemeinsam: Sie waren alle äußerst sensibel und nahmen dadurch ihre innere und äußere Welt sehr feinsinnig und empfindsam wahr.

Mir fiel nach einiger Zeit auf, dass mir die therapeutische Arbeit mit dieser Klientengruppe oft besonders viel Freude bereitete, gerade weil sie so differenziert in ihrer Wahrnehmung und ihrer Auseinandersetzung mit sich und der Welt waren. Jedoch wurde mir auch zunehmend bewusst, dass es die männlichen Klienten waren, nicht die weiblichen, die die größten Probleme mit ihrer beschriebenen Sensibilität hatten und in ihren Therapien oft den Wunsch ausdrückten, weniger sensibel sein zu wollen. Ich konnte wiederholt beobachten, dass die Diskrepanz zwischen dem, wie ein sensibler Mann ist, und dem, wie er glaubt, sein zu müssen, zu großem psychischem Leid bei diesen Männern führte. Häufig empfanden sie Scham oder Minderwertigkeit aufgrund ihrer sensiblen Disposition, die sie schon seit ihrer Kindheit begleitete, und sie empfanden ihre Sensibilität als „unmännlich“, „weiblich“ oder „unattraktiv“. Manche hatten lange Zeit versucht, ihre Empfindsamkeit zu verleugnen oder vor anderen zu verstecken – in der Regel vergeblich. Die Überzeugung, dass sensibel und gleichzeitig männlich sein sich ausschließen, schien tief zu sitzen.

Ich hörte in Sitzungen immer und immer wieder den von männlichen Klienten geäußerten Wunsch, „tougher“ werden zu wollen, körperlich und seelisch belastbarer zu sein und zu lernen, sich extrovertierter zu verhalten. In der Regel erhofften sie sich dadurch, sich männlicher zu fühlen, mehr Erfolg und Durchsetzungskraft im Beruf zu haben oder auf potenzielle Partner/-innen anziehender zu wirken. Manchmal versprachen sich diese Männer auch, weniger Konflikte in der Beziehung zum eigenen Vater oder zu anderen Männern zu erleben. Im Grunde schien es also darum zu gehen, dem Bild des „typischen Mannes“ mehr entsprechen zu wollen.

Ich hatte damals noch nicht von dem Konzept der Hochsensibilität als angeborene Temperamenteigenschaft gehört und wusste auch noch nichts über die umfangreichen Forschungsergebnisse der Psychologin Dr. Elaine Aron und ihren Kollegen zur „Highly Sensitive Person (HSP)“ oder auf Deutsch: zur „hochsensiblen Person (HSP)“. Elaine Aron hatte bereits seit den frühen 1990ern das Thema erforscht und griff damit das Konzept der „angeborenen Empfindlichkeit“ mancher Menschen auf, welches bereits der Schweizer Psychiater und Begründer der Tiefenpsychologie C. G. Jung 1913 in seinen Veröffentlichungen beschrieben hatte.

Neugierig geworden durch die obige Situation in London vor mehreren Jahren, begann ich, mich explizit mit dem Thema Sensibilität bei Menschen auseinanderzusetzen. So stieß ich auf den Terminus Hochsensibilität oder „Sensory Processing Sensitivity“, wie der Begriff in der Forschung genannt wird. Ich hatte den Eindruck, auf ein nahezu bahnbrechendes psychologisches Konzept gestoßen zu sein, was meine weitere Arbeit als Psychotherapeut entscheidend beeinflussen sollte. Die Idee, dass Menschen sich von Geburt an in ihrer Sensibilität, mit der sie auf ihre Umwelt reagieren, unterscheiden, schien so viel von dem zu erklären, was ich täglich in meiner Praxis beobachten konnte. So tauchte ich in den letzten Jahren tief in die Materie der Hochsensibilität ein, und daraus entstand ein regelmäßiger Austausch mit Elaine Aron, von der ich persönlich viel über die Forschungshintergründe und die therapeutische Arbeit mit hochsensiblen Klienten lernen konnte.

Bei meiner Beschäftigung mit dem Thema Hochsensibilität fiel mir auf, dass ich kaum Bücher finden konnte, welche die besonderen Herausforderungen hochsensibler Männer aus psychotherapeutischer und männlicher Sicht beschrieben. Die meisten Bücher über Hochsensibilität wurden von Frauen geschrieben und schienen sich in erster Linie auch an Leserinnen zu richten. Gleichzeitig erschien mir das erfahrene und mitgeteilte Leid hochsensibler Männer in meiner psychotherapeutischen Praxis und im Beratungskontext jedoch sehr groß. Zwar werden die Schwierigkeiten von sensiblen Männern, die diese aufgrund des männlichen Rollenbilds im westlichen Kulturkreis erleben, in vielen Ratgebern kurz hervorgehoben, doch eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Thema hochsensible Männlichkeit, und somit eine Enttabuisierung, bleibt weiterhin aus. Das möchte ich ändern.

Mir liegt es dabei besonders am Herzen, mit diesem Buch einen längst notwendigen Beitrag zum Empowerment von hochsensiblen Männern zu leisten, weil ich glaube, dass ihre Rolle in der Welt eine wichtige ist, die mit vielen Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten verbunden ist. Ich halte die hohe Sensibilität mancher Männer für einen ganz wesentlichen Teil ihrer männlichen Identität und für eine Quelle der Bereicherung für ihr eigenes Leben und für die Leben anderer. Sensibilität ist kein schamhafter, „unmännlicher“ Makel, den es sich abzutrainieren gilt.

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist aber, dass man mit der eigenen Sensibilität verantwortungsvoll und gut umzugehen lernt und ihr mit Akzeptanz begegnet, sie wertschätzt und für sich und in der Beziehung zu anderen Menschen gut nutzt. Wenn dies gelingt, so glaube ich, dass eine hochsensible Veranlagung Männer sogar zu besonders guten Vätern, Ehemännern, Partnern, Söhnen, Brüdern und Freunden machen kann.

Gleichzeitig erscheint es mir aber auch wichtig hervorzuheben, dass die eigene Hochsensibilität – einmal erkannt und benannt – nicht als eine Ausrede benutzt werden sollte, die Dinge im Leben zu vermeiden, die man eigentlich ohnehin nicht machen möchte. Ebenso finde ich, dass sie kein Anlass zu Arroganz oder Überheblichkeit sein sollte, nach dem Motto: „Ich bin etwas ganz Besonderes, weil ich so sensibel bin.“ Hochsensibilität ist zunächst einmal eine völlig neutrale Disposition, eine angeborene Temperamenteigenschaft.3 Eine hochsensible Veranlagung zu haben ist weder automatisch gut noch schlecht. Es ist zwar ein wichtiger Teil der eigenen Person, aber letztlich auch nur ein Teil, ein Aspekt der eigenen Vielschichtigkeit. Es erscheint mir daher als problematisch, wenn man sich selbst darauf völlig reduziert oder seine sensible Natur wie eine Fahne vor sich herträgt. Ich sehe somit hochsensible Männer weder als „zarte Blätter im Wind“ noch als die „etwas besonderen Menschen“.

In meiner Arbeit mit hochsensiblen Klienten vergleiche ich eine hochsensible Veranlagung oft damit, mit blasser Haut geboren zu sein. Man kann beklagen, nicht mit dunklerer Haut geboren zu sein, oder neidisch auf Freunde schauen, die im Sommer ihre von Natur weniger sensible Haut am Strand, im Garten oder im Park sorglos bräunen können. Aber letztlich muss man akzeptieren, dass die eigene Haut eine andere ist. Nicht besser, nicht schlechter, aber anders. Auch mit blasser, sensibler Haut kann man sich sonnen, wenn man dies möchte, nur kann man sich eben nicht so lange der direkten Sonne aussetzen, wie es vielleicht anderen möglich ist. Man muss auch einige Vorkehrungen treffen, wie etwa Creme mit einem höheren Lichtschutzfaktor auftragen, ein schattiges Plätzchen suchen, Kleidung anziehen oder einen Sonnenhut tragen. Man kann also, genau wie die anderen Menschen, die mit weniger blasser Haut geboren wurden, an den „sonnigen“ Momenten des Lebens teilnehmen, aber man muss lernen, dies auf seine eigene, auf vielleicht eine etwas andere Art zu tun. Das ist der entscheidende Punkt: akzeptieren und annehmen, was vorhanden ist, und anschließend einen individuellen und authentischen Weg finden, damit gut im Einklang zu leben.

Die Anzahl der Veröffentlichungen und der wissenschaftlichen Forschungen zu dem Thema Hochsensibilität hat in den letzten Jahren rasant zugenommen, und dadurch erfährt der Begriff derzeit weltweit eine wachsende Bekanntheit. Ich vermute, dass der Grund dafür auch etwas mit der Zeit zu tun hat, in der wir leben. Ich beobachte, dass viele Menschen ihr Privat- und Berufsleben als zunehmend schnelllebig und leistungsorientiert erleben und sich dadurch oft dauerhaft gestresst, erschöpft, überstimuliert oder unter Druck gesetzt fühlen. Die Grenze zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre verschwindet mehr und mehr, und Persönlichkeitseigenschaften, die wir typischerweise nicht mit sensiblen, introvertierten und zurückhaltenden Menschen in Verbindung bringen, werden in unserer westlichen Gesellschaft scheinbar stärker verlangt und zelebriert. Es wird zunehmend als wichtig erachtet, in der Lage zu sein sich durchzusetzen, schnell zu arbeiten und noch schneller Entscheidungen zu treffen, viele Dinge gleichzeitig zu erledigen und ein extrovertiertes, selbstsicheres Auftreten in und vor Gruppen zu beherrschen – sei es bereits bei Kindern im Kindergarten oder in der Grundschule oder bei Erwachsenen im Berufsleben. Hinzu kommt die Wichtigkeit des ersten Eindrucks, die ständige Erreichbarkeit durch E-Mails und Mobiltelefone, die Kunst des Sich-präsentieren-Könnens, ob in sozialen Netzwerken oder im realen Leben. Manche Psychologen und Psychiater bezeichnen diese zu beobachtende gesellschaftliche Entwicklung sogar als eine „Epidemie des Narzissmus“4 und sprechen von der „narzisstischen Gesellschaft“5.

Es scheint, als würden in der westlichen Gesellschaft mehr und mehr Verhaltensweisen und Eigenschaften bevorzugt, die hochsensiblen Menschen eher schwerfallen oder diese schneller überreizen oder ermüden. Dennoch sind die Qualitäten und positiven Eigenschaften vieler hochsensibler Menschen, wie etwa ein hohes Empathievermögen, Differenziertheit, Tiefgründigkeit, eine Tendenz zum ethischen Handeln und eine feine Wahrnehmungsfähigkeit, für die zahlreichen politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen der heutigen Welt vielleicht sogar wichtiger als jemals zuvor.

Ich glaube, dass ein selbstverständlicher und authentischer Umgang mit der eigenen Sensibilität nicht nur für jeden Mann selbst, sondern auch für unsere gesamte Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Wenn es hochsensiblen Männern gelingt, in Balance mit ihrem Temperament zu leben, ihre Fähigkeiten positiv und offensiv zu nutzen und sich nicht länger dafür zu schämen, zu verstecken oder minderwertig zu fühlen, dann wird dies die Beziehung, die sie mit sich selbst haben, tief greifend verändern. Aber auch die Beziehung und die Interaktion mit anderen Menschen, ob Familie, Freunde oder Kollegen, wird eine andere werden, was eine weitreichende Konsequenz haben könnte. Denn dadurch könnte sich das gesellschaftliche Verständnis von „Mann-Sein“ ebenfalls verändern – weniger rigide und eng, hin zu einem freieren, vielfältigeren Verständnis von Männlichkeit. Ein realistischeres und ehrlicheres Männerbild könnte das Ergebnis dieser bereits begonnenen Veränderung sein, sodass männlich sein und gleichzeitig sensibel sein sich in den Köpfen der Menschen nicht länger ausschließen muss. Meiner Meinung nach sind es hier besonders die sensiblen Männer, die diesen Veränderungsprozess unterstützen, vorantreiben und sogar anführen können, vorausgesetzt, sie haben die eigene Hochsensibilität angenommen und spüren, dass sie für die Gesellschaft als Ganzes und für die Evolu­tion des Mannes und seiner Identität von Bedeutung sind.

Dieses Buch verknüpft in zwei Teilen „Theorie und Praxis“: Anhand von theoretischen Ansätzen aus den Bereichen Psychologie und Medizin gebe ich Ihnen im ersten Teil eine Einführung zur gegenwärtigen Situation des Mannes in der westlichen Gesellschaft. Dabei beleuchte ich, welche negativen Konsequenzen ein traditionelles, antiquiertes Männerbild haben kann und warum hier speziell sensible Männer eine nötige Veränderung vorantreiben können und somit einen großen gesellschaftlichen Wert haben. Ich werde Ihnen einen Überblick darüber geben, wie das Konzept Hochsensibilität entstanden ist, und beschreibe, was Hochsensibilität ist, was es nicht ist und woran Sie erkennen können, ob Sie hochsensibel sind. Sie werden verstehen, was typische Merkmale, aber auch Herausforderungen und Bereicherungen hochsensibler Menschen sind und wie Sie Hochsensibilität von psychischen Erkrankungen abgrenzen können.

Im zweiten Teil des Buches werde ich Ihnen praktische Übungen vermitteln, die Ihnen dabei helfen werden, mit den Herausforderungen einer hohen Sensibilität und den damit verbundenen typischen Problembereichen besser umzugehen. Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie mithilfe von Emotionsregulation, Achtsamkeit, Akzeptanz, Entspannung, Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge eine ganz wesentliche Verbesserung Ihrer Lebensqualität im alltäglichen Leben erreichen können und wie Sie diese Strategien am besten einsetzen können. Hierbei mache ich konkrete Übungsvorschläge und biete zahlreiche Strategien an, die sich für viele meiner hochsensiblen Klienten in den letzten Jahren als besonders hilfreich erwiesen haben.

An jedes Kapitel schließen sich Gespräche mit hochsensiblen Männern an. Darin beschreiben sie, wie sich ihr Temperament auf verschiedene Lebensbereiche wie Beruf, Sexualität und Beziehungen auswirkt und wie sie gelernt habe, damit gut umzugehen und ihre Disposition bestmöglich für sich zu nutzen. Den Abschluss des Buches bildet ein persönliches Gespräch zwischen Elaine Aron und mir über hochsensible Männer.

Als Psychotherapeut liegt es natürlich auch in meiner Natur, Ihnen im Verlauf des Buches viele Fragen zu stellen und dadurch eine Auseinandersetzung, einen inneren Prozess in Ihnen anzuregen, anstatt Ihnen ausschließlich direktiv Strategien zu vermitteln. Was ich mir letztlich aber hauptsächlich wünsche, ist, dass Sie sich nach dem Lesen des Buches darin bestärkt fühlen, sich als hochsensibler Mann so anzunehmen, wie Sie sind, und gelernt haben, für sich selbst in Ihrem Alltag gut zu sorgen. Dabei würde mich besonders freuen, wenn durch das Buch ein vielleicht bisher vorhandenes Gefühl von „nicht richtig sein“ bei Ihnen abnehmen würde und Sie Ihre sensible Seite mehr mögen würden. Auch wenn mir die Grenzen eines Ratgebers bewusst sind, so glaube ich auch an die Kraft und Wirkung von Büchern, die oft feine, aber weitreichende Spuren in uns hinterlassen können.

TEIL I: DAS PHÄNOMEN HOCHSENSIBILITÄT

1. Maskulinität im Umbruch: die wichtige Rolle des hochsensiblen Mannes in der Gesellschaft

Ist es Zeit für die Emanzipation des Mannes? Und wenn ja, wie sähe eine solche Emanzipation eigentlich aus? Während sich die feministische Frauenbewegung bereits (mindestens) in der „Dritten Welle“ befindet, scheint der Mann sich mit der Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Rolle in der Gesellschaft deutlich schwerer zu tun. Verfolgt man das Thema in den deutschen Medien, so bekommt man jedoch durchaus den Eindruck, dass Fragen rund um männliche Identität, psychische Gesundheit und Rollenbild des Mannes mehr und mehr von Interesse sind und seit einigen Jahren zunehmend diskutiert werden. Immer wieder machen Artikel, Beiträge und Kommentare in Zeitungen, Zeitschriften und im Internet Vatersein, Mannsein oder die Vereinbarung von Beruf und Familie für Männer zum Thema. Dabei sprechen zahlreiche Artikel und Beiträge der letzten Jahre von einer vermeintlichen „Krise des Mannes“. Überschriften wie „Männer in der Krise: Jetzt reißt euch mal zusammen“6, „Das geschwächte Geschlecht“7, „Männer-Krise: Wo ist das starke Geschlecht?“8 oder etwa „Identitätssuche zwischen Super-Dad und eitlem Gockel“9 , um nur einige Beispiele zu nennen, versuchen eine Auseinandersetzung mit dem Thema männliche Identität und verfallen dabei abwechselnd in einen ironischen oder manchmal sogar kritisch-sarkastischen Ton. Die Krise sei da, da scheinen sich alle mehr oder weniger einig zu sein, doch irgendwie bekommt man beim Lesen dieser Beiträge das Gefühl, dass eigentlich keiner so richtig weiß, was nun zu tun ist und wie eine Lösung des Problems aussehen könnte. Auch fühlt es sich beim Lesen dieser Artikel so an, als hielte sich echtes Mitgefühl für die „armen Männer“ in Grenzen – zu stark ist dafür wohl noch immer die Dominanz des Patriarchats.

Ich möchte mich in diesem Kapitel zunächst ebenfalls mit der Frage, wie es derzeit um den Mann in der westlichen Welt steht, auseinandersetzen, und dabei einige Meinungen und Studien aus dem angelsächsischen und deutschen Raum zu Wort kommen lassen. Da es sich hierbei um ein Buch über hochsensible Männer handelt, erscheint es mir wichtig, dass wir sie in ihren gesellschaftlichen Kontext setzen. Somit ist dieses Kapitel in erster Linie ein Plädoyer für eine größere maskuline Vielseitigkeit, die wir, meiner Meinung nach, brauchen und die eine Lösung der sogenannten Männlichkeitskrise darstellen könnte. Ebenso bin ich der Überzeugung, dass bei dieser längst notwendigen Emanzipation des Mannes vom klassischen Männerbild vor allem sensible Männer eine Schlüsselrolle einnehmen, weil sie mit dem Bild des „typischen starken Mannes“ brechen und dieses ergänzen.

1.1 Befinden wir uns in einer „Männlichkeitskrise“?

Der traditionsreiche Berufsverband „Vereinigung britischer Psychologen“ (BPS), bereits 1901 in London gegründet, widmete erstmals im Jahr 2014 eine gesamte Ausgabe seines seit 1988 monatlich erscheinenden Magazins The Psychologist Fragen und Beiträgen rund um die psychische Gesundheit des Mannes.10 Bereits ein Jahr zuvor wurde in der britischen Politik und in den Medien ausgiebig von einer im Land herrschenden „Männlichkeitskrise“ gesprochen.11 Das scheinbar neu entdeckte Interesse an der männlichen Psyche und der männlichen Identität ist jedoch nicht nur ein europäisches Phänomen. Auch in den USA taucht seit einiger Zeit wiederholt der Begriff „toxic masculinity“ auf, der eine ungesunde Form von Männlichkeit beschreibt.12 Auch einer der einflussreichsten Psychologieforscher unserer Zeit, der Amerikaner Philip Zimbardo, der 1971 mit dem Stanford-Prison-Experiment zum Gewaltverhalten von Menschen weltberühmt wurde, macht die männliche Identitätskrise zum Hauptthema seines letzten Buches.13 Der Autor Jack Urwin schreibt in seinem Buch Boys Don’t Cry – Identität, Gefühl und Männlichkeit14 ebenfalls über toxische Maskulinität, und auch Der Spiegel thematisierte das Problem in seiner Kolumne „Es ist ein Junge“:

„Im Englischen gibt es den Begriff der ‚toxic masculinity‘, also einer Form von Männlichkeit, die auf Dominanz und Gewalt basiert und Gefühle nicht zulässt. Es ist ein Problem, wenn Jungs und Männern immer wieder erzählt wird, dass ein ‚richtiger Kerl‘ nicht weine, eine ausschweifende und geradezu animalische Sexualität habe und alles, was sich ihm in den Weg stellt, eigenhändig beiseiteräumen müsse – ein Problem für Frauen und Männer. Es ist diese Form von Männlichkeit, die wir thematisieren müssen. Dass sie weitverbreitet ist, heißt nicht, dass sie in der ‚Natur‘ von irgendwem liegt.“15

So bleibt also festzuhalten, dass weltweit nicht nur Politiker, Autoren und Journalisten, sondern auch zahlreiche Wissenschaftler von einer „Männlichkeitskrise“ sprechen und argumentieren, dass die gegenwärtige, aktuelle Form von Maskulinität, aufgrund eines größeren gesellschaftlichen Umbruchs, sich derzeit in der Krise befindet. Eine Krise, die geprägt ist von männlicher Unsicherheit bezüglich ihrer gesellschaftlichen Rolle und Aufgabe, Identität, Werte, Sexualität, Beruf und zwischenmenschlichen Beziehungen.16 Gleichzeitig gibt es aber auch die Meinung, dass aus wissenschaftlicher Perspektive „das Wissen über die psychische und körperliche Gesundheit des Mannes im Vergleich zu dem Wissen über Frauen defizitär ist“.17 Woran liegt das? Michael Addis, Psychologieprofessor und führender Forscher in den Bereichen männliche Identität und psychische Gesundheit, sieht in dem relativen Mangel an Forschungsergebnissen zu etwa depressiven Erkrankungen bei Männern, im Gegensatz zu den Forschungsergebnissen zu Depressionen bei Frauen, kulturelle, soziale und historische Gründe. Genauer gesagt, möchte man Depressionen unter dem Genderaspekt (also dem sozialen und kulturellen Geschlecht) besser verstehen und herausfinden, ob es Unterschiede im Erleben, im Ausdruck und in der Behandlung einer depressiven Erkrankung zwischen Männern und Frauen gibt, so wird schnell deutlich, dass sich hier der Begriff „Gender“ für lange Zeit in erster Linie auf Frauen bezogen hat, nicht jedoch auf Männer. Laut Addis ist dafür die Ursache, dass Männer historisch als die gesellschaftlich dominante und Norm gebende Gruppe angesehen wurden und Frauen somit die davon abweichende, nicht dominante Gruppe bildeten, die es zu untersuchen und zu verstehen galt. Ein Problem daran ist jedoch, dass somit die Erfahrungen, das Erleben und die spezifischen Herausforderungen der dominanten „Gruppenmitglieder“, also die der Männer, um bei Addis’ Beispiel zu bleiben, weiterhin im Unklaren bleiben und durch einen Schleier der scheinbar Norm gebenden Selbstverständlichkeit verdeckt bleiben.18

Doch genau das scheint sich derzeit zu verändern, indem der Mann selbst in den Fokus der Forschung und des beschriebenen öffentlichen Interesses geraten ist. Das, was lange Zeit für selbstverständlich galt, wird plötzlich hinterfragt. Und vielleicht ist es genau dieses Hinterfragen und das damit verbundene Identifizieren, Analysieren und Neudefinieren, das derzeit als männliche Identitätskrise oder Verunsicherung des „starken Geschlechts“ verstanden wird. Der Untersuchende wird erstmals zum Untersuchten – mit teilweise tatsächlich sehr beunruhigenden Ergebnissen.

Wie steht es um den Mann?

Obwohl europaweit gesehen mehr Frauen als Männer in ihrem Leben mit einer Angststörung oder einer depressiven Episode diagnostiziert werden, so sind es Männer, die sich deutlich häufiger das Leben nehmen. Suizid bleibt weiterhin die häufigste Todesursache bei britischen Männern unter 35 Jahren.19,20 Insgesamt nahmen sich im Jahr 2012 in Großbritannien 5981 Menschen das Leben, davon waren 4590 Männer.21 Auch in Deutschland ist die Suizidrate bei Männern deutlich höher. Im Jahr 2012 waren von 9900 Suizidfällen 7300 Männer.22 Männer leiden häufiger an Suchterkrankungen23, erkranken und sterben häufiger als Frauen an Krebs24 und erhalten häufiger als Frauen die schwerwiegende Diagnose einer Persönlichkeitsstörung.25 Besprechen Männer und Frauen depressive Symptome mit ihrem Arzt, erhalten männliche Klienten seltener die Diagnose einer Depression und bekommen folglich weniger häufig die adäquate pharmakologische oder psychotherapeutische Behandlung.26

Junge Männer sind auf weiterführenden Schulen derzeit in ihren akademischen Leistungen weniger erfolgreich als junge Frauen. Die Zahl von männlichen Universitätsbewerbern in Großbritannien ist seit vielen Jahren niedriger als die der weiblichen Bewerberinnen, und ihre Abbruchquote ist deutlich höher.27 In Deutschland gibt es zwar mehr Studenten als Studentinnen, jedoch ist auch hier die Abbruchquote der Männer höher.28 Männer kommen häufiger als Frauen mit dem Gesetz in Konflikt. Im März 2012 waren von den 57.600 Strafgefangenen in Deutschland 54.300 Männer.29 Das alles sind erschreckende Zahlen.

Selbst in den wohlhabenden Industrienationen dieser Welt sterben Männer in der Regel zwischen fünf bis zehn Jahren früher als Frauen. Obwohl die Gründe hierfür mannigfaltig sein können, geht man mittlerweile zunehmend davon aus, dass vor allem Lebensstil, Verhalten und Umfeld, weniger die unterschiedliche Biologie zwischen den Geschlechtern, ursächlich dafür sind. Der Medizinprofessor Dr. Thomas Perls, der seit vielen Jahren zu dem Thema Lebenserwartung forscht, ist der Meinung, dass etwa 70 Prozent des Unterschieds in der Lebenserwartung auf Verhalten, Lebensstil und Umfeld zurückzuführen seien, während die restlichen 30 Prozent genetische oder biologische Gründe haben.30 Das es eher der Lebensstil und ihr Verhalten und weniger die unterschiedliche Biologie ist, die Männer deutlich früher sterben lässt, wird auch von Dr. Marc Lucys „Klosterstudie“ bestätigt. Seine Forschungsergebnisse zeigen, dass die Lebenserwartung von Mönchen und Nonnen, die in einer nahezu identischen Umgebung leben und einen ähnlichen Lebensstil pflegen, fast gleich ist. Darüber hinaus liegt die Lebenserwartung der an der Studie teilnehmenden Mönche bis zu vier Jahre über der der Männer in der Gesamtbevölkerung. Die Gründe dafür sieht er im klösterlichen Lebensstil, geprägt von einem geregelten und bewusst gestalteten Tagesablauf, einem besseren Gesundheitsverhalten und einer geringeren Stressbelastung.31

Wenn Verhalten und Lebensstil einen so entscheidenden Einfluss auf die psychische und körperliche Gesundheit des Mannes haben und anscheinend weniger die Biologie, dann stellt sich die Frage, wovon das männliche Verhalten und der daraus resultierende, zum Teil selbstschädigende Lebensstil beeinflusst werden. Hier scheint die Antwort, zumindest zu einem ganz wesentlichen Teil, in der Sozialisation des Mannes zu liegen und den daraus resultierenden „männlichen“ Werten und Normen, die Männer verinnerlichen und in ihrem Verhalten ausdrücken.

1.2 Wann ist der Mann ein Mann?

Wenn wir einen kurzen Augenblick innehalten und über die Frage nachdenken, was einen Mann „männlich“ macht bzw. was die gesellschaftlichen Erwartungen an Männer sind, dann mögen wir vielleicht zu unterschiedlichen Antworten kommen. Dennoch, so meine Vermutung, würden sich die klassischen und eher traditionellen männlichen Attribute häufen: physische Stärke, Ausdauer, emotionale Selbstbeherrschung, Stoizismus, Selbstständigkeit, Heterosexualität, Durchsetzungsvermögen, Mut, Dominanz, Risikofreude, Konkurrenzfähigkeit, beruflicher Erfolg und sexuelle Leistungsfähigkeit. In anderen Worten: Wir würden wahrscheinlich, mehr oder weniger, das typische Bild vom „starken Mann“ beschreiben. Ich nehme an, dass Worte wie „sensibel“, „emotional“, „feinfühlig“ oder „empfindsam“ eher weniger oft genannt werden würden.

Zwar wird manchmal vom „neuen Mann“ gesprochen, der in den Medien für lange Zeit von einem „metrosexuellen“ und stilbewussten David Beckham verkörpert wurde, und natürlich hat sich die Gesellschaft und mit ihr das Männerbild verändert, dafür gibt es zahlreiche Indizien. Deutsche Väter verbringen zum Beispiel mittlerweile ganze 59 Minuten am Tag mit ihren Kindern, während es 1965 nur 16 Minuten waren.32 Und dennoch fällt mir auf, dass die Verkörperung des „neuen Mannes“, wie etwa ein David Beckham, erneut auf klassische, traditionelle männliche Attribute zurückgreift: beruflicher Erfolg, Ausdauer, Status, Leistungsfähigkeit, Selbstbeherrschung und heterosexuell lebend. Damit im Einklang steht, dass in zahlreichen Forschungsergebnissen aus der Psychologie der letzten 40 Jahre trotz gesellschaftlicher Veränderungen weiterhin und konstant das stereotype Bild vom „starken Mann“ bestätigt wird, völlig unabhängig von dessen Alter, Ethnizität und sozioökonomischen Status. Männer tendieren weiterhin dazu, angesichts von Problemen andere nicht um emotionale oder professionelle Hilfe zu bitten, sie versuchen eher als Frauen, unangenehme Gefühle mit Alkohol oder Drogen zu betäuben und im Zweifelsfall Dinge mit sich alleine auszuhandeln, anstatt die Nähe oder Hilfe von anderen zu suchen.33 Daran hat auch eine „metrosexuelle“, auf äußere Oberflächlichkeit fokussierte Männlichkeit oder die häufig zitierten zwei Monate Elternzeit vieler Väter nichts geändert.

Die Sozialisation des Mannes, die seine Identität, seinen Lebensstil und sein Verhalten so entscheidend prägt, scheint also maßgeblich Teil des Problems zu sein. Unter Sozialisation versteht man den Prozess der Eingliederung beziehungsweise der Anpassung des heranwachsenden Mannes in die ihn umgebende Gesellschaft und Kultur, etwa durch Familie, Schule, Freunde, Kirche oder Medien. Früh im Leben eines Jungen übernimmt er die geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen, Einstellungen, Werte, Normen und Ideologien, die davon geprägt sind, was in der Gesellschaft, in der er aufwächst, als männlich und akzeptabel verstanden wird und was nicht. Der leider noch immer häufig blaue Babystrampler ist hier sicherlich nur der Anfang und eher ein offensichtliches Symbol dieser Sozialisation, die oft auf viel subtileren Wegen greift.

Die Internalisierung und Übernahme besonders restriktiver gesellschaftlicher männlicher Normen kann aber auch negative Konsequenzen auf das Empfinden des Mannes haben.34 Nämlich dann, wenn dieser das Gefühlt hat, dass so, wie er ist, nicht damit übereinstimmt, wie er denkt, dass er sein sollte. Dies wird mit den Konzepten „gender role strain“ (Geschlechterrollenstress) und „gender role conflict“ (Geschlechterrollenkonflikt) beschrieben. Beide Konzepte messen und erklären den emotionalen Stress und Konflikt bei Männern, die durch die Internalisierung von restriktiven oder unerreichbaren männlichen Normen emotionales Leid erfahren.35 Jim O’Neil, Psychologieprofessor und Pionier in der Arbeit zum männlichen Geschlechterrollenkonflikt, beschreibt das Konzept wie folgt: „Geschlechterrollenkonflikt (GRC) ist als psychologischer Zustand definiert, in dem die sozialisierte männliche Genderrolle negative Konsequenzen für die betreffende Person oder für andere hat.“36

Auch der bereits erwähnte Psychologieforscher Addis nimmt auf dieses Konzept in seiner Arbeit Bezug und zeigt, dass gerade diejenigen Männer, die traditionelle männliche Normen und Werte, wie etwa autark, stark und unabhängig sein, stärker verinnerlicht haben, größere Gefahr laufen, an einer depressiven Episode zu erkranken, und weniger wahrscheinlich professionelle Hilfe aufsuchen als Männer, die von diesen Werten weniger stark beeinflusst sind.37 Spätestens hier wird deutlich, dass eine gewisse Flexibilität und Distanz zu den traditionellen männlichen Normen und Werten also durchaus von Vorteil für die körperliche und mentale Gesundheit des Mannes sein kann. Alte, aber anscheinend immer noch wirksame Sprichwörter wie „ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Jungen weinen nicht“ oder „Augen zu und durch“ kommen in den Sinn.

1.3 Die Angst, nicht Mann genug zu sein

Der bereits erwähnte Psychologe O’Neil glaubt, dass die Angst, nicht männlich genug zu sein oder gar „weiblich“ zu erscheinen, häufig der Hauptgrund für die harte und starre Rüstung ist, die Männer sich selbst auferlegen und sich von der Gesellschaft auferlegen lassen:

„Die Furcht vor dem Weiblichen besteht aus starken, negativen Gefühlen, welche mit stereotypen weiblichen Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen verbunden sind. Sie werden in früher Kindheit durch die Formung der Geschlechterrollenidentität durch Eltern, Gleichaltrige und durch gesellschaftliche Werte gelernt. Die bewusste und unbewusste Furcht der Männer vor dem Weiblichen kommt in der theoretischen Literatur seit vielen Jahren vor“ (2008, S. 367).38

Häufig kann ich in meiner Arbeit mit männlichen Klienten diese Angst sehr klar beobachten. Männer, die sich schnell schämen, wenn sie den Eindruck bekommen, sich nicht so zu verhalten, wie es sich, ihrer Meinung nach, für einen „richtigen Mann“ gehört. Dieser Prozess beginnt bereits oft in der Kindheit. Scham ist eine starke Emotion und ein mächtiges Werkzeug der gesellschaftlichen Sozialisation. Wenn wir uns schämen, dann verbinden wir dies oft mit der Furcht, ausgeschlossen zu werden, zu einer Gruppe nicht mehr dazuzugehören. Dies konnte im Leben unserer Vorfahren durchaus tödliche Konsequenzen haben.

Wenn jedoch das Maß an Verinnerlichung von traditionell männlichen Werten und Idealen durchaus auch negative Konsequenzen für die psychische und körperliche Gesundheit von Männern haben und sogar dazu beitragen kann, dass sie früher sterben, etwa weil sie nicht oder nur sehr verzögert zum Arzt gehen, nicht um Hilfe bitten oder sich anderen nicht anvertrauen, dann scheint es höchste Zeit zu sein, diese traditionellen männlichen Werte zu hinterfragen und zu erweitern.

Ich glaube, dass gerade bei dieser Erweiterung der hochsensible Mann eine wichtige Rolle spielt, weil er aufgrund seiner angeborenen hohen Sensibilität und der damit verbundenen Emotionalität und Feinfühligkeit traditionelle männliche Normen, Werte und Verhaltensweisen wie Härte, Belastbarkeit, Ausdauer, Konkurrenzfähigkeit und Selbstkontrolle automatisch infrage stellt, herausfordert und letztlich ergänzt. Oft ohne sich dessen zunächst selbst bewusst zu sein. Einfach indem er ist, wie er ist, und somit vom traditionellen Männerbild zum Teil abweicht, stellt er es infrage. Aber genau darin könnte die wichtige gesellschaftliche Aufgabe des hochsensiblen Mannes liegen, indem er Empfindsamkeit, Sensibilität, Mitgefühl und vor allem Emotionalität für alle Männer enttabuisiert. Auf diese Weise können alle Männer, egal ob jung oder alt, heterosexuell oder homosexuell lebend, hochsensibel oder nicht hochsensibel, davon profitieren. Wenn dadurch eine authentischere, ganzheitlichere und vielseitigere Form von Männlichkeit entstehen könnte, die es gesellschaftlich allen Männern erlaubt, sensibel und emotional zu sein, ohne dabei Scham, Angst oder Minderwertigkeit fühlen zu müssen, dann erscheint mir das, im Angesicht der beschriebenen Problematik, wie eine Situation, von der wir alle profitieren würden. Eine Win-win-Situation sozusagen.

Das, was wir männlich nennen, ist nicht in Stein gemeißelt

Die gesellschaftliche Meinung darüber, wie ein Mann sein sollte oder welche Attribute in einem Mann erstrebenswert und attraktiv sind, scheint mir durchaus veränderbar. Dr. Allison Haggett von der Universität von Exeter beschreibt in ihrem Buch A History of Male Psychological Illness in Britain 1945–1980 den historischen Verlauf von psychischen Problemen bei Männern in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg.39 In unserem Gespräch erklärt sie mir, dass sie das aktuelle, enge Bild von Maskulinität in der westlichen Welt für „problematisch und restriktiv“ hält, und verweist dabei auf die zahlreichen Forschungsergebnisse aus der Psychologie und der Medizin zur Gesundheit des Mannes.

Sie schildert aber auch, dass das, was wir momentan als „typisch männlich“ verstehen, sich im Verlauf der Geschichte durchaus verändert hat und historisch gesehen weniger klar definiert ist, als wir das manchmal annehmen. Dr. Haggett argumentiert in ihrem Buch, dass maskuline Attribute in erster Linie gesellschaftlich konstruiert und nicht etwa biologisch festgelegt sind und sich daher verändern können und bereits verändert haben. Sie beschreibt, dass während des Georgischen Zeitalters (1714–1830) vor dem Beginn der industriellen Revolution in Großbritannien das erstrebenswerte Männerbild ein völlig anderes war, als es heute ist. Damals wurde männlich sein mit weise und tugendhaft sein gleichgesetzt. Es war für einen Mann gesellschaftlich akzeptiert, ja sogar erstrebenswert und gewünscht, emotional zu sein und seine Emotionen auszudrücken, ohne dass er fürchten musste, dafür von anderen verachtet zu werden. Laut Haggett hatte dies zur Folge, dass während dieser Epoche für Männer eine Kultur des Nach-innen-Schauens entstand, in der es ihnen gesellschaftlich erlaubt war zu reflektieren und nachdenklich zu sein.

Auch wurde damals dem zentralen Nervensystem eine besondere Bedeutung beim Verstehen des menschlichen Körpers zugeschrieben, und man war der Annahme, dass eine besonders nervöse oder sensible Disposition ein klares Indiz für eine vornehme und gebildete Herkunft und Feinheit sei, nicht ein Anzeichen für fehlende Männlichkeit. Je feiner und sensibler das Nervensystem eines Mannes, desto besser. Somit wurde das, was wir heute als „schwache Nerven“ bezeichnen würden, früher als wertvoll angesehen.

Damals gab es den Begriff Hochsensibilität, so wie wir ihn heute definieren, zwar noch nicht, doch sind Kennzeichen wie hohe Emotionalität und Reflektionsfähigkeit, sich tief gehend mit sich selbst und seiner Umwelt auseinanderzusetzen und ein besonders sensibles, leicht erregbares zentrales Nervensystem Merkmale eines hochsensiblen Mannes. Durch den Beginn der industriellen Revolution und die zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert und die damit verbundenen tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen und den neuen Fokus auf Produktivität und Effizienz hat sich aber auch unser Verständnis von Maskulinität verändert. Seitdem wird offen gezeigte Emotionalität bei Männern, außer Ärger, stigmatisiert und häufig als etwas Negatives, als etwas Peinliches gesehen.40

Es wurde für Männer in der westlichen Welt zunehmend wichtig, Merkmale wie Dominanz, Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit zu entwickeln, um sich gesellschaftlich, beruflich und sozial behaupten zu können. Allerdings zahlen alle Männer, wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, dafür einen hohen Preis. Und mit ihnen natürlich auch der Rest der Gesellschaft: ihre Partner/-innen, ihre Familien, ihre Kinder, ihre Freunde, ihre Geschwister, ihre Eltern und ihre Freunde. Es betrifft uns also alle.

Wenn ich das männliche Geschlecht als Ganzes oder als Einheit betrachte, verallgemeinere und simplifiziere ich natürlich enorm. Aber lassen wir uns das dennoch für einen Moment lang tun, um uns die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Geschlechtern zu verbildlichen. Wenn sich die Frau in unserer Gesellschaft verändert – das sehen wir besonders seit der feministischen Frauenbewegung der 1960er-Jahre –, dann hat das auch Auswirkungen auf den Mann und umgekehrt. Ein Mann, der sich sehr schwer damit tut, seine eigenen emotionalen Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen, und diese anderen gegenüber kaum ausdrücken kann, wird sich in Beziehungen zu anderen Menschen schwertun und kann kein emotional befriedigender Partner oder emotional erreichbarer Vater sein. Ein Mann, der seinen eigenen Selbstwert hauptsächlich über seinen beruflichen Erfolg definiert oder gelernt hat, emotionale Nähe ausschließlich über Sexualität auszudrücken, ist ebenso problematisch. Beides wird negative Auswirkungen auf seine Partnerschaft, seine Familie, seine Beziehungen, seine Gesundheit und sein gesamtes Umfeld haben. Es muss also im Interesse von Frauen und von Männern sein, dass sich Männer von den traditionellen männlichen Werten stärker lösen können. Damit Männer die Freiheit spüren, sich emotional frei entfalten zu dürfen, vielseitig zu sein und sich vor anderen verletzbar und emotional zeigen zu dürfen, ohne dabei Gefahr zu laufen, als „Weichei“ beschämt zu werden. Genauso wie Männer ebenfalls davon profitieren, wenn Frauen gleichberechtigt, frei, selbstbestimmt und selbstbewusst leben können, vielschichtig und vielseitig sein dürfen und Freiraum zur persönlichen Entfaltung bekommen.

1.4 Die männliche Emanzipation

Wie könnte sie nun also aussehen, die Emanzipation des Mannes? Ich bin der Meinung, dass nun nicht jeder Mann zwangsläufig in seinem Auftreten oder in seiner Wesensart sensibler oder weicher werden muss oder wir wieder an das Männerbild des Georgischen Zeitalters anknüpfen sollten, das so viel mit den Eigenschaften eines hochsensiblen Mannes gemeinsam hat. Vielmehr glaube ich, dass wir männlich sein als solches weiter fassen und freier definieren sollten, sodass jeder Mann beziehungsweise Junge so sein darf, wie er ist, und dass dies die eigene Komplexität, Gegensätzlichkeit, Vielseitigkeit und emotionale Vielschichtigkeit umfasst. Ein Ende des „Sich-selbst-Reduzierens“ und von anderen „reduzieren lassen“. Ein Ende von „entweder oder“ und der Beginn von „sowohl als auch“. Ein Ende von „schwarz-weiß“ und der Beginn von jeder Menge „grau“. Männlich und sensibel, männlich und emotional. Der hochsensible Mann unterstützt und fördert diesen gesellschaftlichen Veränderungsprozess umso mehr, je selbstbewusster, selbstverständlicher und authentischer er mit seiner hohen Sensibilität umgeht und sie vor und mit anderen lebt.

Wenn von der Männlichkeitskrise gesprochen wird, dann heißt Krise hier aber sicherlich auch Chance. Chance auf Veränderung. Durch den Prozess des Sich-bewusst-Machens beginnen wir zu hinterfragen und neu zu definieren und leiten daraus veränderte Gedanken, Einstellungen und Verhalten ab. Dieser Prozess kann beängstigend und verunsichernd sein, aber gleichzeitig auch befreiend und aufregend. Vielleicht ist es genau dieser Prozess, der sich derzeit überall beobachten lässt und der Männern letztlich hoffentlich mehr Authentizität, Nähe, Emotionalität und Sensibilität erlauben wird.

Der Klinische Psychologe Martin Seager ist Mitbegründer des „Male Psychology Network“ – ein britischer Verbund von Ärzten und Psychologen, der jährliche eine Konferenz zur psychischen Gesundheit des Mannes veranstaltet. Seager, ähnlich wie Haggett, ist der Überzeugung, dass die traditionellen „Männlichkeitsregeln“ enormen Druck auf Männer ausüben, auf bestimmte Art zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten. In meinem Gespräch mit ihm fasst er die „Männlichkeitsregeln“ wie folgt zusammen:

Ein richtiger Mann ist ein Kämpfer und ein Gewinner.

Ein richtiger Mann ist ein Versorger und ein Beschützer (von Frauen und Kindern).

Ein richtiger Mann behält Kontrolle und Beherrschung.

Seager glaubt nicht daran, dass diese gesellschaftlichen Erwartungen an Männer ganz verschwinden werden, hat jedoch den Eindruck, dass wir gesellschaftlich gerade im Prozess sind, die Anwendung und die Inhalte dieser Regeln zu verändern und zu erweitern. Wie sieht dieser Erweiterungsprozess aus? Andere zu versorgen könnte auch bedeuten, dies auf emotionaler Ebene zu tun anstatt auf rein finanzieller oder körperlicher. Beides sind wichtige und berechtigte Formen der Versorgung. Ein Mann könnte für seine Partnerin oder seinen Partner sorgen, indem er versucht, emotional anwesend und erreichbar zu sein. Auch könnte er sich zu Hause um die gemeinsamen Kinder kümmern, was ebenfalls eine Form der männlichen Versorgung und männlichen Beschützung darstellt. Wenn wir von Männern (und Männer von sich selbst!) erwarten zu kämpfen und zu gewinnen, dann können wir auch das erweitern. Wie könnte eine aktuellere Form des männlichen Kämpfens im 21. Jahrhundert aussehen? Für eine wichtige Sache oder einen guten Zweck zu „kämpfen“? Für die eigene Familie oder die Partnerschaft zu „kämpfen“? Und könnte „Erfolg haben“ auch bedeuten, enge Beziehungen zu anderen zu haben; ein psychisch und körperlich gesundes, langes Leben zu führen oder beruflich das zu machen, was dem eigenen Leben Sinn gibt? Wenn Erfolg haben sich ausschließlich auf Status, beruflichen oder sexuellen Erfolg und materiellen Reichtum bezieht, dann hat das zwangsläufig zur Folge, dass sehr, sehr viele von uns sich nicht erfolgreich fühlen und schnell das Gefühl bekommen können, als „richtiger Mann“ in dieser Gesellschaft zu scheitern oder zu versagen.

Dafür braucht der Mann aber die Unterstützung der Frau, die ihm erlaubt, so sein zu dürfen. Und er braucht die Unterstützung von anderen Männern, die ihm mit Freundlichkeit und Akzeptanz begegnen und so erst die Selbstbefreiung aus den beengten „Männlichkeitsregeln“ ermöglichen und fördern.

Am Ende des Kapitels