Hokuspokus, liebe mich - Amy Alward - E-Book

Hokuspokus, liebe mich E-Book

Amy Alward

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Beschreibung

Als die Prinzessin von Nova aus Versehen selbst einen Liebestrank zu sich nimmt, der für ihren Liebsten bestimmt war, verknallt sie sich prompt in ihr eigenes Spiegelbild. Ups! Flugs wird im ganzen Land eine Jagd nach dem Gegengift ausgerufen. Und so beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, dem es auch selbst nicht an aufregenden Zutaten fehlt. Samantha Kemi ist eine der Teilnehmerinnen. Ihre Familie gehörte einst zu den berühmtesten Alchemisten des Königreiches und der Gewinn des Wettkampfs könnte ihnen neuen Ruhm bringen. Dazu müsste Sam aber erst einmal all die Mitbewerber der Mega-Pharmaunternehmen aus dem Feld schlagen. Allen voran Zain Asher, ihren ehemaligen Klassenkameraden, der nun ihr erbittertster Konkurrent ist. Blöd nur, dass der Bursche so verflixt gut aussieht und auch noch richtig charmant sein kann ...

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Seitenzahl: 419

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DIE AUTORIN

© Marte L Rekaa

Amy Alward ist Kanadierin und lebt in London. Sie ist dort Programmleiterin in einem großen Kinder- und Jugendbuchverlag. In der Zeit, die ihr daneben noch bleibt, schreibt sie Jugendbücher. Ihr Leben wird bestimmt von der permanenten Suche nach Abenteuern, Kaffee und richtig guten Büchern.

Amy Alward

Aus dem Amerikanischenvon Christa Prummer-Lehmair und Heide Horn

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Erstmals als cbj Taschenbuch August 2016

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2015 Amy Alward Ltd.

Die Originalausgabe erschien 2015unter dem Titel »The Potion Diaries«

bei Simon & Schuster UK Ltd.

Übersetzung: Christa Prummer-Lehmair, Heide Horn

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung der Fotos und Abbildungen von © Shutterstock (somen, Mikhail Bakunovich, Ron Dale, Paul Fleet, goa novi, ori-artiste)

MP · Herstellung: wei

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17758-4V001

www.cbj-verlag.de

Kapitel Eins

Prinzessin Evelyn

Ein winziger Blutstropfen spross an der Stelle, wo sie die Messerspitze gegen ihre Fingerkuppe drückte. Sie hielt den Finger über den Rand einer Glasphiole und sah zu, wie der Blutstropfen hineinfiel und die Flüssigkeit am Grund des Gefäßes von Rosa zu Tintenblau verwandelte.

Seltsam.

Sie hatte immer angenommen, ein Liebestrank müsste rot sein, nicht blau.

Kapitel Zwei

Samantha

Das Glasgefäß ist so dick mit Staub verkrustet, dass kein Etikett mehr zu erkennen ist. Rasch fahre ich mit dem Ärmelsaum darüber, bevor mir Mums strenge Ermahnung einfällt, nicht ständig meine Arbeitskittel zu ruinieren. Also greife ich stattdessen nach dem Lappen, den ich heute Morgen in die Tasche meiner Jeans gestopft habe. Nachdem ich noch einmal kräftig gerieben habe, erscheint die spinnenartige Handschrift meines Großvaters, gestochen und präzise, außer an den Stellen, an denen die Tinte ausgelaufen ist und sich wie Finger über das Pergament zieht.

Berd du Merlyn

»Das gibt’s doch nicht!«, entfährt es mir. Vor Aufregung wird mir ganz schwindlig, und ich muss das Glas erst einmal zurück ins Regal stellen und etliche Male tief durchatmen, um mich zu beruhigen.

»Was hast du denn da gefunden?« Meine beste Freundin Anita, die ein paar Regale über mir arbeitet, schaut von ihrem Hochsitz zu mir herunter.

Wir beide balancieren auf Sprossenleitern, die über drei Stockwerke mit sechsunddreißig Regalen reichen. Wir haben eine Abmachung. Anita hilft mir bei der gewaltigen, todlangweiligen Aufgabe, eine Bestandsaufnahme von den Tausenden von Substanzen, Mixturen, Tränken, Pflanzen und undefinierbarem Zeug im Laden meiner Familie zu machen. Dafür habe ich ihr versprochen, mit ihr zusammen das Konzert zum achtzehnten Geburtstag der Prinzessin anzusehen, das auf großen Videowänden vor dem Schloss übertragen wird, obwohl ich auf das Getue, das um sie gemacht wird, allergisch reagiere. Heimlich habe ich auch ein Buch eingepackt, für alle Fälle.

Da ich so breit grinse, schiebt Anita ihre Leiter zu mir herüber. Die Schienen sind alt und von dicken Staubflusen verstopft, und obwohl ich den Laufrollen gelegentlich ein paar Tropfen Öl verpasse, sind sie alles andere als leichtgängig.

Ich drehe das Etikett des Glases in ihre Richtung. Sie stößt einen leisen Pfiff aus. »Glaubst du, das ist echt?«

»Wer weiß«, erwidere ich. Aber mein Herzklopfen verrät mich. Jedes Mal, wenn ich diese Regale durchstöbere, habe ich das Gefühl, immer tiefer in eine lang verschollene Schatzkiste einzutauchen. Eines Tages werde ich auf etwas ganz Besonderes stoßen. Vielleicht habe ich gerade ins Schwarze getroffen. »Es gibt da eine Pflanze, von der ich neulich in Natur und Heiltränke gelesen habe. Sie wird als Zaubererbart bezeichnet. Vielleicht ist das hier ein alter Name dafür.« Automatisch kommen mir die Verwendungsmöglichkeiten für den Zaubererbart in den Sinn. Ein wichtiger Bestandteil von Tränken gegen Schock– fünf Minuten in heißem (jedoch nicht kochendem) Wasser ziehen lassen, um schlechte Nachrichten besser zu verkraften. Er wird recht häufig in Mischungen verwendet, ist also kein besonders außergewöhnlicher Fund.

Sollte sich allerdings herausstellen, dass es sich hierbei um echten Merlinsbart handelt … von dem Merlin … tja, dann weiß ich, mit welchem Geld wir das Loch im Dach reparieren lassen können, das ich gestern entdeckt habe (und zwar auf die unangenehme Tour, weil ich einen nassen Kopf bekam) und das ich notdürftig mit Klebeband geflickt habe.

Ich umschließe den Deckel fest mit den Fingern und drehe mit aller Kraft. Kurz leistet er Widerstand, dann löst er sich jäh vom Glas und setzt eine gewaltige Staubwolke frei, mitten in mein Gesicht.

Ich fange an zu husten und wild mit den Armen zu wedeln, um den Staub zu vertreiben. Meine Zuversicht sinkt.

Leer.

Anita tätschelt mir den Arm. »Noch ein Punkt für Kirstys Liste?«

»Sieht ganz so aus.« Seufzend nehme ich den Stift, der hinter meinem Ohr steckt, und notiere »Zaubererbart« auf der Liste ausverkaufter Artikel, die Kirsty, unsere Sammlerin, für uns besorgen muss. Und für unser Dach muss ich mir wohl auch eine andere Lösung überlegen.

Manchmal, wenn ich in romantischer Stimmung bin, denke ich an die vielen Generationen der Familie Kemi, die auf diesen Leitern standen, und male mir aus, wie viele große Alchemisten sich aus diesen Regalen bedient haben.

Doch die Wirklichkeit holt mich immer rasch wieder ein: Der Laden ist eine Bruchbude, unsere Vorräte gehen zur Neige, und das Geschäft läuft zu schlecht, um an beidem etwas ändern zu können.

Das war nicht immer so. Einst gehörte Kemis Arzneiladen zu den bedeutendsten Apotheken von Kingstown. Doch wer braucht heutzutage noch Apotheken? Schließlich bieten die riesigen Drogerien im Stadtzentrum die synthetischen Versionen der traditionellen Präparate zur Hälfte des Preises an. Wir sind überflüssig geworden. Ein Relikt vergangener Tage.

Auch Anitas Dad besitzt einen Arzneimittelladen, der sich auf Mischungen aus Bharat spezialisiert hat. Als sein Lehrling ihn verließ, um auf Ingenieur umzusatteln, beschloss Mr Patel, keinen neuen mehr einzustellen – obwohl Anita ihm anbot, ihren Studienplatz sausen zu lassen und den Laden zu übernehmen. Wenn er sich in ein paar Jahren zur Ruhe setzt, wird er den Laden endgültig schließen. Und wieder wird eine Apotheke sterben, während Kemis Arzneiladen weiterhin tapfer ums Überleben kämpft.

Mr Patel hat Glück. Zumindest ist es seine eigene Entscheidung, den Laden irgendwann dichtzumachen, er hat also immerhin ein gewisses Maß an Kontrolle. Ich verspüre das vertraute flaue Gefühl im Magen, als ich daran denken muss, was wohl aus mir wird, wenn es bei uns so weit ist.

Anita schiebt die Leiter an die Stelle zurück, an der sie zuletzt gearbeitet hat. Ich bemühe mich, wieder ein wenig Begeisterung für meine Aufgabe aufzubringen, aber die hat sich ebenso verflüchtigt wie die Staubpartikel aus dem Glas.

»Meine Güte, Sam, sieh dir das an!«

»Was denn?« Ich klettere zu ihr hoch. Auf was kann sie gestoßen sein? Sphinx-Atem? Oder vielleicht sogar auf einen Drachenzahn?

Sie hält mir ihr Handy direkt vors Gesicht. Auf dem Display ist Prinzessin Evelyn in einem der riesigen Ballsäle des Palasts zu sehen. »Die Prinzessin trägt zu ihrem Achtzehnten genau das Kleid, das ich mir für den Sommerball kaufen wollte! Na toll, jetzt ist es bestimmt in null Komma nichts überall ausverkauft«, schmollt sie.

»Ich kann nicht fassen, dass du tatsächlich zum Sommerball gehst.«

»Na ja, nicht alle geben sich lieber mit Arzneitränken als mit Jungs ab, wie bestimmte Leute, die ich kenne.«

»Sehr witzig. Du hast aber noch kein Date, oder?«

»Ich schare meine Verehrer um mich, genau wie Prinzessin Evelyn, und warte auf meinen Traumprinzen.« Anita wirft ihr langes, glänzend schwarzes Haar zurück und streckt mir die Zunge heraus.

Ich werfe meinen Lappen nach ihr. Sie kichert.

»Und, was glaubst du, wer wird sie heute Abend begleiten?«, fragt Anita.

»Was meinst du?«

Anita verdreht die Augen. »Na komm, wenn du mich schon zwingst, dir bei der Inventur zu helfen, möchte ich auch ein bisschen Spaß haben. Also, ich zuerst. Ich würde auf Damian tippen.«

»Auf keinen Fall. Die königliche Familie würde niemals erlauben, dass die Prinzessin einen Popstar heiratet. Es wird Prinz Stefan von Gergon sein. Das wäre gut für die politischen Beziehungen.«

»Ach, das ist doch langweilig. Oh, ich weiß. Zain Aster.«

»Echt?«

»Warum nicht? Arjun meint, an der Uni reden sie ständig nur davon, wie gut er mit der Prinzessin befreundet ist.« Arjun ist Anitas Bruder, zwei Jahre älter als wir. Er und Zain waren in der Schule im selben Jahrgang. »Hast du Zain in letzter Zeit mal gesehen?« Anita wackelt vielsagend mit den Augenbrauen.

»Sei nicht albern. Das bildest du dir alles nur ein. Zain Aster hat nicht die leiseste Ahnung, wer ich bin.«

»Wenn du es sagst.«

Kapitel Drei

Prinzessin Evelyn

Sie bekam Herzklopfen, als Renel, der älteste Ratgeber des königlichen Hofes, Zains Ankunft verkündete. Ihre Finger klammerten sich fest um das herzförmige Medaillon aus Silber, das sie um den Hals trug. Doch sobald sie Zain erblickte, fiel alle Nervosität und Anspannung von ihr ab. Sie musste kichern, denn er spazierte einfach an ihrem verblüfften Ratgeber vorbei, als wäre er hier zu Hause.

»Evi!« Er ging geradewegs auf sie zu und schloss sie in die Arme. Der Duft seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase, Moschus mit einem Hauch Chemielabor, der letzte Schrei.

»Du hast dich zur Feier des Tages ja richtig fein gemacht«, flüsterte sie und berührte den edlen Stoff an der Schulter seines Smokings.

Er lachte. »Na ja, es ist ja schließlich die größte Party des Jahres, und ich muss doch gut aussehen für die Ladys.« Er machte ein paar Tanzschritte auf der Stelle und tat so, als würde er den Kragen hochschlagen.

»Du siehst ganz okay aus, finde ich«, antwortete sie in einem, wie sie hoffte, normalen Tonfall, obwohl seine Worte sich wie winzige Dolche in ihr Herz gebohrt hatten.

»Renel, einen Moment, ja?«, bat sie und wartete dann, bis ihr hakennasiger Ratgeber den Raum verlassen hatte.

»Du siehst irre aus!«, sagte Zain anerkennend, während er zurücktrat und sie auf Armeslänge von sich entfernt hielt.

Sie sah wirklich gut aus. Das lange Haar war nach hinten gekämmt, eine Schleife hielt ihr die blonde Lockenfülle aus dem Gesicht, und ihr Stylist hatte ihr feinste Goldfäden ins Haar geflochten. Ihr bodenlanges Kleid, über und über mit lavendelblauen Glitzersteinen besetzt, umschmeichelte ihre schlanke Gestalt. Unzählige Designer hatten sich darum gerissen, sie für die Feier ihres achtzehnten Geburtstags ausstatten zu dürfen. Doch sie hatte sich für einen hiesigen Modemacher entschieden, was die Medien als »kühn« und »mutig« bezeichnet hatten. Ihr hatte ganz einfach das Kleid gefallen.

Nur das Medaillon passte nicht zu ihrem Outfit. Doch es diente einem ganz bestimmten Zweck. Und jetzt war der Zeitpunkt gekommen.

»Etwas zu trinken?«, fragte sie und verfluchte sich im Stillen, weil ihre Stimme so piepsig klang. Sie ging zu einem kleinen Tisch beim Fenster.

»Aber immer!« erwiderte Zain.

Sie lächelte und drehte ihm dann den Rücken zu, um aus einer zierlichen Kristallkaraffe Wein in zwei der kostbarsten Kelche von ganz Nova zu gießen. Sie hatten einen wunderschönen, auf Hochglanz polierten Fuß aus Zinn, in dem man sich spiegeln konnte. Mit einer raschen Bewegung ließ sie das Medaillon aufschnappen und schüttete ein indigoblaues Pulver in den Zain zugedachten Kelch, das sich in der dunkelroten Flüssigkeit vollständig auflöste.

Sie inspizierte die Gläser mit kritischem Blick und atmete erleichtert aus. Kein Unterschied zu erkennen. Kurz hielt sie inne, aber er hatte nichts bemerkt. Alles verlief genau nach Plan.

»Auf die Liebe?«, schlug sie vor.

Er nahm den Weinkelch entgegen und stieß lächelnd mit ihr an.

»Auf dich, Prinzessin.«

»Auf uns.« Sie brachte nur ein Flüstern zustande, als sie den Kelch an die Lippen führte und ihm dabei zusah, wie er dasselbe tat. Dann schloss sie die Augen, warf den Kopf zurück und leerte den Kelch in einem Zug. Weich wie flüssiger Honig rann ihr der Wein die Kehle hinab. Wärme strömte durch ihre Adern und breitete sich in ihrem Körper aus, bis es sich anfühlte, als stünden ihre Fingerspitzen und Zehen in Flammen und als würde ihr Herz vor Glück bersten.

Flatternd öffneten sich ihre Lider.

Und während sie in die kühlen blauen Augen starrte, die sich im silbrigen Fuß ihres Weinkelchs spiegelten, traf es sie wie ein Blitz. Sie war unsterblich, rettungslos, bis über beide Ohren verliebt.

Kapitel Vier

Samantha

Die Ladenglocke bimmelt, löst sich dann plötzlich aus ihrer Halterung und fällt scheppernd zu Boden. Seufzend schlage ich mein Notizbuch bei einer anderen Liste auf. Unter »Reparaturbedürftig« kritzele ich Ladenglocke direkt unter undichtes Dach.

Von der Leiter aus sehe ich Mums Rock vorbeischwingen, als sie aus dem Hinterzimmer kommt, um den Kunden zu bedienen. Einer der dicken Holzbalken, die den oberen Bereich des Ladens kreuz und quer durchziehen und die Unmengen von Regalen abstützen, versperrt mir die Sicht.

Gesprächsfetzen dringen zu mir herauf, hallen von den Hunderten von Gläsern wider. »Kein Problem, Moira, meine Liebe … Sie können nächste Woche bezahlen.«

Unwillkürlich entfährt mir ein Stöhnen und ich klettere in Windeseile die Leitern hinab. Dennoch komme ich erst unten an, als die Ladentür bereits hinter Moiras ausladendem Hinterteil ins Schloss gefallen ist.

»Also ehrlich, Mum!« Ich eile zu dem Bord, wo ich die für diese Woche bestellten Zubereitungen deponiert habe. Tatsächlich fehlt Moiras gesamte Monatsration. Energisch drücke ich auf die Taste zum Öffnen der Kasse, aber alles, was ich darin finde, ist das Wechselgeld: eine kümmerliche Ansammlung von Münzen, die jede Nacht drinbleiben, und ein staubiger Fünfer, so zerfleddert und verblichen, dass er wahrscheinlich gar nicht mehr als Zahlungsmittel gültig ist.

»Moira ist dreiundsiebzig. Du weißt doch, dass sie manchmal etwas vergesslich ist.«

»Etwa so vergesslich, dass sie jedes einzelne Mal ihre Geldbörse zu Hause lässt?«, murmele ich. Es hat keinen Sinn, Mum mit diesem Argument zu kommen. Sie sieht in jedem nur das Gute. Das Problem ist, mit ihren dreiundsiebzig Jahren gehört Moira wohl noch zu unseren jüngsten Kunden. Nein, wirklich – die Einzigen, die bei uns und nicht in den riesigen Drogerien einkaufen, sind die alten Leute. Sie trauen den synthetisch hergestellten Arzneimitteln nicht. Und daran, dass Moira an der nächsten Ecke stehen bleibt und die Rezepturen ein zweites und drittes Mal überprüft, erkenne ich, dass sie aus gutem Grund in Kemis Arzneiladen kommt.

Bei diesem Gedanken flammt meine Wut wieder auf. »Wir führen hier schließlich ein Geschäft!«

»Sam! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht in diesem Ton mit deiner Mutter sprechen sollst?« Dad tritt aus einer Tür zwischen den Regalen, die zu Großvaters Labor führt. Rauchschwaden quellen daraus hervor und wabern über den Boden des Verkaufsraums, bevor Dad die Tür wieder schließen kann. Granddad braut die wöchentlichen Mixturen für unseren (zugegebenermaßen sehr kleinen) Kundenstamm. Kurz plagt mich ein Anflug von schlechtem Gewissen – als guter Lehrling sollte ich jetzt da drin sein und ihm helfen.

Dad legt meiner Mutter den Arm um die Taille und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Ich muss lächeln und mein Ärger über Moira verfliegt. Es ist schön zu sehen, wie glücklich meine Eltern sind: Mum mit ihrem leuchtenden Lippenstift, dem langen Rock und dem geblümten Top, und Dad, der sie ansieht, als wäre sie immer noch die wunderschöne junge Frau aus einer ganz anderen Liga. Und streng genommen stimmt das. Sie gehört zu den Zauberkundigen – einer Gesellschaftsschicht, die die Fähigkeit besitzt, Magie dank bestimmter Objekte zu kanalisieren. Mums Gabe ist zwar nicht sehr ausgeprägt, und ihr Utensil – eine Wünschelrute – setzt auf ihrer Schlafzimmerkommode Staub an. Trotzdem ist und bleibt sie eine Zauberkundige. Sie hätte jemanden aus einer zauberkundigen Familie heiraten und eine Menge zauberkundige Kinder bekommen können. Stattdessen hat sie sich in meinen Dad verliebt, und Dad ist ganz normal – ohne Zugang zur Magie. Wie ich.

Aber genau das macht uns Normale zu solch hervorragenden Alchemisten. Da wir keine Zauberkräfte besitzen, können wir nämlich ohne das Risiko, etwas zu verderben oder zu verunreinigen, mit magischen Substanzen arbeiten. Doch das ist nicht der ausschlaggebende Faktor. Was die Familie Kemi so besonders macht, ist ihr unübertroffenes Geschick in der Kunst der Alchemie – wir haben es im Gefühl, wie man einen Arzneitrank zusammenstellt, wir wissen, wie man die wertvollen Eigenschaften eines jeden Inhaltsstoffs hervorlockt, haben Einblick in die geheimnisvollen Prozesse, die vonnöten sind, um ein Heilmittel herzustellen.

In Dads Fall hat die Begabung für Alchemie eine Generation übersprungen, daher konnte er nicht bei seinem Vater in die Lehre gehen. Aber sollte er jemals enttäuscht darüber gewesen sein, keine alchemistischen Fähigkeiten zu besitzen, so lässt er es sich zumindest nicht anmerken. Stattdessen arbeitet er als Busfahrer hier in der Stadt. In allen Berufen, die mit Technik zu tun haben, sind die Normalen in der Mehrheit – die meisten Piloten und Computerfachleute besitzen keine magischen Kräfte. Mum kümmert sich um den Laden, hat aber noch einen Nebenjob als Musiklehrerin in Mollys Schule, der uns ein kleines zusätzliches Einkommen beschert. Doch obwohl meine Eltern wissen, wie schlecht es um unser Geschäft steht, beharren sie darauf, dass ich mir keine Arbeit suche, sondern bei meinem Großvater in die Lehre gehe.

Denn wenn man die Gabe der Kemis hat, wäre es sträflich, sie nicht zu nutzen.

Wenn ich ihn dazu überreden kann (und oft erst, nachdem ich das Labor von oben bis unten geschrubbt habe), erzählt mir Granddad Geschichten von den glorreichen Zeiten, als unsere Vorfahren noch die offiziellen Hoflieferanten für die königliche Familie waren. Inzwischen ist diese Ehre auf die ZoroAster Corporation übergegangen, Novas größte Firma für synthetische Arzneimittel. Sie nahmen uns den Titel ab, als der Gründer der ZA Corporation, Zoro Aster selbst, die letzte Wilde Jagd in der Geschichte Novas gewann. Wilde Jagden waren erbitterte Wettbewerbe unter Alchemisten, die König Auden, unser erster König, eingeführt hatte, um den jeweils besten Schutz zu finden, wenn jemand aus der königlichen Familie in Lebensgefahr war. König Auden nannte ein sagenumwobenes Jagdhorn sein Eigen, das angeblich von einem prähistorischen Geschöpf mit Zauberkräften stammte. Das Horn selbst besaß definitiv magische Eigenschaften – es rief die Alchemisten zur Jagd und bestimmte den Sieger, indem es sich golden verfärbte, wenn ihm das richtige Mittel präsentiert wurde.

Dem Gewinner der Wilden Jagd winkte ein Topf mit Goldkronen und, was noch weit wertvoller war, eine ordentliche Portion an königlicher Magie. Für Alchemisten, die fast ausnahmslos zu den Normalen gehören, war diese Dosis Magie von unschätzbarem Wert. Was nicht bedeutet, dass nicht auch Zauberkundige ihr Glück versuchten.

Und Zoro war der erste zauberkundige Sieger. Er investierte seinen Gewinn in das allererste Labor, das synthetische Heilmittel für jede Art von Schmerzen, Leiden und Gebrechen herstellte, und veränderte unser Gewerbe von Grund auf. Auf einen Schlag nahm er den Kemis nicht nur das Amt als königliche Hoflieferanten, sondern verurteilte auch die alte Kunst der Arzneimittelherstellung, in der wir führend waren, unwiderruflich zum Untergang.

Wilde Jagden gehören inzwischen der Vergangenheit an. Die königliche Familie ist so gut geschützt – sie haben die besten Ärzte, perfekt ausgebildete Bodyguards, den Geheimdienst von Nova –, dass kaum mehr Gefahr für Leib und Leben besteht. Natürlich treten sie manchmal öffentlich auf, um zum Beispiel ein Krankenhaus einzuweihen oder Ehrentitel zu verleihen, aber das war’s dann auch. Sobald klar wurde, dass der König und die Königin nur ein Kind haben würden und Prinzessin Evelyn die alleinige Thronerbin sein würde, taten sie alles in ihrer Macht Stehende, um sie vor Schaden zu bewahren.

Anita, die mir nach unten gefolgt ist, berührt mich am Arm. »Wir sollten uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät.«

»Ach, Liebes, natürlich – ihr dürft den Anfang nicht verpassen!« Mum ist eine glühende Anhängerin der königlichen Familie. Massenweise Hochglanzmagazine stapeln sich auf einer Ablage unter der Kasse. Dort versteckt sie sie vor Granddad, der sie sonst in seinem Ofen im Labor verbrennen würde, wenn er sie findet. »Wenn du zurück bist, musst du mir alles erzählen.«

»Du weißt doch, dass ich bei so was ganz schlecht bin, von wegen wer trägt welchen Designer und wer ist mit wem gekommen und so.«

»Dann mach einfach viele Fotos«, sagt sie lächelnd. »Molly wird sich darüber freuen.«

»Molly hat ganz bestimmt eine bessere Sicht als ich«, entgegne ich. Molly ist meine Schwester, und obwohl sie erst zwölf ist, ruhen alle Hoffnungen unserer Familie auf ihr. Sie hat die Zaubergabe, hat sie, womit keiner gerechnet hätte, von Mums Seite der Familie geerbt. Als ihr Talent entdeckt wurde, habe ich sie gefragt, wie es sich anfühlt. In der süßen Art einer Achtjährigen erklärte sie, es sei wie in einem Strom aus Magie zu schwimmen. Jetzt, mit zwölf, wird sie ihre Zauberkraft bald mithilfe eines Objekts kanalisieren können, genauso mühelos, als würde sie einen Wasserhahn aufdrehen.

Deswegen sind meine Eltern in letzter Zeit so glücklich. Molly hat im Zauberkundigen-Test super Noten erzielt. Sie wird starke Kräfte entwickeln. Ihr steht eine vielversprechende Zukunft bevor, eine, die nicht von einem praktisch bankrotten Laden abhängig ist. Voraussetzung ist allerdings, dass sie auf eine Zauberschule geht, und das kostet Geld. Richtig viel Geld, das wir nicht haben und auch nie haben werden, wenn Mum weiterhin all unsere Arzneien gratis abgibt. Jeder Penny, den wir erübrigen können, wird in Mollys Ausbildung gesteckt, damit ihr alle Möglichkeiten offen stehen. Ich könnte es ihr missgönnen, aber das ist nicht der Fall. Bei ihr ist das Geld viel besser angelegt als bei mir.

Sie ist bereits zum Schloss gegangen, zusammen mit ihren zauberkundigen Freunden.

»Du sorgst doch dafür, dass Sam sich amüsiert, Anita?« Mum hat die Hände in die Hüften gestemmt und schüttelt den Kopf über mich.

»Ich tue, was ich kann, Mrs Kemi.«

Bevor Mum uns noch länger aufhält, trete ich hinaus auf die Straße. Über meinem Kopf knarrt das alte Holzschild mit dem verblassten Wappen der Kemis, und ich springe automatisch einen Schritt zur Seite, denn ich bin sicher, dass es irgendwann in naher Zukunft herunterfallen wird.

Anita hakt sich bei mir unter und wir folgen der Kemi Street hinaus aus dem Alchemisten-Viertel. Kingstown wurde auf den Überresten eines erloschenen Vulkans erbaut, auf dessen Gipfel ein imposantes Schloss thront. Viele der ältesten und schönsten Gebäude Kingstowns säumen die breite Hauptstraße, die Royal Lane, die sich vom Schloss aus den Berg hinabzieht. Der Rest der Stadt breitet sich um den Hügel herum aus, eine Insel altehrwürdiger Bauten in einem Meer der Modernität.

Die Royal Lane hat sich bereits mit unzähligen Menschen gefüllt, die auf dem Weg zur Übertragung der Party sind. Die sonst betriebsamen Läden haben heute Abend früher geschlossen, doch auf großen Videowänden flimmert ununterbrochen Werbung für alles Mögliche, von der neuesten Mode bis hin zu den besten Zauberstäben und den fortschrittlichsten synthetischen Mitteln.

»Samantha Kemi«, sagt plötzlich eine tiefe und seltsam vertraute Stimme.

Ich fahre herum und stoße mit einem Paar zusammen, das dicht hinter uns geht. Es ist offensichtlich, dass nicht sie mich gerufen haben, und ich murmele eine Entschuldigung. Als sie weitereilen, fällt mir auf, dass das Kleid der Frau zwischen Rosarot und Karmesinrot changiert. Glamourzauber pur. Der Neid versetzt mir einen Stich. Niemals werde ich mir solch magische Klamotten leisten können. Ich fange Anitas Blick auf und wie aufs Stichwort verdrehen wir beide die Augen. »Zauberkundige«, brummt sie.

»Da hat jemand meinen Namen gerufen. Hast du das gehört?«, frage ich Anita.

Sie schüttelt den Kopf, und da ich auch nichts mehr höre, setzen wir unseren Weg fort.

Wir kommen an einer Bushaltestelle vorbei, wo auf einem Bildschirm eine animierte Prinzessin Evelyn in einem glitzernden weißen Abendkleid umherwirbelt. HEUTE ABEND: PRINZESSIN EVELYN WIRD 18JAHRE ALT! Schalten Sie ab 19Uhr ATC ein.

Alle, die heute nicht mit uns oben beim Schloss sind, werden gebannt die Live-Übertragung verfolgen, meine Mum eingeschlossen.

Die Menge wird dichter, obwohl die Party erst in einer Stunde beginnt, und wir sind gezwungen, bei einem kleinen Trupp berittener Polizisten stehen zu bleiben.

»Wir hätten früher aufbrechen sollen«, bemerkt Anita, reckt den Kopf und versucht, über das Menschenmeer hinwegzublicken. »Ich habe gehört, die meisten aus unserem Jahrgang haben Einladungen zur eigentlichen Party im Palast bekommen.«

»Im Schloss, meinst du.«

»Nein, ich meine im Palast. Irgendwo da oben.« Sie machte eine vage Handbewegung über unsere Köpfe hinweg. Das Schloss in Kingstown ist nur die offizielle Residenz der königlichen Familie. Ihr richtiges Heim ist der Große Palast, ein Glamourzauber-Bauwerk, das den Gerüchten nach irgendwo verborgen im Himmel über Kingstown liegt, obwohl selbst an einem wolkenlosen Tag nichts davon zu sehen ist.

»Nur die zauberkundigen Leute unseres Jahrgangs, nehme ich an.«

»Okay, da hast recht.«

Plötzlich ertönt eine Fanfare, als würden Tausende Trompeten erschallen. Ich bleibe abrupt stehen und halte mir die Ohren zu. Hat das Konzert etwa schon angefangen?

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Anita. Sie packt mich an der Hand. Wahrscheinlich befürchtet sie, ich könnte plötzlich umkehren und meinen Teil der Abmachung nicht einhalten.

»Hast du das nicht gehört?« In meinen Ohren klingelt es immer noch.

»Was denn?«

»Samantha Kemi.«

»Bitte? Wer sagt denn da andauernd meinen Namen?« Frustriert wirbele ich herum. Es ist, als würde mich jemand am Pferdeschwanz ziehen und dann wegrennen.

Anita runzelt die Stirn. »Ich habe nichts gehört, Sam.«

Dann sehe ich aus dem Augenwinkel die Anzeige an der Bushaltestelle. Die Prinzessin in ihrem wunderschönen glitzernden Kleid ist verschwunden. An ihrer Stelle ist der König von Nova zu sehen.

Und sein Blick gilt eindeutig mir.

Kapitel Fünf

Samantha

»Samantha Kemi«, spricht der König, »Lehrling des amtlich beurkundeten Alchemisten Ostanes Kemi, ich befehle dir, dich umgehend im Großen Palast einzufinden.«

Ich kann bloß dastehen und blinzeln, denn alles, was rationales Denken verlangt, ist mir im Moment nicht möglich. Der König von Nova – eine Persönlichkeit, die ich bisher nur im Fernsehen, in Zeitungen und einmal aus weiter Ferne auf dem Balkon des Schlosses gesehen habe – zitiert mich in seinen Palast.

Kann er mich überhaupt in den Palast zitieren? Das muss eine Art optische Täuschung sein, denn wieso sollte sich die königliche Familie für einen unbedeutenden Lehrling der Alchemie interessieren, es sei denn, ich hätte was ausgefressen? Aber dann würde die Polizei nach mir verlangen, nicht die königliche Familie. Wir haben schließlich eine Regierung, Politiker und Gesetze wie sonst überall auch. Die Royals sind Repräsentationsfiguren, keine Diktatoren.

Sie dürfen ihre Magie nicht dazu benutzen, jemanden auf der Straße anzuhalten und ihn in den Palast zu beordern.

Das kann nicht wahr sein. Das ist ein schlechter Scherz. »Anita?«, sage ich.

»Sam, ich muss heim.«

Ich reiße meinen Blick einen Moment vom Gesicht des Königs los. Anita starrt mit aufgerissenen Augen auf ihr Handy. Sie wirkt ängstlich. Und falls sie bemerkt, dass die Augen des Königs mit jeder Sekunde, die ich ihn warten lasse, schmaler werden, zeigt sie es nicht. Es muss eine private Mitteilung sein, nur für mich.

»Mein Dad wurde zum König gerufen, und Mum will, dass ich sofort nach Hause komme«, sagt sie und hält mir ihr Handy hin, damit ich die Nachricht lesen kann.

»Geh nur.« Ich beiße mir auf die Unterlippe und schlucke schwer.

»Was ist nur los?«, flüstert sie. Vermutlich werden wir es beide bald herausfinden. Nachdem sie mich noch einmal hastig umarmt hat, verschwindet sie in der Menge und macht sich auf den Heimweg.

Als ich mich wieder zu dem Bildschirm umdrehe, ist der König fort – und kurz frage ich mich, ob ich das alles nur geträumt habe. Jetzt ist da ein anderer Mann zu sehen, einer, an dessen Kinn ein gegabelter Bart prangt.

»Samantha Kemi, ich bin Renel Landry, Ratgeber der königlichen Familie. Bestätigen Sie bitte, dass Sie den Befehl verstanden haben und bereit sind, umgehend zum Großen Palast zu kommen.«

Ich habe wohl keine Wahl. Was um alles in der Welt kann die königliche Familie nur von mir wollen? »J-ja«, stammele ich.

Eigentlich komisch, dass niemand stehen geblieben ist, um dieses seltsame Spektakel zu begaffen, aber die Menschen strömen an der Bushaltestelle vorbei, als gäbe es sie gar nicht. Die Macht der Royals. Der Ratgeber rückt zur Seite und winkt mich zu sich. »Sie wissen, wie ein Transportzauber funktioniert, oder?« fragt er.

Ein Transportzauber? Die Vorstellung weckt mich aus meiner Erstarrung und beinahe lache ich dem Mann ins Gesicht. Doch ich reiße mich zusammen und schüttele den Kopf. »Nein, Sir.« Dann sehe ich endlich einmal genauer hin und erkenne einen opulent ausgestatteten Raum im Hintergrund, die Hälfte eines gewaltigen goldenen Kronleuchters hinter seinem Kopf und reich bestickte Wandteppiche. Plötzlich überkommt mich eine solche Neugier, dass ich ganz mutig werde. »Aber ich habe anderen dabei zugesehen und bin zuversichtlich, dass ich es auch hinbekomme.«

Ich ernte einen vernichtenden Blick, und mir ist klar, dass er mir das keine Sekunde lang abkauft. »Diese Zuversicht ist fehl am Platz. Die Reise zum Großen Palast ist lang …«

In Wahrheit ist mir die Vorstellung, transportiert zu werden, alles andere als angenehm. Ich kenne ein paar Grundregeln: Festhalten. Schweigen. Augenkontakt halten. Jeder Bildschirm – oder Spiegel – lässt sich dafür verwenden, obwohl die meisten Zauberkundigen-Haushalte einen speziell dafür vorgesehenen Bildschirm haben, der als Portal bezeichnet wird. Für weite Entfernungen – oder für Überseereisen – nutzen die Leute gewöhnlich den städtischen Transport-Terminal.

Aber es am eigenen Leib zu erleben, mitten auf der Straße von einer Bushaltestelle aus, ist eine ganz andere Sache.

Ich kann den König einen Befehl bellen hören: »Hol sie endlich her! Wir verschwenden kostbare Zeit!«

Renel zieht eine Grimasse und sieht mich entschlossen an. Immer noch liegt ein Anflug von Verachtung in seinen Augen. Ich hasse es, wie hochnäsige Zauberkundige auf Leute wie mich herabsehen. »Also gut, Miss Kemi. Sie sagen, sie können es, und es ist dringend geboten, dass Sie sich so schnell wie möglich im Großen Palast einfinden.« Er streckt die Arme aus und die Barrieren zwischen uns existieren nicht mehr. Seine Fingerspitzen durchstoßen das Glas der Videowand, das sich kräuselt wie ein Teich, in den man einen Stein geworfen hat.

»Ich komme«, erwidere ich beherzter, als ich mich fühle. Dann greife ich nach seinen ausgestreckten Händen, halte mich an seinem Blick fest und lasse mich durch das Glas ziehen.

Ich verliere den Boden unter den Füßen, die Menschen um mich herum verschwinden, und doch kommt es mir vor, als würde ich mich überhaupt nicht bewegen. Seine Gabe ist stark, mühelos leitet er mich über magische Ströme zum Palast. Höher und höher zieht er mich, und am Rande meines Gesichtsfelds nehme ich wahr, dass wir der jäh aufsteigenden Linie der Dachfirste folgen. Es ist ein außerordentlich seltsames Gefühl – nicht wie Fliegen, da es keinen Wind gibt, keine Luftströmung, nur Renels Augen und den Zug seiner Arme, der mir fast die Schultern auskugelt.

Alles geht viel zu schnell. Als wir uns dem Schloss an der höchsten Stelle der Stadt nähern, werde ich plötzlich steil nach oben in den sich verdunkelnden Himmel gezerrt. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, und obwohl ich weiß, dass ich es fast geschafft habe, verspüre ich den überwältigenden Drang, auf die Stadt unter mir zu blicken. Es ist Wahnsinn, es könnte meinen Tod bedeuten, doch die Versuchung ist zu groß. Ich sehe nach unten.

Renel verzieht das Gesicht. Schweiß steht ihm auf der Stirn. »Blickkontakt halten!«, ruft er, aber da ist es schon zu spät.

Ich befinde mich im freien Fall. Welcher Zauber mich auch immer in der Luft hielt, er ist weg. Das Erste, was mir auffällt, ist die Kälte. Beim Blute der Drachen, das ist ja eiskalt!

Aber dann sackt mir mein Magen in die Kniekehlen, und ich fange an zu schreien, während der Wind in meinen Ohren braust.

Plötzlich stoßen Arme herab, vier starke Hände packen mich an den Schultern. Wind und Kälte verschwinden so abrupt, als hätte jemand eine Tür geschlossen. Mit einem letzten angestrengten Ächzen werde ich durch ein Portal gezogen und plumpse auf einen spiegelglatten Marmorboden.

Die harte Landung wird mir garantiert einen farbenfrohen Bluterguss an der Hüfte bescheren.

Heilsalbe mit Agata-Hasel– lässt Blutergüsse innerhalb von vierundzwanzig Stunden verschwinden.

Als ich mich aufrappele, wartet Renel schon auf mich. Die Scham packt mich, Wärme kriecht meinen Nacken hoch und breitet sich über meine Wangen aus. Und als ob es nicht schon schlimm genug wäre, sich vor dem König und seinem Ratgeber zu blamieren, ist der Raum auch noch voller Menschen. Mir wird ein wenig leichter ums Herz, als ich unter den Anwesenden Mr Patel entdecke. Sein Gesicht ist das einzige, das wenigstens einen Funken Mitgefühl verrät. Ich schiebe mich von dem großen Bildschirm weg, durch den ich gekommen bin, und versuche, mich unauffällig unter die Menge zu mischen.

Der König tigert mit großen Schritten auf und ab, ein Anblick, der einen ganz nervös macht. In seiner Militäruniform mit den auf Hochglanz polierten Knöpfen gibt er eine beeindruckende Erscheinung ab. Ganz offensichtlich sollte er eine Fernsehansprache halten. Mit meinem Konzert-Outfit, zerrissenen Jeans und Band-T-Shirt, fühle ich mich völlig fehl am Platz. Ich schlinge die Arme um meinen Körper und wünsche mir, ich könnte mich unter dem hübschen Orientteppich verkriechen. Oder zumindest ein passenderes T-Shirt anziehen.

»Können wir anfangen?« Der König hält inne und sieht Renel an.

»Wir warten noch auf jemanden.«

»Nun, wir können aber nicht länger warten. Los.« Ungeduldig wedelt er mit seiner behandschuhten Hand.

Renel holt tief Luft. »Prinzessin Evelyn wurde vergiftet.«

Schockwellen breiten sich im Raum aus und ich schlage unwillkürlich die Hand vor den Mund. Das ist das Letzte, womit ich gerechnet hätte. Die königliche Familie ist unantastbar. Der Palast ist eines der am besten gesicherten Gebäude von Nova. Wer könnte die magischen Barrieren durchbrechen, die eine der mächtigsten zauberkundigen Familien der Welt errichtet hat?

»Wie geht es ihr?«, fragt jemand.

»Wir wissen es nicht. Wir wissen nur eins …« Renel zögert. Er geht in die Mitte des Raums, wo sich eine hohe, mit purpurnem Samt bedeckte Säule befindet. Als er das Tuch wegzieht, kommt ein riesiges gebogenes Horn zum Vorschein, so lang wie mein Arm und schwarz wie lackiertes Ebenholz. Detailreiche Jagdszenen sind in die Oberfläche eingraviert und dünne goldene Bänder schlingen sich um beide Enden. Es schwebt in einem goldenen Lichtstrahl mitten in der Luft. Seine Schönheit raubt einem den Atem. Und es kann nur eins bedeuten. »Audens Horn ist erwacht. Das Leben der Prinzessin ist in Gefahr, und das Horn hat Sie hierhergerufen, um an einer Wilden Jagd nach dem Gegengift teilzunehmen.«

Ein Schauer der Erregung erfasst mich. Träume ich? Aber ich will es gar nicht anzweifeln. Wilde Jagden bringen Star-Alchemisten hervor. Ich halte mich kerzengerade und hebe das Kinn.

»Nur über meine Leiche.« Die knurrende Stimme hinter mir kenne ich. Flankiert von zwei Wachen betritt mein Granddad den Raum. Seine unvermeidliche Schiebermütze sitzt schief auf dem Kopf, er sieht aus, als hätten sie es so eilig gehabt, ihn hierherzubringen, dass er kaum seinen Mantel zuknöpfen konnte. Sie müssen ihn im Laden abgeholt haben – Granddad würde sich nie freiwillig dem Transportzauber unterziehen. Er schüttelt die Wachen ab, stiefelt vor allen Leuten schnurstracks auf mich zu, packt mich am Arm und zieht mich weg.

»Halt, Ostanes«, gebietet der König. Die Menge holt kollektiv Luft, und es wird still. Bebend vor Widerwillen bleibt mein Granddad stehen und dreht sich zum König um.

»Die Kemis beteiligen sich nicht an den albernen Gänsejagden der Royals«, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Unsere Anwesenheit ist hier nicht vonnöten, da wir keinesfalls mitmachen werden.« In der Stimme meines Großvaters schwingen Wut, Trotz und sogar eine Spur Angst mit und es läuft mir eiskalt über den Rücken.

»Lasst ihn gehen«, sagt eine Männerstimme. Mir stellen sich die Härchen an meinen Armen auf, als Zol vortritt. Der Vorstandsvorsitzende der ZA Corporation ist der vermutlich reichste Mann Novas und ein enger Freund der königlichen Familie. Ich widerstehe dem Drang, in seiner Gegenwart den Kopf einzuziehen. »Euer Hoheit, bei allem Respekt, warum habt Ihr Euch nicht gleich an uns gewandt? Wir haben die besten Arzneimischer. Wir können alles heilen. Jedwedes Elixier herstellen. Ich habe hundert diplomierte Assistenten, die jedem hier in diesem Raum überlegen sind. Aber eine Wilde Jagd? Ist das wirklich nötig?«

»Ich bin sicher, Sie würden lieber einen Ihrer Assistenten schicken, als selbst Ihr Leben zu riskieren«, wirft Granddad bissig ein.

»Seien Sie still, alter Mann!«, zischt Zol.

»Wollen Sie etwa andeuten, wir sollen den Ruf von Audens Horn missachten und das Leben meiner Tochter gefährden?«, fragt der König.

»Nein, Euer Hoheit, natürlich nicht.« Zol verbeugt sich.

Der König lässt sich auf den Thron fallen. »Glauben Sie mir, wir hätten es gerne vermieden. Aber die Wilden Jagden haben meine Familie seit Jahrhunderten beschützt. Wenn zur Jagd gerufen wird, dann haben wir keine Wahl. Wir müssen gehorchen.«

Kapitel Sechs

Samantha

»Können wir sie sehen?« Die Worte sind mir entschlüpft, bevor mir wieder bewusst wird, wo ich mich hier befinde. Aber die Menge bewegt sich ein Stück auf den König und Renel zu, als hätten alle nur darauf gewartet, dieselbe Frage zu stellen.

Renel presst die Lippen fest zusammen, tritt jedoch zu einem verdunkelten Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Als er es berührt, wird das Glas durchsichtig. »Vorerst befindet sich die Prinzessin unter Aufsicht der Hofärzte in diesen Gemächern.«

Wir drängen nach vorne, neugierig, was um Himmels willen einem der reichsten und mächtigsten Menschen der Welt zugestoßen sein kann. Granddad murmelt vor sich hin, immer noch aufgewühlt. Aber es gibt nichts zu sehen. Um ehrlich zu sein, wenn Renel uns nicht gesagt hätte, dass etwas nicht stimmt, wäre ich nie darauf gekommen.

Prinzessin Evelyn sitzt ruhig da, die Hände im Schoß. Das Zimmer ist spärlich möbliert, nur ein einfacher Schreibtisch, der Stuhl, auf dem sie Platz genommen hat, und ein Spiegel an der gegenüberliegenden Wand.

Sie ist genauso hübsch wie im Fernsehen. Oder eher hübscher. Sie trägt dieses supercoole Kleid, das Anita so toll findet, hellblau und voller glitzernder Pailletten und doch irgendwie leichter als ein Lufthauch. Es umfließt ihren Körper, fast so, als würde es im Wasser schweben. Ich frage mich, ob da irgendein Glamourzauber am Werk ist, aber wenn, dann ist es der natürlichste, den ich je gesehen habe.

Dort zwischen den grauen Steinmauern wirkt sie sehr verletzlich, wie ein exotischer Vogel in einem Käfig. Ab und zu hebt sie den Blick, aber nicht zu uns. Das Fenster ist wohl nur von einer Seite her einzusehen, denn sie scheint die Menschen, die sie durch das Glas hindurch anstarren, gar nicht wahrzunehmen.

»Ich bin ein wenig verwirrt, habt Ihr nicht gesagt, sie sei vergiftet worden?«, fragt jemand.

Renel nickt. »So ist es.«

»Dann wird die ZoroAster Corporation der erste Teilnehmer der Wilden Jagd sein«, ertönt Zols Stimme aus dem Hintergrund. Er tritt nicht nach vorne, um einen näheren Blick auf die Prinzessin zu werfen.