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Der dritte packende Band der beliebten Julia Wagner-Krimireihe: Mainz wird von einer Serie brutaler Morde an jungen Frauen erschüttert. Müssen diese Verbrechen womöglich mit Menschenhandel in Verbindung gebracht werden? Zander, mit dem Julia früher bei der Mainzer Mordkommission war, arbeitet an dem Fall, während Julia sich nach einer rasanten Flucht in einer eingeschneiten Schwarzwälder Berghütte versteckt. Dort dämmert es ihr langsam, dass sie ihr Leben lang von Lügen umgeben war. Eins ist jedenfalls klar: Sie ist in großer Gefahr...Eine bis zur letzten Seite spannende Krimireihe, in deren Zentrum die ehemalige Polizistin Julia Wagner steht, die mit ihrem früheren Kollegen Zander so manch rätselhaften und gefährlichen Fall löst.
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Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Tanja Noy
Für Katja. Immer.
Saga
Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3Coverbild/Illustration: Sutterstock Copyright © 2015, 2020 Tanja Noy und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726643084
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Zwei Jahre zuvor.
Oktober 2008
Sonntagmorgen, kurz nach 7:00 Uhr
Zander war als Erster am Tatort, der sich in einem Park befand, hinter einer Brücke mit einem Steinbogen und einem schmiedeeisernen Geländer. Die Kollegen hatten bereits sämtliche Eingänge abgeriegelt. Ein halbes Dutzend uniformierter Polizisten stand Schulter an Schulter innerhalb des abgesperrten Bereiches, um den Tatort so gut wie möglich vor neugierigen Blicken zu schützen.
Als Julia endlich bei ihm ankam, warf Zander einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr. „Das wird aber auch Zeit.“
„Das ist eigentlich mein freies Wochenende.“ Sie deutete mit dem Daumen hinter sich auf eine Horde Schaulustiger, die sich alle Mühe gab, etwas von dem mitzubekommen, was sich hier abspielte. „Haben die alle kein Bett, in dem sie liegen können?“
„Das sind noch die Harmlosen. Für die wirklich Irren ist es noch zu früh.“ Zander schüttelte den Kopf. „Dabei wollen die das garantiert nicht sehen.“
„Will ich es sehen?“
„Nein, aber du musst. Komm mit.“
Sie gingen in Richtung Bach und überquerten die Brücke.
„Noch hast du Zeit für drei Ave-Marias“, bemerkte Zander. „Als gutes katholisches Mädchen hilft es dir vielleicht.“
Julia warf ihm einen kurzen Blick zu. „Das denke ich nicht.“
Auf der anderen Seite des Baches gingen sie noch ein paar Meter, dann erstarrte Julia in der Bewegung.
Als hätte jemand auf einen Pausenknopf gedrückt.
Einen Moment hörte sie nur ihr Herz schlagen und das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie schloss die Augen und zählte bis fünf, doch als sie sie wieder öffnete, war das Bild immer noch da.
Die Leiche war völlig verkohlt, und es stank erbärmlich. Das, was einmal ein Mensch gewesen war, saß aufrecht, mit dem Rücken an die Eisenstange eines Schildes gelehnt, welches darauf hinwies, dass Hunde diesen Teil des Rasens nicht betreten durften. Es hatte kaum mehr Menschliches an sich. Haare und Gesichtszüge waren weggebrannt, lediglich ein Rachen aus einem unvollständigen Gebiss war übrig. Jegliche Kleidung war zu Asche geworden. Die verkohlten Arme waren auf merkwürdige Art und Weise links und rechts zur Seite gestreckt, was es im ersten Moment wie eine besonders perverse Kreuzigung wirken ließ. Oder wie ein abstraktes Kunstwerk, das den Wahnsinn seines Schöpfers in die Welt schrie.
Jemand berührte Julia, sie wandte sich jäh um.
„Alles in Ordnung?“, fragte Zander.
Sie nickte.
„Ich rede mal mit den Kollegen. Du willst bestimmt ein bisschen eintauchen, oder?“
Noch einmal nickte Julia und sah ihm nach, wie er auf einen uniformierten Kollegen zuging und mit ihm sprach. Dann wandte sie sich wieder der Leiche zu, atmete tief durch und bereute es sofort. Sie blinzelte. Ein weiteres Leben war vorbei, ausgelöscht. Sie blinzelte noch einmal, schob das vertraute Aufwallen von Mitleid und Trauer an den Rand ihres Bewusstseins, zu all den anderen Gefühlen.
So stand sie einen Moment vollkommen still und betrachtete den Wahnsinn vor ihren Augen. Bei jeder neuen Leiche durchfuhr Julia derselbe Gedanke: Warum tun Menschen so etwas einander an?
Sie riss sich zusammen, konzentrierte sich auf den Tatort, und stellte fest, dass die Füße der Leiche von den Knöcheln abwärts erstaunlicherweise unversehrt waren, beide steckten noch in roten, hochhackigen Pumps. Den Rest der Beine hatte das Feuer zu dunklem Bernstein verfärbt, danach waren sie schwarz und von der Hitze rissig geworden.
Sie machte einen kleinen Bogen um die Leiche, suchte eine andere Perspektive. Wieder am Ursprungsort angekommen, ging sie in die Hocke und kniff die Augen zusammen.
„Und?“, sagte Zander, als er ein paar Minuten später wieder bei ihr ankam. „Was denkst du?“
„Sieht aus wie eine Bühne“, antwortete sie.
„Das dachte ich auch. Das hat was Rituelles.“
„Hoffentlich nicht. Derart motivierte Mörder neigen dazu, es nicht bei einem Opfer zu belassen.“ Julia deutete auf die roten Pumps. „Wie hat er es geschafft, dass die Füße unversehrt geblieben sind?“
„Keine Ahnung.“ Zander zog ein Taschentuch aus der Innentasche seines Jacketts und fuhr sich damit über die Stirn. „Ich kann mir keinen Fall vorstellen, in dem ein Körper so verbrennen kann, ohne dass ein Brandbeschleuniger benutzt wurde. Ich tippe auf Benzin.“
„Hmm. Und warum hat er sie an die Stange gelehnt, ehe er sie anzündete?“
„Er hat sie in Position gebracht.“
„Aber warum?“
„Das werden wir den Mistkerl fragen müssen, wenn wir ihn haben.“
Julia richtete sich auf und rieb sich über die Nase. Der Gestank setzte ihr immer mehr zu. „Wer hat die Leiche gefunden?“
„Eine Joggerin.“
„Hast du mit ihr gesprochen? Hat sie etwas gesehen?“
„Ich konnte nicht mit ihr sprechen. Ich habe es versucht, aber sie steht unter Schock. Ich habe veranlasst, dass man sie in ein Krankenhaus bringt.“
„Wann hat sie die Polizei alarmiert?“
„Um kurz nach sechs Uhr ging der Notruf ein. Als die Kollegen eintrafen, glühte noch die Asche.“
„Das heißt, die Tat war einige Zeit zuvor geschehen.“
Zander nickte, und Julia drehte sich einmal um die eigene Achse, ließ den Blick über das weitläufige Gelände schweifen. „Verbrennt sie genau hier, wo er sicher weiß, dass sie schnell gefunden wird. In einem öffentlichen Park. Ganz schön arrogant.“
„Vielleicht eine Art Stellungnahme. So etwas wie: Seht her, was ich getan habe!“
„Könnte sein. Was haben wir sonst? Wissen wir, wer das Opfer ist?“
„Nein. Aber wir können wohl annehmen, dass es sich um eine Frau handelt. Die roten Pumps und die schmalen Füße sprechen zumindest dafür.“
In diesem Moment meldete ein Kollege, eine Handtasche gefunden zu haben. Sie war klein und zylindrisch, goldfarben, mit gläsernen Steinen besetzt. Zander nahm sie entgegen, öffnete sie und fand darin einen hellroten Lippenstift, eine Puderdose, zwei Fünfzigeuroscheine und zwei Kondome. Keine Spur von Führerschein oder Ausweis. Ebenso wenig war ein Handy zu finden. „Hier ist noch was“, sagte er und hielt eine kleine Goldmünze in die Höhe. „Die sieht ziemlich alt aus. Sieh mal, wie abgenutzt sie ist. Könnte ein Talisman sein. Etwas, das Glück bringen sollte.“
„So viel zum Thema Glücksbringer.“ Julia wandte sich ab. Der Gestank war jetzt kaum noch auszuhalten. Ihr war schlecht.
Der Kollege, der die Tasche gefunden hatte, bemerkte in ihre Richtung: „Na, nimm dir das mal nicht so zu Herzen. Shit happens.“
Julia hielt in der Bewegung inne und drehte sich zu ihm um. „Was hast du gerade gesagt?“ Sie blickte ihm direkt in die Augen. „‚Shit happens?‘ Hast du das gerade gesagt?“
Der Name des Kollegen war Klaus Bartosch. Er öffnete den Mund, um etwas zu antworten, doch sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Glaubst du, als die arme Frau mit Benzin übergossen und angezündet wurde, dachte sie sich: ‚Na ja, was soll’s? Shit happens!‘?“
Betreten sah Bartosch sich um. Die Blicke der umstehenden Kollegen waren auf ihn gerichtet.
„Hier läuft irgendwo ein Mensch herum, dem es nicht das Geringste ausmacht, einen anderen Menschen mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Begreifst du, was das bedeutet? Nein, tust du nicht, sonst würdest du nicht solch einen unfassbaren Schwachsinn reden.“
„Ich …“
„Ach, halt die Klappe.“ Sie wandte sich ab und ließ ihn einfach stehen.
„Was, zum Teufel, ist dein Problem?“, rief Bartosch hinter ihr her.
„Du“, gab sie zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen. „Typen wie du sind mein Problem. Du nimmst dieser Frau die Würde, genau wie ihr Mörder.“
Kurz darauf war sie verschwunden.
„Die hat’s dir aber gegeben“, sagte jemand.
„Arrogante … Kuh!“, zischte Bartosch. „Die geht mir so was von auf die Nüsse!“
„Und vielleicht liegt genau darin dein Problem“, bemerkte Zander. „Dass sie deine Nüsse mit Sicherheit nicht interessieren. Wie wäre es jetzt wieder mit Arbeiten?“
Bartosch warf ihm einen langen, undefinierbaren Blick zu, wandte sich ab und ging davon.
Honesta turpitudo est pro causa bona
Donnerstag, 16. Dezember 2010
20:20 Uhr
Obwohl es draußen dunkel war, schaltete Julia das Licht im Hotelzimmer nicht ein. Langsam bewegte sie sich in Richtung Fenster, blieb dort einen Moment stehen, sah hinaus, schob eine Hand in die Hosentasche und ergriff ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen. Es war leer. Sie knüllte es zusammen und warf es auf den Tisch neben sich.
Dann wandte sie sich um, ging ins Badezimmer, und erst jetzt schaltete sie das Licht ein.
Sie zog sich aus und stellte sich unter die Dusche.
Als sie zehn Minuten später wieder aus der Duschkabine stieg, verschleierte Dunst den Badezimmerspiegel. Nur vage erkannte sie die Umrisse ihres nackten Körpers, ihres Gesichtes, der halblangen dunklen Haare, des langen Ponys, der ihr über das linke Auge fiel … es glich alles einem Schatten. Aber durch die Mitte der Scheibe zog sich ein klarer Streifen, so als hätte jemand mit der Hand darübergewischt. Die Tätowierungen, das Gitarrenriff von Judas Priest auf ihrem rechten Unterarm; auf der Innenseite des rechten Oberarms die geschwungenen, lateinischen Buchstaben: Lebe das Leben wahr; der Drache, der ihren gesamten Rücken einnahm, vom Genick bis zum Steißbein. Das alles gab es schon lange, die Narben auf der linken Seite ihres Oberkörpers hingegen nicht. Eine befand sich knapp unterhalb des Herzens, die andere etwas tiefer. Sie waren gut verheilt und trotzdem nicht zu übersehen, weil sie etwas erhoben waren. Es war Julia nicht möglich, die beiden Narben zu vergessen, weil sie fast immer schmerzten. Ein Phantomschmerz, natürlich. Narben schmerzten nicht, erst recht nicht nach acht Monaten. Trotzdem glaubte sie es zu fühlen, Tag für Tag.
Reglos stand sie weiter vor dem Spiegel, betrachtete ihr Ebenbild und versuchte gleichzeitig, sich darin zu finden. Ihr altes Ich. Vielleicht flammte da in ihren braunen Augen etwas auf, aber wenn, dann war es sofort wieder verschwunden. Sie hatte das Gefühl, ein ganz anderer Mensch zu sein, eine fremde Frau. Und genau genommen war es ja auch so. Immer neue Namen, immer neue Hotels, immer eine andere Person. Und doch stand sie hier.
Schließlich drehte Julia dem Spiegel den Rücken zu und trocknete sich ab.
Noch einmal – ein letztes Mal – versuchte sie, nachzuspüren, ob sie irgendeine Form von Zweifel oder Unschlüssigkeit in sich spürte. Doch sosehr sie auch ihre Seele durchforstete, überall stieß sie auf den festen, unerschütterlichen Entschluss, und sie befand, dass es jetzt wirklich an der Zeit war. Sie hatte lange genug darüber nachgedacht.
Es geht nicht anders, dachte sie.
Sie zog sich frische Sachen an, verließ das Badezimmer, ging zu ihrem Rucksack und holte ein neues Päckchen Zigaretten heraus. Sie entfernte die Folie und zündete sich eine an. Dann setzte sie sich aufs Bett, rauchte langsam und in tiefen Zügen. Sie beobachtete den Rauch, wie er sich in Richtung Decke bewegte, um sich dort in durchsichtigen Dunst zu verwandeln.
Als sie zu Ende geraucht hatte, griff sie nach ihrem Handy und wählte die Nummer.
22:44 Uhr
Vor dem Café wehte ein kalter, rauer Wind über jede Menge Gerümpel hinweg, das auf der Straße lag, über eine Mülltonne, die beinahe überlief, und über schwarze Säcke voller Abfall. Nur wenige Menschen gingen an Julia vorbei, die Köpfe gesenkt. Sie selbst hatte sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf gezogen und den Kragen ihrer Jacke nach oben gestellt. Als sie die Tür öffnete, ließ sie eine heftige Windböe leicht wanken.
Im Inneren des Cafés waren die Wände mit Kiefernpaneelen vertäfelt, sodass man den Eindruck hatte, sich in einer großen Holzkiste zu befinden. Die Einrichtung war heruntergekommen, mit wackligem Mobiliar und unglaublich staubigen Plastikblumen auf den Tischen. Mit nur vier Gästen war hier nichts los, was man nach einem kurzen Rundumblick auch sehr gut verstehen konnte.
An einem der Tische saß eine mittelgroße Frau mit einem grauen Pferdeschwanz. Sie blinzelte kurz, als Julia eintrat, und hob eine Hand. „Hier.“
„Danke, dass Sie sich mit mir treffen“, sagte Julia und setzte sich ihr gegenüber.
„Ich hatte gehofft, dass Sie sich noch einmal bei mir melden würden“, gab Paula von Jäckle zurück. „Ich hatte große Angst um Sie – und habe es noch. Deshalb hatte ich mich im letzten Sommer mit ihrem alten Kollegen Zander in Verbindung gesetzt.“
„Ich weiß. Er hat mir davon erzählt.“
„Haben Sie ihm geglaubt?“
„Ich wollte es nicht, wollte es lange nicht wahrhaben.“ Julia machte eine kleine Handbewegung. „Was soll ich sagen? Sie sind ein Medium und …“
„Immerhin nennen Sie mich jetzt nicht mehr Wahrsagerin.“ Paula lächelte dünn.
„Sie wissen, was ich davon halte.“
„Allerdings. Das weiß ich.“
„Andererseits hatten Sie bisher mit allem recht, was Sie sagten.“ Julia atmete tief durch. „Ich weiß inzwischen, dass mein Vater ermordet wurde und dass seine Mörder nun, über zwanzig Jahre später, hinter mir her sind. Aber egal, was ich auch tue, ich laufe gegen eine unsichtbare Mauer. Egal, wo ich grabe, ich stoße auf Beton. Also bitte, ich höre Ihnen zu. Erzählen Sie alles, was Sie mir sagen können.“
Paula nickte. „Ich kann Ihnen sagen, dass Sie es mit einer Organisation zu tun haben.“ Sie brach ab und korrigierte sich schnell: „Nein, das ist nicht das richtige Wort dafür. Nennen wir sie … eine Wesenheit.“
Julia blinzelte. „Eine was?“
„Man könnte sie auch eine Geheimgesellschaft nennen. Eine Verbindung. Sie verkörpern nicht nur das Böse, sie sind es. Ich weiß nicht, woher sie kommen, aber ich weiß, dass es sie gibt. Und dass es mächtige Leute sind. Brutale Leute. Sie verfügen über gewaltige Macht, und sie töten ohne Skrupel.“
„Reden wir hier von einer Art Mafia?“
„Nein. Das, worüber wir hier reden, ist etwas ganz anderes. Diese Menschen haben Geld und Macht, ja, aber das ist für sie nur Mittel zum Zweck, um ein anderes, ein größeres Ziel verfolgen zu können.“
„Welches?“
Paula legte die Hände wie zum Gebet vor den Mund. „Ich hatte Ihnen im April, in Wittenrode, bereits gesagt, dass es zwei Mächte auf dieser Erde gibt, die einen ewigen Kampf gegeneinander führen: Gut und Böse.“
„Ich erinnere mich.“
„Betrachten wir es als eine langwierige Partie Schach“, sprach Paula weiter. „Das Schachbrett ist die Welt. Das Ziel ist der endgültige Sieg über die andere Seite.“
„Und weiter?“, sagte Julia. „Was habe ich damit zu tun?“
„Jeder von uns entscheidet sich irgendwann für eine der beiden Seiten. Für das Gute oder für das Böse.“
„Ja, das habe ich schon verstanden, aber …“
„Wie ich gerade sagte, diese Menschen sind das Böse. Sie aufzuhalten ist schwieriger, als mit bloßen Händen ein U-Boot zu bremsen.“ Paula ließ Julias Blick nicht los. „Sie, Frau Wagner, sind die Einzige, die sie aufhalten kann. Sie sind das Gegengift.“
Julia saß einen Moment vollkommen still, dann lachte sie auf, sie konnte nicht anders. „Ja, klar. Wer sonst, wenn nicht ich?“
Paula sah sich im Café um, als hätte sie Angst, jemand könnte ihnen zuhören. „Ich ahnte es von Anfang an und habe es Ihnen damals in Wittenrode auch gesagt“, wandte sie sich dann wieder an Julia. „Ich habe bereits in der ersten Sekunde Schatten um Sie herum gesehen. Schatten der Finsternis. Sie umhüllen Sie wie ein Mantel. Das ist der Grund, warum Sie hier sind. Und das ist der Grund, warum diese Menschen Sie ausschalten wollen.“
Julia öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Setzte dann noch einmal an: „Sie wollen mir ernsthaft erzählen, ich sei dazu auserwählt, gegen das Böse anzutreten?“
„Ja.“
„Sie verstehen, dass ich spätestens jetzt wieder aufstehen und gehen würde, wenn Sie nicht meine letzte Hoffnung wären.“
„Ja, das verstehe ich. Trotzdem ist und bleibt es die Wahrheit.“
Hilflos hob Julia die Hände in die Höhe. „Warum ausgerechnet ich? Warum nicht jemand anders?“
„Ich denke, Sie kennen die Antwort darauf“, sagte Paula.
„Nein. Ich kenne die Antwort darauf nicht.“
„Dann müssen Sie sie bekommen. Aber nicht hier.“
„Wo dann?“
„Sie müssen noch einmal zurück nach Wittenrode. In die alte Kapelle.“
„Auf gar keinen Fall. Das können Sie vergessen.“
„Sie haben keine Wahl, Frau Wagner.“ Paulas Blick war ernst. „Ich will Ihnen nicht mehr Angst machen als nötig, aber ich glaube, nicht nur Sie sind in Gefahr. Es geht auch um Ihre Freundin.“
„Eva?“
„Ich glaube, dass sie sich in großer Gefahr befindet.“
Sofort war Julia auf den Beinen. „Wenn Sie Eva etwas antun wollen, dann werde ich das verhindern.“
„Aber dafür brauchen Sie die richtigen Waffen“, sagte Paula schnell. „Und die richtigen Waffen sind in diesem Fall Antworten. Wenn Sie jetzt überstürzt handeln, werden Sie einen Fehler machen, und das werden Sie nicht überleben. Also bitte, setzen Sie sich wieder hin.“
Eine Weile sahen sie sich in die Augen, dann ließ Julia sich langsam auf den Stuhl zurücksinken.
„Sie müssen sich Ihrer besonderen Kräfte und Fähigkeiten bewusst werden“, erklärte Paula.
„Was reden Sie denn da? Ich besitze keine besonderen Kräfte oder Fähigkeiten. Und ich bin auch nicht hier, um die ganze verdammte Welt zu retten. Ich bin einfach nur … ich.“
„Sie besitzen mehr, als Sie ahnen.“
Ungeduldig schüttelte Julia den Kopf.
„Sie haben während Ihrer Zeit bei der Polizei viele tote Menschen gesehen, nicht wahr?“
„Das blieb bei der Mordkommission leider nicht aus.“
„Nein. Natürlich nicht. Aber da ist noch mehr. Sie können sie spüren. Die Toten. Sie können ihre pulsierende Präsenz spüren.“
Julia hob überrascht den Blick. „Woher wissen Sie das?“
„Sie waren vor allem deshalb so gut in Ihrem Beruf, weil Sie über genau diese Fähigkeit verfügen“, sprach Paula weiter, ohne auf die Frage einzugehen. „Sie haben nie mit jemandem darüber gesprochen, aber so war es. Warum lehnen Sie es so sehr ab, darüber zu reden?“
„Weil es nichts ändern würde. Und weil es mit dieser Sache hier auch überhaupt nichts zu tun hat. Ich komme klar, auch ohne über den ganzen Kram zu reden.“
„Sie sind bisher nur schwer damit klargekommen.“
Einen Moment sahen sie sich in die Augen.
„Beschreiben Sie es“, forderte Paula dann.
„Es …“ Julia suchte nach den richtigen Worten. „Es ist wie … eine kalte Schwärze, die angefüllt ist mit Wimmern, herumhuschenden Schatten und dumpfem Stöhnen. Es geistert in meinem Kopf umher und lässt mich Dinge empfinden, Gefühle, die ich kaum beherrschen kann.“
„Wie äußert es sich?“
„Meistens in Albträumen. Aber manchmal sehe ich sie auch direkt vor meinen Augen. Tote Menschen.“ Julia hob die Hände in die Höhe. „Ich hab versucht, es zu ignorieren, aber es kam immer wieder. Irgendwann so präsent, dass ich dachte, ich drehe durch. Ich dachte, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich endgültig überschnappe. Dann dachte ich wieder, ich kriege es in den Griff, aber …“ Sie schnippte mit den Fingern. „Nein.“
„Haben Sie das alles erst gespürt und gesehen, nachdem Sie bei der Polizei angefangen hatten?“, wollte Paula wissen.
„Nein. Ich habe schon als Kind im Waisenhaus Dinge gesehen … Menschen … die niemand außer mir sehen konnte.“ Julia hob den Blick und sah Paula in die Augen. „Sie redeten mit mir. Ich habe sie nicht verstanden, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass sie mir etwas mitteilen wollten. Ich habe versucht, zuzuhören, aber ich habe sie nicht verstanden.“
Paula nickte langsam. „Vielleicht weil es damals noch nicht an der Zeit war.“
Julia atmete tief durch und schwieg.
„Sie haben die Macht, in den Herzen der Toten zu lesen“, fügte Paula hinzu. „Sie können Dinge sehen und spüren, die andere nicht zu sehen und spüren vermögen. Das ist eine seltene Gabe, und sie wird Ihnen helfen, diesen Fall zu lösen. Sie werden die Mörder Ihres Vaters finden. Sie werden herausfinden, wer nun hinter Ihnen her ist. Und Sie werden diese Leute ausschalten. Aber nur, wenn Sie es zulassen, sich eingestehen, dass Sie anders sind. Dass Sie diese Fähigkeit haben. Und wenn Sie jetzt handeln.“
„Sie können versuchen, was Sie wollen, ich werde nicht noch einmal in diese Kapelle gehen. Auf gar keinen Fall.“ Julia beugte sich nach vorne. „Wie stellen Sie sich das überhaupt vor? Was soll dort passieren?“
„Wir nutzen Ihre und meine Gabe, um die Antworten zu bekommen, die Sie brauchen.“
Als Julia einmal mehr ungeduldig den Kopf schüttelte, seufzte Paula leise auf. „Ziehen wir noch einmal das Schachspiel heran. Es sind schon viele Menschen gestorben, was in den Augen ihrer Gegner aber nur dem Verlust von Bauern gleichkommt. Wenn Sie selbst nun zurück in die alte Kapelle gehen, dann machen Sie einen Zug mit dem Springer.“
Als Julia nicht darauf antwortete, fügte Paula hinzu: „Aber was noch viel wichtiger ist: Mit den Antworten, die Sie dort erhalten, können Sie nicht nur sich selbst, sondern auch Ihre Freundin schützen.“
Der Wind wehte quälend, schneidend, eiskalt über sie hinweg, während sie schweigend den Berg hinaufstiegen. Julia zog den Kopf zwischen die Schultern und wunderte sich, über wie viel Energie Paula von Jäckle verfügte. Sie hatte ihr Tempo zu keiner Zeit verringert, machte unablässig und zielsicher Schritt für Schritt nach oben.
Julia selbst hielt die Augen auf den Boden gerichtet und fragte sich, warum, zum Teufel, sie sich darauf eingelassen hatte.
„Wollen Sie darüber reden?“, fragte Paula.
Ihre Worte ließen Julia aufblicken. „Worüber?“
„Über Ihre Ängste.“
„Nein.“
„Was meinen Sie, warum hat Wolfgang Lange damals ausgerechnet diesen Ort für seinen letzten Akt mit Ihnen ausgesucht?“
„Das wissen Sie selbst sehr genau. Weil er einen großen Ort dafür brauchte, einen mächtigen Ort. Er war Satanist. Was hätte sich da besser geeignet als eine Kirche?“
Paula nickte. „Und er wusste, dass Sie kommen würden.“
„Er hatte Eva. Natürlich wusste er, dass ich kommen würde.“ Julia verharrte in der Bewegung. „Wirklich, ich will das nicht tun.“
„Sie müssen, und Sie wissen es.“
Julia brummte etwas, das nicht zu verstehen war, und setzte sich wieder in Bewegung.
„Sie werden gewinnen“, sagte Paula nach ein paar weiteren Metern. „Weil Sie immer noch daran glauben.“
„Woran?“
„An den Schmerz und den Kampf und dass es das Ziel am Ende wert ist.“
Darauf bekam Paula keine Antwort von Julia.
Wenig später hatten sie die alte Kapelle erreicht. Im gespenstischen Licht des Mondes sah sie unheimlich aus, ragte aus dem Boden wie ein giftiger Pilz. Gleichzeitig wirkte sie aber auch ruhig und friedlich. Nichts deutete auf das hin, was hier ein paar Monate zuvor geschehen war. Nichts deutete darauf hin, dass dies ein Ort war, an dem die Sonne niemals wieder auf- oder unterging.
Julia war seitdem nicht mehr hier gewesen. Hier nicht und auch in keiner anderen Kirche. Sie legte keinen Wert darauf, sich mit Gott auszusöhnen. Jedenfalls nicht, bevor Gott seine Schuld bei ihr beglichen hatte, und da dies mit ziemlicher Sicherheit nie der Fall sein würde, war eine Aussöhnung praktisch ausgeschlossen.
„Ich gehe zuerst hinein“, sagte Paula. „Sie warten, bis ich Ihnen Bescheid gebe. In Ordnung?“
„Wenn es sein muss.“
„Es ist das einzig Richtige. Alles muss zur rechten Zeit und in der richtigen Reihenfolge geschehen. Sonst wird es keine Wahrheit geben.“ Paula blickte zum Eingang der Kapelle. „Bringen wir es hinter uns.“
Julia nickte langsam. Eine Art passive Akzeptanz. Sie beobachtete, wie Paula auf die Tür zuschritt und wenig später im Inneren verschwunden war.
Der Wind begann immer heftiger und eisiger zu wehen. Jedes noch so kleine Geräusch erschien mit einem Mal hundertfach verstärkt, und jedes einzelne ließ Julia zusammenzucken.
Was für eine beschissene Idee.
Etwas Unheilvolles lag in der Dunkelheit um sie herum, sie spürte es deutlich: Die kahlen Bäume, die ringsum aufragten, deren Äste wie knochige Finger wirkten; der gewaltige Schatten der Burg auf der linken Seite, das klobige Gebäude des Waisenhauses auf der rechten, das alles nahm geradezu bedrohliche Formen an.
Julia sah auf die Uhr, zehn Minuten vor Mitternacht. Sie zündete sich eine Zigarette an, rauchte, ohne die Tür zur Kapelle aus den Augen zu lassen.
Warum kam von Paula nichts mehr?
Als sie zu Ende geraucht hatte, machte Julia drei Schritte auf die Kapelle zu. „Frau von Jäckle?“
Keine Antwort.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte, starrte einen Moment die Tür an.
Dann machte sie zwei weitere Schritte, schob die Tür auf und trat ins Innere der Kapelle.
Es ist bitterkalt. Das war ihr erster Gedanke.
Julia stand am Ende des Kirchenschiffes, das zum Altar führte. Dort brannten ein paar Kerzen. Schatten drängten sich in den Ecken. Der Altar selbst war nur ein ausgehöhlter Ring in der Finsternis.
Ein Lufthauch regte sich und ließ die Kerzen flackern, dann hörte sie Paula von Jäckles Stimme: „Frau Wagner, ich bin hier. Kommen Sie zu mir.“
Julia hatte keine Ahnung davon, was sie erwartete, sie ging einfach weiter, ehe sie ihre Meinung ändern konnte. Die verschiedenen Gerüche, die mit jedem Schritt mehr auf sie einströmten, waren so intensiv und überwältigend, dass sie glaubte, sie würde sich direkt auf die Vergangenheit zubewegen.
„Kommen Sie zu mir”, sagte Paula noch einmal.
Julia blieb stehen, bewegte sich nicht. Wie lange? Sekunden? Minuten? Sie hätte es nicht sagen können. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und blieb schließlich bei Paula stehen. Sie sah, dass diese fünf Karten nebeneinander auf den Boden gelegt hatte, allerdings konnte sie nicht erkennen, was für Abbildungen sich darauf befanden, dafür war das Licht von ihrer Position aus nicht hell genug.
„Haben Sie die für mich gelegt?“, wollte sie wissen.
Paula nickte.
„Und was bedeuten sie?“
„Die erste Karte sagt, dass überall Augen sind. Was bedeutet, dass eine Menge Leute nach Ihnen suchen. Die zweite Karte deutet auf Neid hin. Jemand will haben, was Sie haben.“
„Ich wüsste nicht, worum man mich beneiden könnte“, bemerkte Julia.
„Die dritte Karte bedeutet Verwirrung“, redete Paula weiter. „Es wirbelt alles um Sie herum, und Sie wissen nicht, was Sie tun sollen.“
„Das stimmt allerdings.“
„Die vierte Karte zeigt mir, dass Sie eine Reise machen werden. Und es sieht nicht so aus, als würde es ein Urlaub werden. Da ist eine Menge Schwarz. Genau genommen ist alles schwarz.“
„Schwarz bedeutet Unglück, oder nicht?“
„Manchmal. Es kann Unglück bedeuten und Traurigkeit. Allerdings ist bei der fünften Karte wieder alles weiß. Was bedeuten kann, dass nach all dem Schwarz eine Zeit ohne Probleme kommt. So als würden Sie die Wolken durchbrechen und den blauen Himmel erreichen.“
„Sie sagen kann“, hakte Julia nach. „Was kann es noch bedeuten?“
Paula hob den Blick. „Manchmal bedeutet eine weiße Fläche nach so viel Schwarz auch, dass der Mensch im Himmel ist. Makellos weiß.“
„Also tot.“
„Ja, tot.“
„Und dieser Mensch bin ich?“
Paula nickte langsam. „Aber, wie gesagt, es kann auch …“
„Das heißt, die Karten sagen, dass ich am Ende entweder tot oder noch am Leben bin“, fasste Julia zusammen.
„Ja.“
„Danke. So weit war ich vor zehn Minuten auch schon.“ In einer einzigen Bewegung drehte Julia sich in Richtung Tür. „Ich habe es mir gerade anders überlegt. Ich habe mich entschieden, dass ich Wichtigeres zu tun habe, als mir diesen Schwachsinn anzuhören. Ich bin nicht hierhergekommen, um mit Ihnen Halloween zu feiern, Frau von Jäckle. Und auch nicht, weil ich auf einem Besen reiten kann. Ich gehe wieder und suche nach Eva. Wenn ihr etwas passiert, drehe ich nämlich endgültig durch.“
„Glauben Sie wirklich, Sie können allein mit Ihrer Schusswaffe verhindern, dass ihr etwas passiert?“, fragte Paula in ihren Rücken.
Julia blieb stehen, wartete einen Moment, dann drehte sie sich noch einmal um. „Ja. Das glaube ich allerdings. Denn das habe ich gelernt – zielen und abdrücken. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich das wirklich gut kann.“ Sie machte wieder einen kleinen Schritt auf Paula zu. „Und jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Ich gebe ja zu, dass mit mir nicht alles in Ordnung ist. Dass sich in meinem Kopf Dinge abspielen, die sich bei anderen mit Sicherheit nicht abspielen. Aber das hat ganz bestimmt nichts mit Gut und Böse zu tun. Und auch nicht mit dem, was letzten April hier in dieser verdammten Kapelle geschehen ist. Und erst recht hat es nichts mit irgendwelchen … Wesenheiten zu tun. Was Sie da in Ihren Karten lesen, das ist ein Witz.“ Damit klappte Julia den Mund zu und wandte sich erneut in Richtung Tür.
„Glauben Sie, Sie sind jetzt schon in der Lage, das beurteilen zu können?“, fragte Paula.
Auf ein Neues blieb Julia stehen. „Ja.“ Als sie sich ein weiteres Mal umdrehte, funkelten ihre Augen im Dämmerlicht. „Und wo wir schon dabei sind, sage ich Ihnen jetzt noch etwas: Gut und Böse können überhaupt nicht gegeneinander antreten, denn Gut würde ja bedeuten, dass es einen Gott gibt, und das alleine ist schon völliger Schwachsinn.“
„Sind Sie da ganz sicher?“
„Oh ja. Gott ist nur ein kranker, grausamer Witz. Da oben im Himmel ist niemand, der uns beschützt. Und wenn er doch existiert, dann interessiert sich Gott einen Scheiß für die Menschen. Er sieht zu, wie sie leiden und sterben, und er tut nicht das Geringste, um ihnen zu helfen. Warum nicht?“ Julia warf die Hände in die Höhe. „Tja, darüber können wir nur spekulieren. Ich weiß nur, dass wir uns den Mund fusselig beten und flehen können, so viel wir wollen, und trotzdem wird er uns nicht helfen. Gut gegen Böse, sagen Sie? Dann soll er sich doch gefälligst selbst darum kümmern. Ich hab damit jedenfalls nichts zu tun. Ich habe alles gesagt. Ich bin weg.“
„Frau Wagner“, sagte Paula von Jäckle leise. „Es ist jemand hier.“
Julia verharrte in der Bewegung. „Wer?“
„Spüren Sie es nicht? Spüren Sie nicht diese Kälte, die bis in die Knochen zieht?“
Doch. Julia spürte es. Sogar sehr deutlich. Die Luft um sie herum schien plötzlich eisiger und dicker zu werden. Ein Schauder durchfuhr sie, fast so stark wie ein Stromschlag, sie spürte ihn förmlich durch Arme und Nacken fahren. Sofort schlugen alle Instinkte in ihr Alarm. Warnten sie. Doch sie kamen zu spät. Wie aus heiterem Himmel tauchte ein Blitz vor ihren Augen auf, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, verschwand Paula von Jäckle aus ihrem Blickfeld. Stattdessen tauchte eine andere Gestalt vor ihren Augen auf. So reglos, dass sie nichts als eine Verdichtung der Finsternis zu sein schien.
Das kann nicht sein! Julia blinzelte. Das ist unmöglich!
Aber sie sah ihn klar und deutlich vor sich, sah, wie er die Hand nach ihr ausstreckte.
Pastor Jordan.
Sie wich zurück. „Hau ab! Verschwinde!“ Doch falls er die Worte gehört hatte, so sie sie denn tatsächlich ausgesprochen hatte, nahm er keinerlei Notiz davon. Im Gegenteil, er kam nun einen Schritt näher. Und was er dann sagte, knallte wie Gewehrschüsse durch die kleine Kapelle: „Honesta turpitudo est pro causa bona.“
Kaum hatte er es ausgesprochen, spürte Julia, wie alles in ihr zu vibrieren begann. Stechende Schmerzen jagten durch ihren Körper. Sie hörte ein leises Wimmern. Wirklich nur sehr leise, aber es war trotzdem deutlich zu vernehmen. Es war hinter ihr.
Sie fuhr herum und sah Eva an dem schwarzen Kreuz hängen.
Bitte, lass mich nicht sterben …
„Das kann nicht sein! Das kann nicht sein! Das kann nicht sein!“ Dieses Mal hörte Julia, wie sie es aussprach.
Das Bild vor ihren Augen zerfiel, Eva am Kreuz löste sich auf, formte sich zu einer anderen Person.
Julia blinzelte. Sandmann. Sandmann lag mit aufgeschnittener Kehle auf dem Altar. Sie blinzelte noch einmal, bemerkte aus den Augenwinkeln einen Schatten. Erneut fuhr sie herum und stand Wolfgang Lange gegenüber.
Du hast den wahren Teufel übersehen, Julia.
Und dann, so schnell wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Dafür tauchten andere Gesichter vor ihren Augen auf. Immer mehr Gesichter. Menschen aus der Vergangenheit. Menschen aus der Gegenwart. Eine endlose Abfolge von Bildern. Wie in einem Kaleidoskop wechselten und veränderten sich die Gesichter, die Farben und die Formen.
Dann hörte sie Stimmen. Fragmente von Wörtern und Sätzen, die durch ihren Kopf hallten. Und gerade als sie dachte, es nicht mehr auszuhalten, wurde es auf einmal ganz still.
Einen Augenblick lang tat sich gar nichts.
Dann eine weitere Stimme, seltsam vertraut, irgendwie bekannt und doch wieder nicht.
Ich werde mir dein Herz holen, Prinzessin.
Es ist in deinen Kopf, in deinen Leib, in deine Knochen geschrieben.
Du kannst nicht gewinnen.
Von irgendwo ertönte ein Grollen, wie Donner. Der Boden unter Julia schien sich zu bewegen. Sie wankte. Dann Paula von Jäckles Stimme: „Kommen Sie zu sich!“
„Sind Sie in Ordnung?“
Julias keuchender Atem riss Löcher in die Stille der Kapelle. Sie stemmte die Hände auf die Knie, in ihren Lungen stach es, als wäre sie gerade in fünf Minuten drei Kilometer gelaufen.
Es dauerte noch einen Moment, dann nickte sie.
Paula legte eine Hand auf ihre Schulter. „Sie glauben nicht, wie froh ich bin, dass es Ihnen gut geht.“
„Und Sie glauben nicht, wie froh ich bin, wenn ich von hier wieder verschwunden bin.“ Dafür, dass sie sicher war, unter Schock zu stehen, kamen die Worte erstaunlich klar und deutlich aus Julias Mund. „Lieber Himmel, ich war mir gerade sicher, dass mich jede Sekunde der Schlag trifft.“
„Dasselbe befürchtete ich für mich auch, das können Sie mir glauben.“ Paulas Blick taxierte sie. „Was haben Sie gesehen?“
„Pfarrer Jordan. Er stand vor mir, in voller Größe.“
„Was hat er zu Ihnen gesagt?“
„Er sagte: Honesta turpitudo est pro causa bona.“
Paula formte den Satz mit den Lippen nach. „Sie wissen, was das bedeutet?“
„Ich war beschissen in Latein, aber das krieg ich gerade noch so zusammen.“ Julia rang immer noch nach Atem. „Für eine gute Sache ist Schande ehrenvoll.“
„Ein brillanter Satz. Einprägsam und gleichzeitig vieldeutig.“
„Und was will er mir damit sagen?“
„Das müssen Sie leider selbst herausfinden. Wen haben Sie noch gesehen?“
„Eva, Sandmann und Wolfgang Lange.“
„Sie habe ich ebenfalls gesehen. Aber es war noch eine weitere Person anwesend, nicht wahr?“
„Ich habe noch eine Stimme gehört. Die Stimme eines Mannes. Ich bin mir sicher, dass ich sie kenne, dass ich sie schon einmal irgendwo gehört habe. Aber ich erinnere mich nicht. Wer war das?“
„Jener Mann, der Ihren Tod will.“
„Ja, das habe ich schon verstanden. Er hat es klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber hat er auch einen Namen?“
„Ich habe ihn nur als den ‚Zaren‘ in den Karten gesehen.“
Als Julia fragend die Augenbrauen in die Höhe hob, lächelte Paula dünn. „Ich sehe, Sie kennen sich aus in Dämonologie.“
„Ich bin in einem katholischen Waisenhaus aufgewachsen. Der Zaren ist der Dämon der sechsten Stunde, der Geist der Rache.“
„Richtig.“ Paula nickte. „Und eben das ist er. Böse und skrupellos und von Rache getrieben.“
„Und warum hat er es ausgerechnet auf mich abgesehen?“
„Das hatte ich Ihnen bereits erklärt. Weil nur Sie ihm gefährlich werden können. Nur Sie können ihn ausschalten.“
„Warum nur ich?“
„Sie alleine sind ihm ebenbürtig.“
„Verdammte Kacke.“ Julia atmete tief und verzweifelt durch.
„Sie müssen es annehmen“, fügte Paula hinzu, „sonst haben Sie keine Chance. Er ist längst auf dem Weg zu Ihnen, auf den verschiedensten Wegen. In Form von verschiedensten Personen. Vergessen Sie niemals, dass er nicht fair spielt.“ Sie suchte Julias Blick und hielt ihn. „Sie haben soeben alle Hinweise erhalten, die Sie brauchen. Sie müssen sie nur richtig zusammensetzen. Sie müssen verstehen. Aber vor allem, Sie müssen es annehmen. Dann können Sie gewinnen. Haben Sie das verstanden, Frau Wagner?“
Julia schwieg.
„Frau Wagner?“
„Ja“, sagte Julia. „Annehmen. Zusammensetzen. Ausschalten.“ Sie wandte sich ab. „Ich werde es versuchen. Aber zuerst muss ich Eva finden.“
Was ist los?
Samstag, 18. Dezember 2010
08:07 Uhr
Weidling
„Wo, zum Teufel, steckst du?“
„Ich bin im Schwarzwald.“
„Was, bitte schön, tust du im Schwarzwald?“
Bibbernd blickte Eva Haack aus der Frontscheibe ihres Wagens. Das war also das Unwetter, das der Wetterbericht angekündigt hatte. Die Wolken wirkten dick und unbeweglich wie eine nasse Bettdecke, der Wind pfiff, der Schnee fiel nicht, nein, er stürzte geradezu vom Himmel, und dazu war es so kalt, dass trotz dicker Kleidung jede Bewegung anstrengend werden würde. Hätte sie nicht dringend ihre Medikamente gebraucht, Eva hätte ihr sicheres Domizil an diesem Morgen garantiert nicht verlassen. Unter gar keinen Umständen hätte sie den Weg ins Dorf auf sich genommen. So aber war sie gezwungen, die Apotheke aufzusuchen, und gerade in dem Moment, in dem sie den Wagen geparkt hatte und aussteigen wollte, piepste das Handy. Sie hatte es aus ihrer Handtasche gezogen und das Gespräch angenommen. Und das hatte sie jetzt davon.
„Was, bitte schön, tust du im Schwarzwald?“, wiederholte Robert am anderen Ende.
„Ich muss nachdenken“, gab Eva zurück. „Wichtige Entscheidungen treffen.“
„Aha. Und sagst du mir auch, um welche Art von Entscheidungen es sich dabei handelt?“
„Ich werde mich scheiden lassen, Robert.“
„Was?“
„Hör zu …“ Eva atmete tief durch. „Wir haben es versucht. Aber es ist einfach zu viel passiert.“
„Und anstatt mir das ins Gesicht zu sagen, haust du einfach ab und fährst von Hamburg bis in den Schwarzwald? Was ist los mit dir, Eva? Wir sind fünf Jahre lang verheiratet. Ich finde, ich habe ein bisschen mehr verdient als das. Wir lieben uns doch.“
„Du machst es dir leichter, wenn du dich einfach damit abfindest.“
„Ich werde mich nicht damit abfinden. Was du gerade tust, ist hilfloses Handeln. Verzweiflung. Natürlich, du hast in den letzten Monaten viel durchgemacht … und tust es noch, aber das geht doch jedem einmal so.“
„Es wurde aber nicht jeder lebendig an ein Kreuz genagelt.“
Robert schwieg, während Eva es schon wieder deutlich vor sich sah: Wolfgang Lange; die alte Kapelle; das riesige, auf dem Kopf stehende Kreuz; die Nägel, die er durch ihre Hände und Füße geschlagen hatte. Wie sollte man das je wieder vergessen? Man konnte die Erinnerung daran nicht einfach mit Seife abwaschen, und alles war wieder gut. Sie musste damit leben, er nicht. Für einen so selbstbewussten und beherrschten Menschen wie sie war das Gefühl der Machtlosigkeit geradezu erdrückend. Sie fühlte sich beschädigt, in sich selbst isoliert. Mehr als einmal glaubte sie, kurz davor zu sein, den Verstand zu verlieren.
„Hör mir zu“, sagte Robert in ihre Gedanken. „Ich weiß doch, dass das alles nur Abwehrmechanismen sind. Mauern, die du um dich herum aufgebaut hast, um dich zu schützen. Aber doch nicht vor mir. Lass mich wieder in dein Leben. Wir können es zusammen schaffen. Wir …“
„Selbst wenn ich es wollte“, fiel Eva ihm ins Wort, „ich würde nie wieder die werden, die ich einmal war. Dafür ist einfach zu viel passiert.“
„Ich werde dir helfen, darüber hinwegzukommen.“
„Das muss ich leider ganz alleine tun.“
Jetzt hob Robert die Stimme ein wenig an. „Wenn diese furchtbare Geschichte nicht passiert wäre, dann würden wir uns jetzt nicht trennen. Wir wären ewig zusammengeblieben.“
„Das wissen wir nicht.“
„Ich weiß es. Das hätte dieser Mistkerl dir nicht antun dürfen. Und sie hätte dich niemals in diese Sache hineinziehen dürfen. Es ist allein ihre Schuld.“
„Robert, bitte …“, setzte Eva an.
„Von mir lässt du dich scheiden, aber sie nimmst du weiter in Schutz.“
„Hör bitte auf.“
„Warum hat sie es nicht verhindert?“
„Sie konnte es nicht verhindern. Es war nicht ihre Schuld.“
„Siehst du! Du tust es schon wieder! Du nimmst sie in Schutz!“
„Ich denke, wir sollten das Gespräch besser beenden, bevor …“
„Bevor was?“ Robert feixte. „Bevor es mit mir durchgeht?“
„Bevor nur noch Scherben übrig sind.“
„Sie hat immer zwischen uns gestanden“, redete er unbeeindruckt weiter. „Immer.“
„Das ist nicht wahr.“
„Ach, hör doch auf, Eva, natürlich ist es wahr. Dein ganzes Tun und Handeln kreist um sie, selbst wenn sie gar nicht da ist. Vielleicht ist es dir nicht bewusst, aber genauso ist es. Auch wenn du es nicht aussprichst, ist sie trotzdem immer in deinen Gedanken.“
„Das ist Blödsinn!“, fuhr Eva auf.
„Warum bist du im April überhaupt nach Wittenrode gefahren?“
Ein jäher Windstoß blies um den Wagen, Eva spürte ein Erzittern, ein tiefes Beben, das ihr bis tief in die Knochen fuhr.
„Ich wollte an Kerstins Beerdigung teilnehmen“, antwortete sie. „Das hatte mit Julia überhaupt nichts zu tun. Du bist auf eine Person eifersüchtig, die du nicht einmal persönlich kennst.“
„Ich muss sie nicht persönlich kennen. Ich habe Augen, und ich habe Ohren. Und ich weiß, was ich weiß.“
Eva atmete tief durch. „Julia und mich verbindet eine schwierige Kindheit, das kann man nun mal nicht vergessen. Den Rest allerdings, den spinnst du dir zusammen.“ Sie richtete sich etwas auf. „Es hat tausend Gründe, warum unsere Ehe gescheitert ist, Robert, aber es hat ganz bestimmt nichts mit ihr zu tun. Ich werde jetzt auflegen.“
„Du willst es also tatsächlich beenden?“
„Ich habe alles gesagt. Es tut mir wirklich leid.“
Damit drückte Eva das Gespräch weg, legte das Handy zurück in ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zur Apotheke.
Später würde sie sich an diese Minuten immer wieder erinnern.
Die letzten Minuten, ehe das völlige Chaos ausbrach.
Mainz
„Julia? Was ist verdammt noch mal los mit dir? Wir hatten eine Abmachung, erinnerst du dich? Du wollest dich gestern Morgen melden, hast aber bis jetzt noch nichts von dir hören lassen. Ich gebe dir jetzt noch genau fünf Stunden, wenn du dich dann nicht gemeldet hast, lasse ich dein Handy orten! Das ist mein Ernst! Du weißt genau, was für eine Scheißangst ich um dich habe!“ Schnaubend klappte Zander das Handy zu und ging weiter mit großen Schritten den Flur des Krankenhauses entlang. Der Arzt, der am anderen Ende auf ihn wartete, begrüßte ihn kurz, wobei er den Kopf in den Nacken legen musste, denn Zander war ein Riese mit kurzen roten Haaren und einem überbreiten Körperbau. Seine Größe und seine Statur ließen unweigerlich alle, die mit ihm sprachen, respektvoll das Genick einziehen und die Stimme senken. Ein Geschenk für einen Polizisten bei der Kripo.
Der Arzt räusperte sich und blickte auf die Papiere in seiner Hand. „Also, was haben wir … Eine junge Frau, deren Namen wir nicht kennen, weil sie keine Papiere bei sich trug. Vermutlich Osteuropäerin, schätzungsweise zwanzig Jahre alt. Wurde heute Morgen gegen sieben Uhr dreißig eingeliefert. Kopf und Schultern waren blutverkrustet … was von einer tiefen Kopfwunde herrührt. Auf ihrem gesamten Körper finden sich Spuren von schwerer Folter … Außerdem befand sich eine getrocknete Blutspur an der Schenkelinnenseite und eine Wunde im Rektalbereich, die ist allerdings schon etwas älter.“ Von Zeit zu Zeit sah der Arzt zu Zander auf. „Dazu verschiedene Hämatome und Schnittwunden an Hand- und Fußgelenken. Die Haut über dem rechten Jochbein war aufgeplatzt. Sie wurde also schwer misshandelt und mehrfach, mit zeitlichen Unterbrechungen, vergewaltigt.“
„Konnten Spermaspuren sichergestellt werden?“, wollte Zander wissen.
„Nein, leider nicht.“ Der Arzt blätterte. „Dafür fanden sich Spuren eines Barbiturates in ihrem Blut. Wer immer der armen Frau das angetan hat, hat sie mit einer Droge außer Gefecht gesetzt. Vermutlich Ketamin. Ich nehme an, Sie möchten eine Kopie des Berichtes, Herr Kommissar?“
Zander nickte. „Sicher tauchen noch weitere Fragen meinerseits auf, aber für den Augenblick danke ich Ihnen.“ Er wandte sich ab und betrat das Krankenzimmer.
Die erste Amtshandlung, die er dann beging, war es, die Frau von den Plastikbändern zu befreien, mit denen ihre Handgelenke am Bettgestell fixiert waren.
Die Miene des jungen Kollegen neben ihm sprach Bände. „Das sollten Sie nicht tun, Herr Kommissar. Sie wird ausflippen, wenn sie zu sich kommt.“
„Ich werde im Bericht festhalten, dass Sie mich gewarnt haben“, bemerkte Zander.
„Es ist Vorschrift. Wir kriegen das immer wieder gepredigt. Sie wird versuchen, sich die Infusionsnadel rauszuziehen, wenn …“
„Wenn sie gefesselt aufwacht, dreht sie erst recht durch.“ Zander deutete auf die kreisförmigen Schnitte an den Handgelenken der jungen Frau, die von festgezurrten Drähten zu stammen schienen. „Sie war weiß Gott genug gefesselt.“ Damit zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. „Ich bleibe hier. Sie sind abgelöst. Verschwinden Sie.“
Der junge Kollege nickte widerwillig und verließ das Zimmer, während Zander an ihrem Bett sitzen blieb und zusah, wie sie atmete.
Zur gleichen Zeit saß ein Mann namens Matthias Bartholomäus nur wenige Kilometer entfernt an seinem Küchentisch und starrte auf die Notizen vor sich. Er wusste, dass dies die letzten Minuten seines Lebens waren.
Eiskalte Minuten.
Er wandte den Kopf und starrte nach draußen ins weiße Nichts. Vor seinen Augen spielte sich ein Film ab – ein Film dessen, was er getan hatte.
„Was in dem Keller passiert, bleibt in dem Keller“, murmelte er.
Aber nein, aus Falsch konnte auch Richtig werden. Nichts war absolut. Zügig las er noch einmal den codierten Text, den er gerade geschrieben hatte. Er hatte sich die Verschlüsselung vor ein paar Monaten ausgedacht. Auf diese Weise konnte er seine Gedanken aufschreiben, ohne zu befürchten, dass es jemand las, der es nicht lesen sollte. Bereits als Teenager hatte er sich solche Codierungen ausgedacht. Doch die einfache Übersetzung des Alphabets war im Laufe der Jahre immer ausgefeilter geworden. Längst hatte er noch Zahlen und geometrische Figuren in das Ziffernsystem eingebaut. Er bezweifelte, dass es vielen Leuten gelingen würde, diesen Code zu knacken – aber das war auch nicht nötig. Es sollte nur die richtige Person an die Informationen gelangen. Für den Fall der Fälle nannte er keine Namen, schrieb nur Initialen auf. Man konnte sie herausfinden, wenn man sich ein wenig Mühe gab.
Bartholomäus hoffte darauf, dass die Polizei sich Mühe geben würde, wenn es so weit war.
Er sah noch einmal aus dem Fenster.
Welche Strafe würde er wohl bekommen?
Er würde es schon sehr bald wissen.
Das Warten hatte bald ein Ende.
Verrat und Zusammenhalt
Hannover
Auch für Jörg Grimm hatte an diesem Morgen zuerst nichts darauf hingedeutet, dass der Tag anders werden würde als die anderen, sah man davon ab, dass es in der Nacht angefangen hatte zu schneien und immer noch schneite. Immer mehr Schneeflocken fielen vom Himmel und legten sich auf die dicke Schicht, die bereits die Straßen, die Rasenflächen, die Spielplätze, die ganze Stadt Hannover bedeckte.
Jörg hatte sich gerade fertig angezogen und war auf dem Weg ins Büro, als es an der Wohnungstür klingelte. Sein erster Gedanke war, dass seine Freundin Yvonne ihren Schlüssel vergessen hatte, aber dann fiel ihm ein, dass das ja gar nicht sein konnte, weil Yvonne überhaupt nicht in Deutschland war.
Widerwillig, weil er eigentlich gar keine Zeit hatte, schritt Jörg zur Wohnungstür, und als er öffnete, schlug ihm ein Schwall kalter Luft entgegen. Ob das nun an der Kälte vor der Tür lag oder an der Gestalt seines Vaters, der davorstand, darüber konnte er nur spekulieren, auf jeden Fall verhieß sein Auftauchen nichts Gutes. Jörg verspürte sofort eine bekannte Gänsehaut auf den Armen, einen Stich im Magen und seinen schnellen Puls. Er sagte: „Ich hätte nicht gedacht, dass du hier auftauchen würdest.“
Curt Grimm, etwas über sechzig, mit silbergrauen, perfekt frisierten Haaren und Augen von kühlem Grau, antwortete: „Hast du das gedacht oder gehofft?“
Jörg blieb in der Tür stehen. „Ich muss zur Arbeit.“
„Es ist Samstag.“
„Ich habe viel zu tun. Also bitte, fass dich kurz.“
„Ich will, dass du mir sagst, wo Susanne steckt.“
Als Jörg nichts darauf antwortete, fügte sein Vater hinzu: „Man hatte mich zu Anfang ihres Verschwindens darauf hingewiesen, dass du ihr vielleicht helfen würdest. Aber ich habe ihnen versichert, so dumm wärst du nicht. Ich habe gesagt, er wird keiner Frau, die aus der geschlossenen Psychiatrie ausgebrochen ist, dabei helfen, sich vor der Polizei zu verstecken. Auch nicht, wenn sie seine Schwester ist. So dumm ist er nicht. Habe ich mich getäuscht, Jörg? Habe ich mich wirklich so getäuscht?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Sie ist jetzt seit fast fünf Monaten verschwunden, und sie ist verdammt noch mal krank. Die Ärzte sagen, sie braucht dringend Medikamente. Wenn sie die nicht bekommt, kann niemand einschätzen, was passiert. Sie muss unverzüglich zurück in die Klinik.“
„Wo du sie los bist, meinst du?“
„Hast du nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe? Sie braucht Hilfe.“
„Ich bitte dich, Vater“, fuhr Jörg auf. „Du hast dich doch noch nie für das interessiert, was Susanne braucht. Warum jetzt auf einmal?“
„Wir sind immer noch eine Familie.“
„Eine Familie? Lüg doch nicht. Dir geht es nicht um die Familie, dir geht es allein um dich und um deinen guten Ruf als Chefarzt.“ Jörg verschränkte die Arme vor der Brust. „Wo immer Susanne auch sein mag, ich wünsche ihr, dass sie eine faire zweite Chance bekommt. Ohne dich und deine verlogene Heuchelei.“
„Es wird keine zweite Chance für sie geben“, zischte sein Vater. „Sie war schon von Anfang an völlig neben der Spur. Wir haben wirklich alles versucht, aber es ist nie etwas dabei herausgekommen. Sie ist jetzt dreißig Jahre alt und schaffte es nicht einmal, einen vernünftigen Job zu bekommen, und das, obwohl sie zwei Sprachen studiert hat. Stattdessen färbte sie sich die Haare bunt und spielte in irgendwelchen lächerlichen Punkbands. Sie hat nur Ärger gemacht, so lange, bis sie schließlich im Irrenhaus landete. Nenn mir einen Grund, warum ich der Welt nicht helfen sollte, sich von ihr zu befreien und sie wieder dahin zurückzubringen, wo sie hingehört?“
Jörgs Blick wurde dunkel. „Du bist ein Ekel. Das warst du schon immer, und das wirst du immer bleiben.“
„Ach ja? Habt ihr nicht immer alles bekommen, was ihr wolltet?“
„Und zu welchem Preis? Wenn wir geweint haben, waren wir erbärmlich, wenn wir zugestimmt haben, waren wir Schwächlinge. Haben wir nicht so funktioniert wie du es wolltest, dann waren wir undankbare, respektlose Schnorrer.“ Jörg machte eine kurze Pause. „Susanne hat immerhin versucht, sich gegen dich zu wehren, ganz im Gegensatz zu mir, und jetzt sagst du, dass sie nur Ärger gemacht hat und dass du sehen willst, wie sie wieder in der geschlossenen Psychiatrie verschwindet. Sie kann überhaupt nicht gewinnen. Wir haben bis heute noch nicht ein einziges Mal gegen dich gewonnen, Vater.“
Herausfordernd sahen sie sich in die Augen, dann war es erneut Jörg, der sprach. Allerdings sagte er nicht viel. Er sagte nur: „Ich weiß nicht, wo sie ist. Und jetzt geh wieder.“
Curt Grimm machte einen Schritt nach vorne, fasste nach dem Arm seines Sohnes und zischte: „Wie erbärmlich bist du eigentlich? Glaubst du, diese ganze Scharade wäre nicht zu durchschauen?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Lass mich los.“
„Ich weiß, dass du ihr mit Geld geholfen hast. Vermutlich tust du das immer noch.“
„Kannst du das beweisen?“
„Ich weiß es. Ebenso wie ich weiß, dass deine Freundin Yvonne in den letzten Wochen verdächtig oft nach Skandinavien gereist ist.“
„Yvonne schreibt Reiseführer. Sie ist immer irgendwo unterwegs. Und jetzt lass mich, verdammt noch mal, los.“
„Hältst du mich wirklich für so dumm, die Zusammenhänge nicht zu erkennen?“
„Lass mich los und verschwinde endlich.“
Widerwillig zog Curt Grimm den Arm zurück. Dann wandte er sich um und trat zur Treppe. Dort drehte er sich allerdings noch einmal um. „Ich habe es der Polizei gesagt.“
Jörg hob den Kopf. „Was hast du gesagt?“
„Ich habe ihnen gesagt, wo sie nach Susanne suchen sollen. In Skandinavien.“
„Skandinavien ist groß. Da können sie lange suchen.“
„Das sind Zielfahnder, Jörg. Das sind keine dummen Männer. Das solltest du nicht denken.“
Jörgs Haut begann am ganzen Körper gleichzeitig zu jucken. Die Worte entwichen ihm, ehe er es verhindern konnte: „Du verrätst deine eigene Tochter?“
„Nein. Ich helfe ihr.“
Damit stieg Curt Grimm die Treppe hinunter, während Jörg reglos in der Tür stehen blieb und sich fragte, ob sein Vater es tatsächlich fertiggebracht hatte, zur Polizei zu gehen und seine eigene Tochter zu verraten.
Als in der nächsten Sekunde der Wind eines der gekippten Fenster im Inneren der Wohnung mit Wucht zuschlug, kam ihm die Erkenntnis, dass nichts und niemand ihn je davon hätte abhalten können.
Norwegen