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Philipp Winkler

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Beschreibung

Jeder Mensch hat zwei Familien. Die, in die er hineingeboren wird, und die, für die er sich entscheidet. Hool ist die Geschichte von Heiko Kolbe und seinen Blutsbrüdern, den Hooligans. Philipp Winkler erzählt vom großen Herzen eines harten Jungen, von einem, der sich durchboxt, um das zu schützen, was ihm heilig ist: Seine Jungs, die besten Jahre, ihr Vermächtnis. Winkler hat einen Sound, der unter die Haut geht. Mit Hool stellt er sich in eine große Literaturtradition: Denen eine Sprache zu geben, die keine haben. "Einen so knallharten, tieftraurigen und todkomischen Debütroman hat es seit Clemens Meyers „Als wir träumten“ in Deutschland nicht mehr gegeben." Thomas Klupp. "Winkler schreibt bewegend, kraftvoll und mit feinem Gespür für die Welt der Außenseiter. Denn eigentlich ist Heiko Kolbe ein hoffnungsloser Romantiker und seine Gewalt ein stummer Schrei nach Liebe." Moritz Rinke. "Woher kommt die Wut, was tust du, wenn dir nichts geblieben ist? Verzweifelt, knallhart und voller Herz. Hool leuchtet aus allen Wunden." Lucy Fricke.

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Informationen zum Buch

Jeder Mensch hat zwei Familien. Die, in die er hineingeboren wird, und die, für die er sich entscheidet. HOOL ist die Geschichte von Heiko Kolbe und seinen Blutsbrüdern, den Hooligans. Philipp Winkler erzählt vom großen Herzen eines harten Jungen, von einem, der sich durchboxt, um das zu schützen, was ihm heilig ist: Seine Jungs, die besten Jahre, ihr Vermächtnis. Winkler hat einen Sound, der unter die Haut geht. Mit HOOL stellt er sich in eine große Literaturtradition: Denen eine Sprache zu geben, die keine haben.

»Einen so knallharten, tieftraurigen und todkomischen Debütroman hat es seit Clemens Meyers ›Als wir träumten‹ in Deutschland nicht mehr gegeben.« Thomas Klupp

»Winkler schreibt bewegend, kraftvoll und mit feinem Gespür für die Welt der Außenseiter. Denn eigentlich ist Heiko Kolbe ein hoffnungsloser Romantiker und seine Gewalt ein stummer Schrei nach Liebe.« Moritz Rinke

»Woher kommt die Wut, was tust du, wenn dir nichts geblieben ist? Verzweifelt, knallhart und voller Herz. HOOL leuchtet aus allen Wunden.« Lucy Fricke

Philipp Winkler

Hool

Roman

Inhaltsübersicht

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Über Philipp Winkler

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Für meine Eltern.

Ich wärme meinen neuen Zahnschutz in der Hand an. Wende ihn mit den Fingern und presse ihn etwas zusammen. So mache ich es vor jedem Kampf. Das Gelmaterial bleibt stabil, gibt nur wenig nach. Das ist ein Top-Ding. Was Besseres kann man nicht bekommen. Individuell vom Zahntechniker hergestellt. Keines dieser Billoteile aus Massenproduktion, die man nach zwei Wochen gleich wieder in die Tonne kloppen kann, weil dir die Kanten ins Zahnfleisch schneiden. Oder weil man wegen der beschissenen Passform und dem chemischen Kunststoffgeruch andauernd einen Würgreiz kriegt. Bis auf Jojo mit seinem mageren Hausmeistergehalt haben wir inzwischen fast alle so einen Zahnschutz. Kai, der immer den feinsten Shit haben muss. Ulf. Der kann das mal locker aus der Portokasse zahlen. Tomek, Töller. Und einige unserer Jungs, die entsprechende Jobs haben. Onkel Axel sowieso. Der hat den Zahntechniker vor ein paar Jahren aufgetan. Hat sich auf Kontaktsportarten spezialisiert und versorgt Kampfsportler in ganz Deutschland. Wie man hört, sollen auch welche von den Frankfurtern zu dem gehen und einige Jungs aus dem Osten. Aus Dresden und Halle, die Zwickauer. Müssen bestimmt ihren Monatssatz Hartz IV dafür hinblättern, denke ich und fahre die durchgestanzten Atemlöcher mit der Fingerspitze ab.

»Ey, Heiko!« Kai stößt mich in die Seite. »Handy klingelt.« Das Discounterhandy brummt zwischen uns auf dem Sitz. Mit zittrigen Fingern greife ich danach. Mein Onkel beobachtet mich im Seitenspiegel. Ich drücke auf die Taste mit dem grünen Hörer.

»Wo seid ihr? Wir warten«, kommt die Stimme von dem Kölner, mit dem ich das Match vereinbart habe, aus der Muschel. Ich kurble die Scheibe runter, um besser rausschauen zu können, suche nach irgendwelchen Anhaltspunkten.

»Sind bei Olpe von der B 55 ab. Müssten gleich da sein.«

»In der Wüste lang. Zweiten Kreisel rechts raus. Am Bratzkopf durch bis kurz hinterm Ortsausgang. Links kommt der Wald. Könnt ihr nich’ verfehlen.«

Bevor er auflegt, erinnere ich ihn noch mal an die Abmachung. Fünfzehn Mann auf jeder Seite. Dann lege ich auf.

»Also?«, fragt Axel, ohne sich umzudrehen. Er beobachtet mich immer noch im Seitenspiegel. Trotz der Sonnenreflexion kann ich seinen stechenden Blick erkennen. Wie er mich prüft. Ich gebe die Wegbeschreibung weiter und betone noch mal, dass ich den Typen an die Abmachung erinnert habe.

»Hab ich gehört«, sagt er und dreht sich zu Hinkel, der wie immer am Steuer sitzt. Axel wiederholt die Wegbeschreibung. So als ob Hinkel mich nicht gehört hätte oder er den Weg nur fahren könnte, wenn die Anweisung von ihm kommt. Ich bemerke, wie Kai mich von der Seite ansieht, den Mundwinkel verzieht. Nett gemeint. Wenn ich ihn jetzt angucke, wird er bestimmt noch mit den Augen rollen. Mir damit sagen, Scheiße noch mal, was fürn Kontrollfreak. So in der Art. Aber ich reagiere nicht, sondern achte drauf, ob Hinkel den richtigen Weg nimmt. Er grunzt, was wohl heißen soll, dass er verstanden hat. Mit seiner bulettenartigen Hand umgreift Hinkel das Lenkrad auf zwölf Uhr. Schweißperlen haben sich in seinen langen Handrückenhaaren verfangen und funkeln in der Sonne. Sehen aus wie quer rübergekämmt. Die andere Hand lässt er aus dem Fenster baumeln.

Tomek, der links von Kai sitzt, scrollt mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck über sein Handy. Das ist so ein Ostblockding. Diese immer gleiche slawische Fresse. Gut oder scheiße gelaunt. Kann man nicht erkennen. Mit dem Ausdruck würde er wohl selbst einen Lottogewinn entgegennehmen. Die Kippe in seiner linken Hand ignoriert er. Der Fahrtwind brennt sie wie in Zeitraffer runter. Wär auch kein Wunder, wenn er kacke drauf ist. Schließlich hat er vor dem Losfahren das Shotgun-Spiel um den besseren Platz gegen Kai verloren. Kennt das wahrscheinlich nicht mal. Jetzt muss er da sitzen, wo Jojo letztes Mal mit seiner zerstörten Nase alles vollgeblutet hat. Jojos Gummel hat da richtig gelitten. Und das Sitzpolster erst. Außerdem ist das von vornherein der Platz, auf dem man an heißen Tagen auf keinen Fall sitzen will. Hinter Hinkel. Selbst bei offenem Fenster.

Kai hebt seinen Arsch ein paar Zentimeter über den Sitz und fingert seine Puderdose aus der Gesäßtasche seiner Hollister-Jeans. Er schraubt sie auf und schaufelt sich ein Häufchen Koks auf den Daumen, hält ihn sich nacheinander unter die Nasenlöcher und snifft. Die Karre holpert ganz schön, aber er schafft es, dass nichts danebengeht. Er legt den Kopf zurück. Seine gegelte Boxerfrise schrappt über den fettigen Polsterbezug der Kopfstütze. Er hält mir die Dose hin.

»Auch was? Vielleicht machste dir dann mal nich’ in die Buchse.« Er grinst. Ich grinse zurück und sage: »Besser Hose voll als Nase voll, Herr Daum.« Er lacht. Schon lang her, dass ich mir irgendwas reingepfiffen habe. Während er die Dose zuschraubt, spreizt er den Mittelfinger ab. Von meinem Onkel kommt ein kehliges Räuspern. Kai zuckt die Schultern und schiebt die Dose zurück in seine Jeans. Er weiß ganz genau, dass Axel es nicht leiden kann, wenn wir uns vor einem Match mit irgendwas zuballern. Selbst Zeug wie Koks, das dir den Kopf klar macht. Aber das ist so eine Sache, die bekommt selbst Onkel Axel nicht aus den Leuten raus. Deswegen lässt er es meistens durchgehen, solange es niemand übertreibt. Ist ja selbst auch kein Kostverächter. Viele brauchen das gegen die Nervosität. Na ja, oder weil sie halt einfach Druffies sind. Aber wer sich nicht am Riemen reißen kann, den nimmt Axel nicht mit. Jedenfalls nicht auf wichtige Matches. Wie heute. Wenns wirklich drum geht, Hannover ehrenhaft zu vertreten. Kai ist zwar schon immer ordentlich dabei mit dem Koksen, aber er ist zu gut, um ihn zu Hause zu lassen. Die ganzen Pumperschränke wirken gegen ihn so wendig wie Planierraupen. Und dank mir hält er sich vor Matches etwas zurück. Außerdem weiß mein Onkel ganz genau, dass er nicht ständig mit mir rechnen könnte, wenn er Kai auf der Ersatzbank lassen würde.

Das gelbe Ortsschild von Olpe rauscht an der Beifahrerseite des T5 vorbei. Ich beuge mich vor, das Gesicht zwischen Hinkel und meinem Onkel.

»Jetzt gerade –«

»Geradeaus über den ersten Kreisverkehr. Auf dem zweiten rechts raus«, unterbricht mich Axel. Ich lasse mich zurück in den Sitz fallen und erwidere Kais Augenrollen. Er reicht mir eine Zigarette. Ich zünde sie an und nehme einen tiefen Zug. Der Raum zwischen den metallischen Streben der Kopfstütze vor mir wird komplett vom fleischig-roten Nacken meines Onkels ausgefüllt. Links und rechts der Rückenlehne schauen seine Schultern hervor, die so kantig sind, als wären sie mit einem Winkel konstruiert. Ich puste einen Rauchstrahl in Richtung der roten Fläche zwischen den Streben und sage: »Genau.«

Wir biegen auf den trockenen Waldweg ein. Der Sand knirscht unter den Rädern. Sofort werden wir von den Schatten der rauschenden Bäume eingeschlossen. Es tut gut, aus der direkten Sonne raus zu sein, und ich bemerke, wie mich die leichte Abkühlung wieder etwas ruhiger macht. Als wir Olpe verlassen hatten, gings los. Dieses Gefühl, das immer kommt, kurz bevor es losgeht. Ich weiß nicht, ob das mit Lampenfieber vergleichbar ist, schließlich hatte ich noch nie Lampenfieber. Jedenfalls fühlt es sich so an, als würde im Bauch irgendwas zu schweben beginnen. Als ob der Magen mit Helium gefüllt wäre und von unten gegen die Lungenflügel drückt.

»Da«, sagt Hinkel und zeigt mit seinem fetten, haarigen Zeigefinger voraus. Um auf der Rückbank was zu sehen, strecken wir drei die Hälse. Ein gutes Stück den Weg hinunter sehen wir den Autokorso der Kölner. Sie stehen in Grüppchen vor ihren Karren. Axel dreht sich herum und stiert durch die hintere Scheibe. Ich nehme instinktiv den Kopf zur Seite, damit er besser gucken kann, denke mir aber sofort, jetzt reiß dich mal zusammen. Ich schaue auch nach hinten. Alles in Ordnung. Die anderen fahren wie gehabt hinter uns her. Niemand hat kalte Füße bekommen und ist umgedreht. Hätte mich auch schwer gewundert.

»Halt hier an«, befiehlt mein Onkel. Hinkel bugsiert den T5, so weit es geht, auf den Grasstreifen, der zwischen dem Waldweg und den Büschen verläuft. Die anderen parken hinter uns. Wir steigen aus. Die Kölner haben genauso geparkt. Nur auf der anderen Seite des Weges. Wenn die Sache hier gegessen ist, setzt sich jeder ins Auto und verschwindet in die entgegengesetzte Richtung.

Axel geht um die Motorhaube herum, stellt sich breitbeinig in die Wegmitte. Ich nehme den Zahnschutz aus der Box und lasse meinen Onkel nicht aus den Augen. Tomek stellt sich neben ihn. Sie stecken die Köpfe zusammen. Ich beuge mich zu Kai und frage ihn nach einer Zichte. Er versucht, die Schachtel aus seiner engen Jeans zu nesteln. Ich halte die Hand hin, schaue immer wieder zu Axel rüber, der, die Hände in die Hüfte gestemmt, die Kölner mustert.

»Jetzt komm«, sage ich, »am besten heut noch.«

»Immer mitter Ruhe«, nuschelt Kai. Ich wippe von einem Bein aufs andere. Als ich endlich eine Zigarette zwischen den Fingern habe, gehe ich zu Axel und Tomek rüber.

»Was?«, pflaumt er mich an, als er merkt, dass sich jemand nähert. Dann sieht er, dass ich es bin. Sein Kiefer entspannt sich etwas, und er legt mir ganz kurz die Pranke auf die Schulter und zieht mich näher ran.

»Haben grad durchgezählt«, sagt Tomek in Pollackenakzent. Es klingt wie ›dirchgjezeelt‹. »15 Mann plus Kamera.«

»Hat jeder sein rotes T-Shirt an?«, fragt Axel. Könnt sich auch umdrehen und selbst gucken, denke ich, verkneife mir aber natürlich, was zu sagen. Ich habe noch vor der Abfahrt die Shirts verteilt. Eben aus dem Grund, dass wir uns jetzt nicht mehr damit aufhalten müssen.

»Hat jeder«, sage ich.

Ich will noch hinzufügen, was ich mir in Sachen Aufstellung gedacht habe. Dass wir probieren sollten, die massiven Kerle nach vorne zu stellen. Sozusagen als Wellenbrecher. So könnte man beim ersten Aufprall bisschen was abfangen, selbst wenn das zu Lasten der Geschwindigkeit geht. Aber Axel hebt die Hand, um mir zu signalisieren, dass ich still sein soll. Da habe ich noch nicht mal einen halben Satz gesagt. Einer der Kölner kommt auf uns zu. Ich schätze, das ist der Typ, mit dem ich in Verbindung stand.

»Alles klar«, sagt Axel.

Ich weiß nicht, zu wem genau.

»Heiko. Du sorgst dafür, dass die andern bereit sind.«

Er hält seine Hand ausgestreckt vor mich, als wolle er mir den Weg versperren, und geht zu dem Kölner, der auf halbem Weg stehen geblieben ist und auf einen von uns wartet. Ich fühl mich verarscht. Schließlich war die Absprache zwischen Axel und mir, dass ich diesmal die komplette Orga übernehme. Ich versuch es runterzuschlucken. Tomek klopft mir gegen den Arm. Auf seiner Hand ist das verblichene Tattoo irgendeiner Frau. Ich sehe ihn kurz an, dann zu Boden, sage: »Was solls«, und trete meine Zigarette aus.

Kai steht mit Kippe im Maul vor dem T5 und betrachtet sich in der getönten Scheibe. Er zupft an seinen kurzen Igelhaaren herum. Alle anderen tragen die roten T-Shirts, die ich ausgeteilt habe. Er hat ein rotes Fred-Perry-Polo an. Wenigstens hat er mal den Kragen unten gelassen. Ich stelle mich neben ihn, sehe erst ihn an, dann mich selbst.

»Weißt du eigentlich, wie behämmert du bist?«

Er reagiert nicht drauf, tritt weiter von einem Fuß auf den anderen und wälzt seine Zigarette summend zwischen den Lippen. Dagegen mein Gesicht in der dunkelbraunen Fenstertönung. Ausdruckslos. Mundwinkel erdwärts. Augenbrauen zusammengezogen. Die Stirn gefurcht. Bierernst. Immerhin sind die Haare wieder schön auf einen Millimeter runtergeschoren. Ein riesiger Schatten schiebt sich ins Spiegelbild des Autofensters.

»Na, ihr Pfeifen. Lang ists her«, sagt Ulf, »bereit?«

»I was born fucking ready«, sagt Kai und schlägt seinen rechten Ellbogen in die linke Handfläche, dass es klatscht.

Ich puste Luft durch die geschlossenen Lippen. »Du bistn Spacken«, sage ich. Ich drehe mich um und sehe zu Ulf auf, der einen guten Kopf größer ist: »Is’ viel zu lang her.«

»Sag das mal Jojos schiefer Nase.«

Wir lachen. Ulf schaut den Weg hinunter. Er fragt mich, warum mein Onkel schon wieder da hinten beim Abquatschen steht. Ob ich nicht diesmal dran sein sollte. Ich nicke, ziehe gleichzeitig die Schultern hoch, sage: »Was weiß ich.«

»Kennst doch Axel«, schaltet Kai sich ein, »Onkelchen gibt ungern die Fuchtel aus der Hand.«

»Drauf gelattet. Soll er machen, wie er denkt«, sage ich.

Auch Ulf zieht die Schultern hoch. Das XXL-Shirt spannt um Brust und Oberarme. Sein Kragen sieht aus, als würde er jeden Moment platzen.

»Immerhin hast du das hier organisiert.«

Ich nicke wieder, sage, dass es mir eigentlich scheißegal ist, Hauptsache, es gibt endlich wieder Backenfutter. Seit die neue Saison läuft, hatten wir noch kein einziges Match.

Hinkel und ein paar der anderen alten Haudegen kommen vom Pissen zurück, brechen durch die Büsche. Alle stellen sich im Halbkreis um Axel auf. Schädel werden von Schulter zu Schulter gerollt. Arme gelockert. Hände ausgeschüttelt.

»Gerade machen jetzt! Geht los!«, ruft Axel.

Ich stecke mir den Zahnschutz in den Mund. Beiße drauf. Die Nervosität ist nur noch ein Nachgeschmack. Wir stellen uns in drei Reihen über die Breite des Weges auf. Das Adrenalin pumpt durch meinen Körper. Der Kopf wird leicht.

Die Truppe stampft los. Axel und Tomek einen Schritt vor uns. Ulf und Kai neben mir. Scheiße noch mal, der grinst bis über beide Ohren, steckt mich damit an. Dann gucke ich wieder geradeaus. Auf die Wand aus kahlen Köpfen und weißen Shirts, die sich uns entgegenschiebt. Sie werden schneller, brüllen: »Huren Hannoi!« Einige recken dabei die Fäuste.

Auch wir beschleunigen jetzt. Auf festen Tritt achten. Man braucht einen festen Untergrund für den Aufprall. Sonst hat man schon verloren. Sie laufen. Wir auch. Nicht stolpern jetzt! Bloß nicht Axel in die Hacken treten! Gleich. Ich spüre Hände im Rücken, die mich vor sich hertreiben. Als ob das nötig wäre. Jeden Moment!

Ein letzter Aufschrei. Der Wald verstummt. Dann prallen Körper aufeinander. Fäuste und Beine werden geschwungen. Ich seh noch Axel, wie er vom kölschen Pulk geradezu aufgesogen wird. Ein Kölner vor mir. ’Ne Faust kommt mir entgegen. Ich nehm den Schwung mit. Tauche unterm Schlag durch. Werf mich gegen ihn. Er fällt nicht. Zu stabil, der Ficker. Ist am Prusten. Um mich rum fliegen sie vorbei. Verhakt. Verkantet. Im Schwitzkasten. Schlagend. Der Glatzkopf vor mir hat ordentliche Pakete. Egal. Deckung hoch. Linksbewegung antäuschen. Er hatte den gleichen Gedanken. Ist überrascht. Sein Schlag kommt hastig. Gehe dran vorbei. Lande einen Jab gegen seinen Kiefer. Er stöhnt. Torkelt. Nicht voll erwischt. Da kommt er geduckt, hat die Hände oben. Gerade will ich wieder antäuschen, da prallt irgendwer von hinten gegen mich. Keine Chance. Seine Faust prallt direkt aufs Schlüsselbein. Hat bestimmt aufs Gesicht gezielt. Noch mal Glück gehabt. Aber das Schlüsselbein rumort. Scheint zu vibrieren. Scheiß drauf, sag ich mir. Ich springe vor. Täusche rechts. Hab ihn ausgeguckt. Hat der nicht mit gerechnet. Er reißt die Arme hoch. Nierentreffer. Er knickt ein, kann sich aber oben halten. Die Hände gehen instinktiv Richtung Niere. Sein Pech! Ich kloppe ihm einen Schwinger direkt in seine Drecksfresse. Macht den Klappmann, krümmt sich und stöhnt. Spuckt den Schutz in den Sand. Zähne verklebt mit Blut. Bleib unten! Bleib verdammt noch mal unten! Ich seh mich um. Nicht zu lange! Er bleibt liegen. Winkt ab, die Augen vor Schmerz zusammengekniffen. Meine Sicht ist so eng wie ein Nadelöhr. Hindurch seh ich Kai. Mitten im Clinch. Ein Scheißkölner zerrt ihm am Poloshirt. Kai versucht, sich loszureißen. Er dreht sich um die eigene Achse, der Kölner mit ihm, und wirbelt Staub auf. Noch ein weißes Shirt hinter ihm. Auf keinen Fall, du Hurensohn! Der Typ zieht das Bein hoch, als ich ranpresche. Erwischt mich an der Leiste. Ich verdammter Idiot! Komme aus dem Tritt, aber fang mich mit den Händen ab. Da ist er schon über mir. Kriege das Knie in die Seite. Luft bleibt weg. Versuche mich abzufangen. Meine Hand rutscht weg und biegt sich in die ungesunde Richtung. Schmerz schießt mir vom Handgelenk in die Schulter hoch. Geschmack wie Styropor in der Mundhöhle. Keine Zeit. Er kommt wieder ran. Ich schubse mich ab. Schaffe etwas Raum. Der Trottel fällt drauf rein. Gibt mir Zeit zum Aufstehen. Meine Hand ist taub. Der Ellbogen nicht. Meine linke Gerade geht in seine Deckung, und ich zieh sie etwas zur Seite. Dann zieh ich ihm den Ellbogen aufs Maul. Er geht runter. Hustet. Würgt und hält sich das Gesicht. Ich warte ab. Bleibe in Bewegung. Er nimmt die Hand weg, schaut sie an. In dicken Schwallen tropft es ihm aus einem breiten, leuchtenden Cut am linken Auge. Er bleibt unten. Bin am Keuchen. Sehe mich um. Nur noch vereinzelte, ausgepowerte Geplänkel, die sich langsam auflösen. Ich stemme die Hände in die Hüfte. Die Luft splittert wie Sägespäne durch meine pfeifende Lunge. Verdammte Zichten! Jetzt schön eine schmöken. Irgendein Gepöbel hinter mir. Gute zwei Meter weiter steht Töller in den Büschen. Sein T-Shirt baumelt in groben Fetzen von seinem Oberkörper. Ich gehe um ihn rum, seh, dass er über einem Kölner mit halbierter, blutiger Lippe steht. Der Typ hält hilflos seine Hand vors Gesicht, aber Töller drischt ihm noch zwei Dinger rein und schreit ihn dabei an. Ich packe mir Töllers Arm, die andere Hand um seine Hüfte und zieh ihn weg.

»Bist du bescheuert, Töller? Der hat doch genug!«

Er stemmt sich halbherzig gegen mich. »Das Stück Scheiße hat mir in den Sack geboxt!«

Ich ziehe ihn rückwärts aus den Büschen. Einige kommen dazu, wollen sehen, was hier abgeht, aber ich halte die Hand hoch. Alles in Ordnung. Alles geklärt. Ich stoße Töller, der an mir vorbeiwill, mit beiden Händen gegen die Brust.

»Is’ gut jetzt, Mensch! War bestimmt ’n Versehen. Selbst wenn nich’, scheiß doch drauf.« Dann hebe ich den Zeigefinger. Halte ihn ganz nah vor mein Gesicht, zeige damit auf ihn.

»Wenn ich noch einmal seh, dass du einem, der am Boden liegt, welche verpasst …«

»Was dann, Kolbe?«

Ehe ich antworte, dreht er sich weg, winkt ab.

»Ey!«, poltert Axels Stimme zwischen den Bäumen.

Sein Shirt sieht fast wie frisch gewaschen aus. Er breitet fragend die Arme aus, öffnet die Hände. Ich zeig an, dass alles okay ist, kein Problem. Ulf kommt zu mir. Sein Kragen ist eingerissen. Die Haut darunter ist schrammig und gerötet. Er beglückwünscht mich. Ich frage wieso, aber da merke ich es selbst. Der Großteil der am Boden Kauernden hat weiße T-Shirts an. Die Roten stehen. Sie skandieren: »Han-no-ver! Han-no-ver!« Meine Schultern fühlen sich so leicht an wie lang nicht mehr. Mein Magen ist wie mit Blei gefüllt und plumpst auf den Boden meines Bauchs. Ich gehe neben Ulfs massiven Beinen in die Hocke, stütze meine Unterarme auf die Knie und versuche durchzuatmen. Der Brustkorb ist wie zugeschnürt. Das Schlüsselbein wabert vor Taubheit. Der linke Arm ist schwer. Ich spucke meinen Zahnschutz in die Hand. Er verklebt mir die Handfläche mit Blut. Mein Gesicht pulsiert in heißem Schmerz. Ich sehe zu Ulf auf: »Hoffentlich gibts noch ’ne zweite Runde.«

Als ich mich beim Raststättenhalt kurz hinterm Pott verzogen hatte, um die Einzelteile des Discounterhandys auf einem nahe gelegenen Feld zu verteilen, haben sich Kai und Töller wegen irgendeinem Kleinscheiß mit einer Gruppe polnischer Fernfahrer in die Haare gekriegt. Aber Tomek entschärfte die Lage, und kurz darauf, ich kam gerade zurück, standen sie zusammen, und es wurde eine Flasche Klarer ohne Etikett rumgereicht. Axel war gerade dabei, den synchron nickenden Kai und Töller einen Einlauf zu verpassen, was der Mist da sollte, nach einem Match noch sonen Aufriss zu machen, und wer ihnen eigentlich ins Hirn geschissen hätte. So richtig energisch klang Axel aber nicht mehr, wir hatten ja alle noch den Geschmack des frischen Kantersiegs auf den Lippen.

Kurz vor Mitternacht kommen wir in Hannover an. Jeder steigt wieder in sein Auto. Auch Ulf muss los, sonst gibts zu Hause Mecker von Saskia.

Kai und ich fahren gemeinsam zum Hauptbahnhof weiter. Ich will nur noch ins Bett. Er will noch auf den Raschplatz und feiern gehen, sprich: sich irgendwo was zu poppen angeln.

Im Zapfhahn schütten wir uns noch schnell ein Pils vom Fass in die Hälse. Dann nehme ich den letzten Regio, raus nach Wunstorf. Kai hat noch versucht, mich vom Mitkommen zu überzeugen, habe aber keinen Bock auf Drecksmucke und Beck’s zu Kleinwagenpreisen. Im Grunde mag er die Dissen in der Innenstadt ja selbst nicht, aber wenn man was Billiges zum Nageln sucht, hat man da die besten Chancen. Nur sollte man sicherheitshalber den Perso der Matratze verlangen, die man da wegschleppt.

Ist Kai nämlich auch schon passiert. Da lässt er sich von soner Kleinen mitnehmen. Von wegen Eltern im Urlaub. Und dann hängt da in der Küche ein Stundenplan, zehnte Klasse, am Kühlschrank. So schnell war er nie wieder in seiner Hose, meinte er. Ich glaube, in der Nacht ist er noch in den Puff. Hat sich da ’ne umso ältere Professionelle vorgenommen. Als ethischen Ausgleich sozusagen.

Was mich betrifft, gibt es nur zwei Möglichkeiten, mich in die Schuppen am Raschplatz mit reinzuziehen: Kai hat Geburtstag, oder ich habe dermaßen getankt, dass ich nichts mehr schnalle.

***

Arnims Hof liegt mit dem Auto nur rund einen Kilometer vom Wunstorfer Bahnhof weg, wo ich meinen Achtzigerjahre-Polo geparkt habe. Von der Landstraße Richtung Autobahnauffahrt Luthe geht ein Feldweg ab, dem man folgen muss, bis man in ein kleines Waldstück kommt, in dem das Haus liegt. Da mir Arnim, als ich bei ihm einzog, sofort eingebläut hatte, die Autolichter auszuschalten, sobald ich von der Landstraße runter bin, brauche ich nachts fast eine halbe Stunde. Wenn er etwas gar nicht leiden kann, dann sind das ungebetene Gäste. Ganz besonders die Hüter des Gesetzes.

Ich biege von dem langen, baumüberspannten Feldweg in die Einfahrt ein. Neben Arnims altem Pick-up kann ich im fahlen, indirekten Lichtschein Jojos Volvo ausmachen.

Ich steige die abblätternden Stufen zur Veranda hoch und brabble vor mich hin: »Bitte hab ihn nicht abgeknallt. Bitte hab ihn nicht abgeknallt.« Dabei sehe ich Arnim mit seiner Flinte in der Hand, wie er über Jojos Leiche steht, ein Bein auf seinem durchschossenen Bauch wie Captain Morgan, und mich anschaut und fragt: »Watt denn? Unbefugtes Betreten, mien Jung.«

Vor der offenstehenden Haustür, die eigentlich aus zweien besteht, der normalen und dem Fliegengitter, horche ich für einen Moment ins Dunkel hinein. Als ich Jojos Stimme höre, verpufft mein Dankgebet, da ich daran eh nicht glaube.

Ich ziehe die Fliegengittertür auf. Sie schlägt an die Klingel, die darüber angebracht ist. Arnims »Alarmanlage«. Sofort geht das altvertraute Gekläffe hinter dem Haus los. Durch die Küchentür fällt ein rechteckiger Lichtstrahl quer durch die Miefbude in meine Richtung. Dann schiebt sich Arnims zentralgewichtiger Umriss davor.

»Wer da?«, ruft er. Ich sehe, dass er schon die Flinte in der Hand hat.

»Ich bins nur, du bekloppter Hund«, antworte ich und pfeffere meine Sporttasche ins Dunkel des Wohnzimmers. Dumpf trifft sie auf das Polster eines der alten Sofas. Ich höre, wie Jojo meinen Namen ruft. Die Hunde bellen immer noch aufgeregt. Man hört das Scheppern der Zwinger, wenn sie dagegenspringen.

»Schnauze jet–« Arnims Brüllen mündet in ein schleimgespicktes Husten. Er greift die Flinte am Lauf, setzt sich wieder an den Tisch und klopft mit der Schulterstütze mehrmals gegens Küchenfenster. Ich erwarte, dass es jeden Moment zu Bruch geht. Außer dass die Rahmen bollern, passiert aber nichts.

Jojo springt auf. Seine kurzen, kringeligen Locken hüpfen dabei. Wir schlagen ein und klopfen uns auf die Schultern. Ich spüre sofort mein Schlüsselbein, das sich über meine ganze Brust zu erstrecken scheint. Jojos Nase ist noch immer total verbeult, und der Knubbel glüht wie eine UV-Birne. Ich hole mir eine Dose Elephant Beer aus dem Kühler und setze mich zu den beiden an den Küchentisch.

»Und? Und?«, will Jojo wissen. Ich berichte ihm von der erfolgreichen Kölnfahrt und wie Axel trotz unserer Absprache mal wieder nicht das Zepter aus der Hand geben wollte. Jojo saugt jede Kleinigkeit begierig auf. Zwischendurch raunt er und sagt, wie verdammt gern er dabei gewesen wär und so. Arnim glotzt abwesend ins Dunkel, das draußen hinter den vergilbten Fenstern lauert. Seine Lunge rasselt und tut alles, damit er nicht gleich hier an Ort und Stelle erstickt. Ich beäuge ihn belustigt. Er checkt ja meistens eh nichts. Will gar nicht wissen, was für verquere Sachen schon wieder in seinem Hirn vorgehen. Jojo drückt an seiner Bierdose herum, die ein rhythmisches Klacken von sich gibt.

»Hab auch gute Neuigkeiten.«

»Lass hörn«, sage ich und kann mich nur schwer vom hypnotischen Auf und Ab von Arnims Plauze lösen.

»Ich hab die Stelle!« Jojos Stimme vollführt vor Freude einen Looping.

Ich frage, welche Stelle er meint.

»Na ja, keine Stelle. Also. Weil, ist ja kein bezahlter Job. Is’ ja Ehrenamt.«

Ich glotze ihn verständnislos an.

»Er is’ jetze Trainer bei ’n Fußball hier«, sagt Arnim, nimmt einen Schluck und guckt wieder weg. Vielleicht kriegt er doch mehr mit, als ich dem alten Sack zugetraut hab.

»Wie? Watt?«

»Ja. Nee. Also. Der Trainer von den Zweiten Herren musste aufhören. Schlachanfall. Und das macht jetzt Gerti. Ja, und ich hab jetzt seine Stelle. Trainier jetzt die C-Jugend.«

»Ach, geil, Mensch«, sage ich und halte Jojo die Dose zum Anstoßen hin. »Glückwunsch.« Wir prosten uns zu und kippen die Elefantenpisse runter.

Jojo hatte vor ein paar Jahren damit angefangen. Das war die Zeit, als es ihm so richtig dreckig ging. Nach der Sache mit Joel, die für uns alle die Hölle war. Dass dann ein paar Monate später Jojos Vater diese Riesenscheiße baut, das hatte keiner kommen sehen. Wir fürchteten schon, dass wir Jojo gar nicht mehr aus diesem Loch rauskriegen würden. Keiner wollte ihn allein lassen, und wir wechselten uns in Schichten ab. Dann, an irgendeinem random Tag, ist Jojo aufgestanden, duschte endlich mal und ging los zum Luther-Trainingsgelände. Kein Wort zu niemandem. Und siehe da, Co-Trainer der U15. Das hat ihn wieder in die Spur gebracht, damals. Sogar so weit, dass er zu seinem alten Job beim Altenheim ging und sich für das Gesaufe während der Arbeitszeiten entschuldigte. Und wieder siehe da, Jojo hatte seinen Hausmeisterjob zurück.

»Ich dacht mir, ich änder ’n bisschen was. Was das Trainingsprogramm angeht. Mach Sachen anders, als Gerti das gemacht hat«, er umrundet mit der Fingerkuppe das obere Ende seiner Bierdose, »bau vielleicht ein paar Dinge ein, die wir damals mit Joel trainiert haben. Da wollt ich dich fragen. Vielleicht hast du ja noch die Zettel, die wir damals gemacht hatten. Weißt du noch? Wo die Übungen draufstanden und das.«

Ich nicke vor mich hin und seufze. Mein Blick senkt sich immer weiter der Tischplatte entgegen. »Das is’ doch schon ewig her. Glaub nich’, dass ich die noch rumfliegen habe.«

»Ja, hier nich’, aber ja vielleicht bei deinem Vadder zu Haus?«

»Jojo, ey, echt …«, mein Mund schmeckt wieder wie Styropor, »… ja, ich schau nach, wenn ich das nächste Mal da bin.«

Er bedankt sich und trinkt. Ein Faden Bier verfehlt seinen Mund und fließt zwischen seinen Stoppeln übers Kinn. Er wischt es mit dem Ärmel von Joels alter 96-Trainingsjacke weg. Dann fällt ihm erst auf, was er gerade gemacht hat.

»Ach, Scheiße«, nuschelt er und versucht, den winzigen Bierfleck mit der bloßen Hand trockenzurubbeln.

Ich exe meine Dose und knalle sie auf den Tisch. »So, ich bin echt schweinemäßig erledigt. Glaub, ich hau mich mal in die Federn.«

Jojo kippt sich auch den Rest rein, drückt seine heruntergeglommene Zigarette aus, die er auf dem Aschenbecher vergessen hat.

»Ich mach mal los«, sagt er.

Wir umarmen uns, klopfen uns auf den Rücken. So Umarmungen gibts bei uns eigentlich nicht, aber aus irgendeinem Grund sind wir im exakt gleichen Moment exakt gleich geschaltet, so dass daraus eine ehrlich gemeinte Umarmung wird und kein peinliches Armausbreiten und Vor- und Zurücklehnen, an dessen Ende man sich dann doch die Hand reicht.

Wir gehen zur Tür. Ich will das Licht auf der Veranda anknipsen, aber es rührt sich nichts. Ich rufe rüber zur Küche, dass das verfluchte Licht draußen schon wieder kaputt is’ und halte Jojo die Tür auf. Die Glocke schellt und bringt die Hunde wieder in Aufruhr. In der Küche schreit Arnim, dass sie die Schnauze halten sollen.

»Und Glückwunsch noch mal«, sage ich und halte die Verandatür weiter auf, da sie sonst von selbst wieder zufällt.

»Besucht mich doch mal beim Training oder so. Habs Ulf und Kai noch nicht erzählt. Und«, er macht eine Faust, »geil, dass ihr die Kölner plattgemacht habt.«

Jojo steigt in den Volvo, wendet und tuckert die Einfahrt rauf. Ich hebe zum Abschied die Hand. Dann verschwindet der Wagen hinter den Birken und Weiden, die sich über die Einfahrt beugen.

Ich hole mir noch ein Bier aus der Küche. Arnims Kinn ruht einige Zentimeter über seiner Plauze und bebt von seinem Schnarchen. Ich nehme die Flinte mit, lege sie auf dem Weg nach oben auf einem Sofa ab und greife mir die Sporttasche. Die Treppe knarzt wie die Knochen eines alten Mannes.

Als ich durch den dunklen Flur gehe, höre ich hinter der ersten Tür auf der linken Seite das Schlagen von Flügeln. Es klingt trocken. Wie Sandpapier, das man gegeneinanderreibt. Der beißende Geruch von Vogelkacke hat sich überallhin ausgebreitet. Ich schließe mein Zimmer auf. Der Hartgummilappen, der an die untere Türkante getackert ist, schrappt über die alten Dielen. Ich muss mit dem Knie knapp unter dem Schloss nachhelfen und drücke die Tür ran. Dann schalte ich das Licht an. Sporttasche in die Ecke. Bier auf. Noch eine Schachtel Kippen auf dem Schreibtisch. Ich bleibe einen Moment mitten im Raum stehen. Abwechselnd trinke ich und nehme einen Zug. Spüre meinen Körper. Fühlt sich an wie durchgewalkt. Ist er ja schließlich auch. Wie müssen sich erst die Kölner fühlen, denen ich heute schön was eingepackt habe. Ich lächle zufrieden vor mich hin, dann durchzuckt meinen Kiefer wieder der Schmerz, den ich gleich darauf mit mehr Bier dimme. Ist schon wieder halbleer. Mir fällt jetzt erst auf, dass ich seit dem Morgen nichts gegessen habe. War zu nervös. Im Stehen streife ich mir mühsam die Turnschuhe ab. Dann ziehe ich mich ganz aus. Meine Klamotten bilden einen kleinen Haufen unter vielen im Zimmer. Müsst auch mal wieder zum Waschsalon. Scheiß drauf, einmal umdrehen reicht auch. Mein richtiges Handy steckt per Ladekabel noch in der Steckdose neben der Tür. Ich ziehe es ab. Es funkt, aber ich kriege keinen gewischt. Drei Nachrichten, fünf Anrufe in Abwesenheit. Alle fünf im Laufe des Tages. Alle von Manuela. Dann eine MMS von Kai, die mich zum Lachen bringt. Er hat sich selbst im Vordergrund mit freiem Oberkörper und Daumen hoch fotografiert. Hinter ihm irgendeine Tusse, die Beine zusammengelegt und vornübergebeugt, kniet sie auf der Bettdecke und streckt ihm ihren nackten Arsch entgegen. Ihr Kopf ist nicht zu sehen. Dahinter erkenne ich Kais Schlafzimmer.

»das ging schnell«, schreibe ich, »neuer rekord?«

Eine SMS von Onkel Axel: »Gut gemacht. Sehen uns dann auf der Arbeit.« Ich schreibe nicht zurück. Die dritte Nachricht ist von Manuela. Vor ein paar Stunden geschickt: »Heiko, wo treibst du dich wieder rum?? Ruf mich bitte zurück, aber nicht mehr so spät. Wir gehen um 10 ins Bett. Es geht um Papa. Haben es endlich geschafft, einen Platz in der Reha zu bekommen. Alles liebe, deine große Schwester. P.S. Schöne Grüße von Andreas.«

Ja klar, ihr Flachwichser von Ehemann lässt mir Grüße ausrichten. Ich lese die SMS noch mal und drücke meinen Daumen auf die Power-Taste, bis das Display endlich erlischt.

Ich stehe im Bad und betrachte mich im Spiegel. Mein Gesicht wird von den Rissen im Glas verzerrt, und ich muss mich drauf konzentrieren, die Teile wie ein Puzzle in meinem Kopf zusammenzusetzen. Sonst sehe ich aus wie ein Mutant oder so was. Obwohl ich davon auch nicht allzu weit entfernt bin. Die linke Gesichtshälfte ist am Wangenknochen etwas geschwollen und schimmert rötlich bis lila. Am Mund sind zwei Tropfen geronnenen Bluts, die ich lasse, wo sie sind. Noch gut davongekommen diesmal. Auch das Schlüsselbein scheint okay zu sein. Es tut zwar noch verdammt weh, doch das ist innerhalb von zwei, maximal drei Tagen vorbei. Ich stelle das Bier auf den Rand des Waschbeckens. Daneben rollt sich feuchter Staub zu etwas, das wie eine feine graue Made aussieht. Ich halte meine Hände senkrecht vor mich, drehe und betrachte sie direkt und im Spiegelbild. An sämtlichen Knöcheln hat sich unter der Haut Blut gesammelt und weiß nicht mehr, wohin. Auch außen kleben noch Reste von Blut, die ich am Waschbecken des Raststättenklos übersehen haben muss. Nicht mein Blut. Hier und da Schrammen, in deren kleinen Furchen noch Dreck sitzt. Ich sehe wieder mich an. Nicht das Mutantenspiegelbild, sondern das zusammengesetzte, echte Puzzle-Ich. Wie ich hier im Flackerschein stehe, umgeben von Fliesen, die auch bei Tageslicht nicht mehr weiß aussehen.

»Gut gemacht«, wiederhole ich und versuche, mir so in die Augen zu sehen, als ob hinter dem Spiegel eine echte Person stünde, die man loben müsste.

Ich steige in die Dusche. Eine Familie Silberfische flüchtet hastig in die Ritzen zwischen den Fliesenfugen.

Feuchte Fußabdrücke folgen mir in mein Zimmer. Ich schließe die Tür ab und ziehe mir eine Boxer über, die sofort das unabgetrocknete Duschwasser aufsaugt, und lege mich auf die Matratze. Das Wasser auf meinen Stoppelhaaren kühlt meine Kopfhaut. Ich verschränke die Arme unter dem Hinterkopf. Schließe die Augen. Ich denke an Yvonne. An ihr hübsches Gesicht und ihre rasierten Brauen, die so frei sind wie ein wolkenloser Himmel.

***

Das war nach dem Spiel der U23-Teams von Hannover und Braunschweig. Ist gar nicht so lang her, aber ich glaube, damals sagte man noch Amateure oder zweite Mannschaft dazu. Heute nennt man das die U23. Das war im guten alten Rund des Eilenriede-Stadions. Ich kann zwar normalerweise die Hosenscheißerultras nicht ernst nehmen, aber das muss man denen lassen. Die haben dem alten Kessel noch mal richtig eingeheizt an dem Tag.

Ich meine, es war in den Mitteltannen, wo wir verabredet waren. Im Hannoveraner Stadtforst. Es sollte jedenfalls, so weit es geht, von der Straße, und damit von der Bullerei, weg sein. Acht gegen zehn, weil wir nicht mehr Leute zusammenbekamen. Jungtruppe gegen Jungtruppe. Junge Hunde gegen die Coolen Säue. Klingt dämlich, wenn man so beides hintereinandersagt. Das mit den Jungen Hunden ist meine Idee gewesen. Sollte so eine Art Wortspiel sein. Die Roten Wölfe und, na ja, wir waren dann halt die Jungen Hunde. Als Kai davon erfuhr, wie ich uns nennen wollte, hat er erst einen Lachflash und dann einen Rappel bekommen.

»So kann man sich doch nicht nennen! Klingt wie ’ne Gruppe Pfadfinderschwuchteln!«, schmiss er mir an den Kopf.

Ich zuckte nur mit den Schultern und sagte, dass es doch furzpiepe is’, wie wir uns nennen.

»Hättste wenigstens Young Dogz draus gemacht! Mit ’nem Z am Ende.«

»Bist du jetzt ’n verdammter Gangster-Rapper?!«

»Nee, Alter, aber … ich mein …«, sagte er und schmiss sich mehr Pep ein, »oder hier, wie wärs mit Bloodhoundz? V’stehste? Weil Blood rot ist, so wie wir. Aber doch nich’ son Homoname.«

»Komm, lass gut sein. Is’, wies is’.«

»Siehs mal von der Seite«, sagte Jojo, »besser als wie ’ne uralte Kölner Rapgruppe.«

»Auch wieder wahr.«

Alles ging verdammt schnell. Musste verdammt schnell gehen, weil wir, wenn auch im Wald, mitten in der Stadt waren. Die Bullen hätten jederzeit mit Blaulicht durchs Unterholz brettern können. Alarmiert von einem besorgten Abendspaziergänger. Glücklicherweise regnete es, so dass nicht so viele Leute unterwegs waren. Aber durch den nassen Untergrund, auf dem schon das Wasser stand, rutschte man und musste höllisch aufpassen, sich nicht aufs Mett zu packen. Jedenfalls waren die Coolen Säue gar nicht mehr so cool drauf, als wir sie mit acht Mann so richtig rundmachten. Die prallten an Ulf ab wie der Regen, der uns stetig in die Fressen ballerte. Auch wir anderen schlugen uns beachtlich.

Ich hatte gerade einem von denen im Clinch die Kappe runtergerissen und schmiss sie ihm entgegen. Davon ließ der sich so ablenken, dass ich in Ruhe zielen und ihn ausknocken konnte. Wie der in den Matsch klatschte, werd ich hoffentlich nie vergessen. Die hatten schon so gut wie verloren, da sah ich, wie einer sich an den Gürtel griff. Der war gerade mit Kai im Gange. Bin immer noch der Meinung, da was blitzen gesehen zu haben. Ich also hin. Dachte mir noch so, auf kein’ Fall, du Arschficker, und trat ihm in die Kniekehle. Knickte sofort ein, und dann hab ich ausgeholt. So richtig. War ja genug Zeit. Und donner dem Typen so einen brutalen Schwinger gegen die Kopfseite. Kai sah mich überrascht an, und ich wusste im ersten Moment nicht, warum er jetzt so große Augen machte. Muss ein heftiger Schlag gewesen sein. Der Braunschweiger lag. Lag da mit dem Gesicht in der Regenpampe, wie ein Fisch an Land. Der zuckte wie blöd, und aus seinem Ohr rann Blut. Wusste nicht, was ich davon halten sollte. Das ganze Adrenalin und die Wut wegen der ganzen Scheiße und der Alk vorher beim Spiel. Kann mich nur noch erinnern, wie Kai schnell Tomek holte. Der hatte das Ganze mit angesehen. Axel war wegen irgendwas verhindert und hatte Tomek als Aufseher geschickt, um zu berichten, wie wir uns so machten. Haben die richtig plattgemacht. Tomek und Kai brachten mich sofort weg. Hab noch zurückgeschaut, wie sich zwei von den Braunschweigern den Typen nahmen, die Arme um die Schultern schwangen und wegzogen.

Axel wollte mir nicht glauben, dass ich ein Messer gesehen hatte. Bin aber immer noch der Meinung, dass da eins war. Hat nur keiner dran gedacht, hinterher im Gras nachzuschauen. Es mussten sich ja auch alle verpissen, weil man schon Sirenengejaul hörte, das über den Baumwipfeln anstieg. Trotzdem war Axel ziemlich beeindruckt. Mit zwei Mann weniger. Gegen Braunschweig. Er nannte es ’nen wichtigen Sieg für Hannover und meinte damit nicht das Fußballspiel der zweiten Mannschaften. Ich erzählte das mit dem Messer auch Kai, und der kriegte sich gar nicht mehr ein und feierte mich himmelhochgröhlend, und als ich ihn fragte, ob er das Messer gesehen hatte, sagte er irgendwas wie: »Nicht direkt, aber ich bin der Meinung, dass da definitiv was ins Gras gefallen ist. Definitiv!«

***

Ich nehme die Hochstraße, um zum Haus meines Vaters zu kommen. Es liegt am anderen Ende von Wunstorf, in einer Straße mit anderen ehemaligen Bauernhöfen. Die Straße ist im Grunde eine Sackgasse, auch wenn die Stadt zu faul oder zu pleite – oder beides – ist, um ein Schild anzubringen. Der Asphalt hört irgendwann einfach auf und geht direkt in die Felder über, die sich dahinter über die Ebene erstrecken. An einem Tag wie heut hat man da so einen weiten Blick über das flache Land, dass man fast glaubt, man könne in den Himmel fallen. Selbst an trüben Tagen kann man meistens noch bis zum Kaliberg sehen, der je nach Wetter anders aussieht. Mal weiß wie Pommessalz, mal grau wie Beton.

Ich bin mit Kai, Jojo und Joel da mal eingebrochen, auf das Gelände von der Kali & Salz. Sind bis auf den Gipfel hochgestiefelt, wo das Salz abgebaut wird. Jojo und Joel hatten einen Drachen mit, den sie steigen lassen wollten, und der ging so richtig ab da oben. Kai und ich wussten selber nicht, warum wir da jetzt eigentlich raufwollten. Sind dann irgendwie auf den Kieker gekommen, da runterzuspringen, aber das war der totale Reinfall. Auf der einen Seite ging es bestimmt 30 Meter steil bergab, was der sichere Tod gewesen wäre. Und auf der anderen Seite, da wo wir hoch sind, war es so flach, dass wir nach zwei Metern schon wieder auf den Beinen landeten. Am Ende haben wir dann ein Wettrennen bergab gemacht. Kai hatte irgendwann so einen Affenzahn drauf vom Gefälle, dass er das Gleichgewicht verlor, stolperte und wie ein Fass den halben Abhang runterrollte. Am Fuß des Berges blieb er reglos liegen, und wir drei schoben den übelsten Film, aber als wir uns Kais daliegendem Körper näherten, sprang er auf und lachte sich den Arsch ab. Seine Kleidung war total zerfetzt, und er hatte überall blutende Schrammen. Von seinem Schienbein hing so ein Lappen Haut runter. Das weiß ich noch, weil Joel sofort göbeln musste, als er das gesehen hat.

Ich drücke auf die Klingel, und bevor ich nur einen Gedanken dran verschwenden kann, sofort wieder umzudrehen und ins Auto zu steigen, reißt meine Schwester schon die Tür auf.

»Heiko. Schön. Endlich. Da bist du ja.«

Sie öffnet ihre Arme, und zögernd trete ich einen Schritt auf sie zu. Dann drückt sie mich an sich. Ich komme mir dämlich vor, wie ich da so in Manuelas Umarmung stehe, die Arme an beiden Seiten runterhängend. Sie drückt mehrmals zu, und ich erbarme mich und lege ihr auch einen Arm auf den Rücken. Das scheint sie endlich zufriedenzustellen, und sie lässt los und sagt, dass ich reinkommen soll. Ich folge ihr in die große Diele, von der alle Zimmer des Hauses abgehen. Sie geht vor und verschwindet hinten rechts durch die Küchentür. Meine Augen müssen sich erst mal an das diesige Licht gewöhnen. Wegen der schieren Größe des Raumes und weil es bis auf die verglaste Haustür keine Fenster gibt, liegt das meiste im Dunkel. Hier war im Hochsommer immer der beste Ort, wenn ich mich abkühlen wollte. Ich legte mich dann in Unterhose auf die schwarzen Dielen und ratzte weg, bis mich meine Mutter oder Hans mit einem Tritt weckten, dass ich hier nich’ im Weg rumliegen solle. An der rechten Wand, bis zur Küche, stehen noch die alten Schränke mit den Glasvitrinen. Die gab es schon, als das noch das Haus meiner Großeltern war. Ich bleibe kurz davor stehen und seh mir die Sachen hinter dem Glas an. Wenn hier jemand Fremdes reinkäme, der würde sich fragen, was für geschmacksverirrte Leute hier hausen. Zugegeben, ich stelle mir immer wieder dieselbe Frage, aber ich weiß zumindest, dass der merkwürdige Mischmasch an Krams daher kommt, dass hier drei Generationen von Frauen gelebt haben. Auf den selbstgeklöppelten Platzdeckchen meiner Oma stehen noch die gruseligen Porzellanfigürchen von Engeln, Katzen und Hunden meiner Mutter. Warens ihr wohl nicht wert, sie mitzunehmen. Daneben stehen kleine goldene, fettbäuchige Buddhastatuen und lila-gold beschmückte Holzelefanten. Mies Beitrag zu dem Wirrwarr. Jetzt kommt mir erst in den Sinn, dass Mie die vielleicht gar nicht selbst da reingestellt hat. So ein Zeug findet doch kein echter Thailänder gut. Das ist doch eher so ein Bullshit, der für Wucherpreise an westliche Touris verschachert wird. Vielleicht hat mein Vater die damals gekauft und aufgestellt, weil er dachte, dass Mie sich so mehr wie zu Hause fühlt.

»Heiko, bist du noch da?«

Manuelas Kopf lugt seitlich aus dem Türrahmen. An ihrem Hals baumelt die Brille, die sie nicht braucht und die sie nur hat, damit sie pädagogischer wirkt. Ich höre Hans’ Stimme aus der Küche. Er sagt irgendwas. Ich kann aber nicht verstehen, was.

»Papa, ist gut«, dann wieder zu mir, »jetzt komm. Der Kaffee wird kalt.«

Wie sie das Ende von Kaffee betont. So gewollt überkorrekt, damit sie auch ja nicht Kaffe sagt. Da stellen sich mir die Arschhaare auf. Fast stoße ich mir den Kopf an der tiefen Decke, so lange war ich nicht mehr hier. Manuela wuselt durch die kleine Küche. Tageslicht fällt spärlich durch die Fenster und die Terrassentür. Mie steht an der Spüle und wäscht Geschirr ab. Mein Vater sitzt am Tisch, die Unterarme links und rechts neben seinem Teller, der schon voller grober Kuchenkrümel ist. »Tach«, nuschel ich. Mie dreht sich kurz um und flüstert ein Hallo. Das nehme ich zumindest an. Früher hat mich das teilweise rasend gemacht, wie leise sie ständig ist. Heute, da ich nicht mehr hier wohnen muss, ist mir das herzlich egal. Sie tut es zwar verdeckt, aber ich kann trotzdem sehen, wie Manuela unserem Vater einen Stupser verpasst und auch er sich zu einem »Tach« erbarmt, bevor er sich noch ein Stück Kuchen auf den Teller packt.

»Setz dich, setz dich«, bittet Manuela und schenkt mir sofort Kaffee ein. Ich hole meine Zigaretten raus und lege sie neben meinen Teller. Sofort hat Manuela den Ascher parat und stellt ihn geräuschvoll vor mich auf den Tisch.

Die nächsten Minuten, in denen niemand einen Blick wechselt, quälen sich dahin. Mie stellt noch eine Schüssel mit braunen Bällen neben den Teller mit Bienenstich. Dann sitzen endlich alle am Tisch.

»Was ist das, Mie?«

»Kai nok –«, den Rest versteh ich nicht, weil es Thailändisch ist und ins Lautlose ausfadet.

Sie scheint zu überlegen, wie man es ins Deutsche übersetzen kann, kommt aber zu keiner Lösung. Auch weil Manuela so nickt und »Aha« sagt, als wüsste sie genau, was diese dampfenden Bullenklöten sind.

Ich ziehe mir eine Zigarette aus der Schachtel, und während ich sie anzünde, hebelt Manuela mir ein Stück Bienenstich auf den Teller. Erst dann fragt sie: »Bienenstich?«

Ich wedle unbestimmt mit der Hand und asche ab. Mein Vater sieht zum ersten Mal rüber. Er starrt meine Zichten an und leckt sich über die Oberlippe. Auch wenn es schon Jahre her ist, dass er sich den alten Pornobalken abrasiert hat, an den Anblick seiner nackten, schweißperlenbedeckten Oberlippe hab ich mich noch immer nicht gewöhnt.

»Haste mal eine?«, fragt er und guckt mich nicht eine Sekunde dabei an, sondern spricht zu der Schachtel selbst.

Ich ziehe langsam und genüsslich an meiner Zigarette, asche ab, ziehe noch mal dran und lege sie auf den Aschenbecher. Dann schnippe ich gegen die Schachtel. Sie rutscht quer über die Tischplatte, an Manuela vorbei, und prallt gegen Hans’ Teller. Er nimmt sich eine und tastet seine Hose ab. Findet nichts, und jetzt sieht er mich an, die Fluppe schon zwischen den Lippen.

»Haste mal Feuer?«

Seine Augen sind gleichzeitig glasig und wässrig. Wie ein Aschenbecher, in den jemand versehentlich Bier verkippt hat. Ich schnippe das Feuerzeug hinterher.

Nachdem nun die ganze Rauchsache durch ist und Manuela ihr Hüsteln aufgegeben hat, kommt sie endlich zur Sache. Ihr missbilligender Blick, der perfekt zu ihrem strengen Dutt passt, in den sie ihre braunen Haare gezwängt hat, bleibt unverändert. Sie kann das Geschlote nicht leiden, muss sich aber geschlagen geben, weil sie in der Unterzahl ist und nicht in den eigenen vier Wänden. Wenigstens hat sie gelernt, in solchen Situationen schnell einen Ascher parat zu haben, denn sowohl mir als auch Hans ist es ziemlich wumpe, wo wir abaschen.

»Schön, dass wir endlich mal wieder beieinandersitzen.«

Keiner reagiert. Nur Mie lächelt irgendwo zwischen Verlegenheit und Zustimmung.

»Aber es gibt ja auch einen Anlass«, sagt Manuela weiter, »es ist mir endlich gelungen – zugegeben, mit etwas Vitamin B seitens Andreas’ –, von der Krankenkasse einen Reha-Platz für Papa genehmigt zu bekommen.«

Hans lässt einen verächtlichen Grunzer los, der sich original so anhört, als wäre sein Mund ein Arschloch. Davon lässt sich Manuela aber nicht aus der Fassung bringen. Das macht die jahrelange Erfahrung.

»Und er mu-«, sie räuspert sich, »wird bis November nach Bad Zwischenahn gehen.«

»Hmhm«, brummel ich an dem trockenen Klotz Bienenstich in meinem Mund vorbei. Ich fürchte, den hat sie selber gemacht.

Die Frage, was das mit mir zu tun hat, verkneife ich mir lieber, weil ich echt keinen Bock auf großes Palaver habe. Sie wird eh gleich darauf zu sprechen kommen, warum das Ganze auch mein Bier sein soll.

»Ich werde ihn nächste Woche persönlich hinbringen«, weil sie auf Nummer sicher gehen will, dass er auch wirklich da hingeht, aber das lässt sie natürlich aus.

»Natürlich muss sich in der Zeit jemand um Papas Tauben kümmern«, aha, daher weht der Wind also, »und da ich mit der Arbeit wirklich keine Zeit habe, mich auch noch darum zu kümmern – die Kinder sind so einnehmend in ihrem Alter, und ich habe nach der Schule so viel vor- und nachzubereiten, zu korrigieren, da schaffe ich das einfach nicht –, und Mie sich vor den Vögeln gruselt, da dachten wir«, sie sieht Hans an, wohl in der Hoffnung, seinen Blick aufzunehmen, aber der glotzt weiterhin seinen Bienenstich an, »da dachte ich, dass du das doch machen könntest, Heiko. Du hast doch Opa früher immer beim Füttern der Tauben geholfen. Da weißt du ja auch noch, wie alles funktioniert.«

Das ist gut zwanzig Jahre her.

»Das wäre wirklich eine große Hilfe für uns alle, Heiko.«

Warum ich seit damals keinen Fuß mehr in den Stall gesetzt habe, meinem Vater, der das Taubenzüchten von Opa übernommen hat, nie beim Füttern geholfen habe, das hat sie scheinbar komplett verdrängt. Passt ihr ja auch gut in den Kram.

Während ich das letzte Stück Bienenstich runterhucke, gehe ich schnell diverse Ausflüchte durch, von denen keine standfest genug ist gegen das, was Manuela mir anschließend an den Kopf hauen würde. Ihre verankerten Mundwinkel lockern sich, und die fast schon eckig wirkenden Augen entspannen sich ein wenig. Sie merkt wohl, dass mir kein guter Einwand in den Sinn kommt. Ich will das wirklich, wirklich nicht tun, aber mal wieder scheint mir irgendeine wichtige Verbindung vom Hirn zu meiner Fresse zu fehlen.

»Dann ist es also abgemacht«, beschließt sie und nimmt als Erste eines der Bällchen von Mie. Sie beißt ab und kann ihr Mundverziehen gerade noch zu einem Lächeln verbiegen. Ich sehe sie an, wie sie Mie gespielt zulächelt. Mie lächelt unsicher zurück. Dann seh ich meinen Vater an, der gerade ein Anstarrduell gegen seinen Kuchen führt und wahrscheinlich nur an die nächste Kanne denkt. Kann ich ihm nicht mal verdenken. Mir geht es auch nicht anders. Hier zu sitzen, an diesem Tisch, in diesem Haus. Mit meiner biologischen Familie. Gottverdammte Scheiße, ich würde mich am liebsten sofort mit der nächstbesten Kanne Bier ersäufen. Hat ja alles keinen Sinn, denke ich und klopfe auf den Tisch, sage: »Gut.«

Das reißt die anderen aus den Gedanken, in die sie gerade vertieft waren. Ich stürze meinen Kaffee hinter, stehe auf und grabsche über die Tischplatte nach meinen Rauchsachen.

»Muss dann mal los«, sage ich, »noch was zu tun.«

Mit dem Abgang hat selbst meine Schwester nicht gerechnet, die vor sich hin stottert, in Windeseile versucht, irgendeinen Mist zu finden, über den sich noch reden ließe. Keinen Bock. Ich drehe mich auf der Stelle um, klopfe zum Abschied im Vorbeigehen gegen den Türrahmen, schaue nicht zurück, bin durch die Diele, aus der Haustür und bugsiere meinen Polo rückwärts aus der Einfahrt.

***

Das Wotan Boxing Gym ist eine ehemalige Fabrikhalle in Hannover-Stöcken. Onkel Axel erzählte mir mal, dass hier früher Kugelschreiber oder Füller hergestellt wurden. Die Firma ging pleite. Axel, dem früher anteilig eine Bar am Steintor gehörte, ließ sich auszahlen und kaufte die Kaschemme für ’nen Appel und ’n Ei und eröffnete die Muckibude. Die Klientel besteht hauptsächlich aus mindererfolgreichen Kampfsportlern, Atzen aus dem Security-Bereich und Bikern. Und leider auch so einigem an rechtem Gesocks. Muss man sich natürlich auch nicht wundern, wenn man sein Gym nach einem germanischen Gott benennt. Wenn ich das Sagen hätte, dann würde hier keiner von den Glatzen reinkommen. Nur hab ich hier so gut wie gar nichts zu melden, so als Mädchen für alles. Geräte richten, Gewichte sortieren, hier und da mal Schweiß oder Blut wegwischen. Außerdem kriegt man hier so einiges mit, das man besser nicht in seinen Lebenslauf schreiben sollte. Seit gut fünf Jahren mach ich den Job schon. Seit ich zum zweiten Mal durchs Abi gerasselt bin. Aber trotz der Scheiße, die ich hier gesehen habe und tagtäglich mit anhören muss, kann ich mir nichts anderes vorstellen. Mir geht kein schlipstragender Chef auf die Nüsse, Axel lässt mich größtenteils machen. Ich kann hier trainieren, wenn ich Bock habe. Und ich verdiene noch dazu mehr als genug zum Leben.

Gerade bin ich dabei, die Schutzüberzüge der Ringecken zu kontrollieren und, wenn nötig, noch mal festzuzurren. Wir haben einen Boxring in Wettbewerbsgröße und zwei kleinere, die ausschließlich zum Sparren da sind.

»Moin, Heiko.«

Gaul steckt seinen vollbärtigen Pferdeschwanzkopf zwischen den Ringseilen hindurch. Seine Hände, mit denen er sich an einem Seil festhält, sind komplett mit Totenschädeln zugehackt. Hat er selber gemacht. Mit der jeweils anderen Hand. Gaul ist Biker und Teil des Hannoveraner Chapters der Angels, dem größten in ganz Deutschland. Und er ist der Haustätowierer der Angels. Wir gehen aber auch immer zu ihm. Uns tätowiert er natürlich nicht in deren Clubhaus, sondern bei sich zu Hause am Küchentisch. Er hat mir aber auch schon in der Umkleide vom Gym was gestochen. Anderweitige Kundschaft hat er keine mehr, weil er sozusagen auch hier im Gym arbeitet. Sowie in einigen Clubs und Bars. Hauptberuflich vertickt er Zeug für die Motorradgang. Ich halte zwar nichts von der ganzen Anabolika- und Steroidscheiße, aber ich bin auch der Letzte, der irgendjemandem was vorschreibt.