Hoppla, da kommt Anika - Hannelore Deinert - E-Book

Hoppla, da kommt Anika E-Book

Hannelore Deinert

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Beschreibung

Liegt es an Anikas Interesse und Teilnahme an anderen Geschicken, immer wenn sie auftaucht geschieht das Ungewöhnliche. Einmal rettet sie gestrandete Quallen, eine davon entpuppt sich als verzauberte Prinzessin derer von Oranien und weil Anika sie ins Meer zurück bringt gewährt sie ihr drei nicht ganz ungefährliche Reisen in die Holländische Vergangenheit. Oder sie kommt mit ihrer Freundin auf ein Gestüt, wo in der hintersten Box eine blinde Stute ein Gnadendasein fristet. Diese Stute aber hat ein Geheimnis. Eine andere Freundin begleitet sie bei deren schmerzlichen Einsicht, dass ihre Oma tot ist und nicht wiederkommt. Durch ein Hochzeitsbild aber meldet sich Oma zurück, denn sie hat mit allzu schwerem Gepäck die letzte Reise angetreten. Von sechs außergewöhnlichen Abenteuern wird berichtet, in denen Anika eine entscheidende Rolle spielt

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Inhalt:

Die Mondschein Stute

Die Quallenprinzessin

Omas später Besucher

Bauernhofzirkus

Der Falkenfreund

Insel der kleinen Drachen

Die Mondschein Stute

Aus der Dunkelheit geborgen.

Annegret von Wurmapfel wurde am ersten Tag des neuen Schuljahrs, es war ihr erster Schultag in der Gundernhäuser Grundschule, von ihrer Mutter im offenen Sportwagen gebracht und in das Klassenzimmer der 4b begleitete.

Die bereits anwesenden Schüler und Schülerinnen beobachteten, wie Frau von Wurmapfel, eine sehr elegante, hochmütig aussehende Frau mit blonder, perfekt sitzender Kurzhaarfrisur und sorgsam geschminktem Gesicht, kurz mit Frau Bremer, ihrer Lehrerin sprach und dann wegging. Sie hinterließ einen zarten Veilchenduft und natürlich ihre Tochter Annegret von Wurmapfel.

Die zweiundzwanzig Mädchen und Jungs der Klasse 4b, unter ihnen die Freundinnen Anika Steinert und Gundula Fischer, drückten nun schon drei Jahre zusammen die Schulstühle und werden es voraussichtlich noch ein weiteres Jahr tun. Sie hingen ihre Schulranzen an die seitlich an den Tischen befindlichen Haken und nahmen ihre gewohnten Plätze vom Vorjahr ein. Die Neue blieb bei Frau Bremer neben dem Lehrerpult stehen.

Frau Bremer hieß ihre Klasse nach den Sommerferien willkommen, dann stellte sie die neue Mitschülerin vor.

„Das ist Annegret von Wurmapfel“, erklärte sie. „Seit diesem Sommer wohnt sie mit ihren Eltern in Gundernhausen. Sie ist noch ein wenig fremd bei uns, deshalb seid besonders nett und hilfsbereit zu ihr! Annegret, neben Norbert ist noch ein Platz frei, da kannst du dich hinsetzen.“

„Hallo!“, grüßte Annegret kein bisschen scheu in die Klasse hinein und ging zu dem ihr zugewiesenen Platz neben Norbert.

Die Schultische im Klassenraum der 4b waren in U Form aufgestellt, so dass jedes Kind freie Sicht auf die Tafel und das Lehrerpult hatte, allerdings hatte auch die Lehrerin ihre Schüler gut im Blick, was nicht jedem gefallen konnte, wie man sich denken kann. Jetzt jedenfalls konnte die Neue ausgiebig studiert werden.

Keine Frage, Annegret von Wurmapfel war ein feines Mädchen, ihr blondes, seidiges Haar war im Nacken mit einem hellblauem Glitzerband zusammengehalten, die Taschen und Hosensäume ihrer Jeans waren mit Strasssteinen bestickt, so wie ihre hellblauen Ledersandalen. Kurz gesagt, sie war ein echter Hingucker, ihre hochmütige Miene verriet, dass sie das auch wusste.

Als sie sich neben Norbert gesetzt hatte, begegnete sie mit ihren kornblauen Augen freimütig, man könnte fast sagen herausfordernd den teils abschätzenden, teils bewundernden Blicken der anderen Schüler. Also, schüchtern war Annegret eigentlich nicht, fand Anika.

In der großen Pause erfuhr jeder der es hören wollte oder nicht, dass Annegrets Eltern ein großes Pferdegestüt besaßen und ihre Pferde schon viele Rennen gewonnen hatten. Die Kinder waren beeindruckt, auch Anika, aber dann wurde es den meisten zu langweilig und sie widmeten sich zu Annegrets Leidwesen wieder dem üblichen Spielen und Toben.

Anika und Gundula turnten das Klettergerüst hinauf, um oben, auf ihrem Lieblingsplatz ihre Pausenbrote zu essen, als sich Annegret von Wurmapfel näherte. Sie lächelte gewinnend zu Anika hinauf und fragte sie: „Magst du einen Schokoriegel, Anika? Ich kann dir gerne einen abgeben. Komm runter und lass‘ uns ein wenig spazieren gehen.“

Anika biss in ihr Brot und wollte hinunterklettern, da bemerkte sie Gundulas abweisendes Gesicht, Gundula mochte Annegret von Wurmapfel offensichtlich nicht besonders. „Ach, lass mal, Annegret“, meinte sie, obwohl ihr das Wasser im Mund zusammenlief. „Wir essen gerade unser Pausenbrot, weißt du!“

„Na, dann nicht!“ Annegret schlenderte leicht gekränkt davon. Wie ein Affe auf einem Klettergerüst herumzuturnen fand sie ausgesprochen kindisch.

Gundula Fischer war, muss man sagen, ein rechter Rabauke, immer hatte sie eine verrückte Idee auf Lager. Zum Beispiel im Bach einen Staudamm aus Schlamm und Pflastersteinen bauen oder leere Schneckenhäuser sammeln, sie hatte schon einige Einmachgläser voll davon. Kein Baum war zu hoch und kein Hindernis zu schwer für Gundula, vor allem aber liebte sie alles, was vier Pfoten oder Hufe oder mehrere Beine hatte oder auf dem Bauch kroch. Gundula war ungemein tierlieb.

Über ihr Aussehen machte sich Gundula wenig Gedanken, es sei denn, sie erblickte sich zufällig in einen Spiegel, dann konnte es sein, dass sie sich genauer unter die Lupe nahm. Dann fand sie ihre kreisrunden Nasenlöcher zu groß, die Augenbrauen zu üppig, den flaumigen Leberfleck daneben unmöglich und erst recht die verschieden großen Ohren, die sie, wenn sie sich Mühe gab, einzeln bewegen konnte. Dann übte sie eine Weile das Faxen machen, denn damit konnte man wunderbar Leute erschrecken oder zum Lachen bringen. Anika nicht, die hatte sich schon daran gewöhnt. Ansonsten hielt sich Gundula nie lange mit Äußerlichkeiten auf, ihr dichtes, sonnenhelles Braunhaar hatte einen pflegeleichten Pagenschnitt und auch sonst trug sie vorrangig verwaschene, geräumige Latzhosen, außer bei seltenen Feierlichkeiten natürlich.

Anika und Gundula waren allerbeste Freundinnen.

Aber nun erkor sich Annegret von Wurmapfel ausgerechnet Anika zur Freundin, und Annegret bekam grundsätzlich was sie wollte.

Anika wohnte mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder Tom am Rande von Gundernhausen, einer beschaulich zwischen Äcker und Wiesen gelegenen, kleinen Gemeinde am nördlichen Rande des Odenwaldes. Hinter dem Garten ihres Elternhauses gluckerte, so wie bei allen Einfamilienhäusern der Bahnhofstraße, in einem Graben ein Bächlein vorbei, ein unermessliches Arial für Entdecker und unternehmungsfreudige Kinder.

Gundula, die gegenüber in einem der Wohnblocks wohnte, holte heute, so wie jeden Mittwochnachmittag, ihre Freundin und deren Bruder Tom zur Singprobe ab.

Sie hatten ungefähr zehn Minuten zum evangelischen Gemeindehaus und zur daneben liegenden, hübschen Kirche zu laufen. Am Kirchenportal blieben sie wie immer kurz stehen, um das Plakat darauf zu betrachten. Es kündigte ein Singspiel an, es hieß, „Peter und der Wolf“, war nach einem russischen Märchen verfasst und sollte im November in der evangelischen Kirche, vom evangelischen Kinderchor aufgeführt werden. Es war wirklich ein sehr gelungenes Plakat, fanden sie auch dieses Mal.

Als sie den Musikraum betraten waren die meisten Chorkinder und der sympathischer Musikstudent, Lothar Kabusch, der den Chor leitete, schon da. Selten fehlte ein Kind, denn die insgesamt elf Sängerinnen und Tom, er war der einzige Junge, wussten, dass es auf jedes Kind und auf jede Übungsstunde ankam, Herr Kabusch konnte sich voll auf seinen kleinen Chor verlassen. Tom sang mit seiner hellen, klaren Stimme den Solopart des Peters.

Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, setzte sich Herr Kabusch an das Klavier und gab mit Hilfe einer Stimmgabel den Ton an.

„Wir fangen wie immer mit der Tonleiter an, Kinder“, meinte er aufmunternd. „Denkt daran die Münder weit aufzumachen, damit ein klarer Ton herauskommen kann. Eins, zwei und ...!“

Da ging die Tür auf und Annegret von Wurmapfel kam in Begleitung eines großen, kräftigen Mannes herein, er trug eine Reithose und auf Hochglanz polierte Stiefel.

„Entschuldigung!“, polterte er, ging auf Herrn Kabusch zu und gab ihm burschikos die Hand. Anika hatte den Eindruck, dieser Mann duldete keinen Widerspruch, von wem er auch kommen mochte.

„Mein Name ist Hugo von Wurmapfel“, meinte er forsch. „Meine Tochter Annegret möchte probeweise einer Singstunde beiwohnen. Sollte es ihr gefallen, dann wäre es durchaus möglich, dass sie ihrem Chor beitritt! Meine Tochter ist sehr begabt, müssen Sie wissen, sie war bislang Mitglied des Darmstädter Kikeriki- Theaters!“

Auch Annegret reichte Herrn Kabusch die Hand, dann streifte sie mit einem raschen, prüfenden Blick die geduldig dasitzenden Chorkinder.

„Gerne“, meinte Herr Kabusch etwas zurückhaltend. „Setz’ dich auf einen freien Stuhl, Annegret. Um fünf Uhr ist die Probe zu Ende, Herr von Wurmapfel. Auf Wiedersehen.“

„In Ordnung!“ Herr von Wurmapfel lächelte seiner Tochter noch einmal zu. „Bis gleich, Annegretchen, und viel Spaß!“

Er verließ den Raum und Annegretchen suchte sich einen Platz.

Aber keinen freien Stuhl, wie man glauben könnte, weit gefehlt, sie trat vor Gundula, die neben Anika saß, und meinte herablassend: „Rück doch mal beiseite, Gundula, ich will mich neben Anika setzen!“

Gundula, ziemlich verblüfft, stand tatsächlich auf und nötigte ihre Nachbarin sich gleichfalls auf den nächsten Stuhl zu setzen, wobei diese wiederum ihre Nachbarin zum Weiterrücken nötigen musste und so fort. Es entstand ein umständliches Stühle rücken, bis endlich wieder alle saßen.

Dann aber stellte sich heraus, dass Annegrets Begabung ganz sicher nicht das Chorsingen war, sie sang laut und beherzt, aber falsch, die Chorkinder gerieten total aus dem Konzept. Herr Kabusch bat sie mehrmals, erst einmal zuzuhören, aber Annegret behauptete eigenwillig, dass sie nur lernen kann, wenn sie mitsänge. Nach einigen Versuchen und einem halb belustigten, halb empörten Tumult brach Herr Kabusch für dieses Mal die Chorprobe vorzeitig ab.

Annegret fand das nicht schlimm, sie plauderte angeregt mit Anika.

„Wie wäre es, Anika, wenn du mich besuchen würdest“, tuschelte sie ihr gut verständlich zu. „Es ist nicht weit bis zu unseren Stallungen. Du kennst doch die Pferdekoppeln gleich hinter den letzten Häusern von Gundernhausen, Richtung Dieburg, sie gehören meinen Eltern. Ich bin jeden Nachmittag dort, denn derzeit trainieren wir für das Dieburger Herbst-Trabrennen, du hast bestimmt schon davon gehört. Wenn du willst, können wir zusammen ausreiten.“

Natürlich wusste Anika vom Trabrennen, die Plakate davon waren ja nicht zu übersehen. Sie versuchte Gundula, die von Annegret komplett verdeckt war, anzuschauen und meinte ausweichend: „Ich kann nicht reiten. Außerdem bin ich Morgen mit Gundula verabredet.“

„Das Reiten ist ganz einfach, Anika, ich werde es dir beibringen“, lockte Annegret und schaute flüchtig über ihre Schulter zu Gundula. „Sie brauchen wir nicht, zum Reiten ist sie viel zu ungelenk. Das arme Pferd, auf dem sie sitzen würde, täte mir leid!“

Gundula hörte es, stand auf und ging zu Tom, der schon wartend an der Tür stand.

„Gundula ist meine Freundin“, meinte Anika und stand gleichfalls auf, Annegrets abfälliger Ton gefiel ihr nicht. „Wenn sie nicht mitkommen kann, dann komme ich auch nicht!“

„Na, gut“, lenkte Annegret ein und dachte sich, dass Anika über die Pferde ihre Freundin rasch vergessen haben wird.

Herr von Wurmapfel kam, um seine Tochter, sein einziges Kind, abzuholen.

„Hat es dir gefallen, Mäuschen?“, fragte er gleich. „Willst du wiederkommen?“

„Oh, ja, Papa“, meinte Annegret fröhlich. „Es hat mir sehr gut gefallen.“

„Ganz wunderbar! Dann also bis nächste Woche!“ Herr von Wurmapfel verschwand mit seiner Tochter, ohne das bedenkliche Gesicht von Herrn Kabusch beachtet zu haben. Der wollte ihm eigentlich vorschlagen, dass Annegret besser erst nach den Herbstferien kommen solle, weil sie sich jetzt nicht mehr in das Musikstück einfinden könne.

„Uff“, stöhnte Tom, „wenn die jetzt zu jeder Probe kommt, dann können wir unser Musical getrost vergessen!“

Am nächsten Nachmittag begleitete Frau Steinert ihre Tochter Anika und deren Freundin Gundula hinaus zu den Stallungen und Pferdekoppeln. Sie fuhren mit den Fahrrädern, denn wenn sich auch nach Annegrets Beschreibung das Wurmapfel-Gestüt gleich hinter den letzten Häusern von Gundernhausen befand, so war es zu Fuß doch zu weit.

Auf der ersten Koppel, die sie erreichten, grasten Pferde, einige Fohlen sprangen ausgelassen herum, hier musste es sein. Frau Steinert und die Mädchen stiegen von den Rädern und lehnten sie an das Gatter. Sie schauten zu dem, wie es aussah, neugebauten Stallgebäude hinüber, die oberen Hälften der vielen Türen waren aufgeklappt. Sie überlegten, ob sie einfach hineingehen oder lieber rufen sollten, als Annegret mit ihrer Mutter aus dem Stall kam, beide in sportlichen Reitdressen. Hinter ihnen kam ein Stallbursche, der sich sichtlich mit einem Sattel abplagte.

„Hallo!“, rief Anika hinüber. Annegret bemerkte ihren Besuch, kam herüber und öffnete das Gattertor. „Schön, dass du gekommen bist, Anika“, freute sie sich, Gundula übersehend.

Frau von Wurmapfel winkte dem Besuch ihrer Tochter kurz zu und folgte dann mit festem Schritt dem Burschen, der den Sattel zu zwei wunderschönen Pferden schleppte und ihn einem davon auf den Rücken schwang.

„Hallo, Annegret“, grüßte Frau Steinert das Mädchen und registrierte ihr hochmütiges Gesicht. Annegret grüßte zurück, ließ Anika und Gundula eintreten und schloss hinter ihnen wieder das Gattertor.

„In einer Stunde hole ich euch ab, Anika“, erinnerte Frau Steinert ihre Tochter und setzte sich auf ihr Fahrrad, auf dessen Gepäckträger ein großer Einkaufskorb befestigt war. „Bis dahin viel Spaß!“

Annegret führte Anika in den Stall, Gundula trottete hinterher und schaute sich schüchtern um. Die Boxen zu beiden Seiten waren leer, nur ein Stallbursche räumte mit einer Mistgabel schmutziges Stroh und Spreu auf den Mittelgang, wobei er tüchtig Staub aufwirbelte.

„Solltest du dich sinnvoll beschäftigen wollen, Gundula“, meinte Annegret herablassend, „dann hilf Niklas beim Ausmisten, da kann man nicht allzu viel falsch machen. Komm, Anika, ich zeig dir die Pferde.“

Sie gingen hinaus, Gundula hörte Annegret noch sagen: „Für dich nehmen wir Norma, Anika. Sie ist lammfromm, auf ihr kannst du prima das Reiten lernen!“

Anika dachte nicht an ihre Freundin, als sie bald darauf auf dem Rücken einer geduldigen Stute saß, die von Annegret langsam durch den Hof geführt wurde. Danach besuchten sie auf der Weide einen jungen, fuchsfarbigen Hengst.

„Er gehört mir“, erklärte Annegret wichtig, „ich hab‘ ihn Sturmwind getauft. Er ist nun vier Jahre alt und wird in ein bis zwei Jahren, falls er sich gut macht, am Trabrennen teilnehmen, mit mir als Sulky-Führerin natürlich. Beim Training macht er gute Fortschritte.“

Gundula indessen stand im Stall und sog den Duft von Dung und Stroh ein. Da drückte ihr der Stallbursche eine Heugabel in die Hand, sie war so lang und unhandlich, dass sie zuerst nicht wusste, wie herum sie am besten halten.

„Wenn du helfen willst!“, meinte er kurz angebunden, „dort in der Nische sind Strohballen. Steche davon etwas ab und bring das Stroh in die schon sauberen Boxen. Ich bin übrigens der Niklas.“

„Ich bin die Gundula“, meinte Gundula ein wenig schüchtern. Die derbe, fast abweisende Art des Stallburschen verunsicherte sie ein wenig, aber ins Bockshorn jagen ließ sie sich deshalb noch lange nicht, dazu war sie viel zu neugierig. Während Niklas in einer der Boxen verschwand, balancierte sie die Heugabel Richtung Strohballen, dabei geriet ihr der lange Stiel außer Kontrolle, sie traf Niklas, der gerade hinter ihr einen mit Mist beladenen Schubkarren aus dem Stall fahren wollte, hart am Rücken.

„Au!“, rief er verdattert und ließ die Karre los. „So pass doch auf!“

„Oh, entschuldige! Das wollt‘ ich nicht!“, murmelte Gundula und hielt sich erschrocken den Mund zu.

„Schon gut“, meinte Niklas und massierte sich mit beiden Händen den Rücken. „Ich glaube, hier kommen wir uns zu sehr ins Gehege. Nimm lieber den Rechen, er ist nicht so schwer, und räum’ damit die letzte Box in der linken Reihe aus. Es ist Dunjas Box!

„Okay.“ Gundula stellte beschämt die lange Mistgabel an die Boxenwand und nahm dankbar den erheblich kleineren Rechen daneben in die Hand.

Dann ging sie, neugierige Blicke in die leeren Boxen werfend, durch den Gang. Vor der letzten Box in der linken Reihe blieb sie wie angewurzelt stehen, es befand sich ein Pferd darin.

„Da, da steht ein Pferd drin!“, rief sie verhalten, um das Pferd nicht zu erschrecken, in Richtung Stallbursche, jedenfalls wo sie ihn vermutete.

„Das ist Dunja!“, kam es knurrig zurück, „sie ist harmlos. Im letzten Sommer hatte sie die Mondkrankheit, seitdem ist sie fast blind. Sie kann nicht raus zu den anderen Pferden, sie wird nicht akzeptieren von ihnen! Geh ruhig rein, sie tut dir nichts!“

Normalerweise fürchtete sich Gundula vor nichts, schon gar nicht vor Tieren, aber so unverhofft mit einem Pferd in einer engen Box zu sein, das war selbst für sie zu viel. Nach einer Weile stillen Betrachtens stellte sie fest, dass dieses Pferd im Vergleich zu anderen Pferden eher klein und zierlich war. Mit dem honigfarbenen, braungesprenkelten Fell, der blonden Mähne, dem üppigen Schweif, der fast bis zum Boden reichte, und den schmalen Fesseln sah es eigentlich sehr hübsch aus. Die Stute stand, den Kopf gesenkt und die Augen halbgeschlossen, unbeweglich da, nur ihre gespitzten, immer bewegten Ohren verrieten, dass sie den Stimmen und Geräuschen im Stall aufmerksam lauschte.

Gundula überwand sich und betrat zaghaft mit dem Rechen die Box. „Hallo, Dunja“, sagte sie mit leiser, belegter Stimme. „Ich bin die Gundula. Du brauchst keine Angst zu haben, ich tu dir nichts.“

Das Pferd schnaubte leise und scharrte mit dem rechten Vorderhuf im Stroh.

„Fein“, meinte Gundula, „ich wusste es ja, dass wir uns vertragen. Ich werde jetzt deine Box ausmisten und dir dabei bestimmt nicht zwischen die Hufe geraten.“

Gundula begann vorsichtig um das Pferd herum das schmutzige Stroh in den Mittelgang hinauszuschieben. Die Stute blieb ruhig stehen, nur ihre Ohren bewegten sich unruhig.

„Wenigstens sind es Pferdeäpfel und keine Kuhfladen“, grummelte Gundula vor sich hin.

Als sie fertig war, rief sie durch den Stall, dorthin, wo sie den Stallbursche Niklas rumoren hörte: „Fertig! Was soll ich jetzt tun?“

Niklas Schirmmütze tauchte aus einer der Boxen auf.

„Du kannst den Mist in einen Schubkarren werfen. Ich bring ihn dann hinaus.“

Gundula entdeckte einen leeren Schubkarren, karrte ihn herbei und belud ihn mit dem schmutzigen Stroh. Vor Anstrengung rann ihr der Schweiß von der Stirn, der sich, wenn sie mit ihrem Handrücken darüberfuhr, mit Spreu und Staub vermischte. Allmählich ähnelte sie einer Indianer Squaw, die ihren Mann auf den Kriegspfad begleitete.

„Und jetzt!“, rief sie, als der Mist im Karren lag.

„Hol’ frisches Stroh und leg damit Dunjas Box aus!“

„Okay!“ Gundulas Eifer war ungebrochen, sie lief mehrmals mit frischem Stroh beladenen durch den Stall, zu Dunjas Box und verteilte es dort auf den gerechten Betonboden.

Dann füllte sie nach Niklas Anweisungen draußen am Wasserhahn einen Eimer halbvoll mit Wasser, schleppte ihn keuchend in Dunjas Box, füllte den Futterkorb mit Hafer auf und kam dabei arg ins Schwitzten. Die Stute stand die ganze Zeit mit gesenktem Kopf und gespitzten, bewegten Ohren da und muckste sich nicht.

„Fertig!“, rief Gundula wieder in den Stall hinein und getraute sich vorsichtig den Bauch der Stute zu streicheln, das Fell fühlte sich samtig und angenehm an. Das Pferd Dunja neigte ein wenig den Kopf und richtete sein trübes Auge auf das Kind, das mit ihm redete und es streichelte.

„Sie mag dich, Gundula“, meinte Niklas, der hinter sie getreten war. Gundulas selbstloser Einsatz imponierte ihm, deshalb fragte er spontan: „Willst du sie draußen im Hof ein wenig herumführen?“

„Oh, ja“, freute sich Gundula, aber gleich wurde es ihr doch ein wenig bang dabei.

Niklas führte Dunja hinaus in den warmen Spätsommertag, normalerweise hatte hier keiner Zeit für ein hilfloses, blindes Tier.

Gundula aber, das Haar und die Kleider voll Spreu und Staub, führte Dunja selig und stolz im Kreis herum und plauderte mit ihr. Die Zeit verging ihr wie im Flug und als Frau Steinert kam, um sie und Anika abzuholen, da wäre sie gern länger geblieben.

Auch Anika hatte eine schöne Zeit, während ihre Freundin im Stall rackerte, saß sie auf der braven Stute Norma und erfuhr viel über Zuchtstuten, Hengste und Fohlen. Die begabtesten, hatte Annegret erzählt, müssten viele Jahre trainiert werden, bevor sie an einem Trapprennen teilnehmen konnten und dabei reelle Siegerchancen hatten.

Am Gattertor versprach Anika wiederzukommen, morgen vielleicht schon, falls Gundula mitkommen darf.

Annegret war einverstanden, sie vermutete jedoch, dass Gundula genug vom Dung und Staub hatte und nicht mehr mitkommen wollte. Zufrieden schaute sie hinter ihrer neuen Freundin her.

Anika stieg noch einmal ab und wollte zurückrufend wissen: „Was fressen eure Pferde eigentlich am liebsten? Was sollen wir ihnen mitbringen?“

„Äpfel und Karotten fressen sie am liebsten!“, rief Annegret lachend zurück und schloss das Gattertürchen hinter sich.

Aber Annegret von Wurmapfel irrte sich, Gundula kam auch am nächsten Nachmittag mit Anika angeradelt. Die Mädchen hatten unterwegs Falläpfel eingesammelt, die durften sie jetzt den Pferden auf ihren flachen Händen anbieten, Annegret machte es ihnen vor. Oh, ja, das kostete Überwindung, die Pferdemäuler waren weich und groß und gierig, aber mit etwas Überwindung klappte es dann recht gut.

Während Anika draußen im Sonnenschein das Reiten üben durfte, rechte Gundula wie gehabt Dunjas Box aus. Der Stallbursche Niklas war der Meinung, es wäre sicherer, vor allem für seinen Rücken, wenn sie sich vorrangig um Dunja kümmern würde, was Gundula sehr recht war. Ihre anfänglichen Bedenken, in Dunjas Box zu gehen, waren schnell überwunden, denn das still dastehende Pferd ließ sich ihre Begrüßung und das Streicheln ruhig gefallen. Danach machte sich Gundula an die Arbeit, sie schob das alte Stroh mit den Pferdeäpfeln hinaus in den Mittelgang, warf es mit einer Schaufel in einen Schubkarren, wuchtete im Schweiße ihres Angesichtes frisches, duftendes Stroh herbei, verteilte es in der Box, füllte draußen am Wasserhahn einen Eimer halb voll mit frischem Wasser, schleppte ihn durch den Stall zu Dunjas Box und schüttete die Futterkrippe mit Hafer auf, immer darauf hoffend, dass, wenn alle Arbeiten zufriedenstellend erledigt sein würden, Niklas das Pferd Dunja wieder hinaus in den warmen Sonnenschein führen wird und sie, Gundula, es herumführen darf.

Niklas tat es wirklich und das fast blinde Pferd freute sich sichtlich darüber. Es fühlte den zarten Windhauch um seine Nüstern streichen, der den Duft von Erde, Wiesen und reifen Früchten mit sich brachte, sie lauschte der zärtlichen Stimme des Mädchens, das neben ihm einherging und es führte.

„Eigentlich könntest du Dunja auch reiten, Gundula?“

Niklas hatte Gundula eine Weile zugeschaut, es freute und beeindruckte ihn, wie behutsam sie das fast blinde Pferd führte. Beide genossen den Spaziergang, sie mochten sich.

Aber Dunja reiten? Sicher, der Gedanke war verführerisch, aber das getraute sich Gundula nun doch nicht. „Lieber nicht“, meinte sie verlegen lächelnd. „Vielleicht ist es ja gar nicht erlaubt, sie zu reiten?“

„Dunja ist ein unnützes Tier“, meinte Niklas. „Es kümmert keinen, ob sie geritten wird oder nicht!“

„Außerdem kann ich gar nicht reiten“, gestand Gundula kleinlaut.

„Dann wird es höchste Zeit dafür!“

Schon rannte Niklas zum Stall und kam gleich darauf mit einem alten, abgewetzten Sattel zurück. Er legte ihn Dunja vorsichtig auf den Rücken, die Stute hatte schon lange keinen Sattel mehr gespürt, aber sie hielt still.

„Hol’ dir einen Fußschemel von dort drüben, Gundula!“ Niklas deutete mit dem Kinn auf die Schemel neben einer der Stalltüren. „Du brauchst einen, um raufzukommen. Keine Angst, ich helfe dir dabei!“

Mit dem Fußschemel und Niklas Hilfe kletterte Gundula umständlich in den Sattel, Niklas schob ihre Füße mit den Sandalen in die Steigbügel. Als sich Dunja immer noch nicht rührte, lobte sie Niklas, streichelte ihre Nase und schob ihr ein Zuckerstückchen, das er aus seiner Hosentasche hervor geholt hatte, ins Maul. Das fand Dunja offensichtlich gut, denn nun ließ sie sich von Niklas, der beruhigend auf sie einredete, langsam im Kreis herumführen, Gundula hielt sich dabei krampfhaft am Sattel fest. Bei der zweiten Runde waren Pferd und Reiterin schon lockerer und entspannter, Niklas freute es.

„Noch eine Runde“, meinte er nach einer kleinen Weile, „dann reicht es. Ich muss sagen, für den Anfang war das gar nicht schlecht.“

Als er Gundula vom Pferd half, tauchte plötzlich Frau von Wurmapfel auf, hinter ihr der zweite Stallbursche, er war wesentlich jünger und schmächtiger als Niklas. Wieder schleppte er sich mit einem schweren Sattel ab.

„Was soll das?“, fuhr Frau von Wurmapfel Niklas an. „Wer hat dir erlaubt, das Pferd aus dem Stall zu holen und die Zeit damit zu verplempern? Bring es sofort zurück in ihre Box und unterlass gefälligst in Zukunft solche Eigenmächtigkeiten!“

Wie zwei ertappte Sünder führten Gundula und Niklas die blinde Dunja zurück in den Stall und in ihre Box.

Dunja aber war glücklich. Als sich Gundula verabschiedete, blähte sie ihre Nüstern auf und wippte ein wenig mit dem Kopf, so als wollte sie sagen: „Komm wieder, kleines Mädchen.“

Anikas großer Bruder Tom war ernsthaft besorgt. Wenn Annegret von Wurmapfel beabsichtigte weiterhin zu den Singproben zu kommen, dann war das Musical, für das sie schon lange geübt hatten, ernsthaft gefährdet. Als er zufällig unter seinen Fastnachtssachen eine Wehrwolfmaske entdeckte, da glaubte er die Lösung des Problems gefunden zu haben. Mit dem großen Raubtiermaul sah sie zwar ziemlich gruselig aus, aber das war für einen wilden Wolf ja nicht unbedingt verkehrt, dachte er. Jedenfalls konnte derjenige, der sie trug nicht singen, allenfalls knurren.

Am folgenden Mittwoch fand er sich besonders frühzeitig im Chorraum ein, um mit Herrn Kabusch, der immer sehr pünktlich war, ungestört reden zu können.

Herr Kabusch hörte sich Toms Vorschlag ruhig an, aber er bezweifelte, dass ausgerechnet die eitle Annegret darauf eingehen würde.

Aber eine bessere Idee hatte er auch nicht.

„Wir können‘s ja versuchen, Tom!“, meinte er ohne allzu viel Hoffnung.

Als die Chorkinder kamen und ihre Plätze eingenommen hatten und Herr Kabusch am Klavier das erste Lied anstimmen wollte, da kam auch Annegret von Wurmapfel gutgelaunt zur Tür herein. Wieder forderte sie Gundula auf zu rücken, damit sie sich neben ihre Freundin Anika setzen könne. Gundula, von so viel Dreistigkeit übertölpelt, tat es und mit ihr notgedrungen auch die Kinder auf den nachfolgenden Stühlen. Wieder entstand ein umständliches Stühle rücken, aber dieses Mal mit deutlichem Murren. Annegret überhörte es geflissentlich, ohne die verärgerten Gesichter der Kinder zu beachten, setzte sie sich lächelnd neben Anika.

Tom und Herr Kabusch tauschten einen vielsagenden Blick miteinaner, dann wandte sich Herr Kabusch an seinen kleinen Chor.

„Ich finde, liebe Kinder“, meinte er, „es ist an der Zeit, dass wir die eigentliche Hauptrolle des Musicals vergeben. Sie muss schließlich in besonderer Weise geübt werden.“

Das war neu, die Kinder fragten sich, welche Hauptrolle er meinte, die Solorolle des Peters war doch längst an Tom vergeben.

„Nun, ja“, versuchte Herr Kabusch es zu erklären, „im Grunde haben wir zwei Hauptrollen, die des Peters und die der eigentlichen Hauptrolle, nämlich die des Wolfs.“

Die Kinder schauten ihn verblüfft an, aber dann fanden sie den Gedanken gar nicht so schlecht, warum eigentlich nicht? Ein Wolf würde gewiss die Spannung enorm steigern. Aber wer sollte ihn spielen?

„Wir brauchen ein Kind, welches über ein gutes Maß an schauspielerischem Talent verfügt“, erklärte Herr Kabusch. „Wer von euch würde sich denn diese Rolle zutrauen?“

Zum Erstaunen aller meldete sich Annegret von Wurmapfel.

„Ich mache es“, meinte sie im Brustton der Überzeugung. „Ich habe auch im Darmstädter Kindertheater Hauptrollen gespielt. Ich kann die Rolle des Wolfs spielen!“

Herr Kabusch schaute sie zweifelnd an.

„Tatsächlich, Annegret? Du musst wissen, es ist eine tragende Rolle, von der das ganze Stück abhängen kann. Du würdest eine gesonderte Unterweisung gebrauchen, sagen wir, eine viertel Stunde vor der eigentlichen Chorprobe. Die anderen Kinder würden dich beim Üben zu sehr stören.“

„Das macht nicht!“, meinte Annegret selbstbewusst, eine Hauptrolle zu ergattern, das zeigte doch, wie wichtig sie in dem kleinen Chor schon war.

Herr Kabusch und Tom warfen sich einen erleichterten Blick zu. Eine viertel Stunde vor jeder Probe mit Annegret, das nahm Herr Kabusch gern auf sich.

Auch heute endete die Chorprobe in einem kleinen Desaster, aber zum Glück, so hofften Herr Kabusch und Tom, das allerletzte Mal.

Allerdings, als Annegret am nächsten Mittwoch eine viertel Stunde vor der eigentlichen Chorprobe die Wolfsmaske überziehen sollte, da protestierte sie. „Dieses Monsterding setze ich bestimmt nicht auf!“, meinte sie empört.

„Aber, Annegret“, Herr Kabusch schaute sie streng an, „du sagtest doch, du seist eine gute Schauspielerin und könntest diese wichtige Rolle übernehmen. Dass Masken, wenn es die Rolle verlangt, auch furchteinflößend sein müssen, das muss ich dir doch nicht sagen, oder? Wie sollte unser Publikum sonst glauben, dass der Wolf ein schreckliches, gefährliches Untier ist? Innen, davon habe ich mich selbst überzeugt, ist die Maske sehr angenehm zu tragen, setz sie also auf und lass uns keine Zeit verlieren. Zunächst üben wir die Lauerstellung, dann das Heranschleichen an die Beute und die Sprungposition. Wenn die Chorkinder kommen, darfst du gehen.“

Außer mittwochs, wenn sie zur Chorprobe mussten, waren Anika und Gundula nun beinahe jeden Tag und bei fast jedem Wetter draußen im Gestüt bei den Pferden, wenn möglich sogar an den Wochenenden.

Der Stallbursche Niklas hatte sich ein Herz gefasst und Herrn von Wurmapfel, der an diesem Tag früh ins Gestüt gekommen war, wegen Dunja angesprochen.

„Es tut Dunja wirklich gut, Herr von Wurmapfel“, hatte er bittend gemeint, „wenn sie aus dem Stall kommt und in Bewegung bleibt, sie ist ja nur blind und nicht lahm. Es kostet doch nichts, wenn sich Gundula ein wenig um sie kümmert.“

„Von mir aus, Junge“, hatte Herr von Wurmapfel ungeduldig gemeint. „Tu was du nicht lassen kannst, aber vernachlässige dabei deine Arbeiten nicht!“

Wenn Frau von Wurmapfel anwesend gewesen wäre, dann wäre sie mit der Antwort ihres Gatten bestimmt nicht einverstanden gewesen, denn sie war der Ansicht, dass Untergebene Strenge brauchen, sonst würden sie sich zu viel herausnehmen und nachlässig werden. Außerdem, wozu sich mit einem blinden Tier abgeben, das auf dem Gestüt nur noch ein Gnadendasein fristet?

Später hatte sie Niklas gewohnt ungehalten angefahren: „Sattle Stromer, aber ein bisschen flotter als sonst!“

„Sehr gern, gnädige Frau“

Niklas war erleichtert in den Stall geeilt, um den achtjährigen Wallach Stromer, den Favoriten des diesjährigen Herbst-Trabrennens, nach draußen zu bringen und zu satteln.

Gundula und Anika wussten nichts davon. Wenn sie mit Äpfel, Karotten oder Rübenkraut, je nachdem was sich in den Küchen und unterwegs fand, im Gestüt ankamen, dann wurden sie von den Pferden freudig begrüßt. Vor allem Dunja freute sich, denn sie wusste, nun würde sie das Mädchen bald wieder in den warmen Sommertag hinausbringen.

Gundula verzichtete bald beim Reiten auf den Sattel und das Zaumzeug, sie brauchte auch keine Gerte, das blinde Pferd reagierte auf das leiseste Wort und auf die kleinste Bewegung von ihr, es vertraute seiner Reiterin im wahrsten Sinne des Wortes blindlings.

Schon nach vierzehn Tagen wagte Gundula den ersten kleinen Ausflug mit Dunja, auf einem Feldweg ritt sie mit ihr im Schritttempo hinter Anika, die auf der Stute Norma saß, und Annegret auf ihrem Sturmwind her.

Doch da ereignete sich etwas Seltsames und völlig Unerwartetes.

Denn Dunja drängte sich bald ungestüm an den zwei vorangehenden Pferden vorbei und spurtete, Staub und Erde aufwirbelnd, mit fliegender Mähne und wehendem Schweif davon.

„Brrr, Dunja!“, rief Gundula erschrocken und klammerte sich an ihrer Mähne fest. „Stopp! Hörst du nicht! Brrrrrrrrr!“

Aber Dunja hörte nicht, sie galoppierte wie befreit, bis sie endlich bei einer Weggabelung prustend und von alleine stehen blieb.

Gundula war geschockt und wütend über dieses unberechenbare Tier, das immer so tat, als könnte es kein Wässerchen trüben.

„Nie wieder, Dunja!“, rief sie erbost, „hörst du, nie wieder werde ich mit dir ausreiten! Das hast du nun davon.“

Sie wendete und ritt im Schritttempo zurück.

Als ihr Anika und Annegret entgegen kamen, neckten sie Gundula und lachten, weil ihr das blinde Pferd durchgegangen war.

Im Stall wunderte sich Niklas, als Gundula allein mit Dunja zurückkam, und als er von Dunjas plötzlichem Temperamentausbruch hörte, betrachtete er das so harmlos aussehende Pferd mit anderen Augen. Über sein sonst eher ernstes Gesicht breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus, als er murmelte: „Eigenartig, muss ich sagen. Sehr eigenartig.“

Schon am nächsten Tag hatte Gundula ihren Schrecken halbwegs vergessen und wagte erneut einen Ausritt, aber nicht ohne vorher Dunja ermahnt zu haben, sich dieses Mal zu benehmen. Niklas ritt auf Buffalo, einem schon älteren Hengst, mit, denn er wollte sehen, was an Dunjas Temperamentsausbruch dran war, vielleicht hatte Gundula in ihrem Schrecken ein wenig übertrieben. Er trabte auf den Feldweg mit Gundula hinter Annegret und Anika her und behielt Dunja dabei im Auge.

Niklas kannte sich mit Pferden gut aus, als Bursche hatte er lange Zeit in einem Frankfurter Gestüt als Jockey gearbeitet und gutes Geld verdient. Als er zu schwer für diesen Job wurde, arbeitete er in verschiedenen Stallungen als Pferdebursche, was anderes hatte er nicht gelernt und wollte er auch nicht, bis es ihn nach Gundernhausen, ins Wurmapfel-Gestüt verschlagen hatte. Niklas Traum war eigene Pferde zu züchten und dazu brauchte er ein gutes Startkapital. Zwar hatte er von seiner Jockey Zeit her eine ordentliche Summe angespart und jeden Monat kam von seinem Lohn etwas dazu, trotzdem würde es noch lange dauern, bis er sich diesen Traum würde erfüllen können.

Plötzlich wurde Dunja unruhig und versuchte energisch, sich an den zwei vorangehenden Pferden vorbei zu drängen.

„Lasst sie vorbei!“, rief Niklas Anika und Annegret zu. „Ich will sehen, was sie macht!“

Er führte Buffalo eilig an den Pferden der beiden Mädchen vorbei und versuchte vergeblich Dunja zu folgen.

„Halt dich fest, Gundula!“, rief er dem Mädchen nach, das, auf dem Rücken des außer Rand und Band geratenen Pferdes liegend und sich an seiner Mähne festklammernd, versuchte nicht herunterzufallen. Endlich, wieder bei der Weggabelung, stoppte Dunja und blieb schnaubend stehen.

Gundula richtete sich stöhnend auf und blickte Niklas entgegen, der an ihre Seite geritten kam.

„Hast du sowas schon gesehen?“, rief sie atemlos. „Ein Wunder, dass sie mich nicht abgeworfen hat!“

„Ihr seid beide Teufelskerle, Gundula“, lachte Niklas und betrachtete mit unverhohlener Anerkennung das kleine Mädchen, welches wie eine Amazone mit wirrem Haar, wenn auch mit verstörtem Gesicht auf dem bloßen Pferderücken saß.

Und Gundula war stolz auf Dunja, jawohl, obwohl blind, war sie doch schnell wie der Wind. Und sie war stolz auf sich selbst, weil sie bei dem wilden Ritt nicht vom Pferd gefallen war.

„Was hat dein Pferd gestochen?“, rief Annegret, als sie mit Anika angeritten kam. „Es ist ja abgesaust wie eine Rakete!“

„Der blanke Übermut“, meinte Niklas und dachte sich seinen Teil.

Später aber, als er mit Gundula allein im Stall war, teilte er ihr seinen Verdacht mit. „Ich selbst habe es zwar noch nicht erlebt“, meinte er leise, „aber ich habe von Pferden gehört, die nach einer schweren Krankheit das sogenannte Verfolgungs-Syndrom hatten, wie du weißt, hatte Dunja letztes Jahr die Mondkrankheit. Pferde mit einem solchen Syndrom müssen zwanghaft alles überholen, was schneller ist als sie selbst, sie können keinen vor sich ertragen. Nicht vorstellbar, wenn ausgerechnet unsere blinde Dunja dieses Verfolgungs-Syndrom hätte.“

„Dann müsste man ihr die Nüstern und die Ohren zubinden“, mutmaßte Gudula, „damit sie die Pferde vor sich nicht riechen und hören kann.“

„Das würde nichts nützen“, meinte Niklas schmunzelnd, „Dunja würde sie spüren, denn bei blinden Pferden sind die anderen Sinne, der Gehör- und Geruchsinn beispielsweise, extrem gut ausgeprägt, muss man wissen.“

Er blickte besorgt zur Stalltür und legte den Zeigefinger auf den Mund. „Vorerst kein Wort darüber, zu niemandem“, flüsterte er.

Anika und Annegret führten ihre Pferde herein und brachten sie in ihre Boxen.

„Es wird Zeit, Gundula“, vermeldete Anika, „wir müssen gehen.“

Sie verabschiedeten sich von den Pferden, von Annegret und von Niklas und fuhren mit ihren Fahrrädern nach Hause.

Folgenschwere Nebenwirkung.

Annegret gefiel die Rolle des wilden Wolfs, der Angst und Schrecken verbreitet und schließlich gefangen und von Peter, alias Tom, gerettet wird, immer besser, und Herr Kabusch beglückwünschte sich im Stillen zu Annegret. Mit ihrem überzeugenden Spiel ließ sie das Musical spannend und lebendig werden, sie riss die Chorsänger, die in den wenigen gemeinsamen Proben mit gespieltem Entsetzen vor dem bösen Wolf flüchten mussten, förmlich mit. Vor allem Tom spielte und sang die Rolle des Peters, dessen Angst vor dem bösen Wolf sich allmählich in Mitleid und Verstehen umwandelte, sehr überzeugend.

Annegret fühlte sich im Chor auf einmal anerkannt, sie wurde umgänglicher. Sie bestand auch nicht mehr auf dem Platz neben Anika, was ihr auch nichts genützt hätte, denn Gundula hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass es außer diesen einen Platz noch genügend andere freie Plätze im Chorraum gäbe.

Niklas und Gundula aber waren nun nach Kräften bemüht, bei Dunja das vermutete Verfolgungssyndrom zweifelsfrei festzustellen. Das war nicht einfach, denn keine noch so lauten Anfeuerungsrufe, nicht einmal der schwingende Apfel an der Haselnussgerte, den Gundula ihr beim Reiten vor die Nase hielt, rein nichts brachte Dunja aus ihrem gemütlichen Trott. Hatte sich Niklas womöglich in ihr getäuscht?

Ein Pferderennen würde Klarheit schaffen, überlegte sich Niklas, nur durfte dabei Dunjas Geheimnis nicht entdeckt werden. Wenn sie denn eins hatte.

Er lud Annegret und Anika zu einem internen Pferderennen ein, nur so zum Spaß, meinte er. Annegret aber winkte mitleidig ab. „Ihr glaubt doch nicht im Ernst“, meinte sie herablassend, „dass ich gegen ein blindes Pferd antreten werde.“

„Vielleicht weil du dich nicht traust, Annegret“, bohrte Niklas. „Du hast ja selbst gesehen, wie schnell Dunja sein kann, wenn sie will.“

„Was meinst du, Anika“, gab Annegret endlich nach, „wollen wir den Spaß mitmachen? Wann und wo soll denn das verrückte Rennen stattfinden?“

„Sagen wir, morgen Nachmittag um vier Uhr am Waldrand. Das Rennen könnte dann den Waldweg hinauf verlaufen, bis zum Rastplatz, dann quer durch den Wald und auf dem Parallelweg zurück zum Gehege.“

„Na, gut, soll mir recht sein“, meinte Annegret gnädig. „Komm’, Anika! Reiten wir noch ein Stückchen!“

Sie ritten auf dem Feldweg davon.

Niklas und Gundula aber ritten zum Wald hinüber, um die morgige Rennstrecke zu begutachten.

Der Waldweg war uneben, leicht ansteigend und mit Wurzelwerk durchzogen, keine einfache Rennstrecke, zugegeben. Im lichten Laubwald, den sie nach zirka fünfhundert Metern durchqueren wollten, räumten sie modernde Stämme und Geäst beiseite und markierten die Baumstämme mit weißen Papierfetzen, um einer eventuellen Verirrung vorzubeugen. Dort wollte sich Niklas morgen postieren und das Rennen beobachten.

Niemand auf dem Gestüt achtete auf ihn oder die Mädchen, als sie sich am nächsten Nachmittag mit ihren Pferden am Waldrand zum Start einfanden.

Annegret, die zuvor Dunja kaum beachtet hatte, betrachtete sie jetzt unauffällig. Die blinde Stute, das musste sie zugeben, wirkte bei Weitem nicht so kraftlos und ungepflegt wie angenommen. Aber wie sah Gundula nur wieder aus, unmöglich! Mit ihrer ausgeleierten Latzhose und mit bloßen Füßen saß sie ohne Zaumzeug und Sattel auf dem blanken Pferderücken, nur einen verbeulten, zerkratzten Fahrradhelm, auf den Niklas bestanden hatte, trug sie auf dem Kopf. Anika hatte wenigstens die Reithose und die Reitstiefel an, die ihr selbst zu klein geworden waren, und einen ordentlichen, von ihr ausgeliehenen Reiterhelm.

Niklas gab mit einem weißen Tuch das Startsignal.

Sturmwind und Norma fielen sofort, von Annegret und Anika lauthals angespornt, in einen leichten Trapp, während Dunja in ihre gewohnt gemächliche Genuss-Gangart verfiel.

„Aus und vorbei“, dachte Niklas und sah noch, wie Annegret und Anika mit ihren Pferden rasch zwischen den Baumstämmen verschwanden, während Gundula sich bemühte, Dunja mit Rufen und ihren Bauch mit ihren bloßen Füßen beklopfend anzuspornen. Dann ritt er auf Buffalo in den parallel verlaufenden Waldweg hinein, um im lichten Waldstück auf die Reiterinnen und der Dinge zu harren, die nun kommen würden.

Was er nicht sehen konnte und ihn bestimmt gefreut hätte, ereignete sich kurz darauf im Wald. Zwar verschluckte der