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Gordon, der Meeresbiologe, erforscht auch die Tiefen der Psyche mit ungewöhnlichen Mitteln. Er analysiert seine ungewöhnlichen Erlebnisse streng wissenschaftlich. Dabei bewegt er sich selbst auf dünnem Eis. Zum ersten Mal in seinem Leben fährt er allein zu einer bekannten Rehaklinik, aufgrund seiner Wirbelsäulenprobleme. Das Hotel in den österreichischen Bergen ist ganz im Stile des "Overlook" aus dem Film "The Shining" gebaut. Aber nicht nur das Ambiente weist stark filmische Bezüge auf. Auch die Patienten an seinem Tisch weisen Ähnlichkeiten mit Gestalten aus der Literatur und Computer-Spielen auf. Das ganze Szenario des entlegenen Spitals beunruhigt ihn. Allein die Begegnung mit der Patientin Songe Sagesse löst bei ihm eine Flut verschütteter Erinnerungen aus. Ereignisse aus Träumen, Meditationen und Vorstellungen, mischen sich mit tatsächlich Erlebtem und ergeben einen verborgenen Sinn. Unvermutet werden unverstandene Fragmente zusammenhangloser Erlebnisse zu einem kompakten Mosaik, das die Geheimnisse des Daseins lüften könnte. Gedankensplitter aus der Tiefe des Unbewussten über eine Hexe in einem grünen Kleid rütteln auch Songe Sagesse auf. Gordon ist Naturwissenschaftler und akzeptiert nicht kritiklos den Kausalitätszwang. Doch zu Silvester hebt sich der Vorhang ein wenig. Gordon ahnt jedoch nicht, als er sich einen Wing-Suit bestellt, dass er durch diesen Wunsch zu fliegen, seine Angst vor der Wahrheit endgültig überwindet und an den Ort gelangt, der ihm schon als Kind bekannt war, den er aber in der Realität nie gefunden hatte. Dort am höchsten Punkt zwischen den Kalkkögel laufen alle Wege zusammen.
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Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Gerald Roman Radler
HOTEL SHINING
DAS ENDE ALLER GEBURTEN
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Inhaltsverzeichnis
Titel
ERSTES BUCH
ZWEITES BUCH
DRITTES BUCH
VIERTES BUCH
FÜNFTES BUCH
SECHSTES BUCH
SIEBTES BUCH
Impressum neobooks
Sie hatte die Gabe, das war mir sofort klar. Gleich als ich sie im Speisesaal sah, wusste ich, dass sie etwas Besonderes war. Aber ob sie es selbst so klar sah, bezweifelte ich. Eigentlich machte ich mir zu diesem Zeitpunkt bewusst noch keine Gedanken über diese Dinge, es war mehr so eine leise Stimme, die wie in einem Selbstgespräch die Situation analysierte. In mir war eine Art Wissenschaftler, der alles um ihn herum sezierte und begutachtete. Und das war keine Spaltung, denn ich war ja Wissenschaftler. Nur war ich eben nicht das, wofür man mich halten konnte. Ein Psychiater. Vielleicht ein Philosoph, oder sogar Journalist. Manchmal hielten mich die Leute für einen Techniker. Einmal sagte ein junges aufmerksames Fräulein, mit dem ich am Strand auf einer Forschungsreise zu den Azoren sprach: „Ich glaube, sie sind HTL-Lehrer, oder Mathematikprofessor am Gymnasium“.
Nichts von alledem stimmte. Mir hatten es die Meere und Gewässer angetan. Sie waren so tief wie das Unbewusste selbst und genauso unerforscht. Offensichtlich war ich ein Archetyp für viele Belange. So etwas kann man nicht lernen, so etwas wird man. Aus bestimmten Gründen, gehen Menschen verschlungene Wege, die dazu führen, dass sie zu einem Archetyp werden. Dazu ist es wichtig, dass ein Mensch niemals der Angst den Sieg lässt. Die Angst vor dem Unbekannten endgültig zu besiegen, wird nie ganz möglich sein. Sie wird immer wieder in verschiedenen Verkleidungen auftauchen, gerade dann, wenn man es am allerwenigsten erwartet. Aber selbst in der größten Not, wenn man sich geschworen hat, fürderhin leise zu treten und sich zu verkriechen, beginnt schon der Plan für den nächsten Angriff. Zumindest war es bei mir so.
Diese Angewohnheit ist mit der Absicht eines Bergsteigers zu vergleichen, der erkennt, dass er nicht den Schatten einer Chance hat und umkehrt. Weil er vielleicht zu erschöpft ist, oder das Wetter umgeschlagen hat. Aber er beginnt mit dem Abstieg nur, damit er bald wiederkehren kann und sich der Gefahr gestärkt stellen kann. Und dann kann es passieren, dass man zu einem Archetyp wird, den man im Märchen findet, in den Sagen, den Legenden. Sie sehen ohnedies für ihre Mitmenschen alle gleich verwunderlich aus und wenn man Pech hat, wird man eine Hülle, in der ein namenloses Programm abläuft. Der Held, der seine Bestimmung erfüllen muss, das eigene Sehnsüchte zurückstellend. Ich aber habe noch alles, was mich als Mensch auszeichnet, einschließlich des Wunsches Mensch zu bleiben, kein Gott werden zu wollen. Kein gefürchtetes Monster, oder ein Heiliger, den die Leute anbeten. Und in dieser Situation, bereits in der zweiten Hälfte meines Lebens, verschlug es mich ins Hotel Shining, wo ich in eine Art Zeitloch zu fallen schien, in dem alles möglich schien.
An meinem Tisch, im gigantisch ausufernden Speisesaal saßen Asterix mit seiner Frau Notburga, das einzige Ehepaar, der kahlköpfige Minecraft, der nur einige Kilometer entfernt von hier wohnte, Primus von Quak, der kleine, zierliche Waldschratt, das „Kasermandl“ der Steiermark und Songe Sagesse. Als ich sie sah, gab es mir einen Stich. Ich kannte sie. Aber sicher nicht von hier. Sie sah besonders aus. Wie aus einer anderen Zeit. Eine starke Kraft strömte von ihr auf mich aus, die ich noch nicht recht deuten konnte. Sie bewegte sich so langsam und würdevoll und hatte einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Ich überlegte, wer sie denn sein konnte. Hatte ich sie auf einer meiner Reisen getroffen? Vielleicht hatte sie im Biozentrum gearbeitet, oder sich als Studentin in der Fachbibliothek Biologie öfters ein Buch ausgeborgt? Ich wollte abwarten und vorläufig nichts sagen. Doch es dauerte nicht lange und sie sprach. Sie nahm sich kein Blatt vor den Mund. Gleich am Anfang sagte sie, dass sie mich kenne und nicht mehr wüsste, woher. Im Plauderton erwähnte sie dann ferner, dass sie eine Hexe in einem Vorleben gewesen war, aber nichts Genaues darüber wüsste.
Wie recht sie damit hatte! Es war als hätten nur wenige Teile gefehlt, um in diesem Puzzle das richtige Bild zu erkennen. Das war somit geschehen. Ich sah sie bereits brennen – im Feuer der Reinigung – als sie in dem Moment im Plauderton verlautbarte, dass sie wahrscheinlich verbrannt worden war. Ich konnte schwören, dass ich sie schon früher einmal auf einem alten Kupferstich gesehen hatte, in bebilderten Büchern über Hexen. Vielleicht sogar in dem Buch von Kurt Blaschwitz, „Hexen und Hexenprozesse“, das ich auf meiner ersten Reise nach Griechenland mit mir geführt hatte. Damals hatte ich sicher keine Assoziation zu Songe Sagesse gehabt. Mit diesem schweren Wälzer wollte ich unbedingt mein ansonsten leichtes Gepäck komplettieren. Das Thema war heikel, aber es war ein Stück innerer Heimat, das ich mit mir führte, ohne erklären zu können, warum gerade dieses Buch und nicht Hermann Hesse, Carlos Castaneda, oder ein anderes Buch geschätzter Autoren. Ich war der Wahrheit so nahe gewesen. Und dennoch war ich blind gewesen. Immer wieder wurde ich von Fragmenten aus vergangenen Leben bedrängt, in Form von Bildern, Szenen und altbekannten Gesichtern. Ich hörte manchmal vor dem Einschlafen Menschen über irgendwelche belanglose Dinge an mittelalterlichen Orten reden. Ich erinnerte mich, dass ich schon öfters die Vision von einer Gruppe Menschen gehabt hatte, die um einen Brunnen tratschend gestanden waren und mit ihnen Songe Sagesse. Ich war der heimliche, ungesehene Zuhörer gewesen!
Und jetzt stand sie vor mir. Ihre dichten, langen Haare, die großen Augen, die leicht aufgestellte Nase. Das Gesicht wirkte nicht, als wäre es aus der Gegenwart. In jeder Epoche sahen die Menschen, entsprechend ihrer Lebensumstände, anders aus. Ich hatte ihre Figur noch gut in Erinnerung, sie musste einfach aus einem anderen Jahrhundert stammen. Viele Frauen der Gegenwart hatten ganz andere Proportionen – waren bleich und abgemagert, weil sie die zerstörerische Kraft der Sonne fürchteten und einen strengen, vermeintlich gesunden Diätplan einhielten. Aber Songe Sagesse sah echt aus. Sie hatte Rundungen an den passenden Stellen und ihr Busen wies eine beruhigend natürliche Form auf. Ihre Lippen waren eher schmal und reizvoll geschwungen, so dass man ihre zwei frechen Schneidezähne sehen konnte, wenn sie lächelte. Sie konnte nur eine Hexe sein! Und natürlich war sie nicht verbrannt worden. Es hätte sie nur ein Ethnologe genauer betrachten müssen. Das sehen müssen, was ich sah! Falls das im Mittelalter jemand mitbekommen hätte, wäre es um sie geschehen gewesen. Nur lebten wir im einundzwanzigsten Jahrhundert und ich war kein Inquisitor. Wäre ich einer gewesen, ich hätte sie bei Nacht und Nebel befreit. Ich hätte nur so getan, als würde ich sie der Hochnotpeinlichen Befragung unterziehen. Und dann zur Flucht verhelfen. Ja, ich wollte Songe Sagesse zur Flucht verhelfen. So wie ich es damals getan hatte. Ich wollte mit ihr aus dem Hotel Shining fliehen. Aber dazu bestand kein Anlass für sie. Sie schien sich hier wohl zu fühlen. Dieser Wunsch betraf eher mich und ich erwog, mich in der Nacht aus der Klinik zu stehlen, um zurück nach Wien zu reisen.
Ein tiefer Schmerz zog in Wellen durch meine Brust. Eine alte Schuld, die ich mit meinem Handeln in grauer Vorzeit aufgeladen hatte, längt erkannt, verstanden und beglichen und nun erneut aufgeflammt für eine letzte Entrichtung. Was hätte ich den tun sollen? Es war meine Tarnung gewesen. So konnte ich ungehindert der Zauberei frönen, geschützt durch die Unwissenheit der Menschen, die in harmlosen Mitbürgern, vor allem aber in Frauen, Kundige vermuteten. So konnte mir niemand auf die Schliche kommen, niemand vermochte mir etwas anzuhaben. Ich befragte die Kandidatinnen und stellte die Schwere ihrer Verfehlungen fest. Dabei kam ich immer zu dem Schluss, dass sie nicht mit dem Satan im Bunde standen. Ich selbst stand natürlich genauso wenig mit dem Teufel im Bunde. Ich kannte den Teufel gar nicht. Ich bezweifelte damals, dass es ihn gab. Genauso wie ich die Existenz eines Gottes für unwahrscheinlich hielt. Ich hatte eher durch Zufall etwas Unglaubliches entdeckt.
Eine Möglichkeit, sich an frühere Leben zu erinnern. Man kann es eine Art „Roter Faden“ nennen, der sich durch alle Leben durchzog. Es war so, als fände man im Traum eine wunderschöne Blume, die man pflückt und sie mit sich nimmt. Und nach dem Erwachen findet man die Blume – findet man den Traum. Durch die Blume, die formvollendet am Bettlaken liegt, erinnert man sich an den rasch verflogenen Traum. Plötzlich ist alles da und man kann sein Leben nutzen, um sich wieder vorzubereiten, auf das Sterben, das sich wieder erinnern. Bei mir war es eine Blume, oder besser – wie ein Blume. Es war streng genommen eine Droge, die älter als die Menschheit selbst ist. Die musste ich nur in einem neuen Leben wieder finden. Einmal beachtet, die Neugier geweckt und eingenommen, wusste ich sofort alles. Die Details meiner früheren Existenzen, erschlossen sich mir bei wiederholtem Konsum gemächlich.
Ich versuchte Songe Sagesse nicht anzustarren, während ich mich der Erinnerung hingab, als wäre ihre Gestalt ein Katalysator, der den Schalter für eine Videoaufzeichnung betätigte. Die Bilder flossen leicht und ohne mühevolle Konzentration. Ich wurde zum Bischof zitiert. Er erwartete mehr Ergebnisse und Geld für die Kirche. Denn nachdem eine Frau als Hexe entlarvt wurde, ihr Geständnis unterschrieben hatte, wurde sie der Reinigung durch das Feuer überlassen. Davor musste sie freilich furchtbare Dinge über sich ergehen lassen. Nach vollzogener Einäscherung floss ihr Vermögen der Kirche zu. Erstaunlicher Weise wurden immer öfter wohlhabende Frauen und Männer der Hexerei überführt. Sie alle waren so wenig der Zauberei kundig, wie ein Bauer, samt seinem Esel. Doch bei Songe Sagesse war das anders. Irgendetwas Seltsames ging von ihr aus. War sie sich eigentlich im Klaren darüber, was sie ausstrahlte? Spielte sie ein Spiel, so wie ich es tat? Oder wusste sie gar nicht, wer sie war, oder was in ihr schlummerte? In dem Fall konnte ich versuchen, sie sehr sanft zu ihrer wahren Identität zu führen. Das stand damals nämlich wirklich auf meinem Plan: Sie sehr behutsam zu ihrem Selbst zu geleiten, oder ihr bestenfalls lachend und scherzend in die Arme zu fallen, wenn sie es nur über sich bringen würde, zu gestehen, dass sie sehr wohl eine Hexe sei und mich auch längst als Zauberer entlarvt hatte. Aber keinesfalls würde ich sie foltern lassen und dem Scheiterhaufen zuführen. Das Unangenehme war, man verlangte endlich positive Ergebnisse im Sinne des Klerus. Ich sah keinen Ausweg. Meine Tarnung würde auffliegen, wenn ich mich offen gegen den Bischof stellte. Ich konnte Songe Sagesse nicht laufen lassen. Die primitiven, abergläubischen Bauern hatten panische Angst vor ihr und erwarteten die Bäckerprobe. Die konnte ich freilich abwenden, nur um sie zum Schein der speziellen Hochnotpeinlichen Befragung unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu unterziehen. Dann, so hoffte ich, konnte ich mit ihr reden. Und ich musste es schaffen, sie zur Flucht zu überreden, denn offensichtlich war sie der Meinung, es könne ihr nichts passieren. Dabei sollte ich auch herausfinden, ob sie über sich und ihre Gabe Bescheid wusste, dann nämlich würde es leichter sein, einen Plan zu schmieden. Doch es sollte anders kommen.
Ein Gedanke quälte mich damals fortwährend, so erinnerte ich mich lebhaft an mein einstiges Leben, als wäre es gestern geschehen. Selbst wenn die Flucht gelänge, was würde nach der Flucht passieren? Was würde mit mir geschehen? Soweit wollte ich gar nicht denken. Was sollte ich bloß tun? Songe Sagesse war sehr unnahbar. Ich hatte nach dem ersten Gespräch sogar den Eindruck gewonnen, dass sie mich nicht leiden konnte. Sie erkannte den drohenden Ernst der Lage nicht. Es war ja nicht mein Ernst, ich hielt die ganze Hexenverfolgung für ein lächerliches Kasperltheater, wie fast alle Aufführungen im Leben der Menschen – allerdings ein brandgefährliches, tödliches Bühnenspiel, in dem die verurteilten Darsteller nicht gut weg kamen. Songes Leben stand auf dem Spiel und mittlerweile Meines auch, wenn ich das tat, wonach mir der Sinn stand. Dann war es vorbei mit dem Katz und Maus Spiel! Was, wenn sie nicht auf mich hörte, oder noch schlimmer, mir misstraute? Das durfte auf keinen Fall passieren.
Verwechselte ich hier nicht Gegenwart mit Vergangenheit? Ich versuchte mich aufzurichten, die düsteren Gedanken abzuschütteln und mich bequem zu positionieren, doch mein Rücken war verspannt. Die Sessel im Speisesaal waren denkbar ungeeignet für Patienten mit Wirbelsäulenerkrankungen. Ich verbrachte damals in jener Zeit, die von Aberglauben und Furcht vor den Mächten des Bösen geprägt war, einige schlaflose Nächte, bis ich einen greifbaren Plan hatte. Ich wollte auch jetzt Songe Sagesse helfen, sie war mir ans Herz gewachsen. Ich begriff, dass ich Vergangenes schwer von Gegenwärtigem trennen konnte. Konnte ich überhaupt reparieren, was ich damals falsch gemacht hatte? Oder gab es eine Trennlinie zwischen den einzelnen Existenzen, die niemand überschreiten konnte?
Noch war es nicht soweit. Songe Sagesses Augen sahen mich neugierig und freundlich an. Hatte auch sie sich geändert, im Laufe der Jahrhunderte? Ich würde es bald sehen. Zurzeit hatte ich selbst einige unangenehme Probleme. Ich fühlte mich sterbenselend. Es war nicht die Wirbelsäule, die ich ständig spürte. Auch nicht die verschmälerte Bandscheibe. Ich war grotesker Weise ziemlich schmerzfrei. Das Hotel wurde als Spital zur Rehabilitation geführt und es arbeitete hier kompetentes Personal. Ich konnte mich nicht beklagen, was die Therapie betraf. Übungen, Moorpackungen, Interferenzen, Massagen, die dreißig Minuten dauerten. Hier in der guten Luft, neben Nadelbäumen und unter staubfreiem Himmel, am Ende der kleinen Straße, konnte sich ein Teil der Patienten von schweren Lungenproblemen erholen, der andere Teil war angehalten, sich ausschließlich dem Rücken zu widmen. Niemand musste sich ums Einkaufen, Kochen und Putzen kümmern, nur um die eigene Gesundheit. Wie viele andere hatte ich Wirbelsäulenprobleme erworben und ererbt. Auch wenn ich mich tatsächlich an frühere Leben erinnern sollte und immer noch der Alchimie frönte – den Körper hatte ich von den jeweiligen Eltern geerbt. In diesem Falle von einer sehr alten Familie. Und es war ja bekannt, dass der Adel unter seinesgleichen blieb und so auch kein frisches Blut in das Geschlecht floss. Die Rückenprobleme reichten bei den männlichen Nachkommen weit zurück bis ins dreizehnte Jahrhundert. Hier oben in den Bergen, im Hotel Shining waren wir durch ein Auswahlverfahren der Pensionsversicherungsanstalt untergebracht worden. Wir, die Osteochondrosen, die Bandscheibenvorfälle und Bandscheibenverschmälerungen und auch die Lungenkrebskandidaten. Die Raucher, die pulmologischen Fälle. Besonders schlecht aber ging es einem dünnen, kleinen Mann, der immer eine Zigarette im Mund hatte. Er verlebte hier seinen letzten Urlaub, mit Sauerstoffflasche, Rollator und metastasierendem Krebs.
Eigentlich machte ich mir noch gar nicht so viele Gedanken um Songe Sagesse. Doch im Verlauf dieser Reha sollte ich mir immer mehr Gedanken um sie machen und letztlich sie um mich. Doch zu diesem Zeitpunkt laborierte ich an der Tatsache, dass ich mit einem anderen Mann in einem Doppelzimmer untergebracht war und ich davor noch niemals mit einem anderen Mann gemeinsam in einem Zimmer eine Nacht verbracht hatte. Und das aus gutem Grund. Ich mochte nämlich Männer nicht besonders. Ich fühlte mich ihrer Gattung nicht zugehörig. Ich hatte nichts gemein mit ihnen, bis auf die Tatsache auch ein Mann zu sein. Ich teilte nichts an Gesinnung und Idee mit Ihnen. Ich konnte mit Fußball nichts anfangen, ich wollte Autos genauso wenig wie Motoren und ich hasste diese Wettkampfsituation, die es immer unter Männern gab, wenn sie begannen sich selbst und ihre Besitztümer zu vergleichen.
In der Gegenwart von Frauen fühlte ich mich einfach wohl und unbeschwert. Sie waren selbst angenehm, wenn sie unangenehm wurden. Es gab eine so viel geringere Anzahl an Serienkillerinnen, wie man männliche Massenmörder anführen mochte. Auch die Verbrechen im Affekt wurden hauptsächlich von jungen Männern begangen. Diese Fakten reichten mir schon als Grund, um eine Stange für die Frauen zu brechen. Die wenigen Giftmorde, die von Frauen verübt wurden, waren zu vernachlässigen. Und nun sollte ich ein Zimmer mit einem Mann teilen, weil ich zu geizig war, mir ein Zimmer allein zu gönnen. Ich hätte den doppelten Preis für ein Einzelzimmer zahlen müssen und das wiederstrebte mir. Mein Zimmernachbar hatte das Zimmer schon fensterseitig bezogen. Er taxierte mich mit unsicherem Blick, als ich den Raum betreten hatte. Da ich in meinem Kettner-Outfit gekommen war, gerüstet für die Berge, begann er zu raten.
„Sind sie Jäger?“
„Nicht ganz!“, sagte ich, denn die Unterhaltung mit diesem Mann war mir jetzt schon lästig. Er saß am Bettrand und hielt sich den Kopf mit beiden Händen.
„Dann sind sie vom Militär?“ er konnte einen bulgarischen, russischen, oder rumänischen Akzent nicht verbergen.
„Auch nicht ganz“, sagte ich, während ich meinen waldgrünen Trolley ausräumte.
„Was sind sie dann?“ er ließ nicht locker und es schwang Besorgnis mit.
„Ein bisschen von allem“, schürte ich seine Bedenken, ohne aufzusehen, während ich meine Sachen in den Kasten räumte. Hätte ich gewusst, dass dieser Mann von der rumänischen Mafia gejagt wurde, hätte ich mich vielleicht anders verhalten. Doch so trieb ich meinen trockenen Scherz voran. Warum sollte er sich wohl fühlen, wenn ich es nicht tat? Dazu bestand gar kein Grund. Ich nahm also das Bett, das noch übrig blieb und überlegte, wie ich es hier drei Wochen aushalten sollte. So lange dauerte, die von der neuen Orthopädin angestrengte und sofort bewilligte Reha. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein, sie anzunehmen. Ich hatte kaum Beschwerden. Im Moment zumindest. Aber dieser Schmerz über dem Steißbein, an den ich mich im Laufe vieler Jahre gewöhnt hatte, der begleitete mich immer. Das konnte sich freilich ändern. Er wurde hin und wieder ohne Vorwarnung unerträglich. Aus heiterem Himmel konnte es geschehen, dass ich mich nicht mehr normal bewegen konnte und die Besserung dauerte Tage. In der Zeit konnte ich mich nur unter extremsten Schmerzen aufrichten, ging gebückt herum und es schien als stecke mein Grizzlyfänger hinten in der Wirbelsäule.
Es folgten einige Untersuchungen und ich hatte an diesem ersten Tag, der schon als Therapietag geführt wurde ausreichend Zeit, mich ein wenig umzusehen und auch zu verirren. Denn das Hotel teilte sich in einen alten und einen neuen Trakt. Verschiedene, aber gleich aussehende Lifte erschwerten den Zugang zu den jeweiligen Stockwerken, die sowohl im alten, als auch im neuen Gebäude normal nummeriert worden waren. Das hieß, dass es drei Stockwerke im neuen Gebäude gab und zwei Stockwerke plus ein Untergeschoß für Anwendungen im alten Gebäude. Es dauerte eine Weile, bis ich wusste, welcher Lift mich wohin bringen würde. Es ging anderen Patienten auch so. Ich begegnete ständig Suchenden, die abwechselnd angestrengt auf ihren Therapieplan und Türschilder starrten, ohne zu einer schlüssigen Erkenntnis zu gelangen. Mit etwas Glück blieb jemand vom Personal stehen und half. Manchmal hielt sogar ein Arzt inne und ließ sich dazu herab, helfend einzugreifen. Ein bestimmter Arzt jedoch schien mir nur als Arzt verkleidet zu sein, denn er hatte ein Stethoskop um den Hals baumeln und einen Klappspiegel auf einem Plastikstirnband am Kopf befestigt. Das erinnert mich gar so an das Doktorspielen mit meinen drei Freundinnen in der Volksschule.
„Herr Doktor, ich bin so schwach, küssen sie mich, damit ich wieder zu mir komme! Herr Doktor, ich weiß nicht, was mir fehlt, hier greifen sie her, da ist es so heiß! Oh, es geht mir schon viel besser, lassen sie ihre Hand hier auf meinem Herzen liegen!“
Ich tat es gerne, denn ich war der Doktor, mit Stethoskop und Klappspiegel. Das ganze Equipment war untergebracht in einem kleinen weißen Plastikkoffer, auf dem ein fettes rotes Kreuz gemalt worden war. Während ich eine Patientin eingehend untersuchte, konnte es sein, dass eine zweite einfach in Ohnmacht fiel, indem sie sich an die Stirn fasste und fast – ja fast – lautlos zu Boden sank, da war schnelle Hilfe vonnöten. Ich fing sie auf und bettete sie sanft neben der anderen Erkrankten und bat die Dritte mir zu assistieren. Wir vier waren ein unglaublich gut eingespieltes Team, und die Luft knisterte vor Erotik. Wenn ich das Richtige getan hatte, schlug die Kranke die Augen auf und fiel mir um den Hals.
„Danke, Herr Doktor, sie haben mir das Leben gerettet, sie dürfen mit mir machen, was sie wollen.“
Ich frage mich, ob ich nicht damals schon die perfekte, mir gemäße Beziehung geführt hatte, mit diesen drei wunderbaren Mädchen. Doch sie und auch ich wurden von Konventionen und Bestimmungen verblendet und geeicht, bis alles fort war, alles Schöne letztlich verschwunden war. Ich erinnere mich noch deutlich, als ich tatsächlich krank im Bett lag und das Fieber wunderbare Phantasien in mein Herz pflanzte. Da hörte ich die Stimme, die ich mir wünschte, draußen im Vorzimmer. Es war Elisabeth, die empfindsamste meiner Freundinnen. Sie fragte nach, ob es mir gutginge und meine Mutter erklärte ihr die Situation. Mein Herz klopfte so wild, denn ich wünschte mir, dass sie hereinkommen möge und nicht gehen – nicht gehen und sich vertrösten lassen.
Da stand sie dann wirklich vor mir, in ihrer Strumpfhose und dem blau gepunkteten Kleidchen darüber und war mit einem Satz an der Bettkante. Sie war keine Fieberphantasie. Sie ergriff meine Hand und rief theatralisch wie in unserem ewigen Spiel aus:
„Geliebter, Geliebter!“ als sie den Kopf an meine Brust legte, fürchtete ich, dass sie meinen verräterischen Herzschlag spüren könnte. Ich drückte ihre Hand und sie erwiderte den Druck mit einer Stärke, die ich nie erwartet hätte. Sie legte ein Ohr an mein Herz und ganz sicher durchschaute sie mich:
„Oh, mein Geliebter, dein Herz schlägt so wild. Ist es wegen mir?“ Sie zog die Unterlippe seitlich ein und legte den Unterarm schmachtend quer über ihre Stirne. Ihre Finger führten einen verräterischen Tanz auf.
„Bleib bei mir“, sagte ich leise. Meine Gefühle waren so stark, dass ich jede Hemmung verlor und meine Schüchternheit war nur mehr Fiktion.
„Ich bleibe bei dir, mein Geliebter. Ich werde nie wieder von deiner Seite weichen. Verzeih mir, dass ich nicht hier war, als du mich gebraucht hast“, hauchte sie in ihrer geschraubten Sprache. In dem Moment war mir klar, dass sie es völlig ernst meinte. Es war nie ein Spiel gewesen. Sie hob meine Bettdecke und Elisabeth legte sich angezogen zu mir. Es war das erste Mal, dass ich mit einem Mädchen im Bett war und wir beide dachten, das sei wohl gemeint, wenn man davon sprach, weil es so schön war. Ich hielt sie fest und drückte sie an mich und sie schmiegte sich seufzend an mich. Ich wollte sie nie wieder loslassen. Wir gehörten einander und es war das Beste, was mir je passiert war. Elisabeth stammelte Liebesschwüre, die mich auf der Stelle genesen ließen. Meine Mutter öffnete die Türe und ich fürchtete Schlimmes.
Meine Mutter war streng. Aber sie war auch noch etwas anderes. Sie lächelte auf einmal, als sie uns so liegen sah und zog die Türe leise wieder zu, als hätte sie uns schlafend überrascht. Als sie mir davor kurz in die Augen gesehen hatte, las ich in ihren Pupillen nur eines: Sie freute sich für mich! Sie gönnte mir meine Liebe! Meine Mutter war doch nicht so schlecht. Sie konnte nur nicht aus ihrer Haut heraus, wie alle Menschen. Aber versteckt hinter ihrer Strenge wartete ein empfindsames Wesen, das im rechten Augenblick immer zur Besinnung kam. Dann lugte es aus meiner Mutter hervor und blinzelte mich an. Bald war ich in der Tat wieder gesund und es verging kein Tag, an dem ich nicht gegenüber an der Türe wartete, bis Elisabeth die Treppenstufen herabgelaufen kam. Sie gab mir die Hand sah mir tief in die Seele mit ihren großen runden Augen, als würde sie sich vergewissern wollen, dass wir noch die Liebenden von einst waren. Ein Haus weiter kam Maria gelaufen, sie trug mir die Schultasche. Ich hatte sie nie darum gebeten, sie wollte sie tragen und sie ging ganz schief. Mit ihrer eigenen Schultasche am Rücken und Meiner in der rechten Hand, die sie zu Boden zog. Ich liebte sie dafür abgöttisch. Ich sah sie immer von hinten wie eine Ente watscheln, denn sie ging vor uns anderen und war so arm und doch wusste ich, dass sie mich liebte und mir ihre Liebe nur so zeigen konnte. Oben stand schon Silvia. Sie band mir stets die Schnürsenkel. Denn das konnte ich nicht. Auch ihre Liebe erwiderte ich aus tiefstem Herzen. Ich streichelte ihren Kopf, wenn sie mir die Schnürsenkel band und bat Gott, dass er meine Mädchen schützen sollte vor Krankheit und Tod. Ich hatte furchtbare Angst, dass ihnen etwas Schreckliches passieren konnte. Damals in der wunderbaren Kindheit, redete ich mit Gott und war ziemlich sicher, dass er mich kannte und ein Faible für mich hatte.
Ich konnte denken, war gescheit, doch ich konnte keine Schuhbänder binden. Ich konnte aber bei den Aufgaben helfen. Diese Mädchen waren sicher. Sie brauchten nie Angst zu haben, dass sie auf der Strecke blieben, ich erklärte ihnen alles Schwierige und machte auch ihre Aufgaben. Sie liebten mich und zeigten es ohne Scheu. Und ich bot ihnen mein Können und scheute keine Mühen und Zeit für sie da zu sein. Wir vier genossen es, aufzufallen. Wir standen oft im Kreis und umarmten uns. Drückten uns aneinander. Kopf an Kopf standen wir im Kreis und ich habe noch den feinen Geruch der Haare aller Mädchen in der Nase. Wir wurden angestarrt. Die Buben verstanden nicht, wie ich mich mit Mädchen abgeben konnte. Während sie schwitzend am Boden balgten und um ihre Ehre rauften, mit roten Köpfen und rotzigen Nasen, in einer Wolke aus Urin und Milch, standen wir zusammen und hielten uns aneinander fest. Wir waren die Einser-Kommune, wenn sie stark geblieben wäre und die Manson Familie, wenn sie nie gemordet hätte. Unsere Kraft wanderte im Kreis. Aber Elisabeth blieb meine Braut, die immer meine Hand hielt. Eine Hand die vom vielen halten heiß und nass war.
Doch eines Tages war es vorbei. Wir kamen in eine richtige Schule. Ich ins Gymnasium und die Mädchen woanders hin. Wir hörten nie wieder von einander und ich verstand es nicht. Der letzte Schultag der Volksschule war der letzte Tag unserer großen Liebe. Und es blieb mir eine Erinnerung, die im Alter immer stärker und stärker wurde. Die Bedeutung der damaligen Ereignisse gewann einfach an Macht. Ohne es zu wollen, ohne es zu wissen, hatte ich mein Leben lang diese Form des Lebens gesucht, doch nicht mehr gefunden. Wie war es meinen Mädchen ergangen? War Songe Sagesse so ein Mädchen gewesen? War sie als Hexe gestorben und als Songe Sagesse geboren worden, wie es meine Erinnerung mitteilte? Ich spürte ein kurzes Aufblitzen zwischen Songe Sagesse und mir. Kannte sie dieses eigenartige Leben, welches sie als Hexe geführt hatte? Hatte sie die Erinnerung hierher gerettet? Ich konnte mir das Gefühlte nicht erklären und auch wohl nicht mit ihr besprechen.
Der Abend war gekommen und ich war vollkommen verzweifelt, so wie noch nie im Leben. Ich saß im riesigen Kaminzimmer, allein in einer Ecke und sah die anderen Menschen, vorwiegend alte, kranke Patienten. Ich fühlte mich, als wären alle Menschen, die ich gekannt hatte, gestorben und ich war nun hier, ohne Aussicht auf etwas, das sich lohnte, praktisch am Ende meines Lebens. Mein Dasein bis zum Ende fristend. Nein, das wollte ich nicht. Doch wo sollte ich hin. Ich kam nicht weg von hier. Schon gar nicht wegen Songe Sagesse. Außerdem musste ich sowieso der Vernunft gehorchend hier bleiben und meine Reha zu Ende bringen. Verstohlen wischte ich einige Tränen. Draußen begann es zu schneien und ein heftiger Wind hob an. Es war kurz vor Weihnachten. Eine seltsame Zeit, jemanden auf Kur zu schicken.
Ich war gefangen im Hotel Shining.
Es war Zeit zu Bett zu gehen. Mein Nachbar schlief bereits und er machte kein Hehl daraus, indem er so laut schnarchte, dass ich fassungslos am Bettrand saß. Dann drehte er sich laut stöhnend um. Einen Moment war es unheimlich still, dann begann das Geschnarche und Gestöhne wieder von vorne. Unklugerweise war die Toilette im Badezimmer verbaut. Ohne Belüftung. Nur zwei Abzüge, die wie auf die Decke geklebt wirkten. Womöglich waren sie nur Attrappen. Ich konnte nicht schlafen. Mein Nachbar vertrug offensichtlich keine frische Luft und hatte die Heizung voll aufgedreht. Um drei Uhr früh war mir klar, dass ich noch kein Auge zu getan hatte und ich bekam bohrende Kopfschmerzen. Ich schlich zur Verandatüre und versuchte nicht laut zu sein, was leicht war, bei dem bestehenden Geräuschpegel. Ich kippte die riesige Glastür und schlich auf Zehenspitzen im Dunkeln zu meinem Bett, dabei stieß ich mit der großen Zehe so heftig an den Aluminiummistkübel, dass er scheppernd bis zur Eingangstüre schlitterte. Es tat höllisch weh. Und es war auch abscheulich laut. Doch der Mann schnarchte und stöhnte weiter ohne Unterlass, während ich bald wieder wach im Bett lag. Früh am Morgen wollte ich Blutdruck messen, wenn noch nicht so viele Patienten unterwegs waren. Wir waren ja angewiesen, fünf Tage hintereinander, im Laufe des Tages Blutdruck zu messen. Ich befand mich offensichtlich in einer hypertensiven Krise. Ich hatte 220/120. Sicher, ich setzte mich einfach hin und schaltete übergangslos das Gerät ein. Kein Rasten, kein Entspannen. Es hätte mir auch nichts gebracht in meiner Situation. Ich achtete darauf, dass mich niemand sah und beeilte mich mit der Messung. Die Gänge waren noch leer. Ich trug meine Daten ein. Ein schöner Wert, aber nicht zu schön: 130/70. Das würde kein Aufsehen erregen. Ich wollte nicht schon am ersten Tag mit dem Hubschrauber ins nächste Landeskrankenhaus geflogen werden.
Ich musste rasch meine Yogatechniken anwenden, so wie ich sie bei meinen zwei Darmspiegelungen angewandt hatte, die ich ohne Betäubung durchführen hatte lassen und am Monitor das Geschehen mit verfolgte, ganz Wissenschaftler. Was in Wien geklappt hatte, musste hier in den Bergen auch klappen. Aber so einfach sollte es nicht sein. Ich konnte nicht abschalten. Ich konnte mich nicht entspannen. Ich wurde von einer hübschen Slowakin eine halbe Stunde lang massiert. Allerdings am Rücken. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, wo meine Anspannung lagerte. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen, sie tat, wie ihr geheißen wurde und ich sagte noch anerkennend: „Besser geht’s nicht. Das haben sie großartig gemacht, sie verstehen etwas von ihrem Fach! Vielen lieben Dank!“ Ich wäre auch geschockt gewesen, wenn sie meine Gedanken gelesen und womöglich entsprechend reagiert hätte.
Sie reckte sich stolz zu voller Größe auf. Ich bin nicht sicher, ob sie mich verstanden hat, doch meinen Tonfall, den hatte sie sicher deuten können. Ich gab ihr fünf Euro und sie schüttelte den Kopf. Ich nickte, dann nahm sie das Geld und sagte, sie dürfe kein Geld nehmen. Ich versicherte ihr, dass ich ihre Einwände verstand. Das nächste Mal wollte ich ihr zehn Euro geben. Es folgte ein Ausdauertraining und eine Moorpackung. Zu Mittag traf ich vertraute Gesichter im Speisesaal und war froh darüber. Verstohlen beobachtete ich Songe Sagesse. Sie warf mir einen kurzen Blick zu. Dann befragte sie mich, nach verschiedenen Orten, an denen wir Bekanntschaft gemacht haben konnten. Ich wollte nichts ausschließen und ging mit ihr alle Möglichkeiten durch. Allein ohne Erfolg. Ja, vom Kupferstich, daher kennen wir einander. Vom Kupferstich aus dem Buch „Hexen und Hexenverfolgungen“. Ich wollte sagen: „Von längst vergangenen Tagen. Erinnere dich doch, du hast ganz anders geheißen, es war in der französischen Schweiz gewesen! Ich sollte dich einer Hochnotpeinlichen Befragung unterziehen, doch ich tat es nicht. Ich konnte nicht. Ich habe dir zur Flucht verholfen. Dadurch war auch meine Karriere war vorüber. Auch ich musste auf meinem Pferd in den Wald flüchten, wo ich in einer Hütte lebte. Was war aus dir geworden? Wie kamst du hierher? Ich war so eitel, so stolz, ich kannte nur deinen Namen und du durftest nicht leiden. Nicht sterben. Jetzt bist du doch gestorben und etwas hat sich verbessert!“
Wie kam ich bloß auf so eine Geschichte? Ich schüttelte den Kopf und sagte nur:
„Ja, ich selbst hätte mich nicht gewagt, dich zu fragen, doch es stimmt, wir kennen uns.“ Insgeheim wünschte ich, dass sie sich auch erinnern konnte. Ich ahnte so vieles, doch das nutzte mir zurzeit nichts. Ich hatte eine kaputte Wirbelsäule und ich nahm nicht einmal Schmerzmittel. Wieder musste ich an die Darmspiegelung denken und sah Songe lächelnd an. Ich mache es mit dem Willen! Das sagte ich ja auch der ehrfürchtigen Internistin bei der langwierigen Darmspiegelung. Der Arzt, der die Vorsorgeuntersuchung durchführte, hatte sie mir dringend empfohlen und gemeint: „Einmal im Leben sollte man sich ausräumen lassen!“
Das setzte sich bei mir wie Kaffeesud ab und wurde einer dieser Sätze, die man nie mehr vergisst. Und genauso geschah es. Als also die Internistin fragte, ob ich da etwas mit der Atmung mache, bejahte ich und erklärte, dass ich gehofft hatte, unsterblich zu werden, oder nie krank zu werden. Das was ich stattdessen konnte, war ja auch nicht schlecht, wenn es schon nicht mit dem Gesundsein funktioniert hatte und schon gar nicht mit der Geringsterblichkeit.
Songe Sagesse schien zu überlegen. Immer wieder fielen ihr Orte und Begebenheiten ein, wo wir uns hätten begegnen können. Die UNO-City, das WUK, ein Kurs, ein Date. Allmählich bekam ich einen Stundenplan und einen Abriss ihres Lebens, nur durch die Nennung möglicher Überschneidungen unser beider Leben. Dann geschah das, was uns hier als Vehikel einer langen Reise dienen sollte. Ich blickte zum ersten Mal bewusst in den Speisesaal und sah die kitschigen Säulen. Die Weite des Raumes. Es erinnert mich an etwas. Es war unheimlich und aus der Vergangenheit. Und es war unsere Gegenwart. Ein Hotel am Ende der Straße in den Bergen.
„Kennst du den Film The Shining?“ Fragte ich Notburga.
„Du meinst wegen dem Speisesaal?“ Sie wusste sofort Bescheid. So war der Ort unseres Trips festgelegt. „Verrückt die Ähnlichkeit! Es ist ganz genauso gestaltet, wie das Hotel Overlook! Ich hätte nicht gedacht, dass jemand anderes es auch gleich bemerken würde“, witzelte Notburga. Die anderen kannten den Film gar nicht.
Allmählich rundete sich das Bild ab. Ich sah Songe Sagesse, die Hexe, langsam zur Salatbar gehen. Sie bewegte sich sehr würdevoll und feierlich. Ihre langen, dichten Haare trug sie offen. Ich konnte sie ungehindert beobachten und kam aus dem Staunen nicht heraus. Wir kannten uns ja tatsächlich, auch wenn es unmöglich schien. Songe Sagesse musste demnach noch ziemlich jung sein. Damals war ich knapp Fünfundreißig Jahre alt und sie gerade Zwanzig. Also müsste sie jetzt 42 sein. Denn ich war 57. So rechnete ich, sofern die Proportionen der Zeit und des Raumes beibehalten wurden, wenn man wieder geboren wurde, woran ich ja eigentlich nicht glaubte, weil so etwas normalerweise für mich keinen Sinn ergab. Ihr Alter ließ sich auf Umwegen herausfinden. Mir würde schon etwas einfallen. Ich konnte sie ja kaum fragen, wie alt sie war. Ich könnte natürlich anders fragen, etwa so: „Du hast gesagt, du bist 30, stimmt das?“
Minecraft, der neben ihr saß, beobachtete Songe Sagesse auch. Er hatte den Kopf rasiert und ich konnte auch keine Augenbrauen entdecken. Irgendwie passte das zu ihm. Er wirkte irgendwie eckig, wenn er sich bewegte. Er trug zu weite Jeans und große Turnschuhe, die einmal weiß waren. Überdies schien er ein Autofan zu sein. Das merkte man, weil er, egal welches Thema gerade besprochen wurde, immer zu den Autos zurückkehrte, ob es Spielzeugautos, die er sammelte, oder richtige Boliden waren. Er besaß auch mehrere schnittige Wägen an denen er in seiner Freizeit viel zu verbessern hatte.
Die Therapien gingen weiter. Das Nachtmahl kam. Danach saßen wir noch im Kaminzimmer, das auch der Innenarchitektur des Overlook
