Humanomics - Uwe Jean Heuser - E-Book

Humanomics E-Book

Uwe Jean Heuser

0,0

Beschreibung

Wirtschaft ist viel mehr als die Produktion und Verteilung von Gütern. Ökonomen richten ihre Aufmerksamkeit heute auf den Menschen mit seinen Bedürfnissen und nicht immer rationalen Handlungen. Ihre revolutionären Entdeckungen haben große Folgen für jeden Einzelnen und die Gesellschaft.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 379

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heuser, Uwe Jean

Humanomics

Die Entdeckung des Menschen in der Wirtschaft

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2008. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40249-9

|5|Für Deborah Anne Steinborn

|9|Einleitung

Der Aufbruch

Dies ist ein Buch über die Erforschung der Wirtschaft. Und es ist ein Buch über Sie. Wie kann das sein, sagen Sie vielleicht, Ökonomie ist nicht lebensnah. Und die Antwort lautet: Doch. Heute schon.

Vergessen Sie also, was Sie über Ökonomie zu wissen glaubten. Denn die Ökonomen vergessen gerade, was sie über Sie zu wissen glaubten. Beziehungsweise über ihr ureigenstes Beobachtungsobjekt, den Menschen. Ein Jahrhundert lang war das Bild vom rationalen Menschen das Fundament ihres Denkens. Nun reißen die Forscher dieses glatte Fundament ein und bauen sich ein neues. Das ist nicht so ordentlich und kompakt, sondern eher ein Stückwerk voller Unebenheiten, Rillen und Brüche. Sein unschätzbarer Vorteil: Es kommt der modernen Wirtschaftswelt näher und hilft uns, sie zu verstehen und uns in ihr zu bewegen.

Die Forscher halten uns keinen Homo oeconomicus mehr vor, kein rationales Ideal, dem wir entweder erfolglos nacheifern oder das wir entrüstet abwehren. Eher schon ein Spiegelbild, in dem wir uns wiederfinden können, eine Art Homo oeconomicus humanus. Es ist höchste Zeit für diese Revolution von unten. Sie macht die Ökonomie wieder aufregend, spannend, lebens- und erfahrungsnah. Nun können wir von ihr allerhand über uns selbst lernen, über die Hintergründe unseres Handelns, unsere Ziele und Motivationen. Und auf einmal hat sie viel Neues zu sagen über die alten Fragen, kleine und große. Welche Entscheidungen schaffen dauerhafte Zufriedenheit? Was bedeutet ökonomische Freiheit, was Solidarität? Wann kann man dem Markt vertrauen, wann dem Staat? |10|Sogar über das große Rätsel, wie Wohlstand entsteht und wie er verloren geht, erfahren wir Neues und Erstaunliches.

Dass die Ökonomie sich an vielen Stellen wandelt, ist wichtig für sie selbst, weil sie sich auf diese Weise aus einem selbst gewählten Abseits befreit. Es ist außerdem wichtig für uns alle, weil sich der Kapitalismus derzeit schnell verändert und wir keine passenden Maßstäbe mehr kennen, um zu beurteilen, welche Freiheitsgrade wir als Einzelne und als Gemeinwesen haben. Hier liegt das vielleicht größte Versprechen der Ökonomie neuen Stils: Mit ihrer Hilfe können wir herausfinden, welche Zwänge uns die globale Marktwirtschaft tatsächlich auferlegt und welche Entwicklungen wir abwenden oder beeinflussen könnten, wenn wir uns nur trauten.

Manche Zwänge sind auch nur eingebildet oder eingeredet. So sehen wir uns allzeit zu ökonomischen Entscheidungen genötigt, die früher gar nicht zu treffen waren – Optionen zuhauf, nur nicht diejenige, aus dem ganzen Spiel auszusteigen. Bei näherem Hinsehen finden sich aber neben Entscheidungen, die unumgänglich sind, auch solche, die es nicht sind. Nur mit der neuen Perspektive auf die Wirtschaft können wir das ausloten.

Umwälzungen in der Wissenschaft brauchen Zeit. Meistens funktionieren sie, wie Max Planck es gesagt hat: Die Gegner würden aussterben, und heranwachsende Generationen seien von vornherein mit der neuen Wahrheit vertraut. Das gilt für die Verhaltensökonomie, wie die Forschung über unser reales Verhalten und seine Folgen heißt. Und es gilt für verwandte Felder, auf denen Ökonomen die alte Einfachheit der Modelle und die Sturheit des Establishments über Bord werfen. Sie akzeptieren, wie komplex moderne Wirtschaft ist – dass die Entscheidungen eines Menschen nicht unabhängig von allen anderen erfolgen, sondern oft abhängen von dem, was andere tun. Und dass dadurch dynamische Prozesse entstehen, die zu mehr Wohlstand oder mehr Notstand führen können. Dann kommt es darauf an, die richtigen Weichen zu stellen. Für neue Märkte wie den umweltschonenden Handel mit Emissionsrechten etwa oder auch im Sozialstaat. Junge Wirtschaftsforscher|11|, in der Öffentlichkeit noch kaum bekannt, sehen sich tatsächlich wieder als Weltveränderer. Sie versuchen, konkret und mit Sinn für die Wirklichkeit das Wirtschaften im Detail zu verbessern. Und gleichzeitig erkennen sie mitunter, dass sogenannte Stellschrauben der Volkswirtschaft ausgeleiert sind – dass also klassische Interventionen gar keinen Gewinn mehr mit sich bringen.

Tatsächlich rütteln einige Forscher schon lange am Fundament ihrer Wissenschaft. Dass aber heute die besten Nachwuchsökonomen in diese Richtung streben, dass gerade jetzt die kritische Masse für die Revolution von unten erreicht ist, liegt nicht nur am langsamen Herztakt der Wissenschaft, sondern auch an der realen Welt. Die Defizite der herkömmlichen Betrachtung werden erst in einer Welt so richtig merklich, in der die wirtschaftlichen Einzelschicksale schwerer vorherzusehen sind denn je, in der Chancen und Gefahren am Arbeitsmarkt und in der finanziellen Vorsorge ungleich größer sind als vor einer Generation. Also verlangen die Menschen und verlangt die Gesellschaft nach neuen Erklärungen, und die Ökonomie vermag für diese Nachfrage ein erstes, in weiten Teilen noch vorläufiges Angebot zu machen.

Kritiker mögen es als Zeichen von Schwäche deuten, dass dabei Psychologen und Neurowissenschaftler eine gehörige Rolle spielen. Tatsächlich ist es ein Zeichen dafür, dass die Ökonomie ihre Souveränität zurückgewinnt, wenn sie sich für andere Perspektiven öffnet. Viele Aspekte unseres Verhaltens lassen sich heute mehrfach belegen – einmal durch Experimente, Befragungen und schlichte Alltagsplausibilität, zum anderen dadurch, dass Hirnforscher messen, ob die Gefühle dominieren oder die Ratio vorherrscht, ob Menschen sich im Einklang mit ihren eigenen Zielen befinden oder sich verheddern auf der Suche nach mehr Nutzen. Passt beides zusammen, das beobachtbare Verhalten und die nachweisbaren Hirnaktivitäten, ist die Indizienkraft groß.

Kennen Sie dieses unwiderstehliche Verlangen, etwas sofort zu haben oder zu genießen? Oder das unabwendbar in uns aufsteigende Gefühl, zu kurz zu kommen? Oder den Gruppendruck, den |12|Freunde und Kollegen auf unsere Entscheidungen ausüben? Solche Verhaltensweisen werden nun erklärt, belegt, eingebaut in inhaltsreiche Theorien. Begeben wir uns also in dieses Gedankengebäude.

Zunächst wollen wir uns anschauen, wie sich das Wirtschaftsleben wandelt und was Ökonomie heute erklären muss. Dann wird beschrieben, wie Forscher die Umwälzung im wirtschaftlichen Denken ausgelöst haben. Die folgenden Kapitel handeln von nicht weniger als dem Glück – dessen Erforschung kann das Streben des Einzelnen ebenso verändern wie die Wirtschaftspolitik insgesamt. Danach geht es um den Menschen als Sparer und die Frage, wie aus seinem Verhalten eine überaus spannende Debatte um die Rolle des Staates erwächst. Die Beeinflussung von Konsumenten ist das nächste Thema, das die Frage einschließt, wie man eine ökologische Wende herbeiführen könnte. Motive wie Vertrauen und Neid haben riesigen Einfluss darauf, welche Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche Arbeitsorganisation und welches Gehaltsschema funktioniert oder desaströs endet. Darum geht es, bevor wir den Bogen schlagen zur Ökonomie-Geschichte und ihren großen Kämpfen, um schließlich zu sehen, wohin uns die jetzige Wende führen könnte.

Seit fast einem Jahrhundert wollte die Wirtschaftswissenschaft so sein wie die Physik. Ihre mathematisch einwandfreien Modelle, fußend auf eineindeutigen Annahmen über die Akteure und ihre Bedingungen, schufen enorme analytische Klarheit – und setzten die Ökonomie deutlich ab gegenüber Soziologie oder gar Politologie. Doch, so wissen Ökonomen, hat jeder Nutzen seine Kosten. In dem Fall hat die Orientierung an einer Naturwissenschaft die Forscher weit weggeführt von der menschlichen Natur, wie man sie heute kennt. Dies ist die Geschichte von dem Versuch, das Defizit zu beseitigen – durch die Wiederentdeckung des Menschen in der Ökonomie. Die Ergebnisse sind beeindruckend. Und besser noch: Sie sind überaus nützlich.

|13|Kapitel 1

Gründe fürs Umdenken – oder : Die Kraft der ökonomischen Ideen

»Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen.«

John Maynard Keynes, 1936

(britischer Ökonom)

Ob es uns gefällt oder nicht, wir laufen in einem Wettrennen mit. Ich meine nicht die Standortkonkurrenz zwischen einer Milliarde Bewohnern in den Industrieländern und drei Milliarden Menschen in aufstrebenden Schwellenländern von China über Indien bis nach Brasilien. Ich meine auch nicht den Karrierekampf am Arbeitsplatz oder das Statusrennen in der Nachbarschaft. Vielmehr meine ich ein Wettrennen des Verstehens.

Das Wirtschaften ändert sich – nie so eindimensional wie vorhergesagt und doch mit einer unerwarteten Rasanz. Wenn wir daraus das Beste für uns machen wollen, müssen wir unsere Rollen und unsere Möglichkeiten in diesem Spiel kennen – als Verbraucher, Erwerbstätige und Anleger, als Erben, Eltern und Bürger. Wir brauchen einen klaren Sinn dafür, was uns wichtig ist. Und was wichtig ist, um unsere Ziele zu erreichen. Sonst laufen wir wahllos sämtlichen aktuellen Entwicklungen hinterher, könnte ja sein, dass sie bedeutsam für uns werden.

Wir liefern uns also ein Wettrennen mit der Wirklichkeit. Und dabei war uns die Wirtschaftsforschung vorsichtig ausgedrückt über Jahrzehnte nicht sonderlich hilfreich. Jetzt holt sie auf und wir können es mit ihr. Es wird auch höchste Zeit, denn die Zeichen mehren sich, dass sich viele von uns – vom Studenten bis zum Topmanager, vom Azubi bis zum Meister – getrieben fühlen. Von |14|Mächten, deren Druck sie spüren und von denen sie nicht wissen, wie relevant sie sind. Und von Leuten, die ihr Geschäft verstehen: Werbeprofis lernen derzeit viel darüber, wie wir als Verbraucher ticken, Aktienspezialisten denken unser Verhalten bei ihren Strategien mit – es wird Zeit, dass wir selbst einen Wissenssprung machen und Verhaltensweisen entwickeln, die uns entsprechen.

Was hat sich schon groß verändert, werden Sie jetzt vielleicht fragen. Die meisten von uns gehen nach wie vor ins Büro, in den Betrieb, in den Laden. Fünf Tage in der Woche, acht oder auch zehn Stunden am Tag. Sie haben einen festen Arbeitgeber, eine Bank, eine Versicherung, eine Krankenkasse, ein Auto vor der Tür. Wie früher auch. Doch das ist nur die Fassade des Wirtschaftslebens. Darunter geht es heute für die meisten anders zu als vor zwanzig oder gar dreißig Jahren. Ganz anders.

Ein Cartoon aus den USA bringt es auf den Punkt: Da wandern zwei gealterte Achtundsechziger durch die Großstadt, und überall stehen Dollar-Zeichen. An den Wänden der Hochhäuser, auf den Werbetafeln, an den Autos. »Als wir jung waren, ging es nur um Sex«, sagt der eine zum anderen und schüttelt den Kopf.

Das Ökonomische hat sich ausgebreitet in unserem Leben, selbst in dem der jungen Generation. Schüler denken heute ungleich mehr als früher daran, die richtigen Kenntnisse zu erwerben und die richtigen Erfahrungen zu machen, um im Berufsleben zu bestehen. Und ihre Eltern denken wahrscheinlich noch mehr daran – jedenfalls sofern sie der immer noch breiten Mittelschicht angehören. Sie denken daran bei der Auswahl der Grundschule und des Gymnasiums. Bei der Auswahl der Aktivitäten in den Sommerferien. Vielleicht sogar bei der Frage, welcher Sportverein für den Nachwuchs infrage kommt.

Das Nutzenkalkül ist vielen Menschen in Fleisch und Blut übergegangen, und vielleicht sind sie sich dessen nicht einmal bewusst. Je nachdem, aus welchem Land der Babysitter oder das Kindermädchen kommt, lernen die Kleinen schon mal mit: In New York sind chinesische Nannys heute besonders gefragt, weil sie den |15|Kleinkindern auf spielerische Weise Mandarin beibringen sollen – die Sprache der Zukunft. Und fortschrittliche deutsche Kindergärten bieten in der Woche ein, zwei Stunden Englisch an – die Sprache der Globalisierung.

Ab welchem Alter sollen Kinder mit dem Computer umgehen? Schon in den neunziger Jahren ging unter japanischen Großstadteltern der Glaube um, ihr Nachwuchs müsse möglichst früh an den Bildschirm, um für die Informationsgesellschaft gerüstet zu sein. Heute überlegen auch viele westliche Eltern, wie früh ihre Kinder online gehen müssen, um wichtige Skills zu erwerben, Fähigkeiten für den späteren Erfolg.

Allerspätestens nach der Schulzeit wird der Einzug des Ökonomischen offenbar. Die studentischen Lebensläufe heute unterscheiden sich radikal von denen der Eltern. Praktika in Frankfurt und Hongkong, am besten gleich mehrere Auslandssemester in verschiedenen Ländern, Erfolg in studentischen Wettbewerben wie dem sogenannten Moot Court für Juristen oder in Debattierclubs, soziales oder politisches Engagement, Musizieren oder Sport treiben auf hohem Niveau … viele Bewerbermappen zeugen von einem straff organisierten, auf Erfolg ausgerichteten Studentenleben. Nicht dass ein solches Leben unglücklich machte, vielleicht sogar im Gegenteil, aber es folgt eindeutig nicht bloß der Wissbegier, sondern in wachsendem Maße auch dem Marktkalkül.

Willkommen, Risiko!

Nur kein Neid, aber die Achtundsechziger konnten noch neigungshalber oder bloß, weil ihnen nichts Besseres einfiel, ein Studium beginnen – und relativ sicher sein, dass sie am Ende einen auskömmlichen Beruf finden und darin einen gewissen Aufstieg erleben würden. Diese Gewissheit ist heute verschwunden. Erstens real und zweitens, noch stärker, gefühlt. Tatsächlich haben Akademiker immer noch die besten Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und |16|in Deutschland sind weniger als fünf Prozent von ihnen arbeitslos – unter den Erwerbsfähigen insgesamt ist fast jeder Zehnte auf Jobsuche. Doch für die Studierten wie für alle anderen gilt, dass Stabilität und wirtschaftlicher Erfolg zwar winken, aber anders erkämpft sein wollen als früher.

Wiederum ist es nicht die äußere Form, die sich so drastisch verändert hat. Die Aufregung über sogenannte prekäre Arbeitsverhältnisse war in der Bundesrepublik zuletzt so laut, dass man hätte denken können, ein großer Teil der Deutschen arbeite längst in Mini- oder Ein-Euro-Jobs, als Dauerpraktikant oder als Scheinselbstständiger, vorbei an der Sozialversicherung, vorbei an einer Zukunft in Wohlstand. Tatsächlich haben alle diese Formen der Beschäftigung nach der Jahrhundertwende erheblich zugenommen, aber von einem niedrigen Niveau aus. Insgesamt betrachtet sind sie ein Minderheitenphänomen.

Ende 2006 zählte das vereinigte Deutschland mehr Beschäftigte als je zuvor. Fünf Jahre Stagnation waren erst einmal überwunden, mit all ihren Verwerfungen, Betriebszusammenlegungen, Werksschließungen, Kündigungen. Und doch zählte das Land noch 26,6 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, nur 1,4 Millionen unterhalb des Höchststands vom Mai 2001. Und während der Aufschwung an Dynamik gewann, stieg ihre Zahl sogar wieder schneller als die anderer Beschäftigungsverhältnisse. Zuversichtliche Arbeitgeber stellten nicht nur neue Leute ein, sondern übernahmen auch Leiharbeiter und Praktikanten in feste Jobs.

Nein, das Arbeitsleben verändert sich nicht so sehr an der Oberfläche der Formen und Statistiken, aber umso mehr darunter. Viele Jobs verlangen nicht nur eine wachsende Leistung, sie wandeln sich zudem zügig. In der Bezahlung: Eine wachsende Zahl von Firmen beteiligt ihre Mitarbeiter am Erfolg, und betriebliche Bündnisse schaffen im Nu jahrzehntealte Ansprüche ab, wenn es den einzelnen Unternehmen schlecht geht. Und mehr noch im Inhalt: Wachsende Teile der Firmen organisieren sich in vorübergehenden Teams, durch Verkäufe und Käufe von Unternehmensteilen sind |17|immer neue Anpassungen notwendig, Aufgaben werden mit steigender Frequenz neu zugeschnitten, verlagert, computerisiert. Eine Fertigkeit, die heute höchst gefragt ist, kann schon morgen die falsche sein.

Folglich wird das Bild der eigenen Zukunft unscharf. Also muss ich als Berufstätiger abwägen, muss ökonomisch kalkulieren, was das Unternehmen und was der Markt von mir erwartet. Welche Fähigkeiten brauche ich noch, was bringt mich weiter, wo liegt meine Chance, wo mein berufliches Verderben? Derlei Fragen sind nicht so leicht zu beantworten, wenn sich die Aufgaben, die in der Wirtschaft zu vergeben sind, als unstet erweisen. Und derlei Fragen verschwinden niemals ganz. Lebenslanges Lernen heißt auch, immerfort neue Investitionsentscheidungen zu treffen.

Willkommen, Risiko! Die Menschen lieben es zwar im Glücksspiel, beim Lotto oder am Roulette-Tisch, und in so manch anderer Lebenssituation, aber als Existenzgrundlage macht es sie unruhig. Gerade einmal 51 Prozent der Bundesbürger hielten ihren Arbeitsplatz zu Beginn des Jahres 2007 für sicher, ermittelte das Institut für Demoskopie Allensbach, und das während des wirtschaftlichen Aufschwungs. Und auch von ihnen müssen sich viele innerhalb ihrer Firmen für Veränderungen bereithalten. Das Arbeitsleben ist insofern unvorhersagbar, ein Quell für wirtschaftliches Kalkül, das an neue Gegebenheiten angepasst sein will.

Ob wir nun über Geldanlagen befinden müssen, um privat vermehrt fürs Alter vorzusorgen, oder bei Ebay versuchen, mit der besten Bieterstrategie ein antikes Möbelstück zu ergattern – auch andere Teile des Lebens als nur das Arbeiten verlangen dieses ökonomische Kalkulieren mit wachsender Dringlichkeit.

Die trostlose Wissenschaft?

In einer solchen Phase müssten uns eigentlich die ökonomische Forschung und das ökonomische Denken hilfreich zur Seite stehen|18|. Doch dem steht ein Phänomen entgegen, das auf den ersten Blick so gar nicht zur gegenwärtigen Zeit passen will: Ökonomie ist unpopulär. Welche Gedanken und Modelle Wirtschaftsforscher aushecken, ihre Sprache, ihre Argumente, ihre Thesen stoßen in der Bevölkerung vor allem auf Befremden. Man muss nicht einmal das Etikett des »Neoliberalen« daranheften, der Vorwurf betrifft mehr als nur eine weltanschauliche Richtung. Die Theorie steht weithin im Ruf, am Menschen und seinen Belangen vorbei zu operieren. Als »dismal science« ist sie im Englischen bekannt, als die trostlose Wissenschaft.

Natürlich muss die Ursache für die miserable Aufnahme in weiten Teilen der Bevölkerung nicht bei den Ökonomen liegen, es kann auch das Missvergnügen der Menschen an der einen oder anderen Wahrheit sein. Und so verhält es sich teilweise tatsächlich.

Die Verbraucherpreise sind zu hoch! Die Arbeitnehmer müssen zu ihrem Recht kommen! Ein Paar von Aussagen, die im Einzelfall unvereinbar sind. Der Staat muss endlich wieder Geld in die Hand nehmen! Schluss mit dem Schuldenwahnsinn! Noch so ein Paar. Wo Konsumenten, Arbeitnehmer oder allgemein Bürger gerne alles auf einmal hätten, unterbreiten ihnen Ökonomen ein Entweder-oder. Dabei zeigen sie nicht selten die Unerbittlichkeit von Technokraten. Ihr Blick ist nun einmal darauf gerichtet, was in der Wirtschaft wie knapp ist und was ein »Mehr« an der einen Stelle an anderer Stelle kostet.

Trotzdem hat die Ökonomie einen erheblichen Anteil daran, dass sie und die Menschen sich entfremdet haben. Sie hat nämlich lange Zeit genau das versäumt, was sie zu Recht von Unternehmern und ihren Mitarbeitern fordert: Sie hat sich im Großen und Ganzen nicht angepasst, hat den Wandel der Wirklichkeit ignoriert, und das gleich in zweifacher Hinsicht.

Erstens lagen wichtige Erkenntnisse, die neue Ansätze ermöglicht hätten, schon vor. Über Jahrzehnte haben Außenseiter aus den eigenen Reihen zusammen mit Vertretern verwandter Disziplinen wie der Psychologie Abertausende Indizien darüber gesammelt, |19|wie Menschen Informationen auswählen, wahrnehmen und dann ihre Entscheidungen treffen und wer oder was sie dabei beeinflusst. Mit anderen Worten, sie haben genau die Box geöffnet, die Ökonomen so lange geschlossen hielten: unseren Kopf. Weil sich früher so wenig Genaues und Verallgemeinerbares über das menschliche Wirtschaftsverhalten sagen ließ, trafen die Forscher vergleichsweise schlichte und tendenziöse Annahmen darüber. Und die bildeten dann die Basis ihres Denkens. Aber auch als sich diese Grundlage in einer wachsenden Zahl von Situationen kaum noch halten ließ, hielten die meisten Ökonomen daran fest – zeigten also genau das »Beharrungsvermögen«, das sie bei anderen so oft kritisiert hatten.

Zweitens änderte sich die Wirklichkeit. So hat der menschliche Faktor in der Wirtschaft eine neue Bedeutung erlangt, und das nicht nur, weil die Bürger heute in ihrem Alltag so vielfältige wirtschaftliche Abwägungen vornehmen. Auch die Wertschöpfung selbst findet vermehrt zwischen den Menschen statt und nicht nur an ihren Schreibtischen, Werkbänken oder Forschungsplätzen. Leute mit wachem Blick beschreiben diese Entwicklung schon eine Weile. »The link is more important than the thing« (Die Beziehung ist wichtiger als die Sache selbst), schreibt der Marketingexperte Bernard Cova und zeigt, wie Produkte erst dadurch ihren Wert erhalten, dass sie dem Käufer das Gefühl vermitteln, zu einer besonderen Gruppe zu gehören. Mehr noch: »Der Konsum wird dann nicht immer als erste Priorität wahrgenommen und eine Beziehung in seinen Dienst gestellt – sondern oft als sekundär betrachtet und seinerseits in den Dienst der sozialen Verbindungen gestellt.«1

Und auf Basis evolutionärer und ökonomischer Erwägungen kommt Robert Wright zu seiner These, dass die Menschen nahezu zwangsläufig intensiver miteinander kooperieren und auf eine integrierte globale Wirtschaft zustreben.2Non-Zero heißt das Buch des Autors aus den USA. Die Welt ist voller Situationen, die keine Nullsummenspiele mehr sind, soll das heißen – in denen also nicht |20|der eine bekommt, was er dem anderen nimmt, sondern in denen beide vom Kontakt profitieren. Diese wirtschaftlichen Potenziale in der Wissensgesellschaft lassen sich nur im wachsenden Miteinander verwirklichen.

Mehrwert im Miteinander

Die Praxis spricht vielleicht nicht dieselbe hochgestochene Sprache, aber sie belegt doch die These. So sehr sie sich auf den Märkten bekämpfen, arbeiten Konzerne auch vermehrt zusammen: BMW entwickelt mit Daimler einen ökologischen Antrieb, Goldman Sachs und die Deutsche Bank teilen sich den Auftrag für einen großen Börsengang, Pharmakonzerne kooperieren mit Biotech-Firmen auf der Suche nach neuen Medikamenten.

Mehr noch: Wir leben zusehends in einer »Beziehungswirtschaft«. Es beginnt mit allerhand modernen Dienstleistungen, die wachsenden Raum im Wirtschaftsgeschehen einnehmen. Ein guter Unternehmensberater hat keine Patentrezepte oder Einheitsbehandlungen – Mehrwert schafft er im Miteinander, als Ratgeber und Lernender zugleich, und um ihn herum entsteht ein kreativer Raum, zu dem auch andere Zugang begehren. Bei einem Softwaredesigner oder Werber verhält es sich kaum anders. Auch nicht bei einem »Life-Coach«, also jemandem aus der wachsenden Gilde der professionellen Lebensberater. Es geht weiter mit einer steigenden Zahl von Produkten, die erst im Austausch ihren Nutzen entfalten. Kommunikationssysteme aller Art gehören dazu, einschließlich neuer Lebenswelten im Internet wie dem zu einiger Berühmtheit gelangten »Second Life«. Und es reicht bis zu Unternehmen, die Konsumenten als Entwickler einsetzen: Der dänische Spielzeugkonzern Lego hat 2003 eine Abteilung gegründet, deren Mitarbeiter nach eigenem Bekunden »eng mit den Internet-Communities in Europa und Amerika zusammenarbeiten«. Aus purem Gewinnstreben sucht die Firma den Dialog. Denn »künftig ist es |21|denkbar, dass einige Tausend Fans als Amateurdesigner für uns arbeiten und neue Linien und Produkte entwickeln«3 .

Eigennützig suchen heute viele Firmen den Dialog – nicht bloß mit Kunden und Lieferanten, sondern auch mit der sogenannten Zivilgesellschaft. Mit interessierten Bürgern und Bürgerorganisationen also, deren Belange sie berühren. Auf diese Weise hoffen sie ihren Ruf zu verbessern oder schlicht einen Käuferstreik abzuwenden, sie lernen etwas über die Erwartungen an ihr Tun und an ihre Produkte, und im besten Fall entstehen daraus Innovationen, die beiden Seiten zum Nutzen gereichen: »Non-Zero« eben.

Wirtschaft wird hier auf eine neue Weise dezentral, und das ist ein Grund, alte Denkmodelle zu überarbeiten. Sie wird bestimmt von diesen Kontaktaufnahmen, man könnte auch sagen: vom menschlichen Faktor. Diese Aussage mag zynische Reaktionen hervorrufen, weil gerade in den vergangenen Jahren diverse Großunternehmen Tausende von Jobs gestrichen haben, obwohl sie schon vorher Milliardengewinne verbuchten. Doch dieser Wandel in der Wertschöpfung findet statt, und auch deswegen war lange nicht jede dieser Aktionen zum langfristig Besten dieser Unternehmen.

Wenn sich die Wertschöpfung also ins Zwischenmenschliche verlagert, so wie das gerade geschieht, dann kommt den Einzelnen mehr Bedeutung zu – ihrer Art zu entscheiden, andere zu beeinflussen und von ihnen beeinflusst zu werden. Dann lässt sich das Wirtschaften nicht mehr so straff und stabil organisieren wie das klassische industrielle Fabrikgeschehen. Nutzwert und Neues in der Wirtschaft entstehen in schwer vorhersagbaren und mit technokratischen Lenkungsmitteln nicht beherrschbaren Prozessen. Wer daran teilhaben und Werte schaffen will, muss offen sein für alle möglichen Einflüsse, die Beziehungsdynamik und – das ist vielleicht am schwersten – unerwartete Ergebnisse. Und wer diese Prozesse verstehen will, muss etwas wissen über menschliche Wahrnehmung und Motivation.

Das Umdenken ist keineswegs auf die Wirtschaft beschränkt, sondern findet, wie immer, als Teil einer gesellschaftlich-wissenschaftlichen |22|Strömung statt. Als besonders spannend gelten gegenwärtig die Erkenntnisse der Hirnforscher, der Neurobiologen und Psychologen. Ob man es nun abliest an Bücherzahlen, Magazintiteln oder Fernsehfeatures – es gibt ein wachsendes Interesse an dem, was in unserem Kopf und Körper vorgeht und was im Umgang zwischen den Menschen geschieht. Denn dort sind die Fortschritte der Erkenntnis groß, und darüber wollen die Menschen heute etwas wissen. Wir kämen vom physikalischen ins biologische Zeitalter, heißt es schon. Das ist zwar auch wieder so eine Vereinfachung, aber eines steht fest: Es wandeln sich nicht nur die Zeiten, sondern auch der Zeitgeist ändert sich. Wirklichkeit und Gedanke verstärken sich gegenseitig und am Ende entsteht eine neue Perspektive. Dieser Entwicklung haben sich die klassischen Ökonomen lange verschlossen, haben mit angesehen, wie ihnen Wirklichkeit und Zeitgeist die Relevanz nahmen, und haben das Befremden der Menschen an der Ökonomie Jahr für Jahr verstärkt.

»When the facts change, I change my mind. What do you do, Sir?«, hat der britische Ökonom John Maynard Keynes einmal im fachlichen Streit gerufen. »Wenn sich die Tatsachen ändern, ändere ich meine Auffassung. Und Sie?« Das war vor 70 Jahren. Seine eigene Zunft hat diese Kernaussage für sich selbst lange Zeit ausgeblendet – das ist die schlechte Nachricht. Doch heute ist sie Teil des Umdenkens – das ist die gute Nachricht. Das muss uns nicht deshalb freuen, weil die Ökonomie dadurch akademische Geltung zurückerobern kann. Wichtiger ist, dass die Forscher uns mit ihrem Aufbruch helfen können, die eigene Umgebung mit ihren veränderten Funktionsweisen besser zu verstehen. Und unser Verhalten darin natürlich auch.

Die Suche nach Gelassenheit

Die gute Nachricht kommt keinen Moment zu früh. Vielfach schafft die Wirtschaft nämlich Unruhe, vielfach wird das Geschehen |23|am Markt und im Unternehmen als »Gewusel« wahrgenommen, in dem sich die Optionen genauso schnell ändern, wie sich neue Risiken auftürmen. Im Job, im Konsum, an der Börse. Da ist es wohl kein Zufall, dass dem in den reichen Nationen das Bedürfnis nach »Wellness« gegenübersteht, das Streben nach Ruhezonen und einer besseren Balance zwischen Leben und Arbeiten, nach Einkehr und Gelassenheit. Es scheint vielmehr zu passen als Ausdruck des Wunsches, angesichts des schnelllebigen Wirtschaftsgeschehens zu sich selbst zu finden. Es scheint zu passen angesichts der Schwierigkeit, die eigene Situation zu durchschauen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, echte von falschen Zwängen zu unterscheiden und neue Freiheiten zu gewinnen. Und dieses Streben ist auch keine kurzlebige Mode, sondern Teil eines durchgreifenden Wandels von einiger ökonomischer Bedeutung.

Die Trendforscherin Melinda Davis beobachtet das Konsum und Wahlverhalten der Menschen in den Industrieländern schon eine ganze Weile. Und die Gründerin des Instituts »The Next Group« hat eine spannende Geschichte zu erzählen. Sie meint, dass die innere Ruhe zum wichtigsten Gut wird, auch wenn die Verbraucher das vielleicht selbst noch gar nicht benennen können: »Wir wissen, dass wir etwas wollen – und wünschen es uns voller Sehnsucht und Leidenschaft, ja Inbrunst. Wir können nur einfach nicht definieren, was es ist. Die Unfähigkeit ist schwer zu begreifen, leben wir doch in einer Zeit, in der die Befriedigung von Wünschen aller Art als Maxime gilt und das Angebot an Dingen, die wir erwerben, tun, erleben, erreichen – wünschen – können, größer und verlockender ist als je zuvor. Unsere Kultur nötigt uns, jede Minute des Tages über unsere Wünsche nachzudenken: Wünsch dir dies, wünsch dir das, wünsch dir jenes. Und dennoch spüren wir tief in unserem Innern ein rätselhaftes Verlangen – ein Gefühl, dass dieses eine Ding, das uns wirklich zufriedenstellen würde, erst gefunden oder sogar erfunden werden muss.«4

Die globalisierte Wirtschaft setze die Menschen so vielen Reizen aus, meint Melinda Davis, dass mittlerweile das Neue nicht mehr |24|faszinierend erscheine, sondern anstrengend. Immer wählen zu können heißt demnach immer wählen zu müssen, und das wiederum bedeutet Stress. Folglich wünschen sich die Konsumenten in Umfragen nicht mehr an erster Stelle Autos oder Häuser, sondern »ein glückliches Zuhause«. Folglich suchen sie auch andere Produkte, die ihnen ein Stück Seelenruhe versprechen – und finden entsprechende Werbung verlockend. Das gilt für Teesorten wie für Urlaubs- und Freizeitangebote.

Marketingmanager sollten also künftig versuchen, durch ihre Botschaften keinen Stress mehr zu erzeugen, sondern ihn zu lindern, erklärt die Forscherin. Denn das Verlangen nach psychologischem Gewinn überrage andere Wünsche. Viele Menschen suchten Autoritäten, die ihnen das Wählen erleichtern. Das können zum Beispiel Berater sein, Gurus, Fernsehstars oder sonstige Mediengrößen wie auch vertrauenswürdige Marken, unter deren Label sich vertrauensvoll kaufen lässt. Dienstleister, die ihre Kunden vom Tagesstress – vom Einkauf bis zum Ärger mit der Telefongesellschaft – entlasten, erwarte eine blühende Zukunft.

Man muss da nicht jedes Wort glauben, und natürlich leben auch in den reichen Ländern Millionen arme Menschen, die froh wären, wenn sie überhaupt zwischen Optionen wählen dürften. Trotzdem wissen wir aus eigener Beobachtung, wenn nicht gar aus eigenem Erleben, dass die Analyse im Kern zutrifft. Die Wellness-Oasen, die allerorten aus dem Boden schießen, belegen sie ebenso wie der enorme Erfolg von Ratgeber-Büchern, die das Leben vereinfachen sollen. Ein weiteres, vielleicht besseres Indiz ist die Popularität von Yoga und anderen fernöstlichen Praktiken für Geist und Körper. Allen voran die Buddhisten verkörpern heute glaubwürdig das Versprechen, das Melinda Davis auf jede Kosmetikschachtel schreiben will: mehr echte Lebensfreude durch innere Einkehr.

Selbst unter den absoluten Gewinnern der Globalisierung ist das Interesse an diesem Versprechen groß, wie auf dem World Economic Forum im schweizerischen Davos zu beobachten ist, wo |25|sich die Topmanager der Welt treffen. Erst hat dort der Chicagoer Psychologieprofessor Mihaly Csikszentmihalyi sein Konzept des »Flow«5 als Weg zum Glück propagiert. Später scharten sich Manager um den buddhistischen Mönch Matthieu Ricard, einen der führenden Experten für meditative Erfahrungen. Im Jahr 2007 fand schließlich der indische Yogi – und ehemalige Unternehmer – Yaggi Vasudev breites Interesse mit seiner These, dass die Menschen ihren inneren Zustand selbst bestimmen sollten. Es könne nicht sein, so seine Übersetzung für westliche Manager, dass die globalen Spitzenkräfte zwar ganze Wirtschaftszweige zu lenken versuchten, nicht aber ihre eigenen Empfindungen.

All das sind nur »weiche« Indizien, zugegeben. Doch wie man es auch wendet, viele Wohlstandsbürger empfinden ein Defizit in der globalisierten Wirtschaft. Manches trägt dazu bei: die Angst von Mittelschichtsfamilien abzustürzen, der Überdruss und die Genervtheit von Verbrauchern angesichts der Multioptionsgesellschaft, die Zeitknappheit und Getriebenheit von Managern, vielleicht auch der leise Verdacht, nichts aufbauen zu können, was von Dauer ist.

Als Antwort darauf muss sich die Beziehungsökonomie weiter verstärken. So sieht es jedenfalls die Harvard-Psychologin und Business-School-Professorin Shoshana Zuboff, die gemeinsam mit dem Unternehmer James Maxmin das Bild einer grundlegend veränderten Wirtschaft malt.6 Demnach kann die klassische industrielle Wirtschaft mit ihrer Massenideologie die Bedürfnisse der Bürger nicht mehr erfüllen. Denn die wollen ihre Lebensumstände zielgenau gestalten. Als Konsumenten und Kapitalanleger ohnedies, und auch als Erwerbstätige wollen sie Bedingungen, die zu ihnen passen.

Weil die Wirtschaft und das wirtschaftliche Denken der Lebenswirklichkeit weit hinterherhinken, entstehen Unzufriedenheit und Frustration. Die Bürger der westlichen Wissensgesellschaften wollen »tiefe Unterstützung« – etwa durch medizinische Dienstleister, die ihnen gezielt dabei helfen, ihre eigenen Defizite zu erkennen |26|und gesund zu leben. Sie wünschen, dass Unternehmen ihnen Haushalts-, Einkaufs- oder Amtspflichten abnehmen. Sie suchen wirtschaftliche Vertrauensverhältnisse mit geringer Enttäuschungsgefahr und sind bereit, denjenigen viel Geld zu bezahlen, die ihnen besondere Gelegenheiten aufzeigen. Und sie sind interessiert an flexiblen Gemeinschaften in der Wirtschaft und Zivilgesellschaft, um ihre Anliegen voranzubringen. Mit einem Satz: Der moderne Wirtschaftsmensch sucht verlässliche Helfer und – im allgemeinen Wortsinn – »Advokaten« für die Einrichtung seines Lebens. Deshalb, so Zuboff und Maxmin, sei künftig die »Beziehungsökonomie der Rahmen, Wohlstand zu schaffen«.

Auch diese Vision ist nur ein Ausschnitt. Sie schließt jene aus, die am Existenzminimum leben, die trotz Leistung keine Aufstiegschance haben und die nur wollen, was die meisten längst haben. Außerdem ist sie viel zu ehrgeizig. Sodann sind die Unternehmen höchstens ein Teil der Antwort, ein anderer Teil ist der Staat, ein dritter Teil sind wir selbst, die wir die moderne Wirtschaft besser verstehen lernen. Doch es wird hier einmal mehr belegt, dass sich die Bedingungen dafür verändern, wie Mehrwert geschaffen werden kann – dass sie dem Einzelnen und seinem Verhalten mehr Bedeutung geben.

Besser spät als nie: Die Antwort der Ökonomen

Konsumenten wie Manager, Bürger wie Politiker suchen Antworten. Da darf die Ökonomie nicht zurückstehen. Und sie hat Wichtiges beizusteuern: Nur sie kann die Funktionsweise der heutigen Wirtschaft wirklich erörtern. Ihre Erkenntnisse können dazu führen, dass Menschen die Vorteile der wachsenden Vielfalt in der Volkswirtschaft zu fassen bekommen, ohne in ihr unterzugehen. Sie kann uns zeigen, wie sich neue Formen von Konkurrenz und Kooperation entwickeln – wie also beispielsweise Firmen zur Zukunftswahrung gemeinsam mit Bürgern neue Projekte entwickeln. |27|Und es ist die Ökonomie, die der Politik helfen sollte, wenn sie beispielsweise massive Änderungen im wirtschaftlichen Verhalten herbeiführen muss, um den Klimawandel zu stoppen.

»Komplex« nennen Forscher solche Aufgaben und Probleme. Gemeint ist, dass die Resultate davon abhängen, wie die beteiligten Menschen agieren und reagieren. Vollkommene Kontrolle ist da unmöglich, eine sichere Vorhersage auch, aber je besser man das Wahrnehmungs- und Entscheidungsverhalten versteht, desto genauer kann man sich selbst einordnen und Anreize für andere setzen. Die »Verhaltensökonomie« hat also das Potenzial, immens nützlich zu sein.

Tatsächlich zeigt sie uns in einer wachsenden Zahl von Situationen bereits, dass unser Verhalten alles andere als eindimensional ist. Hier einige Beispiele:

Erstens: Die meisten Menschen scheuen in ökonomischen Belangen das Risiko, richtig? Falsch! Sie mögen das Risiko nicht, wenn sie den Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach haben können, wenn es also etwas zu gewinnen gibt. Aber wehe, ihnen droht ein Verlust, ein aus ihrer Sicht unfairer noch dazu. Dann gehen sie mitunter enorme Risiken ein, um ihn abzuwenden.

Zweitens: Die meisten von uns sind für Fairness und gönnen den anderen ihren Anteil, richtig? Nun ja, tatsächlich ist es uns oft lieber, wenn die anderen weniger haben als wir – auch wenn das relative Elend der anderen das eigene Vermögen gar nicht vermehrt. Einfach so, des guten Gefühls wegen, mehr zu haben.

Drittens: Wir sind vielleicht nicht streng rational, aber wir wissen, was uns gefällt, oder etwa nicht? Darauf sollten wir uns lieber nicht verlassen. Zum Beweis die Gegenfrage: Was ist unser Nutzen? Letztendlich das Empfinden, das ein neues Produkt oder eine Dienstleistung in uns auslöst. In vielen Fällen unterscheidet sich indes das, was wir während eines Konsumerlebnisses verspüren, radikal von dem, woran wir uns später erinnern. Da |28|wird zum Beispiel ein über weite Strecken aufreibender Urlaub zur Traumreise verklärt, weil der letzte Tag so schön war. Der erlebte Nutzen ist dann anders als der erinnerte Nutzen – und mithin anders als das, was wir für das nächste Mal erwarten.

Die Einsichten der neuen Ökonomie sind mehr als bloß der Einzug des sogenannten gesunden Menschenverstandes. Manchmal sind sie sogar das Gegenteil. Die Wirtschaft hat sich radikal gewandelt und stellt neue Anforderungen an uns, sodass die alten Denk- und Handlungsroutinen mitunter ins Leere führen.

Das gilt auch für Unternehmer, die Mitarbeiter führen müssen, und für Politiker, die ein Gemeinwesen organisieren sollen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, oder? Manchmal ist sie schlechter. In solchen Fällen wird die Kontrolle als Zeichen von Misstrauen gewertet, und die Menschen strengen sich weniger an. Verhalten zu lenken und nachhaltig zu verändern ist ein kompliziertes Unterfangen. Wann sind Verbote wirkungsvoll, wann bewirken sie bloß Renitenz? Wann fühlen sich Kunden gut bedient und verstanden und wann nicht? Wann gilt ein Steuersystem oder ein Sozialsystem als fair und verursacht deswegen nur wenig Ausweichreaktionen und Überwachungskosten, und wann ist das Gegenteil der Fall?

Die Ökonomie vom Menschen ist naturgemäß vielschichtig. Und sie ist noch sehr jung. Deshalb muss man vorsichtig sein, wenn es darum geht, ihre Resultate zu verallgemeinern, zu interpretieren und in Handlungsempfehlungen umzuwandeln. Das ändert aber nichts daran, dass die Entdeckungsreise überaus spannend und hoch relevant ist. Denn die wirtschaftlichen Fragen sind selbst ebenso vielschichtig und überraschend. Auch hierfür einige Beispiele:

Erstens: Zunächst schienen Biokraftstoffe ein sicherer Weg in eine klimafreundlichere Weltwirtschaft zu sein – bis die ersten Bauern in Entwicklungsländern auf die neuen Anreize reagierten |29|und ihr Verhalten veränderten. Auf einmal wurde klar: Diese Bauern produzieren auf ihren Feldern keine Lebensmittel mehr, sondern Sprit. Die Öko-Lösung erzeugt ein weiteres Ernährungsproblem.

Zweitens: Bei Computerspielen war die gesellschaftliche Bewertung zunächst klar. Verführten sie nicht eindeutig die Kinder zu Gewaltsimulationen und Banalität? Dann änderte sich nicht nur die Technik, sondern auch das Verhalten vieler jugendlicher Kunden war überraschend. Gewalt verkauft sich nach wie vor, aber zwei Drittel aller Bestseller-Spiele machen sie heute nicht zu ihrem Thema. Und was anscheinend besonders gut ankommt, bei gewaltreichen wie gewaltfreien Spielen, ist das Gruppenspiel über das Internet. Da müssen die Spieler den Zugang zu erfolgsträchtigen Gruppen finden oder diese gründen. Sie erfahren, was ein Team zusammenhält und was es sprengt. Und weil die Mitspieler aus verschiedenen Ländern kommen, erfahren sie auch noch etwas über interkulturelle Zusammenarbeit. Auf einmal wird der am schnellsten wachsende Zweig der Kulturindustrie zumindest ambivalent gesehen und nicht mehr generell als Teufelszeug.

Drittens: »Corporate Social Responsibility« schien eine Art Patentrezept zu sein. Unternehmer engagierten sich mit sozialen und anderen Projekten in der Gesellschaft, um ihren Ruf zu verbessern. Eine ganze Beraterindustrie schoss aus dem Boden. Jeder Vorstand wollte »CSR« haben, eine Schule hier sponsern oder ein Sportteam dort. Doch viele Projekte brachten überhaupt nichts: keine neuen Erfahrungen fürs Geschäft, kein Vertrauen in der Bevölkerung. Denn die Bürger bemerken nur allzu schnell, wenn die Projekte nichts anderes sind als Schmuckwerk, und verhalten sich entsprechend. Nun beginnt Phase zwei in der CSR-Entwicklung.

Man muss das Verhalten mitdenken. Als klar wurde, dass die gesetzliche Rentenversicherung ihr Leistungsniveau nicht aufrechterhalten |30|würde, kam das Plädoyer für die private Altersvorsorge. Von Banken natürlich, aus unternehmerischem Interesse, aber auch von der Politik und von Forschern. Den mündigen Anleger zum Aufbau eines Altersvermögens mit Aktien und anderen Wertpapieren aufzufordern war da nur folgerichtig. Dann brach die New Economy gleich nach der Jahrhundertwende zusammen, und viele gerade erst gewonnene Volksaktionäre wendeten sich enttäuscht von der Börse ab. So verpassten sie den Anstieg des Dax und anderer Aktienindizes um 10 Prozent, um 20 Prozent … um 100 Prozent. Erst als sich die Kurse im Vergleich zum Tiefpunkt wieder mehr als verdoppelt hatten, entdeckten viele Anleger und auch Altersvorsorger die Börse wieder für sich. Viele Anleger verhalten sich eher herdenhaft als heldenhaft.

Neue Probleme brauchen neue Erkenntnisse und modellhafte Erklärungen. Die liefern die Verhaltensökonomen auch. Dabei geht so manche altgediente Ideologie über Bord. Der reine Marktglaube zum Beispiel ist vielen jungen Ökonomen nicht genug. Axel Ockenfels ist der prominenteste deutsche Ökonom neuer Prägung. Seine Disziplin habe sich vom Menschen entfernt, ist seine Auffassung, doch nun bewege sie sich auf ihn und auf einen neuen Pragmatismus zu. Das heißt für Ockenfels auch: Wettbewerb ist gut – wenn er funktioniert. Gerade in Bezug auf den Markt hätten die Ökonomen lange hoch zu Ross gesessen, ohne aber das Marktgeschehen in allen Facetten zu verstehen. Jetzt würden auch die Freunde des Marktes erkennen: Die Details, also die genauen Regeln und Anreize, spielen eine große Rolle, bei den Auktionen im Internet genauso wie beim Wettbewerb der Stromversorger. Falls die Details nicht stimmen, geht Wohlstand verloren, weil die Preise zu hoch sind oder Innovationen nicht stattfinden.

Ockenfels geht so weit zu behaupten, dass die jungen Wirtschaftswissenschaftler offen seien für alles, was ihnen hilft, die Welt zu verbessern. Aber wie stets, wenn sich ein beherrschendes Denkmuster verabschiedet und ein neues entsteht, werden auch neue Ideologien geboren. Noch ist das Denken zwar offen und |31|beeinflussbar, aber schon benutzen Ökonomen und Nicht-Ökonomen einzelne verhaltensökonomische Erkenntnisse, um neuartige Eingriffe des Staates in die Freiheit der Bürger zu propagieren – oder um alte abzuwehren. In jedem Fall helfen die jungen Ideen uns nicht nur dabei, die Wirtschaftswelt und uns darin zu verstehen. Sie beginnen auch schon die Welt zu verändern. Irgendwann wird sich ein neues Weltbild verfestigen.

»Im gegenwärtigen Augenblick erwarten die Menschen mehr als sonst eine grundlegendere Diagnose, sind sie ganz besonders bereit, sie aufzunehmen, begierig, sie auszuproben, wenn sie nur einigermaßen annehmbar sein sollte.«7 Das schrieb im Jahr 1936 John Maynard Keynes, den selbst sein ärgster Widersacher im 20. Jahrhundert, Milton Friedman, als großen Ökonomen verehrte. Dann schrieb er weiter: »Von dieser zeitgenössischen Stimmung abgesehen, sind aber die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie im Recht als wenn sie im Unrecht sind, einflussreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen.«

Keynes hat Recht. Oft wird die Macht der Ideen unterschätzt, weil diese sich nur allmählich durchsetzen. Das kann durchaus zwei, drei Jahrzehnte dauern, sodass, wie Keynes hinzufügt, »die Ideen, die Staatsbeamte und Politiker und selbst Agitatoren auf die laufenden Ereignisse anwenden, wahrscheinlich nicht die neuesten sind«. Aber im Wechselspiel mit der Realität und dem Denken der Zeit treten die neuen Ideen hervor und entfalten ihre Wirkung. Die neuen ökonomischen Pioniere begannen ihr Werk auch schon vor einigen Jahrzehnten. Sie wurden erst belächelt, dann bekämpft und schließlich, als es nicht mehr anders ging, gefeiert. Nun setzen sich ihre grundsätzlichen Ideen allmählich durch, in der eigenen Disziplin und schließlich auch in den Köpfen jener Praktiker, die sich so frei von intellektuellen Einflüssen wähnen.

|32|Kapitel 2

Der lange Weg der Umstürzler – oder : Dem Menschen auf die Schliche kommen

»Entscheidungen werden nicht getroffen, sie quellen auf.«

Reinhard Selten, 1991

(Erster deutscher Träger des »Nobelpreises für Ökonomie«)

Es ist schwer, den Beginn eines Umsturzes zu datieren. Doch mit einiger Berechtigung lässt sich sagen: Der Umsturz im Gedankenregime der Ökonomie begann damit, dass Reinhard Selten in den Keller ging.

Vor einem halben Jahrhundert begann der deutsche Mathematiker seine Forschungen in der Spieltheorie. Sie kann Situationen erhellen, in denen sich Menschen durch ihre Handlungen gegenseitig beeinflussen – ein Brettspiel genauso wie den Wettbewerb zwischen zwei Unternehmen, die einen Markt unter sich ausmachen. Selten war sehr erfolgreich und erfand Modelle, deren Schlichtheit und Klarheit einem den Atem stocken lassen.

Und doch kamen ihm Zweifel. Was zum Teufel tat er da eigentlich? Die Spieltheorie ging – wie die Ökonomie insgesamt – vom vollständig rationalen Menschen aus, der auch komplizierte Beziehungen Zug um Zug bis zu Ende bedenken und durchschauen kann. Da war eine Lösung erst erreicht, wenn jeder Akteur in jeder Runde die für ihn optimale Strategie wählte und ein Ergebnis entstand, das keiner allein mehr verbessern konnte. Bloß ein Problem konnte damit noch lange nicht als gelöst betrachtet werden: das der Wirklichkeit. Mit jedem Modell, mit jedem neuen Ergebnis mehrten sich die Widersprüche zwischen der theoretischen Lösung und dem beobachtbaren Verhalten in der Alltagswirtschaft.

|33|Also ging Reinhard Selten in den Keller, genauer ins Labor, um in Experimenten herauszufinden, wie die Menschen in wirtschaftlichen Situationen tatsächlich Optionen bewerten, auswählen, wahrnehmen – mit einem Wort: wie sie entscheiden.

Studenten und später andere Probanden spielten die Situationen durch. Und dabei verhielten sie sich systematisch anders als der Homo oeconomicus, das damals allein herrschende Menschenmodell der Wirtschaftswissenschaftler. Weder konnten noch wollten die Teilnehmer ausschließlich den Eigennutz maximieren, wie es theoretisch so schön vorgesehen war. Teils schätzten sie Situationen falsch ein und machten unbewusst Fehler, die sie vom eigenen Ziel entfernten. Teils nahmen sie Verluste bewusst in Kauf, um andere zu Fairness und Zusammenarbeit zu erziehen oder schlicht eigenen moralischen Vorstellungen zu entsprechen.

Im Keller sah Reinhard Selten den Homo oeconomicus in sich zusammenfallen. Anfangs hoffte er noch, man könnte das Entscheidungsverhalten in einigen allgemeinen Prinzipien erklären – ein Modell dafür entwarf er in den siebziger Jahren.1 Doch später lernte er, dass uns Hunderte von Regeln in all den verschiedenen Situationen und all den verschiedenen Umständen leiten. Er kam zu dem Schluss, den viele von uns nachvollziehen können, wenn sie sich selbst betrachten: »Entscheidungen werden nicht getroffen, sie quellen auf.« Rationales Abwägen, soweit es in unserer Macht steht, ist demnach nur einer von mehreren Beratern. Manchmal schlägt er eine Entscheidung vor, manchmal weist er lediglich auf die Vor- und Nachteile verschiedener Alternativen hin. Die Entscheidung selbst wird dann in einem unterbewussten Vorgang gefällt, manchmal gibt die Ratio dabei den Ausschlag und manchmal eine andere Regung.

Wie vielschichtig der Vorgang wirklich ist, zeigt der Blick in uns selbst. Können Sie die eigenen Entscheidungen vollständig verstehen? Wohl kaum. Trotzdem versuchen wir oft, unser Verhalten im Nachhinein rational zu erklären, weil wir die eigenen Motive und Unzulänglichkeiten nicht sehen oder nicht akzeptieren. Der Menschenbeobachter |34|Reinhard Selten rät dagegen, dass wir mit der Art, wie wir tatsächlich entscheiden, unseren Frieden machen.2

1994 erhielt Reinhard Selten als erster Deutscher den »Preis für Ökonomische Wissenschaften in Erinnerung an Alfred Nobel«. Den jährlich vergebenen Preis, der in Dotierung und Auswahlverfahren den klassischen Nobelpreisen gleicht, hatte die Schwedische Reichsbank 1968 gestiftet. Doch auch nach 26 Jahren mochten die Juroren noch nicht vom Rationalitätspodest herabsteigen. Selten bekam den Preis gemeinsam mit John Nash, dessen Biografie 2001 die Grundlage für den Hollywood-Film A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn bildete, und einem weiteren Kollegen. Und er bekam ihn einzig für seine ebenso schönen wie rationalen Modelle, die doch nur die eine Seite des Revolutionärs aus Bonn waren – die im Tageslicht. Erweichen ließ sich das Establishment erst nach der Jahrhundertwende. Im Jahr 2002 vergab es seinen prominentesten Preis erstmals für verhaltensökonomische Forschung.

Rütteln am Fundament

Natürlich fand die Revolution nicht bloß in Seltens Keller statt. Skeptische Ökonomen und Psychologen begannen von allen Seiten, das wirtschaftliche Denken mit beobachtbarem Verhalten in Einklang zu bringen. Reinhard Selten wurde von Herbert A. Simon inspiriert, der schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg das Geschehen in modernen Unternehmen verstehen wollte und sich dabei vom herrschenden Ökonomiedenken eingeengt fühlte. Also hinterfragte der amerikanische Forscher dessen versteckte Annahme, dass der Mensch alle Handlungsalternativen überprüfe und in all ihren Folgen abwäge. Seine eigenen Beobachtungen ergaben etwas anderes: Mit unserer beschränkten Auffassungsgabe können wir uns stets nur um einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit kümmern, und unser Verstand kann bloß ein Bedürfnis auf einmal verarbeiten. Also suchen wir uns in der Regel ein paar viel |35|versprechende Alternativen und treffen eine Wahl. Maximiert wird da gar nichts, und vielfach fällen wir über die Zeit gesehen widersprüchliche Entscheidungen.3

Die Kritik war visionär. Je mehr Experimente später stattfanden, je mehr Befragungen, Simulationen und Hirnmessungen hinzukamen, desto klarer wurde: Die Menschen sind nicht annähernd so einfach und einfach nicht so perfekt wie angenommen, bloß weil sie es mit wirtschaftlichen Entscheidungen zu tun bekommen. Sie weichen auch nicht zufällig und daher unvorhersagbar von den Maßgaben der klassischen Ökonomen ab, sondern sie tun es systematisch. Sie folgen eigenen Mustern des Verhaltens, die sich situationsbedingt vorhersagen lassen.

Da tritt keine Unvernunft zutage, keine Irrationalität, derer man sich als Mitglied der Menschheit schämen müsste, sondern eine herrliche Komplexität, die es uns ermöglicht, mit den unterschiedlichsten Bedingungen zurechtzukommen. Mit der sogenannten Informationsflut, die doch in Wahrheit nur eine Datenflut ist, genauso wie mit ganz wenigen und unklaren Signalen, mit minimalen Wahlmöglichkeiten wie mit einer Vielzahl von Optionen, mit extremer Unsicherheit wie mit vorhersagbaren Folgen des eigenen Handelns. Es ist eine Komplexität, die es uns erlaubt, die tausendfachen Beziehungen in der modernen Ökonomie und die damit einhergehenden Veränderlichkeiten zu handhaben. Wir können auch unter diesen Bedingungen andere beeinflussen und uns von ihnen beeinflussen lassen, ohne unseren Kompass zu verlieren. Wir können Kooperationen eingehen, ohne uns dauerhaft über den Tisch ziehen zu lassen. Denn wir haben einen guten Sinn dafür, was unfair ist und gemeinschaftsfeindlich, und wir sind bereit, gegen solches Verhalten etwas zu unternehmen.