Humorvolle Geistergeschichten - Thomas M. Meine - E-Book

Humorvolle Geistergeschichten E-Book

Thomas M. Meine

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Beschreibung

Humorvolle Geistergeschichten, Uebersetzung und Ueberarbeitung des 1921 in New York und London erschienenen Buches »Humorous Ghost Stories« von Dorothy Scarborough. Neunzehn ausgewaehlte Geschichten, von Oscar Wilde, bis hin zu »gespenstischen« Beitraegen in populaeren Wochenmagazinen aus der Zeit. Oscar Wilde - Das Gespenst von Canterville, Gelett Burgess - Der Geisterloescher, Ellis Parker Butler - Es gibt keine Geister, Frank R. Stockton - Der versetzte Geist, Théophile Gautier - Der Fuß der Mumie, Brander Matthews - Die rivalisierenden Geister, John Kendrick Bangs - Der Wassergeist von Harrowby Hall , Edward Page Mitchell - Zurueck von jenseits dieser Grenze, Richard Middleton - Das Geisterschiff, Wallace Irwin - Der herbeigeholte Geist, Nelson Lloyd - Der letzte Geist in Harmony, Eden Phillpotts - Der Geist von Geizhals Brimpson, Ruth McEnery Stuart - Die verhexte Fotografie, Will Adams - Der Geist der seinen Knopf sucht , Washington Irving - Das Gespenst des Braeutigams, Richard Barham - Das Gespenst von Tappington, Burges Johnson - In der Scheune, Elise Brown - Eine duestere Geschichtenvorlage, Rose Cecil O Neill - Die Lady und der Geist Keine Kinderlektüre

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Inhalt

Vorwort zur Übersetzung

Zum Vorwort im Originalbuch

Oscar Wilde Das Gespenst von Canterville

Gelett Burgess Der Geisterlöscher

Ellis Parker Butler Es gibt keine Geister

Frank R. Stockton Der versetzte Geist

Théophile Gautier Der Fuß der Mumie

Brander Matthews Die rivalisierenden Geister

John Kendrick Bangs Der Wassergeist von Harrowby Hall

Edward Page Mitchell Zurück von jenseits dieser Grenze

Richard Middleton Das Geisterschiff

Wallace Irwin Der herbeigeholte Geist

Nelson Lloyd Der letzte Geist in Harmony

Eden Phillpotts Der Geist von Geizhals Brimpson

Ruth McEnery Stuart Die verhexte Fotografie

Irma Peixotto Der Geist der seinen Knopf bekam

Washington Irving Das Gespenst des Bräutigams

Richard Barham Das Gespenst von Tappington

Burges Johnson In der Scheune

Elsie Brown Eine düstere Geschichtenvorlage

Rose Cecil O'Neill Die Lady und der Geist

Vorwort zur Übersetzung

Literarische Werke von der einen in die andere Sprache zu übersetzen, ist generell keine einfache Aufgabe. In diesem speziellen Fall kommen aber eine ganze Reihe von Besonderheiten hinzu.

Selbst eine weitgehende Zweisprachigkeit, die, das Englische betreffend, sowohl in den USA, als auch in England ausgeprägt wurde, reicht hier bei Weitem nicht mehr aus. Das fängt schon einmal damit an, dass die Texte einhundert Jahre oder teils noch viel älter sind; das allein wäre allerdings nicht besonders erwähnenswert.

Ist es schwer genug, sich an Satzbau und Eigenheiten eines Autors zu gewöhnen und verständlich zu übertragen, sind es hier einzelne Geschichten, die von neunzehn (!) verschiedenen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, aus englischsprachigen Ländern, sowie aus Frankreich, die im stilistischen Ausdruck doch sehr unterschiedlich sind; diese Unterschiede sollten aber noch erkennbar bleiben.

Inhaltlich ist manches oft nur dem Amerikaner verständlich, anderes nur dem Engländer (und selbst das gelegentlich nur regional und zu jener Zeit), einschließlich des gegenseitigen 'Kokettierens' mit den Unterschieden, oder wie Oscar Wilde es in der ersten (und längsten) Geschichte im Buch ausdrückt: 'Engländer und Amerikaner haben viel gemeinsam, ausgenommen die Sprache'.

Apropos Oscar Wilde: Sein 'Gespenst von Canterville' wurde mehrfach verfilmt, dabei gekürzt und der Zeit angepasst. Personen wurden eingespart, deren Hintergrund verändert und auch die Handlung selbst 'frisiert'. Hier im Buch ist die lange Originalfassung.

Viele Texte sind in phonetischer Schreibweise verfasst, die man, in ihrer übertriebenen Form, kaum noch steigern kann. Dazu ein Überangebot an Metaphern, Wortspielen, oft nur grenzwertig passenden Vergleichen, Dialekten, schwer verständlichen Bezügen, uralten Begriffen sowie eine Reihe von anderen Dingen, die, nicht weit vom Wohnort des Autors entfernt, genauso bekannt sind, wie das 'Hornberger Schießen' bei den Bergbauern in Tibet.

Eine Geschichte, erschienen im Jahre 1911 in einer damals populären New Yorker Monatszeitschrift, ist – komplett durchgängig! – in phonetischer Schreibweise eines grauenhaft imitierten, afroamerikanischen Slangs aus den Südstaaten verfasst, den es heute – zumindest in dieser drastischen Ausprägung – nicht mehr gibt. Für den Übersetzter, der vor vielen Jahren in der Nähe von Washington D. C., der Hauptstadt der USA, gelebt und studiert hat, auf der anderen Seite des Potomac River – in Virginia, bei den 'Konföderierten' – waren dies dennoch halbwegs vertraute Klänge. Hier waren größere Änderungen vonnöten; zum Erhalt des 'Kolorits' wurde aber gelegentlich mit Hallelujah! 'nachgewürzt'.

Ein Beitrag wurde selbst erst einmal, schon vor hundert Jahren, aus der französischen Originalsprache ins Englische übertragen.

Aber auch in anderer Hinsicht waren die Dinge nicht immer einfach: Einige Passagen mit Bezug auf Land und Leute, obwohl meist nur Dialoge von handelnden, und dadurch charakterisierten Personen, würde man heute – in einem neu verfassten Buch – vielleicht mehr 'politically correct' formulieren.

Auch wenn es hier um lustige Geistergeschichten gehen soll – und sonst nichts! – wurden die Texte dennoch hier und da ein wenig überarbeitet, gekürzt oder Teile vollkommen weggelassen, ohne den Inhalt an dieser Stelle zu sehr zu verändern. Eigentlich kann aber so eine Übersetzung alter Werke nicht mit einer zu eigenmächtigen und überzogenen Zensur verbunden sein – die Zeit war eben so.

Auch aus anderen Gründen sah sich der Übersetzer veranlasst, diese sehr individuellen Texte für den Leser aufzubereiten. Deshalb wurde meist eine freiere Übersetzung vorgenommen, mit Ergänzungen oder Kürzungen, sowie hin und wieder auch größeren Veränderungen, um die Lesbarkeit zu erhöhen, unnützen 'literarischen Ballast' abzuwerfen und manchen Geschichten eine bessere 'Abrundung' zu geben. Auch der gelegentliche Wettbewerb der Autoren um den längsten und kompliziertesten Schachtelsatz wurde hin und wieder abgekürzt. Das 'Flair' dieser doch recht alten Texte sollte dabei aber weitgehend erhalten bleiben.

Dort, wo es dem besseren Verständnis dient, wurden zudem einige Anmerkungen gemacht oder erklärend in den Satz eingebaut.

Auch unter anderen Aspekten sollte der Leser immer bedenken, dass diese Geschichten vor etwa einhundert Jahren gesammelt wurden und somit teilweise noch älter sind. Sie müssen demgemäß eingeordnet werden. Gleichzeitig hat es aber auch seinen Reiz, in eine andere, vergangene Zeit einzutauchen.

Die Verfasserin des Originalbuchs mit den von ihr ausgewählten Geschichten, Dorothy Scarborough, Ph.D. (1878 – 1935) wurde in Mount Carmel, Texas, geboren. Sie war Buchautorin, Dozentin für Englisch an der Columbia Universität, New York, und Literaturkritikerin. Sie hat zahlreiche Bücher verfasst, über das Leben in Texas, lokale Folklore, den Baumwollanbau und das Leben der Frauen im Südwesten.

Darüber hinaus hat sie sich auch intensiv mit Geistergeschichten beschäftigt. In zwei Werken hat sie Erzählungen verschiedener Autoren ausgewählt, diese zusammengestellt und vorab kommentiert: 'Famous Modern Ghost Stories' (berühmte moderne Geistergeschichten) und, wie hier nun in der deutschen Übersetzung vorliegend, 'Humorous Ghost Stories' (humorvolle Geistergeschichten).

Zum Vorwort im Buch von Dorothy Scarborough

Für Dr. und Mrs. John T. Harringtion

Das Leben wirft Meilen und Jahre zwischen uns, das ist wahr! Es bringt aber auch Freunde zu mir, die mir niemals lieber waren als ihr!

Der humorvolle Geist

Das sehr lange und oft abschweifende Vorwort von Dorothy Scarborough, zur 'modernen' Gespensterwelt und insbesondere zu den von ihr zusammengestellten humorvollen Geistergeschichten, soll hier lediglich kurz zusammengefasst werden.

Als Buchautorin, Dozentin für Englisch an der Columbia Universität, New York, und Literaturkritikerin, kann sie natürlich einzelne Geschichten nicht einfach auswählen und zusammenstellen; sie kommentiert sie ausführlich, wie auch das 'moderne' Gespensterwesen als solches.

Sie tut dies in epischer Breite, analysiert und beschreibt die modernen Geister, die völlige Verwandlung von den alten Vorbildern, die intellektuellen und humoristischen Komponenten, den Reiz der Lachmuskeln – und nicht nur des Nervenkostüms, sowie kulturelle Unterschiede, je nach Herkunftsland.

Dazu lässt sie uns auch wissen, warum groteske Gespenster meist männlich sind: weil Frauen sich nicht lächerlich machen, selbst wenn sie tot sind. Es gäbe auch sehr wenige lustige Kindergeister, vielleicht, weil es einem Kind unnatürlich erscheint, unter irgendwelchen Umständen zu sterben, um dann später ewig als Lachnummer zu dienen.

Ein Beispiel für einen Kindergeist hat sie dennoch gefunden; leider erscheint er nicht im Buch. Sie bezieht sich auch auf viele andere humoristische Geistergeschichten – zugegebenermaßen im Gesamtzusammenhang – die aber auch nicht zu finden sind. Manche Geschichten wiederum, die enthalten sind, erwähnt sie nicht. Das ist eher verwirrend.

Sie erinnert sich eigentlich nur ungenügend an den endgültigen Inhalt des Buches, das sie im Vorwort kommentiert. Sie hatte wohl schon daran gearbeitet, als sie noch die Geschichten zusammensuchte und noch dabei war, alles mit den jeweiligen Verlagen und Autoren abzustimmen. Dabei wurde sie offensichtlich mit ihren Gedanken 'davongeweht', die äußerst sympathische und literaturverliebte Professorin, die als Frau in ihrer Zeit, vorbildhaft und weit voraus war. Vielleicht hat sie auch erst ganz begeistert das Vorwort geschrieben und dann erst die Geschichten gesammelt.

Moderne Gespenster haben viel zu lange gebraucht – meint sie – ihre Möglichkeiten zu erkennen. Die Geister in der klassischen und altmodischen Literatur waren unheilvolle, dunstige Gestalten, ohne jegliche Energie etwas anderes zu tun, als zu drohen. Sie konnten nur mit einem rostigen Skelett klappern, mit einem verschimmelten Leichentuch wedeln oder mit einer Kette rasseln.

Obwohl sich absolut nichts von ihren nachfolgend festgestellten Charakteristiken der Gespenster in irgendeiner Geschichte wiederfindet, klingen sie doch gut in einem 'sophisticated comment'.

'Der auf der Höhe der Zeit stehende Geist bewahrt sein Skelett in der Garage auf oder irgendwo sonst, wo es gereinigt und geölt und in gutem Gebrauchszustand gehalten wird. Der moderne Geist hat auch seine alten Umhänge an den Tuchhändler verscheuert und zieht sich an, wie im richtigen Leben.'

'Moderne Geister haben Geld, weil sie keine Miete oder Rechnungen bezahlen. Vollzugsbeamte folgen ihnen nicht zur Wohnadresse, wo sie keine Vorladung zustellen können. Gerichte wären überfordert, weil sie keine Schöffen ihrer Spezies haben.'

Gerne spielt sie in ihrem Kommentar mit Worten. Die Wirkung alter Geister ging auf die Wirbelsäule, der Geist von heute berührt auch den 'Musikantenknochen', der im Englischen 'funny bone' (lustiger Knochen) genannt wird.

Auch ihr amerikanischer Patriotismus kommt nicht zu kurz: Der humorvolle Geist ist nicht nur modern, er ist auch ausgesprochen amerikanisch. Es gibt – natürlich – Geister aller Nationalitäten, aber das Gespenst, das Witze macht, über seinen Gastgeber oder sich selbst, ist ein Yankee im Ursprung und in der Entwicklung.

In einem Fall wurde ein falscher Autor angegeben; die richtige Autor-in konnte aber ermittelt werden, durch Einblick in die Originalausgabe des Collier's Weekly Magazins vom 24. Mai 1913 (Der Geist der seinen Knopf sucht).

Dass auch nicht alle Beiträge ausgesprochen 'humorvoll' sind und eher im Regal der 'normalen' Gespenstergeschichten landen würden, sei nur am Rande erwähnt.

Da dies ja eigentlich das Vorwort von Dorothy Scarborough sein sollte, gebühren ihr die letzten Worte, so erschienen am Ende ihres Elaborats:

»Ich wage es, jedem Leser zu prophezeien, wie griesgrämig er auch sein mag, dass er ein freundlicheres Gefühl gegenüber Geistern haben wird, wenn er die Geschichten in diesem Buch gelesen hat.«

D.S., New York, im März 1921.

DAS GESPENST VON CANTERVILLE von Oscar Wilde (1854-1900), irischer Schriftsteller

Eine amüsante Chronik der Schwierigkeiten des Gespenstes von Canterville Chase, als seine angestammten Hallen das Zuhause des amerikanischen Botschafters wurden.

(Anmerkung: bekannte Filmadaptionen, basierend auf dieser Geschichte, besonders neueren Datums, weichen teils erheblich von dieser Originalversion ab).

I.

Als Mr. Hiram B. Otis, der neue amerikanische Botschafter im Vereinigten Königreich, das Anwesen Canterville Chase gekauft hatte, sagte ihm jeder, dass er da auf eine dumme Sache eingelassen hätte, denn es gäbe keinen Zweifel daran, dass es an diesem Ort spukt.

In der Tat war es Lord Canterville persönlich, ein überaus korrekter Ehrenmann, der es als seine Pflicht ansah, diesen Umstand gegenüber Mr. Otis zu erwähnen, als man gerade dabei war, sich über die Konditionen zu verständigen.

»Wir haben uns nicht viel daraus gemacht, hier selbst zu wohnen«, sagte Lord Canterville, »seit meine Großtante, die verwitwete Herzogin von Bolton, einst mächtig erschreckt wurde, wovon sie sich nie mehr richtig erholte.«

»Zwei skelettierte Hände hatten sich auf ihre Schulter gelegt, als sie sich zum Dinner umziehen wollte. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, dass das Gespenst von mehreren lebenden Mitgliedern meiner Familie gesehen wurde, wie auch vom Rektor der Kirchengemeinde, dem ehrwürdigen Augustus Dampier, der ein Mitglied des King's College in Cambridge ist.«

»Nach dem bedauerlichen Zwischenfall mit der Herzogin wollte keiner unserer jüngeren Diener bei uns bleiben und Lady Canterville bekam kaum noch Schlaf in der Nacht, als Folge der mysteriösen Geräusche, die vom Gang und aus der Bibliothek kamen.«

»Verehrter Lord«, antwortete der Botschafter, »ich nehme die Möbel und das Gespenst als vorhandene Wertgegenstände dazu. Ich bin aus einem modernen Land hierhergekommen, wo wir alles haben, was man mit Geld kaufen kann. Wenn unsere agilen jungen Männer die Alte Welt aufmischen können und eure besten Schauspieler und Primadonnen wegholen, denke ich, dass wir auch Verwendung für ein Gespenst finden werden, sollte es so etwas in Europa geben. Wir hätten es schnell bei uns zu Hause, in einem Museum oder in einer Wanderausstellung.«

»Ich fürchte, dass das Gespenst wirklich existiert«, sagte Lord Canterville und lächelte. »Es hat wohl den Annäherungsversuchen von euren unternehmungslustigen Impresarios widerstanden. Man kennt es hier bestens, seit drei Jahrhunderten, genau genommen seit 1584, da es auch immer vor dem Tod eines unserer Familienmitglieder erscheint.«

»Nun, das macht auch der Hausarzt, Lord Canterville. Aber es gibt so etwas wie Gespenster nicht, Sir, und ich glaube auch nicht, dass die Naturgesetze für die britische Aristokratie außer Kraft gesetzt werden können.«

»Ihr seid in Amerika sehr unbefangen«, antwortete Lord Canterville, der die letzte Bemerkung von Mr. Otis nicht recht verstanden hatte, »und wenn Sie ein Gespenst im Haus nicht stört, ist das in Ordnung. Sie müssen nur daran denken, dass ich Sie gewarnt habe.«

Einige Wochen danach wurde der Kauf besiegelt, und am Ende der Saison begaben sich der Botschafter und seine Familie nach Canterville Chase.

Mrs. Otis, vor ihrer Heirat Miss Lucretia R. Tappan, wohnhaft in der 53. Straße West, war eine gefeierte Schönheitskönigin in New York. Nun war sie eine sehr attraktive Frau mittleren Alters, mit prachtvollen Augen und einem ausgezeichneten Profil.

Viele amerikanische Frauen, die ihr Heimatland verließen, hatten das Erscheinungsbild einer chronisch Kranken angenommen, unter dem Eindruck, dass dies eine Art von europäischer Raffinesse sei, aber Mrs. Otis war diesem Irrtum nie unterlegen. Sie hatte eine prächtige Konstitution und ein großes Maß an Lebensfreude. In der Tat war sie in vielerlei Hinsicht ziemlich englisch und ein exzellentes Beispiel dafür, dass wir wirklich viel gemeinsam haben mit dem heutigen Amerika, ausgenommen – natürlich – die Sprache (eine Anspielung auf den ungeliebten amerikanischen Dialekt).

Ihr ältester Sohn, der von seinen Eltern, in einem Anfall von Patriotismus und zu seinem ständigen Ärger, 'Washington' getauft wurde, war ein blonder, ziemlich gut aussehender Mann. Er hatte sich für den amerikanischen diplomatischen Dienst hauptsächlich dadurch qualifiziert, dass er an drei aufeinanderfolgenden Saisons den Reigen im Kurhaus von Newport eröffnete und sogar in London als ausgezeichneter Tänzer bekannt war.

Jasminrosen und der nicht vorhandene Adelsstand waren seine einzigen Schwächen, ansonsten war er ziemlich besonnen.

Miss Virgina E. Otis war ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren, geschmeidig und lieblich wie ein Rehkitz, mit edler Offenheit in ihren großen blauen Augen.

Sie war eine bewundernswerte Amazone. Einmal hatte sie ein Rennen auf ihrem Pony mit dem alten Lord Bilton veranstaltet, rund um den Park, und hatte mit anderthalb Längen Vorsprung gewonnen, direkt vor der Achilles Statue und zum großen Vergnügen des jungen Herzogs von Cheshire, der auf der Stelle um ihre Hand anhielt. Er wurde noch in derselben Nacht, in Tränen aufgelöst, von seinen Betreuern nach Eaton zurückgeschickt.

Nach Virginia kamen die Zwillinge, die man 'Stars und Stripes' (Sterne und Streifen, wie die amerikanische Flagge) nannte, da sie öfters mit der Rute verprügelt wurden. Sie waren wundervolle Jungs und, mit Ausnahme des verehrten Botschafters, die einzig richtigen Republikaner in der Familie.

Da Canterville Chase sieben Meilen von Ascot und der dortigen Eisenbahnstation entfernt liegt, hatte Mr. Otis nach einem Wagen telegrafiert, um die Familie abzuholen, und sie begannen die Fahrt in bester Laune.

Es war ein wunderbarer Abend im Juli und die Luft war mit dem feinen Duft von Kieferbäumen erfüllt. Hin und wieder hörten sie eine Ringeltaube, die über ihre eigene süße Stimme grübelte, oder sie sahen, tief drin im raschelnden Farn, die brünierte Brust eines Fasans.

Kleine Eichhörnchen beäugten sie aus den Buchen, während sie daran vorbeifuhren, und Kaninchen eilten davon, durch das Gestrüpp und über die moosigen Hügel, mit ihren weißen Schwänzen in der Luft.

Als sie jedoch zur Zufahrt von Canterville Chase kamen, wurde der Himmel plötzlich von Wolken verdunkelt; eine seltsame Ruhe schien die Atmosphäre zu erfassen, ein großer Schwarm von Krähen flog leise über ihre Köpfe hinweg, und noch bevor sie das Haus erreichten, waren einige große Regentropfen heruntergekommen.

Auf den Stufen stand eine alte Frau, um sie in Empfang zu nehmen, ordentlich in schwarzer Seide gekleidet, mit einer weißen Haube und Schürze. Es war Mrs. Umney, die Haushälterin, die Mrs. Otis, aufgrund der dringenden Bitten von Lady Canterville, in ihrer alten Position behalten hatte.

Sie machte vor jedem einen tiefen Knicks, als sie ausstiegen, und sagte in einer liebenswerten, altmodischen Weise, »ich heiße Sie willkommen auf Canterville Chase!«

Sie folgten ihr und gingen durch die schöne Tudor-Halle in die Bibliothek, einem langen, niedrigen Raum mit einer schwarzen Holztäfelung, an dessen Ende sich ein großes Buntglasfenster befand. Hier wartete schon der Tee auf sie und nachdem sie ihre Umhänge ausgezogen hatten, setzten sie sich hin und schauten sich um, während Mrs. Umney sie bediente.

Plötzlich entdeckte Mrs. Otis einen dunklen, roten Fleck auf dem Boden vor dem Kamin. Ziemlich unsicher darüber, was das sei, sagte sie zu Mrs. Umney: »Ich denke, da ist etwas vergossen worden.«

»Ja, gnädige Frau«, antwortete die alte Haushälterin mit gedämpfter Stimme, »dort wurde Blut vergossen.«

»Wie fürchterlich«, rief Mrs. Otis aus, »mir gefallen Blutflecken in einem Wohnraum überhaupt nicht. Das muss sofort entfernt werden.«

Die alte Frau lächelte und antwortete mit der gleichen, dumpfen Stimme: »Es ist das Blut von Lady Eleanore de Canterville, die genau an dieser Stelle von ihrem Ehemann, Sir Simon de Canterville, ermordet wurde – im Jahre 1575.«

»Sir Simon hat sie um neun Jahre überlebt und ist plötzlich, unter sehr mysteriösen Umständen, verschwunden. Sein Körper wurde nie gefunden, aber sein schuldiger Geist spukt immer noch im Haus herum. Die Blutflecke wurden von Touristen und anderen immer sehr bewundert, sie können aber auch nicht entfernt werden.«

»Das ist alles Unsinn«, rief Washington Otis, »Pinkertons Meister Fleckenreiniger und intensives Reinigungsmittel hat das im Nu entfernt.«

Noch bevor sich die verängstigte Haushälterin einmischen konnte, war er auf die Knie gegangen und rieb auf dem Boden mit einem kleinen Stift, der aussah wie schwarze Schminke. Kurz danach konnte man keine Spur mehr von dem Fleck erkennen.

»Ich wusste, dass Pinkerton das schafft«, rief er triumphierend heraus, als er sich zu seiner ihn bewundernden Familie umdrehte.

Kaum hatte er aber diese Worte ausgesprochen, wurde der düstere Raum von einem grellen Blitz erhellt. Ein furchterregendes Donnergeläut ließ sie alle auf die Füße springen und Mrs. Umney fiel in Ohnmacht.

»Was für ein scheußliches Klima!«, sagte der amerikanische Botschafter in ruhigem Ton, als er sich eine lange Zigarre anzündete. »Ich denke, das alte Land ist so überbevölkert, dass sie nicht genug anständiges Wetter für alle haben. Ich war immer der Meinung, dass Auswanderung das einzig Vernünftige für England ist.«

»Mein lieber Hiram«, rief Mrs. Otis, »was sollen wir mit einer Frau machen, die in Ohnmacht fällt?«

»Rechne es ihr an, wie zerschlagenes Porzellan«, antwortete der Botschafter, »danach fällt sie nicht mehr in Ohnmacht.«

Tatsächlich kam Mrs. Umney kurz danach wieder zu sich. Es konnte aber keinen Zweifel daran geben, dass sie sehr beunruhigt war, und sie warnte Mr. Otis ernsthaft, sich vor einigen Problemen in Acht zu nehmen, die auf das Haus zukommen würden.

»Ich habe die Dinge mit meinen eigenen Augen gesehen, Sir«, sagte sie, »das würde jedem christlichen Menschen die Haare zu Berge stehen lassen. Eine um die andere Nacht habe ich kein Auge zugetan, wegen der entsetzlichen Dinge, die hier vor sich gehen.«

Mr. Otis und seine Frau versicherten der ehrlichen Seele jedoch wärmstens, dass sie keine Angst vor Gespenstern hätten.

Nachdem sie ihrem neuen Herrn und ihrer neuen Herrin den Segen der Vorsehung wünschte und auch Vereinbarungen bezüglich einer Gehaltserhöhung getroffen hatte, schwankte die alte Haushälterin davon und ging in ihr Zimmer.

II.

Der Sturm wütete die ganze Nacht über, aber sonst ereignete sich nichts, das erwähnenswert gewesen wäre.

Am nächsten Morgen jedoch, als sie zum Frühstück herunterkamen, fanden sie den schrecklichen Blutfleck wieder auf dem Fußboden. »Ich denke nicht, dass es die Schuld vom Reinigungsmittel ist«, sagte Washington, »da ich es schon an allem Möglichen ausprobiert habe. Es muss das Gespenst gewesen sein.«

Daraufhin scheuerte er den Fleck zum zweiten Mal weg, aber am nächsten Morgen war er wieder da. Am Morgen danach war es genauso, obwohl die Bibliothek über Nacht von Mr. Otis persönlich abgeschlossen wurde und er den Schlüssel mit nach oben genommen hatte.

Die ganze Familie zeigte sich nun sehr interessiert. Mr. Otis begann zu vermuten, dass er zu rechthaberisch war, in seiner Weigerung, an Geister zu glauben. Mrs. Otis drückte ihre Absicht aus, sich der Gesellschaft für Parapsychologie anzuschließen, und Washington verfasste einen Brief an die Herren Myers und Podmore, bekannte Forscher auf dem Gebiet der Parapsychologie, mit dem Thema 'dauerhafter Verbleib von Blutflecken, die mit einem Verbrechen verbunden waren'.

In dieser Nacht wurden jedenfalls alle Zweifel an der Existenz von Phantasmen für immer ad acta gelegt.

Der Tag war warm und sonnig gewesen und in der Kühle des Abends, machte die ganze Familie eine Ausfahrt. Sie kamen nicht vor neun Uhr zurück und nahmen dann ein leichtes Abendessen ein.

Die Unterhaltung drehte sich in keiner Weise um Geister, sodass es auch die wichtigsten Bedingungen für 'rezeptive Erwartungen' fehlten, die so oft der Wahrnehmung von übersinnlichen Erscheinungen vorausgehen.

Die Themen, über die man sich unterhielt, wie ich später von Mr. Otis erfahren hatte, waren alleinig die einer gewöhnlichen Unterhaltung kultivierter Amerikaner der besseren Schicht, wie etwa die ungeheurere Überlegenheit von Miss Fanny Devonport über Sarah Bernhardt als Schauspielerin, die Schwierigkeiten, jungen Mais, Buchweizenplätzchen und Maisbrei, sogar in den besten Häusern in England, zu bekommen, die Bedeutung von Boston für die Entwicklung der Weltseele, die Vorteile des Gepäckkontrollsystems bei der Eisenbahn und die Anmut des New Yorker Dialekts, verglichen mit dem Londoner 'Silbenkauen'.

Weder wurde vom Übernatürlichen gesprochen, noch wurde Sir Simon de Canterville in irgendeiner Weise erwähnt. Um elf Uhr in der Nacht zog sich die Familie zurück und eine halbe Stunde später gingen alle Lichter aus.

Einige Zeit später wurde Mr. Otis von einem seltsamen Geräusch auf dem Gang vor seinem Zimmer geweckt. Es klang wie das Klirren von Metall und schien jeden Moment näher zu kommen.

Er stand sofort auf, zündete ein Streichholz an und schaute nach der Zeit. Es war genau ein Uhr. Er war ziemlich ruhig und fühlte seinen Puls, der keineswegs fiebrig war. Das seltsame Geräusch war immer noch da und nun hörte er auch den deutlichen Klang von Fußschritten.

Er zog seine Pantoffeln an, nahm ein kleines, längliches Fläschchen aus seinem Reisenecessaire und öffnete die Tür.

Direkt vor sich sah er, im fahlen Mondlicht, einen alten Mann von schrecklichem Aussehen. Seine Augen waren so rot wie glühende Kohlen, langes, graues Haar fiel über seine Schultern in verfilzten Strähnen; seine Gewänder, in antikem Zuschnitt, waren dreckig und verlumpt, und von seinen Hand- und Fußgelenken hingen schwere Schellen und rostige Fesseln.

»Verehrter Herr,« sagte Mr. Otis, »ich muss Sie wirklich dringend bitten, dass Sie diese Ketten ölen.«

»Ich habe Ihnen deshalb ein kleines Fläschchen vom 'Tammany Rising Sun'* Schmiermittel mitgebracht. Man sagt, es entfaltet seine Wirkung bereits nach einmaliger Anwendung, und es gibt auf der Umhüllung mehrere diesbezügliche Gutachten, von einigen der angesehensten Kapazitäten unseres Landes.«

(* 'Tammany Hall' (abgeleitet vom Tagungsort) war eine politische Seilschaft innerhalb der Demokratischen Partei in New York, die über Korruption – 'schmieren' – und durch Einfluss der Bosse, jahrzehntelang die politische Kontrolle in der Stadt hatte)

»Ich lasse es für Sie hier neben den Schlafzimmerleuchtern liegen und bringe Ihnen auch mehr davon, wenn Sie wollen.«

Mit diesen Worten legte der Botschafter der Vereinigten Staaten das kleine Fläschchen auf den Marmortisch, schloss die Tür und zog sich zum Schlafen zurück.

Das Gespenst von Canterville stand für einen Moment völlig regungslos da. Natürlich war es sehr empört, warf die Flasche heftig auf den polierten Boden und rannte den Gang hinunter, wobei es hohle Seufzer von sich gab und ein geisterhaftes, grünes Licht verströmte.

Als es jedoch den obersten Absatz der großen Eichentreppe erreichte, schwang eine Tür auf, zwei kleine Gestalten in weißen Nachthemden erschienen, und ein großes Kissen flog an seinem Kopf vorbei.

Offensichtlich hatte es hier keine Zeit mehr zu verlieren. Es benutzte die vierte Dimension des Raums, als geeignetes Mittel abzuhauen, verschwand durch die Wandtäfelung, und im Haus kehrte Ruhe ein.

Als das Gespenst eine kleine Kammer im linken Flügel des Hauses erreicht hatte, lehnte es sich gegen einen hereinscheinenden Mondstrahl, um wieder Atem zu holen und um sich über seine Lage im Klaren zu werden.

Niemals, in seiner brillanten und durch nichts unterbrochenen, dreihundertjährigen Laufbahn, ist es dermaßen beleidigt worden.

Es dachte an die verwitwete Herzogin, der es einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, als sie in Spitzen und Diamanten vor dem Spiegel stand, an die vier Hausmädchen, die hysterisch wurden, obwohl es sie doch nur durch die Vorhänge in einem der Ersatzschlafzimmer angegrinst hatte; aber auch an den Rektor der Kirchengemeinde, dessen Kerze es ausblies, als er spät nachts aus der Bibliothek kam, und der anschließend bei Sir William Gull in Dauerbehandlung war – ein wahrer Märtyrer zerrütteter Nerven.

Dann kam ihm auch die alte Madame de Tremouillac in den Sinn, die eines Morgens aufwachte und ein Skelett erblickte, das im Lehnstuhl am Kamin saß und ihr Tagebuch las, woraufhin sie für sechs Wochen mit einer Hirnhautentzündung an das Bett gebunden war. Nach ihrer Wiedergenesung versöhnte sie sich mit der Kirche und brach ihre Verbindung zu dem berüchtigten Skeptiker Monsieur Voltaire ab.

Es erinnerte sich an die schreckliche Nacht, als der boshafte Lord Canterville würgend in seinem Ankleidezimmer gefunden wurde, mit dem Karo-Buben halb in seinem Hals steckend. Kurz bevor er daran starb, gab er zu, dass er Charles James Fox mit genau dieser Spielkarte um 50,000 Pfund betrogen hatte, und schwor, dass er von dem Gespenst gezwungen wurde, diese Karte zu verschlucken.

Alle seine großen Leistungen kamen ihm wieder in den Sinn, wie bei dem Butler, der sich in der Vorratskammer erschossen hatte, weil er eine grüne Hand gesehen hatte, die an der Fensterscheibe pochte.

Dann war da noch Lady Stutfield, die gezwungen war, ein schwarzes Samtband um den Hals zu tragen, weil es die Male von fünf Fingern verbarg, die sich in ihre weiße Haut eingebrannt hatten und die sich schließlich im Karpfenteich, am Ende des King's Walk, ertränkte.

Mit dem enthusiastischen Geltungsbedürfnis des wahren Künstlers ging es noch einmal seine berühmtesten Darbietungen durch.

Es richtete ein bitteres Lächeln an sich selbst, beim Gedanken an seinen letzten Auftritt als 'Der rote Ruben oder das strangulierte Kindchen' oder sein Debüt als 'Der magere Gibeon', 'der Blutsauger vom Bexley-Moor' und den Aufruhr, den es an einem herrlichen Juniabend ausgelöst hatte, nur deshalb, weil es auf einem Tennisplatz auf die eigenen Knochen gekegelt hatte.

Und nach all dem sollten ein paar erbärmliche Amerikaner daherkommen, ihm das 'Tammany Rising Sun' Schmiermittel anbieten und Kissen an den Kopf werfen? Das war ziemlich unerträglich. Nebenbei gesagt wurde niemals in der Geschichte ein Gespenst in dieser Weise behandelt.

Aus diesem Grund beschloss es, Vergeltung zu üben und verblieb bis zum Tagesanbruch in einer Haltung intensiven Nachdenkens.

III.

Am nächsten Morgen, als sich die Familie Otis zum Frühstück traf, diskutierten sie ausführlich über das Gespenst.

Der Botschafter der Vereinigten Staaten war natürlich ein wenig verärgert darüber festzustellen, dass sein Geschenk nicht angenommen wurde.

»Ich beabsichtige nicht«, sagte er, »dem Gespenst ein persönliches Leid zuzufügen. Ich muss auch noch erwähnen, dass es überhaupt nicht höflich ist, mit Kissen nach dem Gespenst zu werfen, wenn man bedenkt, wie lange es schon hier im Haus ist.«

Das war, meines Erachtens, eine sehr angebrachte Bemerkung, aufgrund der – wie ich leider anmerken muss – die Zwillinge in lautes Gelächter ausgebrochen sind.

»Auf der anderen Seite«, fuhr er fort, »wenn er sich wirklich weigert, das Tammany Rising Sun Schmiermittel zu benutzen, müssen wir ihm die Ketten wegnehmen. Es wäre ziemlich unmöglich Schlaf zu finden, mit solchen Geräuschen vor den Schlafzimmern.«

Für den Rest der Woche blieben sie jedoch ungestört. Das Einzige, was Aufregung hervorrief, war die ständige Wiederherstellung des Blutflecks auf dem Boden der Bibliothek. Das war in der Tat sehr verwunderlich, da die Tür jeden Abend von Mr. Otis verschlossen wurde und auch die Fenster sicher verriegelt waren.

Auch die chamäleonartigen Farbveränderungen des Flecks gaben zu einigen Kommentaren Anlass. An einem Morgen war er dunkel-(fast indisch-) rot, ein anderes Mal zinnoberrot, dann in einem kräftigen violett und einmal, als sie zum Familiengebet herunterkamen, nach den einfachen Ritualen der Freien Amerikanischen Reformierten Episkopalen Kirche, fanden sie ihn in einem leuchtenden Smaragdgrün vor.

Dieser kaleidoskopartige Wechsel bereitete der Familie natürlich viel Vergnügen. Es wurden deshalb an jedem Abend zwanglose Wetten abgeschlossen.

Die einzige Person, die sich nicht an dem Spaß beteiligte, war die kleine Virginia. Aus einem unerklärlichen Grund war sie immer einigermaßen bekümmert über den Anblick des Blutflecks und an dem Morgen, als er smaragdgrün war, hatte sie fast geweint.

Das zweite Erscheinen des Gespenstes kam Sonntagnacht. Kurz, nachdem sie alle zu Bett gegangen waren, wurden sie von einem furchterregenden Krach in der Eingangshalle aufgeschreckt.

Sie rannten nach unten und stellten fest, dass eine große und alte Ritterrüstung aus ihrer Halterung auf den Steinboden gefallen war. Das Gespenst von Canterville saß dabei, in einem hochlehnigen Sessel und rieb sich seine Knie mit einem Ausdruck akuter Qualen auf seinem Gesicht.

Die Zwillinge hatten ihre Erbsenblasrohre mitgebracht und schickten sofort zwei Kügelchen auf ihn los und das mit einer Treffsicherheit, die man nur durch langes und intensives Training an einem Schreiblehrer in der Schule erlangen kann. Der Botschafter der Vereinigten Staaten richtete seinen mitgebrachten Revolver auf das Gespenst und forderte es nach gutem kalifornischen Brauch auf, seine Hände hochzuheben.

Mit einem wilden Wutschrei sprang das Gespenst in die Höhe und fegte wie ein Nebel mitten durch sie hindurch; dabei löschte es im Vorbeigehen die Kerze von Washington aus und ließ sie in völliger Dunkelheit zurück.

Als es den obersten Treppenabsatz erreicht hatte, kam seine Fassung ein wenig zurück, und es beschloss, eine Kostprobe seines berühmten dämonischen Gelächters von sich zu geben. Dieses hatte sich, wie es meinte, schon bei mehreren Gelegenheiten als sehr nützlich erwiesen. Man sagte, es hat Lord Rakers Perücke in einer einzigen Nacht ergrauen lassen und war gewiss auch dafür verantwortlich, dass drei von Lady Cantervilles französischen Gouvernanten fristlos gekündigt hatten, noch bevor deren erster Arbeitsmonat verstrichen war.

Also lachte es sein scheußlichstes Lachen, bis es vom alten, gewölbten Dach fortwährend widerhallte. Kaum war jedoch das grausige Echo verhallt, als sich eine Tür öffnete und Mrs. Otis in einem hellblauen Morgenmantel herauskam.

»Ich befürchte, dass Ihnen sehr unwohl ist«, sagte sie, »und ich habe Ihnen eine Flasche von 'Doktor Dobells Tinktur' mitgebracht. Wenn es eine Magenverstimmung ist, werden Sie es als höchst wirksames Heilmittel empfinden.«

Das Gespenst starrte sie wütend an und war dabei, sich umgehend in einen schwarzen Hund zu verwandeln, ein Kunststück, für das es mit Recht berühmt war, und dem der Familienarzt stets die permanente Verblödung des ehrenhaften Thomas Horton, Lord Cantervilles Onkel, zuschrieb.

Der Klang näher kommender Fußschritte ließ es jedoch zögern, dieses grausame Vorhaben in die Tat umzusetzen, deshalb begnügte es sich damit, schwach phosphoreszierend zu werden, und verschwand mit einem tiefen Friedhofsgrollen, gerade als die Zwillinge bei ihm ankamen.

Als es seine Kammer erreichte, brach es völlig zusammen und wurde ein Opfer heftigster Gemütsbewegungen. Das vulgäre Benehmen der Zwillinge und der sture Pragmatismus von Mrs. Otis waren natürlich höchst ärgerlich. Was ihm aber am meisten Kummer bereitete, war die Tatsache, dass es nicht in der Lage war, seine gepanzerte Rüstung zu tragen.

Es hatte gehofft, dass sogar moderne Amerikaner beim Anblick eines Geistes in einer Rüstung erschauern würden, wenn schon nicht aus einem jedermann verständlichen Grund, dann doch wenigstens aus Respekt vor ihrem Nationaldichter Longfellow, mit dessen eleganter, reizvoller Poesie und Geistergeschichten, es so manche ausgedehnte Stunde verbracht hatte, wenn die Canterville Familie in die Stadt gegangen war.

Nebenbei bemerkt war es seine eigene Rüstung. Es hatte sie mit großem Erfolg beim Turnier von Kenilworth getragen und wurde dort von niemand Geringerem als der jungfräulichen Königin mit höchsten Komplimenten bedacht.

Als es heute jedoch versuchte, diese anzuziehen, wurde es vom Gewicht der gewaltigen Brustplatte und des stählernen Helms überwältigt und ist schwer auf den Steinboden gestürzt. Dabei ist es mit beiden Knien ziemlich hart aufgeschlagen und hat sich die Fingergelenke der rechten Hand zerschunden.

Für einige Tage danach fühlte sich das Gespenst sehr schlecht und rührte sich kaum aus seinem Zimmer, außer um den Blutfleck in einem gebührlichen Zustand zu halten. Da es ansonsten sehr auf sich achtete, erholte es sich wieder und beschloss, einen dritten Anlauf zu nehmen, um den amerikanischen Botschafter und seine Familie zu erschrecken.

Sein Erscheinen legte es auf Freitag, den 17. August, fest. Es verbrachte den größten Teil des Tages damit, seine Garderobe auszuwählen und entschied sich dann für einen großen Schlapphut mit roter Feder, ein Leichentuch, das am Hals und an den Handgelenken mit Rüschen besetzt war, sowie einen rostigen Dolch.

Gegen Abend kam ein heftiger Regenschauer herunter und der Wind war so stark, dass alle Fenster und Türen des alten Hauses rüttelten und klapperten. In der Tat, das war genau das Wetter, das es so liebte. Es wollte dann lautlos ins Zimmer von Washington gehen, irgendein Kauderwelsch am Fußende seines Bettes von sich geben und ihm dann den Dolch dreimal in die Kehle stoßen, begleitet von gedämpfter Musik.

Gegen Washington hegte es einen besonderen Groll, da es sehr wohl wusste, dass er es war, der die Angewohnheit hatte, den berühmten Canterville-Blutfleck mit Pinkertons Meister Fleckenreiniger zu entfernen. Wenn es den rücksichtslosen und vermessenen Jüngling in einen Zustand jämmerlichen Grauens versetzt hatte, würde es weiter zum Zimmer des Botschafters der Vereinigten Staaten und seiner Frau gehen, dort eine feuchte Hand auf die Stirn von Mrs. Otis legen, während es dem zitternden Ehemann die grässlichen Geheimnisse des Gebeinhauses ins Ohr fauchen würde.

Was die kleine Virginia anbelangte, hatte es sich noch nicht entscheiden können. Es war von ihr nie irgendwie beleidigt worden und sie war zudem hübsch und liebenswürdig. Ein paar dumpfe Seufzer aus dem Kleiderschrank, dachte es, wären mehr als ausreichend, und wenn sie das nicht aufwecken würde, könnte es vielleicht mit krampfhaft zuckenden Fingern an der Bettdecke herumfummeln.

Was aber die Zwillinge betraf, war es fest entschlossen, diesen eine Lektion zu erteilen. Zunächst musste es sich natürlich bei ihnen auf die Brust setzen, um das erdrückende Gefühl eines Albtraums hervorzurufen. Dann wollte es sich, da ihre Betten ziemlich nahe beieinanderstanden, zwischen sie stellen, in der Gestalt eines grünen, eiskalten Leichnams, bis sie vor Schreck gelähmt waren.

Am Ende würde es das Leichenhemd abwerfen und mit weißen, gebleichten Knochen sowie einem rollenden Augapfel, wie 'Der stumme Daniel oder das Selbstmörderskelett' im Zimmer herumkriechen, eine Rolle, in welcher es, mehr als einmal, einen großen Effekt erzielt hatte, und die es auf der gleichen Stufe sah, wie seinen berühmten Part in 'Martin der Wahnsinnige oder das maskierte Mysterium'.

Um halb elf hörte es, wie die Familie zu Bett ging. Für eine ganze Weile wurde es noch durch das ungestüme Lachgeschrei der Zwillinge gestört, die sich, mit dem sorglosen Frohsinn von Schuljungen, offensichtlich noch vergnügten, bevor sie sich zur Ruhe legten, aber um Viertel nach elf war alles still, und als es Mitteracht schlug, brach das Gespenst auf.

Die Eule klopfte an die Fensterscheiben, der Rabe krächzte aus der alten Eibe, und der Wind wanderte stöhnend um das Haus herum, wie eine verlorene Seele. Die Otis Familie schlief jedoch, nichts ahnend was sie erwarten würde, und, deutlicher als den Regen und den Sturm, konnte das Gespenst das regelmäßige Schnarchen des amerikanischen Botschafters hören.

Es trat heimlich aus der Wandtäfelung hervor, mit einem teuflischen Lächeln auf seinem grausamen, runzligen Mund, und der Mond verbarg sein Gesicht in einer Wolke, als es sich an dem großen Erkerfenster vorbeischlich, wo sein eigenes Wappen und das seiner ermordeten Frau, in Azurfarben und Gold, ausgestellt waren.

Es glitt entlang, wie ein teuflischer Schatten. Selbst die Dunkelheit schien das Gespenst zu verabscheuen, als es vorbeihuschte. Einmal meinte es, Rufe zu hören und blieb stehen; es war aber nur das Heulen eines Hundes vom 'Roten Bauernhof'. Es ging weiter, murmelte dabei seltsame Flüche aus dem 16. Jahrhundert vor sich hin und schwenkte ab und zu den rostigen Dolch in der mitternächtlichen Luft herum.

Schließlich erreichte es die Ecke des Gangs, der zu dem Zimmer von Washington führte. Hier hielt es für einen Moment inne, während ihm der Wind seine langen, grauen Locken um den Kopf wehte und das unsäglich schreckliche Hemd des toten Mannes in groteske und fetzige Falten warf.

Dann schlug die Glocke zur Viertelstunde und es glaubte, dass die Zeit gekommen war. Es kicherte in sich hinein und ging um die Ecke, doch kaum hatte es das getan, zuckte es mit einem bemitleidenswerten Schreckenslaut zurück und verbarg sein ausgebleichtes Gesicht in seinen langen, knochigen Händen.

Direkt vor ihm stand ein schrecklicher Geist, regungslos wie ein gemeißeltes Bild und monströs, wie im Traum eines Verrückten. Sein Kopf war kahl und poliert, sein Gesicht rund und dick und weiß, und sein abscheuliches Lachen schien seine Gesichtszüge in ein ewiges Grinsen verwandelt zu haben. Aus seinen Augen strömten scharlachrote Lichtstrahlen, sein Mund war wie ein großer Feuerschacht, und ein widerliches Gewand, gleich seinem eigenen, umhüllte die Riesengestalt mit seinem geräuschlosen Flimmern.

Auf seiner Brust trug es eine Plakette mit einer seltsamen Schrift in antiken Buchstaben. Es erschien wie eine Liste von Schandtaten, wie eine Auflistung wilder Sünden, wie ein entsetzlicher Kalender von Verbrechen, und mit seiner rechten Hand erhob es eine Hiebwaffe aus schimmerndem Stahl.

Da das Gespenst niemals zuvor ein anderes Gespenst gesehen hatte, war es natürlich sehr verschreckt und, nach einem zweiten, hastigen Blick auf das Phantom, floh es zurück in sein Zimmer. Es stolperte über sein langes Leichenhemd, als es den Gang hinuntereilte, und verlor auch noch den rostigen Dolch, der in die Stiefel des Botschafters fiel, wo er morgens vom Butler gefunden wurde.

Als es wieder im Privatbereich seines eigenen Gemachs war, warf es sich auf eine schmale Pritsche und versteckte sein Gesicht unter den Tüchern.

Nach einer Weile jedoch setzte sich das mutige Canterville-Gespenst wieder durch und es beschloss, zu dem anderen Gespenst hinzugehen und mit ihm zu sprechen, sobald der Tag angebrochen war.

Sofort, als die Morgendämmung die Hügel mit ihrem silbrigen Schein berührt hatte, kehrte es zurück an den Platz, wo es das grausige Phantom zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen hatte. Er hatte das Gefühl, dass, trotz allem, zwei Geister besser wären als eines, und dass es, mit der Hilfe seines neuen Freundes, sicher mit den Zwillingen fertig werden würde.

Als es jedoch die Stelle erreichte, bot sich ihm ein schrecklicher Anblick. Irgendetwas musste offensichtlich mit dem anderen Gespenst passiert sein, da das Licht aus seinen hohlen Augen vollkommen verblasst war. Die glitzernde Hiebwaffe war ihm aus der Hand gefallen und es lehnte gegen die Wand, in einer angespannten und unbequemen Haltung.

Das Canterville-Gespenst stürzte nach vorne und umschlang es mit seinen Armen, als – zu seinem Schrecken – der Kopf abfiel und über den Boden rollte. Der Körper bewegte sich nach unten und es stellte fest, dass es einen weißen, baumwollenen Bettvorgang festhielt, mit einem Besen, einem Küchenbeil und einer hohlen Rübe, die vor seinen Füßen lagen.

Nicht in der Lage, diese merkwürdige Verwandlung zu begreifen, ergriff es die Plakette mit fiebriger Hast, und im grauen Morgenlicht las es darauf die furchtbaren Worte:

Ich bin der Otis-Geist

Ich bin das einzige und originale Gespenst

Hüten Sie sich vor Nachahmungen

Alle anderen sind Fälschungen

Schlagartig wurde ihm die ganze Sache klar: Es war hereingelegt, konterkariert und ausgetrickst worden.

Der alte Canterville-Blick kam in seine Augen. Es knirschte mit dem zahnlosen Zahnfleisch und, indem es seine ausgetrockneten Hände über seinen Kopf hob, schwor es, gemäß der pittoresken Ausdrucksweise der alten Schule, dass blutige Taten folgen und Mord auf leisen Sohlen umhergehen würden, sobald der Hahn zweimal sein fröhliches Horn hat erklingen lassen.

Kaum war es fertig mit seinem grässlichen Schwur, als auch schon ein Hahn vom roten Ziegeldach eines entfernten Gehöfts krähte.

Das Gespenst gab ein langes, tiefes und hämisches Lachen von sich – und wartete. Stunde um Stunde wartete es, aber aus einem seltsamen Grund krähte der Hahn nicht mehr.

Schließlich, um halb acht, sah es sich veranlasst, seine besorgte Wache aufzugeben, da die Hausmädchen nahten. Es stolzierte zurück zu seinem Zimmer und dachte an seinen vergeblichen Schwur und das wirkungslose Vorhaben.

Dort zog es zugleich mehrere Bücher über die alte Ritterschaft zurate, die es so sehr liebte, und fand heraus, dass der Hahn immer ein zweites Mal gekräht hatte, wenn dieser Schwur getan wurde. »Verdammt sei das ungehörige Geflügel«, murmelte es, »ich habe Tage gesehen, wo ich ihm den Speer durch die Kehle gerammt und ihn für mich zum Krähen gebracht hätte, und sei's auch im Tode.«

Dann legt es sich in einem bequemen Bleisarg zur Ruhe und blieb dort bis zum Abend.

IV.

Am nächsten Tag war das Gespenst schwach und müde. Die schrecklichen Aufregungen der letzten vier Wochen begannen, ihre Wirkung zu zeigen. Es war mit den Nerven völlig am Ende und beim geringsten Geräusch zuckte es zusammen.

Fünf Tage lang ging es nicht aus seinem Zimmer und am Ende entschloss es sich, die Sache mit dem Blutfleck auf dem Boden der Bibliothek aufzugeben. Wenn die Familie Otis diesen nicht wollte, dann verdienten sie ihn einfach nicht. Offensichtlich waren sie Leute, die sich auf einer niedrigen, materiellen Existenzebene befanden und ziemlich außerstande waren, den symbolischen Wert sinnlicher Phänomene zu würdigen.

Die Frage trügerischer Erscheinungen und die Entwicklung astraler Körper war natürlich eine ganz andere Sache und bestimmt nichts, was unter seiner Kontrolle wäre. Es war lediglich seine feierliche Pflicht, einmal in der Woche auf dem Gang zu erscheinen und am ersten und dritten Mittwoch jedes Monats, vom großen Erkerfenster aus, irgendwelches Kauderwelsch von sich zu geben.

Es konnte keine Möglichkeit sehen, wie es sich, auf ehrenvolle Weise, von diesen Verpflichtungen befreien könnte. Es ist durchaus richtig, dass es ein sehr teuflisches Leben geführt hatte, aber andererseits war es sehr pflichtbewusst in allen Dingen, die mit dem Übernatürlichen zusammenhingen.

Deshalb überquerte es auch an den folgenden drei Samstagen den Flur, wie üblich zwischen Mitternacht und drei Uhr, und ließ dabei jegliche erdenkliche Vorsicht walten, damit es weder gesehen, noch gehört wurde. Es zog sich die Stiefel aus, trat so leicht wie nur möglich auf den alten, wurmzerfressenen Dielenbrettern auf, trug einen schwarzen Samtumhang, und benutzte mit Sorgfalt das Tammany Rising Sun Schmiermittel, um seine Ketten zu ölen.

Ich will dabei aber nicht außer Acht lassen, dass es ihm außerordentlich schwergefallen war, die letztgenannte Schutzmaßnahme zu ergreifen. Dennoch schlich es sich eines Abends in das Schlafzimmer von Mr. Otis, als die Familie gerade beim Abendessen war, und trug eine Flasche davon weg. Es fühlte sich anfangs ein wenig gedemütigt, war aber danach einsichtig genug, dass sich viel zugunsten der Erfindung sagen ließ, und zu einem gewissen Grad diente es ja auch seinen Absichten.

Doch, trotz all dessen, blieb das Gespenst nicht unbehelligt. Ständig wurden Fäden über den Flur gespannt und über die es in der Dunkelheit stolperte.

Bei einer Gelegenheit, als es sich für die Rolle 'Der schwarze Isaac oder der Jäger vom Hogley-Forst' umgezogen hatte, kam es zu einem ernsthaften Sturz, weil es auf eine eingebutterte Rutschbahn getreten war, welche die Zwillinge, zwischen dem Gobelinzimmer und dem obersten Ansatz der Eichentreppe, angelegt hatten.

Diese letzte Kränkung brachte es dermaßen in Rage, dass es beschloss, einen letzten Versuch zu unternehmen, um seine Würde und gesellschaftliche Stellung zu behaupten. Es war entschlossen, die dreisten Eatonschüler nachts darauf in seiner berühmten Rolle als 'Der rücksichtslose Rupert oder der Graf ohne Kopf' heimzusuchen.

In dieser Verkleidung war es seit mehr als siebzig Jahren nicht mehr aufgetreten; in der Tat nicht mehr, seit es die hübsche Lady Barbara Modish damit so sehr erschreckt hatte, dass sie ganz plötzlich ihre Verlobung mit dem Großvater von Lord Canterville gelöst hatte und mit dem schönen Jack Castletown nach Gretna Green durchgebrannt war.

Dies ist ein bekannter Hochzeitsort in Schottland, besonders für durchgebrannte Paare, weil man dort, ohne die Erlaubnis von Erziehungsberechtigten, heiraten kann.

Lady Barbara hatte erklärt, dass nichts auf der Welt sie bewegen könnte, in eine Familie einzuheiraten, die es einem so grässlichen Gespenst erlaubt, in der Morgendämmerung auf der Terrasse hin und her zu laufen.

Der arme Jack wurde später in einem Duell von Lord Canterville auf der Dorfwiese von Wandsworth erschossen und Lady Barbara starb an gebrochenem Herzen in Turnbridge Wells, noch bevor das Jahr herum war; es war also, in jeglicher Hinsicht, ein 'großer Erfolg'.

Für das Gespenst war dafür ein überaus schwieriges 'Make-up' erforderlich, wenn ich mir diesen Theaterausdruck, in Verbindung mit einem der größten Mysterien des Übernatürlichen, erlauben darf. Vielleicht kann ich es ein wenig wissenschaftlicher ausdrücken, in der Sprache der höheren, natürlichen Welt: Es brauchte drei volle Stunden, um seine Vorbereitungen zu treffen.

Endlich war alles bereit und das Gespenst war äußerst angetan von seiner Erscheinung. Die großen, ledernen Reitstiefel, die zu dem Kostüm gehörten, waren ihm ein wenig zu groß, und es konnte auch nur eine der beiden Reiterpistolen finden. Im Großen und Ganzen war es aber durchaus zufrieden. Um Viertel nach eins, in der Nacht, glitt es aus der Wandtäfelung heraus und schlich den Gang entlang.

Als es das Zimmer erreicht hatte, das den Zwillingen gehörte und das – wie ich erwähnen sollte – 'das blaue Schlafzimmer' genannt wurde, wegen der Farbe seiner Wandbehänge, fand es dessen Tür leicht geöffnet vor.

Mit dem Vorsatz, einen wirkungsvollen Auftritt hinzulegen, stieß es die Tür weit auf, als ein schwerer Wasserkrug direkt über ihm herunterfiel, es bis auf die Haut durchnässte und seine linke Schulter nur um wenige Zentimeter verfehlte. Im selben Moment hörte es ersticktes Gelächter, das von dem Himmelbett kam.

Der Schock für sein Nervenkostüm war so stark, dass es, so schnell es nur konnte, zurück in sein Zimmer floh, und am nächsten Tag lag es mit einer schweren Erkältung im Bett. Das Einzige, was es bei der ganzen Sache überhaupt trösten konnte, war der Umstand, dass es seinen Kopf nicht mitgebracht hatte, denn anderenfalls hätte dies sehr ernste Konsequenzen haben können.

Es gab nun alle Hoffnung auf, dieser rüden amerikanischen Familie jemals einen Schrecken einjagen zu können, und begnügte sich in der Regel damit, in Filzpantoffeln die Gänge entlangzuschleichen, mit einem dicken roten Schal um den Hals, aus Angst vor der Zugluft und einer kleinen Vorderladerbüchse, für den Fall, dass es von den Zwillingen angegriffen würde.

Den entscheidenden Schlag erhielt es am 19. September.

Es war hinuntergegangen in die große Eingangshalle, mit dem sicheren Gefühl, dass es dort ziemlich unbelästigt bleiben würde. Es amüsierte sich dort mit satirischen Bemerkungen über die großen Fotografien vom amerikanischen Botschafter und seiner Frau, die nun den Platz der Bilder von der Familie Canterville eingenommen hatten.

Es war einfach, aber dennoch ordentlich, in ein langes, mit Friedhofserde beflecktes Sterbehemd gekleidet und hatte sein Kinn mit einem gelben Streifen aus Leinen festgebunden. Dazu trug es eine kleine Laterne mit sich und einen Gräberspaten.

So war es korrekt für die Rolle als 'Jonas der Grablose oder der Leichenräuber von Chertsey Barn' angezogen, eine seiner bemerkenswertesten Verkörperungen und eine, an welche die Cantervilles allen Grund hatten, sich zu erinnern, da dies der wirkliche Anlass für den Streit mit ihrem Nachbarn, Lord Rufford, war.

Es war etwa Viertel nach zwei am Morgen und, soweit es das Gespenst feststellen konnte, rührte sich niemand. Doch alles es in Richtung der Bibliothek wandelte, um nachzusehen, ob noch irgendwelche Spuren von dem Blutfleck zu sehen waren, sprangen plötzlich zwei Gestalten aus einer dunklen Ecke hervor, die mit ihren Händen wild über ihren Köpfen herumfuchtelten und ein lautes 'Buuuh' in sein Ohr brüllten.

Von Panik ergriffen, was unter den gegebenen Umständen nur selbstverständlich war, rannte es auf die Treppe zu, aber dort stand Washington Otis und wartete mit der großen Gartenspritze. Dermaßen, auf beiden Seiten, zwischen seinen Feinden eingeklemmt und fast gestellt, verschwand es in den großen, eisernen Ofen hinein, in dem es – zu seinem Glück – nicht brannte. Es musste, durch Abzugsrohre und Schornsteine hindurch, seinen Weg zurückfinden und erreichte sein Zimmer in einem schrecklichen Zustand von Dreck, Durcheinander und Verzweiflung.

Danach wurde es nicht wieder bei irgendeinem nächtlichen Ausflug gesehen. Die Zwillinge lauerten ihm bei mehreren Gelegenheiten auf und streuten, zur großen Verärgerung ihrer Eltern und der Dienerschaft, jeden Abend Nussschalen in die Gänge, aber ohne Erfolg. Es war offensichtlich, dass seine Gefühle so verletzt waren, dass es nicht mehr erscheinen wollte.

Mr. Otis machte sich folglich wieder an seine große Arbeit über die Geschichte der Demokratischen Partei, mit der er sich schon seit einigen Jahren beschäftigte. Mrs. Otis organisierte ein großes Muschelessen am Strand, welches das ganze Land beeindruckte. Die Jungs vertrieben sich die Zeit mit Lacrosse, Euchre, Poker und anderen amerikanischen Nationalspielen.

Virginia ritt auf ihrem Pony herum, begleitet vom jungen Herzog von Cheshire, der gekommen war, um die letzte Woche seiner Ferien auf Canterville Chase zu verbringen.

Man nahm allgemein an, dass das Gespenst fortgegangen war. In der Tat schrieb Mr. Otis einen entsprechenden Brief an Lord Canterville, der, in Beantwortung desselben, seiner großen Freude über diese Nachricht Ausdruck gab, und der hochverehrten Gattin des Botschafters seine besten Glückwünsche übermittelte.

Die Familie Otis hatte sich jedoch getäuscht, da das Gespenst immer noch im Haus war, und, obwohl mittlerweile fast ein Invalide, war es keineswegs gewillt, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, insbesondere, da ihm zu Ohren kam, dass der junge Herzog unter den Gästen war.

Dessen Großonkel, Lord Francis Stilton, hatte einst einhundert Guineen gewettet, dass er mit dem Gespenst von Canterville würfeln würde. Am nächsten Morgen fand man ihn, am Boden des Kartenspielzimmers liegend, in einem so hilflosen und gelähmten Zustand, dass er, obwohl er noch ein hohes Alter erreichte, niemals mehr etwas anderes sagen konnte als »zweimal sechs«.

Zu jener Zeit war diese Geschichte allgemein bestens bekannt gewesen, obwohl – natürlich aus Respekt vor den Gefühlen der zwei adligen Familien – alles unternommen wurde, diese zu vertuschen.

Einen ausführlichen Bericht über alle damit verbundenen Gegebenheiten findet man im dritten Band von Lord Tattles Buch 'Erinnerungen an den Prinzregenten und seine Freunde'.

Dem Gespenst lag nun natürlich viel daran, zu beweisen, dass es seinen Einfluss über die Stiltons nicht verloren hatte und mit denen es, in der Tat, entfernt verwandt war. Seine eigene erste Cousine war in zweiter Ehe mit dem Sieur de Bulkeley verheiratet, von dem, wie jedermann weiß, die Herzöge von Cheshire in erster Linie abstammen.

Demgemäß traf das Gespenst die entsprechenden Vorbereitungen, um Virginias kleinem Liebhaber in seiner gefeierten Verwandlung als 'Der Vampirmönch oder der blutlose Benediktiner' zu erscheinen.

Dies war damals eine so schaurige Vorstellung gewesen, dass die alte Lady Startup, als sie diese in jener verhängnisvollen Silvesternacht des Jahres 1764 sah, ein ohrenbetäubendes Geschrei von sich gab.

Es gipfelte dann alles in einem heftigen Schlaganfall und drei Tage später verstarb sie. Vorher hatte sie aber noch die Cantervilles enterbt, die ihre nächsten Verwandten waren, und all ihr Geld ihrem Apotheker in London vermacht.

Im letzten Moment hielt jedoch die schreckliche Angst vor den Zwillingen das Gespenst davon ab, sein Zimmer zu verlassen, und der kleine Herzog schlief friedlich unter dem großen, mit Federn besetzten Baldachin im königlichen Schlafgemach und träumte von Virginia.

V.

Ein paar Tage danach machten Virginia und ihr lockenhaariger Kavalier einen Ausritt über die Wiesen von Brockley; dabei hatte sie sich ihr Kleid arg zerrissen, beim Versuch eine Hecke zu überspringen. Als sie heimkamen, entschloss sich deshalb, über die hintere Treppe nach oben zu gehen, damit man sie nicht bemerken würde.

Als sie am Gobelinzimmer vorbeirannte, dessen Tür gerade offenstand, glaubte sie, jemanden darin gesehen zu haben. Sie dachte, es wäre die Zofe ihrer Mutter, die sich zuweilen mit ihrer Arbeit dorthin begab, und schaute hinein, um sie zu bitten, ihr Gewand auszubessern.

Jedoch, zu ihrer ungeheuren Überraschung, war es das Gespenst von Canterville persönlich. Es saß beim Fenster und beobachtete, wie das verfallende Gold der sich verfärbenden Bäume durch die Luft flog und die roten Blätter närrisch durch die lange Allee tanzten.

Sein Kopf ruhte auf seiner Hand und seine ganze Haltung drückte tiefe Niedergeschlagenheit aus. In der Tat, so einsam und so schlecht sah es aus, dass die kleine Virginia ihre erste Eingebung verwarf, wegzurennen und sich in ihr Zimmer einzuschließen. Sie war jetzt so vom Mitleid ergriffen, dass sie sich entschloss, zu bleiben und zu versuchen, das Gespenst zu trösten.

So leicht war ihr Tritt und so tief versunken war es in seiner Melancholie, dass das Gespenst ihrer Gegenwart nicht gewahr wurde, bis sie zu ihm sprach: »Sie tun mir so leid«, sagte sie, »aber morgen gehen meine Brüder zurück nach Eaton, und dann, wenn Sie sich benehmen, wird Sie keiner mehr ärgern.«

»Es ist doch absurd von mir zu verlangen, ich sollte mich benehmen«, antwortete das Gespenst, und schaute sich erstaunt nach dem hübschen Mädchen um, dass es gewagt hatte, es anzusprechen.

»Das ist ziemlich grotesk. Ich muss mit meinen Ketten rasseln und durch Schlüssellöcher stöhnen und des Nachts umherwandern, wenn es das ist, was du meinst; es ist meine einzige Daseinsberechtigung.«

»Das ist überhaupt keine vernünftige Daseinsberechtigung. Sie wissen, dass das Sie sehr gemein gewesen sind. Mrs. Umney hat uns am ersten Tag unserer Ankunft hier gesagt, dass Sie ihre Frau umgebracht haben.«

»Nun, das gebe ich ja zu«, sagte das Gespenst gereizt, »aber das war eine reine Familienangelegenheit und geht sonst niemanden etwas an.«

»Es ist sehr falsch jemanden umzubringen«, sagte Virginia, die manchmal eine süße, puritanische Ernsthaftigkeit an sich hatte, vererbt von einem alten Vorfahren aus Neu-England.

»Oh, wie ich doch diese wohlfeile Unnachsichtigkeit abstrakter Moral hasse!«, sagte das Gespenst.

»Meine Frau war sehr unattraktiv, hat nie meine Halskrausen richtig gestärkt, und vom Kochen hatte sie auch keine Ahnung. Ich hatte im Hogley Forst mal einen Spießbock geschossen und wissen Sie, wie mies sie diesen auf den Tisch brachte?«

»Wie dem auch sei, das ist jetzt nicht mehr von Bedeutung, denn das ist alles vorbei, und es war nicht sehr nett von ihren Brüdern, mich zu Tode verhungern zu lassen, auch wenn ich ihre Schwester umgebracht hatte.«

»Sie verhungern lassen? Oh, Mr. Gespenst – ich meine Sir Simon – haben Sie Hunger? Ich habe ein Sandwich in meiner Tasche. Wollen Sie es haben?«

»Nein danke, ich esse nun nichts mehr, aber es trotzdem sehr freundlich von dir. Du bist viel netter als der Rest deiner abscheulichen, rüden, vulgären und unredlichen Familie.«

»Halt!«, schrie Virginia und stampfte mit dem Fuß auf. »Sie sind es, der rüde, abscheulich und vulgär ist. Und was das Unredliche angeht, wissen Sie ganz genau, dass Sie die Malfarben aus meinem Kasten gestohlen haben, um den lächerlichen Blutfleck in der Bibliothek wieder herzurichten. Erst haben Sie all mein Rot genommen, sogar das Zinnoberrot, und ich konnte keine Sonnenuntergänge mehr malen. Dann nahmen Sie das Smaragdgrün mit und das Chromgelb und am Schluss hatte ich nichts mehr übrig als Indigo und Chinaweiß und konnte nur noch Mondscheinszenen machen, die immer so deprimierend anzuschauen und überhaupt nicht leicht zu malen sind.«

»Ich habe Sie niemals verraten, obwohl ich sehr verärgert war. Dabei war die ganze Sache auch noch höchst lächerlich. Wer hatte schon einmal etwas von smaragdgrünem Blut gehört?«

»Nun freilich«, sagte das Gespenst etwas kleinlaut, »was sollte ich aber tun? Es ist heutzutage schwer richtiges Blut zu bekommen und da dein Bruder die ganze Sache mit seinem 'Meister' Reinigungsmittel angefangen hat, sah ich keinen Grund, warum ich mir nicht deine Farben nehmen sollte. Und was Farben anbelangt, ist das immer eine Sache des Geschmacks: Die Cantervilles haben zum Beispiel blaues Blut, das blaueste in England; aber ich weiß, dass euch Amerikaner diese Dinge nicht interessieren.«

»Davon haben Sie überhaupt keine Ahnung. Das Beste, was sie machen können, ist auszuwandern und etwas dazuzulernen. Mein Vater wäre nur allzu glücklich, Ihnen eine freie Überfahrt zu spendieren. Obwohl es hohe Zölle auf alles 'Geistige' gibt, besonders wenn es hochprozentig ist, dürfte es keine Schwierigkeiten beim Zoll geben, da die höheren Beamten alle Demokraten sind.«

»Einmal in New York angekommen, ist Ihnen sicherlich ein großer Erfolg beschieden. Ich kenne viele Leute, die einhunderttausend Dollar bezahlen würden, um den richtigen Großvater zu haben, und sicherlich noch viel mehr, um ein Familiengespenst zu besitzen.«

»Mir würde Amerika wohl nicht gefallen«, sagte das Gespenst.

»Vermutlich, weil wir keine Ruinen und Kuriositäten haben«, bemerkte Virginia.

»Keine Ruinen?! Keine Kuriositäten?!«, antwortete das Gespenst, »Ihr habt doch eure marode Seeflotte und eure Umgangsformen.«

»Na dann, noch einen schönen Abend! Ich werde Papa fragen, ob er den Zwillingen nicht eine Woche mehr Ferien verschaffen kann.«

»Bitte geh nicht, Miss Virginia«, rief das Gespenst. »Ich bin so einsam und unglücklich und ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich möchte schlafen, aber ich kann nicht.«

»Das ist ziemlicher Unsinn! Sie brauchen nur ins Bett zu gehen und die Kerze auszupusten. Es ist manchmal eher schwer, wach zu bleiben, besonders in der Kirche, aber mit dem Schlafen gibt es doch überhaupt keine Schwierigkeiten. Sogar Kleinkinder können das und die sind nicht besonders klug.«

»Ich habe seit dreihundert Jahren nicht mehr geschlafen«, sagte das Gespenst mit trauriger Stimme, und Virginias wunderschöne, blaue Augen öffneten sich vor Erstaunen.

»Seit dreihundert Jahren habe ich nicht geschlafen«, wiederholte das Gespenst, »und ich bin doch so müde.«

Virginia wurde sehr ernst und ihre kleinen Lippen zitterten wie Rosenblätter. Sie trat vor zu ihm, kniete sich an seine Seite und schaute hoch auf sein altes, welkes Gesicht.

»Armes Gespenst«, murmelte sie, »haben Sie denn keinen Platz, wo Sie schlafen können?«

»Weit hinter den Fichtenwäldern«, antwortete es in einer leisen, verträumten Stimme, »da gibt es einen kleinen Garten. Das Gras wächst dort lang und dicht, dort gibt es große, weiße Sterne der Schierlingsblume, dort singt die Nachtigall – die ganze Nacht über.«

»Die ganze Nacht über, singt sie, und der kalte, kristallene Mond schaut herunter, und die Eibe breitet ihre riesigen Arme über die Schlafenden.«

Tränen trübten Virginias Augen und sie verbarg ihr Gesicht in seinen Händen: »Sie meinen den Garten des Todes«, flüsterte sie.

»Ja, den Tod. Der Tod muss so wundervoll sein. In der weichen, braunen Erde zu liegen, während sich die Gräser über dem Kopf wiegen, und der Stille zu lauschen. Kein Gestern haben und auch kein Morgen, die Zeit vergessen können, das Leben vergessen können, und im Frieden zu sein. Sie können mir helfen. Sie können mir die Pforten zum Haus des Todes öffnen, denn die Liebe ist immer mit Ihnen, und die Liebe ist stärker als der Tod.«

Virginia begann zu zittern, ein kalter Schauer durchfuhr sie, und für einige Momente war es still. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem schrecklichen Traum.

Dann sprach das Gespenst wieder und seine Stimme klang wie das Seufzen des Windes.

»Hast du die alte Prophezeiung am Fenster der Bibliothek gelesen?«

»Oh, natürlich«, rief das kleine Mädchen und schaute hoch. »Die kenne ich sehr gut. Sie ist in merkwürdigen, schwarzen Buchstaben gemalt und schwierig zu lesen:«

Wenn es einem guten Mädchen gelingt

Dass es ein Gebet auf der Sünde Lippen bringt

Wenn der dürre Mandelbaum wieder sprießt

Und ein kleines Mädchen seine Tränen vergießt

Dann wird's im ganzen Hause still

Und Frieden kehrt ein auf Canterville

»Aber ich weiß nicht, was diese Zeilen bedeuten.«

»Das bedeutet«, sagte das Gespenst, »dass du meiner Sünden willen weinen musst, da ich selbst keine Tränen habe, und du musst für meine Seele beten, da ich selbst keinen Glauben habe, und dann, wenn du immer lieb, gut und freundlich gewesen bist, wird der Todesengel Erbarmen mit mir haben.«

»Du wirst furchterregende Gestalten im Dunkeln erblicken und böse Stimmen werden dir ins Ohr flüstern, aber sie werden dir kein Leid antun, denn gegen die Reinheit eines kleinen Kindes, können sich die Mächte der Hölle nicht behaupten.«

Virginia gab keine Antwort und das Gespenst rang die Hände in wilder Verzweiflung, während es auf ihren geneigten, goldenen Kopf heruntersah.

Plötzlich stand sie auf, sehr bleich und mit einem seltsamen Leuchten in ihren Augen. »Ich fürchte mich nicht und ich werde den Engel bitten, sich Ihrer zu erbarmen.«

Mit einem schwachen Freudenschrei erhob sich das Gespenst von seinem Sitz, nahm ihre Hand, beugte sich in altbackener Weise über diese und küsste sie. Seine Finger waren eiskalt und seine Lippen brannten wie Feuer, aber Virginia wankte nicht, als vom Gespenst durch den dämmrigen Raum geführt wurde.

In die verblichene, grüne Wandbekleidung hinein, waren kleine Jäger gestickt. Sie bliesen in ihre mit Quasten geschmückten Hörner und winkten ihr mit ihren kleinen Händen zu, zurückzugehen.

»Kehr um, kleine Virginia!«, riefen sie, »kehr um!«, aber das Gespenst umklammerte ihre Hand noch fester, und sie verschloss ihre Augen, um die Jäger nicht mehr zu sehen.

Grauenhafte Tiere, mit Eidechsenschwänzen und Glupschaugen, blinzelten sie von dem geschnitzten Kaminsims an und murmelten: »Hüte dich, kleine Virginia! Hüte dich! Wir werden dich vielleicht nie wieder sehen«, aber das Gespenst glitt noch rascher voran, und Virginia hörte nicht hin.

Am Ende des Raums blieb das Gespenst stehen und murmelte einige Worte, die Virginia nicht verstehen konnte.