Hundert Tage mit meiner Grossmutter - Francesco Micieli - E-Book

Hundert Tage mit meiner Grossmutter E-Book

Francesco Micieli

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Beschreibung

Letzte Begegnungen Soeben zwanzig geworden und mit dem Gefühl, dass nun das richtige Leben beginnt, erreicht Mario die Nachricht, dass seine Grossmutter im Sterben liege. Wie in einem Computerspiel ist plötzlich ein Hindernis da. Nur mit Vorsicht und Aufmerksamkeit lässt es sich meistern, nötig sind eine ruhige Hand und ein klarer Verstand. Das alles nimmt sich Mario vor, als ihn seine Grossmutter bittet, die, wie sie sagt, «letzten hundert Tage» mit ihr zu verbringen. Sie verspricht ihm dafür grosse und letzte Weisheiten. Sie beide kennen das Spiel mit den Weisheitssätzen, sie haben es schon oft gespielt. Mario mietet ein Zimmer in der Nähe des Pflegeheims, ist jeden Tag bei ihr und führt ein Journal. ‹Hundert Tage mit meiner Grossmutter› ist ein leichter und spielerischer Text. Der nahende Tod lässt die beiden insofern unbeeindruckt, als dass sie Tag für Tag einfach da weitermachen, wo sie ihre Zuwendung hinbringt. Die Begegnung ereignet sich in einem Raum zwischen Wirklichkeit und magischer Welt. Micieli erzählt sparsam und gleichzeitig beglückend reichhaltig von Erinnerung und Hingabe.

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Francesco Micieli

Hundert Tage mit meiner Grossmutter

Francesco Micieli

Hundert Tage mit meiner Grossmutter

Erzählung

Mit freundlicher Unterstützung von:

© 2016 Zytglogge Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Fessler

Cover: Mirja Thomer

Gesetzt aus: Frutiger LT Std, Garamond Premier Pro, Palatino LT Std

Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel

eISBN: 978-3-7296-2114-5 (epub)

eISBN: 978-3-7296-2115-2 (mobi)

www.zytglogge.ch

FürJonas, Matteo, Matilda und für meinen Vater, der die Zeit nicht mehr zählt.

Ich schloss die Augen und faltete die Hände. Die Vorsehung hatte bestimmt, wie ich Abschied nehmen würde.

Patti Smith, Just Kids

Du sollst mich immer wieder drehen, sagte sie, sonst beginnt das Fleisch zu faulen. So wie sie dalag, sah sie aus wie eine ­jener Mumien, die ich auf Fotografien in dicken Büchern ­gesehen hatte.

Ich werde noch hundert Tage leben, das hat mir eine Stimme im Traum gesagt. In diesen hundert Tagen kommst du mich jeden Tag besuchen, und jeden Tag werde ich dir ­einen Gedanken mitgeben, der dir helfen soll, zufrieden zu sein. Sie schaute mich mit ihren kleinen Nadel­augen an.

Sie kann mit den Augen Pfeile schiessen und damit Vipern töten, hatte mein Grossvater, als er noch lebte, lachend gesagt.

Ich versteckte mein Gesicht hinter meinen Händen, Tränen platzten auf meinen Bartstoppeln. Grossmutter hatte nicht die richtige Zeit für solche Träume gewählt. Ich war verletzlich, besass keine Möglichkeiten, mich zu schützen. War in einem Alter, in dem ich mich in einem Raum aus Kindheit, Jugend und Erwachsensein hin und her bewegte.

Zufrieden, nicht glücklich. Glück interessiert mich nicht, fuhr sie fort, während ich sie sachte drehte. Ihre Haut war gehärtet und ausgetrocknet, erinnerte an eine Schildkröte. Meine Grossmutter sah aus wie eines dieser Ur­tiere. Ein schönes, anhängliches Urtier.

Es klopfte an die Tür, fast im Takt mit dem Atmen meiner Grossmutter. Eine Gesundheitspflegerin, mir fiel damals keine andere Bezeichnung ein, tanzte in den Raum, sie schien so leicht, so jung, so voller schöner Haut. Krankenschwester, die in dieser Zeit übliche Bezeichnung, tönte fremd in ­meinen Ohren. Der Gedanke von Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit wirkte verstaubt. Es herrschte der Einzelne und die Konkurrenz.

Medikamente.

Medikamente, wiederholte meine Grossmutter und öffnete den Mund. So muss sie als Kleinkind geschaut haben, als sie noch nichts wusste und kaum erahnen konnte, was ihr das Leben bringen sollte, als sie nicht einmal das Wort ­Leben kannte.

 

Am nächsten Tag lag Grossmutter da wie eine welkende Blume. Ich versuchte, unser kleines Zimmerradio spielte Schumann, herauszufinden, welche Blume sie sein könnte. Am Schluss blieben mir Margerite und ­Kamille. Eine welkende Kamille.

Die Musik von Schumann war die richtige Begleitung für die Tage mit meiner Grossmutter. Er komponierte Hoffnung und Trauer zugleich. Damals, das weiss ich noch genau, wünschte ich mir die Sprache von Marguerite Duras, um über diese letzte Begegnung zu erzählen, ja ihre Sprache würde diesen Tagen den nötigen Zauber des verschwindenden Alltages, der vie materielle, verleihen.

Was macht die Blume so auf dem Bette?

Dreh mich, lachte sie, die untere Seite riecht schon ganz eigenartig. Es roch nach nichts, ich roch nichts, ich wusch meine Hände, rieb mir die desinfizierende Lösung ein und drehte meine Grossmutter, die mich dann sehr glücklich ­anlächelte und mir einen Kuss auf die Stirn drückte. In jenem Augenblick wurde ich zum kleinen Buben, der ihr auf Spaziergängen geträumte Kunststücke vormachte und ihr Lob als Anreiz nahm, noch mehr zu tun, oder zu tun als ob. Bei ihr hatte ich gelernt, dass es keine Rolle spielt, ob man ­etwas träumt oder wirklich tut, dass das Leben ein Kon­tinuum zwischen Traum und Wirklichkeit ist.

Schau mal, wie hoch ich springen kann! Oh, Grossmutter, du bist so klein da unten!

Pass auf, dass du nicht fällst!, sagte sie mir mit gespielter Sorge. Manchmal kamen Nachbarn vorbei, die mich fragten, ob ich wieder meine gefährlichen Kunststücke mache.

Als könnte sie meine Gedanken erraten, sagte sie, du wartest sicher schon auf meine Weisheiten, die ich dir versprochen hatte, aber heute bin ich müde und schwach, umarme mich bitte noch einen Augenblick. Sie besass kaum noch einen wirklichen Körper, sie fühlte sich an wie ein zerbrechliches Wesen, aber ich fühlte dennoch die Wucht einer riesigen Kraft, die all meine Gefühle durchdrang.

Es war, als hätte meine Trauer nicht ganz ausgereicht, mein Gesicht verzerrte sich noch einmal und meine Schultern bebten, dann öffnete sich die Türe, eine diplomierte Kranken­pflegerin – ich hatte in einem Fachbuch nachgeschlagen – trat ein, sie hatte tiefblaue Augen und eine hohe Stirn, und drückte mir ein Stück Papier in die Hand. Von ihr, sagte sie, sie hatte geahnt, dass sie heute nicht sprechen mag, und hat das für Sie aufgeschrieben. Ich glaubte, ich spürte Gross­mutters Lächeln auf meiner Schulter und löste ­unsere Umarmung. Sachte legte ich ihren Kopf auf das Kissen und las, während die Krankenpflegerin die Tropfen­infusion neu ansetzte, was sie mir geschrieben hatte. Die Schrift zitterte mehr als ihre Hand.

Schau nie so auf die Anderen, dass Du Dich mit ihnen vergleichst, schau sie einfach als Andere an, auch wenn sie Dir ganz nahestehen. Ich, Deine Grossmutter, bin zum Beispiel eine Andere, die Dir ganz nahesteht, aber nie solltest Du denken, Du wolltest werden wie ich oder besser als ich. Der Vergleich macht unglücklich.

Ich faltete sorgfältig das Blatt und legte es in meine Jackentasche. Grossmutter war eingeschlafen, die Krankenpflegerin war gegangen. Da wusste ich, man hatte mir einen Auftrag erteilt, den Auftrag, ihre Weisheiten zu sammeln.

 

Es war ein heisser Tag. Die Stadt erschien wie in einem Ausnahmezustand. Die Mädchen waren halb nackt, und die Buben trugen kurze Hosen und sahen ein wenig hilflos aus dabei. So als hätten sie in einem sportlichen Wettkampf verloren. Buben und Mädchen gehörten zum Wortschatz meiner Grossmutter. Und diesen Wortschatz benutzte ich ganz gerne. Die Grossmutter hatte mich schon erwartet, um mir zu erzählen, dass sie heute sehr aufgebracht sei, sei ihr doch im Traum ihr Mann erschienen und habe sie nicht zu einem Kaffee eingeladen. Kannst du mir, nachdem du mich gedreht hast, etwas vorsingen? Ich muss meine Wut abbauen.

Ich mimte eine Gitarre und sang ihr Blowin’ in the Wind vor. Im Raum war Lagerfeuerstimmung, Grossmutter machte den Blick eines frechen Mädchens, obwohl ihre Augen kaum mehr leuchteten. Da war sie, die Erinnerung, die uns alle in eine andere Zeit zaubern kann.

Ich hatte ein grosses Heft mitgenommen, auf der ersten Seite war der Zettel, den mir die diplomierte Kranken­pflegerin gegeben hatte. Nun wartete ich darauf, dass mir Grossmutter ihr Wissen weitergab, sozusagen ihre Rezepte fürs Leben. Ich wartete auch ein wenig darauf, dass die Krankenpflegerin vorbeikam und mir ein Stück Papier in die Hände drückte: Kommen Sie mit mir zum Abend­essen?

Geh jetzt! Ich bin müde von den Erinnerungen. Dein Grossvater hat mir den Tag verdorben. Ich will schlafen.

Zu Hause entschied ich, die kleinen Erlebnisse mit ihr aufzuschreiben, so wie sie ein Büchlein über mich geführt hatte, über meine Fortschritte. Der erste Laut, das erste Lächeln, mein erstes Wort: Ota, von dem wir nicht wussten, war es Auto oder Oma.

Grossmutter liebte die Zahlen und das Zählen. Sie versuchte, alles in Zahlen einzupacken.

Hundert Tage. Heute bist du zehn Mal hereingekommen. Du hast mich siebzehn Mal gefragt, wie es mir geht! Du bist zweiundzwanzig Jahre alt, also zähle bis zehn, bevor du etwas sagst. Sie besass ein Heft, in welches sie ihr Leben in Zahlen schrieb. Reisen, Sünden, gute Taten. Zwei Mal in Paris gewesen, ein Mal in London. Sie zählte bis zwanzig und dann wie die Franzosen mit der Multiplikation von zwanzig. Man kann es sich so besser vorstellen. Bis zwanzig hatte ich meine beste Zeit, sagte sie häufig und lachte dazu. Schau dich an, wie es dir gut geht!

Aber ich bin schon zweiundzwanzig.

Wenn sie Zahlen vergass, wurde sie traurig. Manchmal verschwanden ihr die Zahlen zu gewissen Erlebnissen, dann musste sie in ihrem Heft nachschauen. Das ärgerte sie.

Sie lag da und bedeckte mit den Händen ihr Gesicht. Die Hände waren eine Landschaft aus Arbeit und Berührungen. Sie kamen mir wie ein alter Plan zu einem verborgenen Schatz vor.

Der Blumenstrauss war riesig, aber die Lust zu übertreiben noch grösser. Dreiundneunzig Jahre. Vielleicht war sie noch älter. Man hatte damals Einträge wie den Tag der Geburt oder des Todes nicht so ernst genommen. Geburtstage waren auch nicht wichtig. Häufig vergass man sie.

Oh! Ich habe noch nie einen Blumenstrauss von einem Mann bekommen! Wie schön! Und was feiern wir?

Ich drehte sie sachte und flüsterte ihr, du hast heute ­Geburtstag, ins Ohr.

Ich habe Geburtstag?

Sie nahm meine Hand und sagte, Geburtstag haben nur junge Menschen, aber dein Blumenstrauss ist sehr schön, fast wie auf den Malereien, die dein Grossvater so mochte.

Mochte mein Grossvater Malereien?