Vom Verschwinden der Cousine - Francesco Micieli - E-Book

Vom Verschwinden der Cousine E-Book

Francesco Micieli

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Beschreibung

Die Erinnerungen an die Cousine, die mit vierzig an Herzversagen gestorben ist, treiben den Protagonisten um. Herkunft und eine ähnliche Migrationsge¬schichte verbanden die junge Mutter und den namenlosen Erzähler, sie waren sich wichtige Bezugspersonen. Nun erinnert er sich an ihre Begegnungen, an ihre Worte, auch an ihrer beider Stimmen. Stimmen, die aus einer Zeit zwischen einem zeitlosen Heute und einer längst vergangenen Ursprungszeit zu stammen scheinen und sich auf der Suche nach gelebtem und möglichen Leben immer stärker verweben. Er erzählt von ihren Wahrnehmungen, davon, wie sie ihm von einer weiteren Schwangerschaft berichtet, der sie sich nicht mehr aussetzen will, ihren Entscheidungen. Das Leben scheint ihr immer wieder zu entgleiten oder verschwindet in ein Universum, in dem sich die beiden Stimmen zu einer einzigen Stimme verbinden. Ein raumschaffender und poetischer Text.

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Seitenzahl: 55

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FRANCESCO MICIELI

VOM VERSCHWINDEN DER COUSINE

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Autor und Verlag danken für den Druckkostenbeitrag:

© 2019 Zytglogge Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Fessler

Coverbild: Marius Steiger

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN epub: 978-3-7296-2276-0

ISBN mobi: 978-3-7296-2277-7

www.zytglogge.ch

Francesco Micieli

Vom Verschwindender Cousine

Erzählung

Für meine Cousine, in Erinnerung.

Es gibt zwei Arten zu sterben, zwei Arten zu schlafen, zwei Arten Tier zu sein. Man kann sich kopfüber ins Tohuwabohu stürzen oder sich fest in der Ordnung und im Chitinpanzer einrichten. Wir sind hinreichend mi Sinn und Instinkt ausgestattet, um uns der Gefahr der Explosion zu erwehren, aber wir sind wehrlos gegen den Tod durch Ordnung oder gegen die Einschläferung durch Regel der Harmonie.

Michel Serres

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Es ist ein sonniger Herbstnachmittag, in einem Park sitzt ein junger, schwarz gekleideter Mann spielt mit zwei Kindern. Sie spielen ein Ballspiel, etwas zwischen Fussball und Völkerball. In der Jackentasche des Mannes steckt eine Zeitung. «Das Schiff mit den geretteten Flüchtlingen darf nicht an Land» ist zu lesen.

Plötzlich bleibt eines der Kinder stehen und fragt den Mann: «Du wirst nicht auch noch sterben? Du bleibst jetzt bei uns, ja?»

I Die erste Möglichkeit

Sie sei vor dem Geschäft stehen geblieben, weil sie schauen wollte, wie lange es geht, bis jemand sie anspricht. Sie habe sich schön gemacht, nicht übertrieben, nur so viel, dass sie auffällt. Sie sei mitten in der Nacht in einem Zimmer aufgewacht, ein schweres Schnarchen im Ohr. Sie habe einen Riesenschreck bekommen. In diesem Zimmer gehörte ihr nichts, ausser ihren Gedanken. Sie habe gemerkt, wie wenig sie sich selbst genüge. Wie sehr sie sich nach einer vertrauten Umgebung sehne. Sie sei wach genug gewesen, um von einer Panik in die nächste zu fallen. Am Morgen habe sie sich frostig von allen verabschiedet, sie hätten keine Adressen oder Namen ausgetauscht.

Zeit kann nur entstehen, wenn Wärme vorhanden ist. Diese Regel der Physik hat mir zutiefst entsprochen. Ich kann nur erzählen, wenn Wärme da ist. Das Erzählen findet in der Zeit statt. Die Erinnerung an meine Cousine löst Wärme und Zeit aus. Sie war eine Person, die bloss durch ihr Dasein und ihre Ausstrahlung meinem Leben einen Sinn gegeben hat. Sie war mein Ozean und mein Sternenhimmel.

Ich erinnere mich ganz genau. Die ersten Tage-bucheinträge über sie schrieb ich auf Deutsch, denn Deutsch war für mich eine leise Sprache, sie hatte nichts vom Lärm des Gesprochenen, des Schweizerdeutschen oder des Fremdarbeiteritalienischen meiner Eltern. Deutsch war ruhig, lautlos und fand nur beim Schreiben statt.

– Bald werde ich sterben. Ich spüre es. Der Arzt will nichts merken. Er sagt immer, ich habe gute Blutwerte. Als seien sie das einzige Indiz für Lebenkönnen. Der Tod wächst in mir. Er sieht aus wie ich und tut alles, wie ich es tue.

 

II Die Entscheidung

Ich glaube, ich ging aus Langeweile zu meiner Cousine. Ich fühlte, dass da noch etwas anderes war, aber ich konnte es nicht erkennen. Weder in Gedanken fassen noch als Worte bilden. Manchmal versuchte ich mir rationale Erklärungen zu liefern: Wir waren beide jung und gehörten beide einer aussterbenden Minderheit an: Arbreshë, Italo-Albaner. Wir trugen nicht nur unser eigenes Verschwinden in uns, sondern bereits das Verschwinden von Generationen. Generationen, die sich durch Erzählungen und durch eine gekonnte Auswahl der Partner das Überleben gesichert hatten. Die Religion, die Gesänge, die Mythen, die Sprache. Ja, die Sprache. Diese schöne, auf ihren Alltag reduzierte Sprache. Da durfte man nicht kompliziert sein! Nuancen waren nicht gefragt. Existenzielle Fragen wurden bei wunderbarem dunklem Wein aufgelöst. Bei jedem Schluck brannte die Sonne auf der Haut und der Kopf geriet aus der Umlaufbahn der Wirklichkeit. Sie war ein wenig älter als ich. Sie hatte schon Familie und kleine Kinder. Ich wusste, wir würden Kaffee trinken, auf dem Sofa sitzen, die Wohnwand an-starren. Ihre Möbel hatten Proportionen für ein Volk von Riesen. Meine Cousine würde klagen. Sie liebte das Klagen.

An jenem Tag war sie nicht allein. Eine Freundin war bei ihr. Als diese mir die Hand gab, ver-änderte sich ihr Blick, nein, nicht ihr Blick ver-änderte sich, sondern ich veränderte mich durch ihren Blick. In jenem Augenblick entdeckte ich die Begierde. Sie kam über mich, als ich die Hand der Freundin meiner Cousine hielt. Sie traf mich heftig. Ich konnte kaum meinen Namen sagen.

Meine Aufgabe war, ihre Kinder zu hüten. Sie musste in eine Klinik. Ich glaube, sie wollte abtreiben. Zwei Kinder schienen ihr genug und das Leben mit ihrem Ehemann war unsicher. Er war immer wieder fähig, einen ganzen Monatslohn zu verspielen.

Ich verstand nichts davon. Ich brauchte wenig Geld, und die kleinen Arbeiten, die ich erledigte, reichten dafür aus.

Manchmal erhielt ich aussergewöhnliche Auf-träge. Eine reiche ältere Frau aus meiner Gegend stellte mich einmal im Monat an. Ich musste ihr unter den Rock schauen, wenn sie auf eine Leiter stieg, um aus den oberen Regalen ihrer Bibliothek ein Buch zu holen. Ich sah meistens nichts. Die Lichtverhältnisse waren schlecht und ihre Unterwäsche zu klassisch. Sie bezahlte gut. Ich musste drei Mal den Satz «Oh wie schön!» sagen.

Ich weiss nicht mehr, wie die Freundin meiner Cousine hiess. Ich bin mir auch nicht mehr sicher, ob wirklich sie dieses Durcheinander meiner Gefühle ausgelöst hat oder ob es die Anwesenheit meiner Cousine war.

Ich zog meine Hand weg. Und sah nur auf ihre geschwungenen Lippen und in ihre Augen, die mich in eine Welt aus unbekannten Gerüchen, aus warmer Haut, aus weichem Fleisch führten.

«Wenn wir zurückkommen», sagte sie und dann hörte sie abrupt auf, als meine Cousine mit einer Sporttasche in den Raum trat.

Heute frage ich mich, was ich tun würde, wenn ich nur ein klein wenig erahnt hätte, was danach geschah.

 

III Die zweite Möglichkeit

Ich ging gerne zu meiner Cousine, weil wir kaum über unsere italoalbanischen Verwandten in Italien sprachen. Sie waren kein Thema. Emigration war kein Thema.

Das hiess nicht, dass wir uns nicht bewusst waren, woher wir kamen. Wir hatten die Verbindung zu unseren Wurzeln nicht gekappt.

Wir wussten, dass es zu uns passte, dass wir von einem flüchtenden Volk abstammten. Zwar Helden, aber doch flüchtende Helden.

Gegen die osmanischen Armeen war kein kleines grosses Volk stark genug gewesen. Ein paar Tausend gegen Zehntausende!

Meine Cousine sprach jede Sprache fehlerhaft.

Das machte sie aus. Sie hatte einen wunderbaren Ton in die kleine Stadt gebracht.