Hundezeiten - Patrice Nganang - E-Book

Hundezeiten E-Book

Patrice Nganang

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Beschreibung

Eine Kneipe in der Hauptstadt Yaoundé – der Wirt, sein Hund, die illustre Kundschaft – bilden den Mikrokosmos, der trefflich für das Ganze steht: das Leben im heutigen Kamerun. Es ist der Hund Mboudjak, der hier erzählt und neben den äußeren Ereignissen – den kleinen Freuden und großen Problemen, neben wirtschaftlichem Niedergang, Politik und Gewalt – findet der denkende Vierbeiner jede Menge Grundsätzliches (und Komisches) zu der Frage: Was ist der Mensch?

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Über dieses Buch

Eine Kneipe in der Hauptstadt Yaoundé – der Wirt, sein Hund, die illustre Kundschaft – bilden den Mikrokosmos, der trefflich für das Ganze steht: das Leben im heutigen Kamerun. Es ist der Hund Mboudjak, der hier erzählt und der denkende Vierbeiner findet jede Menge Grundsätzliches (und Komisches) zu der Frage: Was ist der Mensch?

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Patrice Nganang (1979 in Yaoundé) studierte Literaturwissenschaft. Er arbeitet an der Universität Shippensburg, Pennsylvania. Sein Roman Temps de chien wurde mit dem ›Grand Prix de la Littérature Africaine‹, dem wichtigsten Literaturpreis Afrikas, ausgezeichnet.

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Gudrun Honke ist Übersetzerin und Lektorin. Sie studierte Literaturwissenschaft und leitete die Aktion »Guck mal übern Tellerrand«, die Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika jungen deutschen Lesern nahe bringt. Zusammen mit Otto Honke übersetzt sie französischsprachige Literatur aus Afrika.

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Otto Honke ist Soziologe. Er hat lange Jahre als Regionalplaner in verschiedenen afrikanischen Ländern gearbeitet. Er übersetzt zusammen mit Gudrun Honke französischsprachige Literatur aus Afrika.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Patrice Nganang

Hundezeiten

Roman

Aus dem Französischen von Gudrun und Otto Honke

E-Book-Ausgabe

Peter Hammer Verlag @ Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book des Peter Hammer-Verlags erscheint in Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag.

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Temps de chien im Verlag Le Serpent à Plumes, Paris.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 im Peter Hammer Verlag, Wuppertal.

Die Übersetzung wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.

Originaltitel: Temps de chien

© Patrice Nganang

© Le Serpent à Plumes, Paris 2001

© by Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Magdalene Krumbeck und Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30919-7

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 23.11.2022, 19:00h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

HUNDEZEITEN

Erstes Buch — GebellKapitel 1Kapitel 2Zweites Buch — Straße in AufruhrKapitel 1Kapitel 2Worterklärungen

Anmerkungen

Mehr über dieses Buch

Über Patrice Nganang

Über Gudrun Honke

Über Otto Honke

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Erstes Buch

Gebell

Kapitel 1

1

Ich bin ein Hund. Wer, wenn nicht ich, könnte dies so demütig eingestehen? Ich sehe keinen Vorwurf in der Bezeichnung, »Hund« ist für mich bloß ein Wort, ein Name – der Name, den die Menschen mir gegeben haben. Und mit der Zeit habe ich mich an ihn gewöhnt. Mit der Zeit habe ich gelernt, mich einzurichten in dem, was mir vom Schicksal vergönnt ist. »Hund« ist nun Teil meines Universums geworden, denn ich habe mir die Wörter der Menschen zu Eigen gemacht. Ich habe die Konstruktionen ihrer Sätze geschluckt und die Intonation ihrer Sprache. Ich habe ihre Ausdrucksweise erlernt, und ich kokettiere mit ihrer Art zu denken. Selbst der Arroganz ihrer Befehle habe ich mich angepasst. Wer hätte sich das jemals vorstellen können? Ich gehorche blindlings, sobald mein Herr mich ruft, auch wenn die Pfoten noch eine Weile über den Boden schlurfen.

Das war nicht immer so. Am Anfang empfand ich selbst die harmlosesten Worte der Menschen als Verletzung. Jeder Befehl verwundete meinen Blick. Wenn jemand meinen Namen sagte, fühlte ich mich gekränkt, wenn jemand mich rief, war es für mich das Gleiche, als rotzte er mich an. Damals lernte ich zahllose Eigenarten der Menschen kennen, die mich würgten, aufwühlten, kopflos machten, die mir die Kehle zuschnürten, die Zähne ausfallen ließen, mich töteten und unter die Erde brachten. »Hund« war eine dieser Eigenarten. Das Wort galt mir als sprechendes Beispiel für die Arroganz, welche die Menschen an den Tag legen, wenn sie der Welt Namen geben, wenn sie den Dingen, die um sie herum sind, einen Platz zuweisen und ihnen zu schweigen befehlen. Immer wenn es mir gegenüber ausgesprochen wurde, zeigte es mir, dass ich Teil des menschlichen Universums geworden war, dass ich aufgehört hatte zu sein, was ich eigentlich war, und kein Rederecht beanspruchen durfte.

Mit zunehmendem Alter habe ich mich an das herabsetzende Wort gewöhnt, mit dem die Menschen mich bezeichnen. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mich seit dem Tag daran gewöhnt, als mein Herr, Massa Yo, mich zu einem Tierarzt brachte, um mich behandeln zu lassen.

»Ach, Herr Doktor«, sagte er betrübt, »mein Hund ist krank. Wenn ich ihn rufe, springt er mich an und will mich beißen!«

Der Tierarzt hat nicht weiter nachgefragt. Er sagte ein oder zwei Sätze, aus denen ich das Wort »Tollwut« heraushörte, und holte eine lange, schwarze Nadel hervor. An jenem Tag begriff ich, dass ich auf meinen Namen hören musste, wenn ich überleben wollte. Ich habe meinen Schwanz eingekniffen, die Ohren hängen lassen, meine Augen geschlossen und meinen Rücken gekrümmt. Ich habe mich sogar auf meine Hinterpfoten gestellt und zu tanzen angefangen. Der Tierarzt ließ erstaunt seine Nadel sinken und streichelte mir Kopf und Rücken. Dann lachte er amüsiert über mein Theater und sagte, ich sei ein guter Hund. Ich knurrte vor Vergnügen. Er gab mir keine Spritze. Er schrieb eine lange Liste würziger Ragouts auf, die geeignet sein sollten, meine Nerven zu beruhigen. Vor allem empfahl er Hundefutter in Dosen, die mein Herr für fünfhundert Franc im Score-Supermarkt kaufen könne. Massa Yo kratzte sich den

Kopf, überlegte einen Moment, bevor er sagte, dass er noch über die Mittel verfüge, um mich zu ernähren: »Da ja mein Gehalt noch läuft«, wie er betonte.

Der Name, den mir mein Herr gegeben hat, ist »Mbudjak« und bedeutet »Suchende Hand«. Ich weiß nicht, warum dieser Name mir schmeichelt, und auch nicht, warum ich ihm gegenüber »Hund« den Vorzug gebe. Eigentlich hätte ich mich dagegen auflehnen müssen, denn von der langen Leine des Menschen befreit er mich ebenso wenig wie »Hund«. Unterstellt er nicht, dass auch ich eine Hand besitze? Unterstellt er nicht, dass ich die Hand meines Gebieters sein soll? Nichtsdestotrotz haben auch wir – wir Hunde – einen Hang zur Eitelkeit. Und letztlich bringt nichts als pure Eitelkeit mich dazu, dass ich »Mbudjak« besser finde als »Hund«: Der Name gibt mir eine gewisse Macht über meinen Herrn. Er macht aus mir seinen kundigen Führer und – das Allerwichtigste – seinen verlängerten Arm und seine rechte Hand, die den Weg erahnen, den er gehen wird, und jede Gefahr kennen, die ihm droht – und darin gefalle ich mir. Mehr noch, mein Name gibt mir das Empfinden, dass ich den Menschen zum geheimen Versteck der Wahrheit führe und dabei der Steuermann bin, und ich fühle mich geehrt.

Ich mag zwar nur ein Hund sein, aber blöd bin ich nicht. Ich weiß, dass ich noch nie jemanden geführt habe. Ich weiß, dass jedes Mal, wenn mein Herr mit mir nach der Arbeit in Richtung Carriere1 spazieren geht, einzig und allein er bestimmt, welchen Weg wir gehen und wie lange unser Ausflug dauert. Und niemals, wirklich niemals, verrät er mir vor dem Spaziergang, wohin wir gehen. Und selbst im Wald, da kann ich stundenlang vor seinen Füßen umherspringen und in Sichtweite vor ihm herrennen – sobald ich von der Route abkomme, die er sich in den Kopf gesetzt hat, höre ich ihn schon meinen Namen rufen: »Mbudjak, hierher!«

Manchmal allerdings begnügt sich Massa Yo mit einem Pfiff: Hui! Ich habe keine Ahnung, warum der Reflex meiner Muskeln mich auf der Stelle zu ihm zurückbringt. Die allermeiste Zeit wird meine Bewegungsfreiheit jedoch durch eine Leine eingeschränkt, die mich von seinem Willen abhängig macht. Eben deswegen bin ich sein Hund. Ich gestehe auch, dass meine ständigen Ausflüge die anderen Hunde in unserem Viertel vor Neid bellen lassen. »Nicht wahr, dein Herr hat Geld?«, kläffen sie, wenn sie uns vorbeigehen sehen. »Hat man so was schon erlebt?«

Und amüsiert gebe ich ihnen zur Antwort: »Ein Großer ist nun mal kein Kleiner.«

Einmal kam während eines Spaziergangs ein Hund aus dem Viertel angelaufen und wollte an meinem Hinterteil schnüffeln. Sein Fell war von Räude zerfressen, und ein Schwarm Fliegen machte seine Gegenwart zur Höllenqual. Sie umschwirrten ihn, als wollten sie ihn bei lebendigem Leibe fressen. Mein Herr jagte ihn unbarmherzig fort.

»Oho, machst du das mit ihm?«, fragte mich der räudige Hund, nachdem er sich in Sicherheit gebracht hatte. »Deswegen liebt er dich wohl so sehr, was?«

Er bellte ein von Ironie durchtränktes Lachen. Hochmütig wandte ich den Blick ab. Immer noch lachend sagte er, ich müsse die Frau meines Herrn sein, da noch kein Mann in Madagaskar2 jemals mit seinem Hund ausgegangen war. Solange er, ein streunender Hund, sich erinnerte, hatte er so etwas noch nie gesehen. Weiter sagte er, ich allein wisse, welchen Preis ich für meine bevorzugte Behandlung zahlte. Und ich könne zwar die Schnauze halten, falls ich das wolle, fuhr er fort, aber mein geschwätziger Arsch plaudere aus, was meine Schnauze verschweige, und mein aufreizendes Hinterteil sei der Beweis für meine Stellung. Solche Verleumdungen darf man sich nicht eine Sekunde bieten lassen. Ich wollte mit den Pfoten auf ihn losgehen. Mein Herr hielt mich an der Leine fest. Ich wollte einen Satz sagen. Ich wollte eine ellenlange Rede halten. Ich senkte den Kopf und schwieg lieber. Ja, wenn man das, was man zu sagen hat, nicht herausbringt, soll man die Schnauze halten. Ich ließ die Ohren hängen und setzte meinen Weg fort, hinter meinem Herrn her.

Ich, sein Hund.

2

Im April 1989 wurde Massa Yo gefeuert. Als hätte ein logischer Zusammenhang bestanden, gab er alsbald seine Gewohnheit auf, spazieren zu gehen. Fortan in die finstere Sackgasse seines Schicksalsschlags gestoßen, von der Erinnerung an die Bequemlichkeit gedemütigt, die ihm abrupt entrissen worden war, durch den trockenen bobolo mit gerösteten Erdnüssen, den er nun morgens, mittags und abends essen musste, seiner Männlichkeit beraubt, streckte mein Herr seine Hand nicht mehr aus, um meinen Kopf zu streicheln. Sagte ich streicheln? Selbst seine Gewohnheit, mich mit meinen Namen zu rufen, hatte er in seinem Mund begraben. Dabei erwähne ich noch nicht einmal, dass die Dosen von Score, wenn er sie gelegentlich kaufte, nun für ihn selbst und seine Familie bestimmt waren, denn dies war Fleisch zu einem erschwinglichen Preis im Vergleich zu dem, was er bei einem maguida-Metzger um die Ecke hätte zahlen müssen. Ich gewöhnte mich an meine Herabsetzung. Da ich seine schwierige Lage begriff, simulierte ich keine Tollwut mehr, um ihm meinen Willen aufzudrängen.

Trotz meines Schweigens nahm Massa Yo bald die Gewohnheit an, mich zu beschimpfen: »Parasit!«, schrie er, als ich mich an seinen Füßen scheuern wollte. »Raus hier!«

Er griff nach einem Schuh und warf ihn auf mich. »Hau bloß ab hier, n/un/uka/aba!«, brüllte er dann.

Es dauerte nicht lange, da hatte ich das goldene Zeitalter unserer Beziehung aus meinem Gedächtnis gestrichen. Ich begann ihn zu meiden, um den sinnlosen Gewaltausbrüchen zu entkommen. Ich hatte die Schnauze voll, den idealen Prügelknaben herzugeben, den Sündenbock. Immer häufiger ergriff ich, sobald er in meine Nähe kam, die Flucht. Ich schlich mich die Wände entlang, damit er nicht auf meinen Schatten aufmerksam wurde. Ich lief davon und versteckte mich zwischen den stinkenden Häusern der Armenviertel. Dort traf ich wieder auf die streunenden Hunde mit den entzündeten Augen und Fliegenschwärmen um sie herum. Mehr und mehr verbrachte ich meine Tage mit ihnen. Ihre Gesellschaft stellte allerdings keine Erholung dar. Sie wollten wissen, was meinem Leben bei meinem Herrn die Würze gab. Sie gierten, von den abenteuerlichen Wendungen im Leben eines Haushunds zu hören. Es war das erste Mal, dass wir unsere Klassengrenzen überschritten und wie Brüder miteinander sprachen. Sie sagten, dass ich Glück hätte. Und ich, in vollem Bewusstsein meiner Schande, gestand ihnen nicht, dass mein Glück mehr und mehr ins Ungewisse herabsank. Vor ihren neidischen Blicken wollte ich mich nicht an den Pranger stellen. Manchmal, ich gebe es zu, schreckte ich noch nicht einmal davor zurück, die Vorzüge meines Herrn zu rühmen.

»Massa Yo kann alle Hunde aus dem Viertel ernähren«, brüstete ich mich. Und war erstaunt, dass sie mir glaubten.

Glücklicherweise stimmten sie ihr hungriges Geheul nicht vor Massa Yos Haus an. Ich hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass mein Revier tabu für sie sei, und sie hielten sich daran, begnügten sich damit, mir aus der Ferne mein Glück zu neiden. Manchmal meinten sie mich hänseln zu müssen und kläfften hinter mir her, ich sei nichts anderes als ein kleinbürgerlicher Hund. Ich nutzte ihre Freundschaft aus und verriet ihnen nichts von meinen häuslichen Demütigungen. Als ich mich wieder bei Massa Yo sehen ließ, traf mich sein boshafter Blick. Nur mit Mühe verkniff er sich die Bemerkung: »Ach, bist du zurück? Ich dachte schon, du seiest endgültig verschwunden.«

Ich hatte ihn in Verdacht, dass er mich dem Abdecker übergeben wollte, aber nicht den Mut aufbrachte, seine Absicht auszuführen.

Einmal übernachtete ich mehrere Tage hintereinander draußen. Den Hunden aus dem Viertel, die verblüfft waren, dass ich sie bei Anbruch der Nacht nicht verließ, erzählte ich, ich wolle ihre Lebensweise als nangaboko ausprobieren, um sie besser zu verstehen.

»Aus Hundesolidarität«, fügte ich hinzu.

»Kannst du dir keinen anderen Grund vorstellen?«, fragte mich eine Hündin, deren Zitzen den Boden fegten.

Damit die Sonne nicht die Wahrheit über mein Elend an den Tag brachte, vermied ich es während meiner Zeit draußen, mich den Blicken meiner Artgenossen auszusetzen. Auf den Straßen fand ich immer irgendwelche Reste für meinen Magen, und das Viertel war groß genug. In einer Gosse entdeckte ich ein von einem Auto platt gefahrenes Huhn, von einem menschlichen Passanten dorthin befördert. Auch auf eine Ratte stieß ich dort, deren Tod die gesamte Atmosphäre verpestete. Schließlich traf ich einen Hund mit versteinerter Visage, der mir auf den Zahn fühlen wollte. Ihm war der Verdacht gekommen, dass ich das wahre Ausmaß meiner Leiden verschleierte, und er bot mir seine Freundschaft an, um sich mein Vertrauen zu erschleichen. Erst, als ich ihm in einem Moment der Schwäche und

Aufrichtigkeit eingestand, dass ich die Tür zum Hause meines Herrn hinter mir zugeschlagen hatte, merkte ich, dass er in Wirklichkeit nur auf der Pirsch nach Informationen war. Er ist es auch gewesen, der unter den Hunden des Viertels die Nachricht verbreitete, ich sei in Ungnade gefallen.

Ein andermal – ich gab mich gerade dem Appetit hin, den ein Happen nasses Leder in mir erweckte – vernahm ich über meinem Kopf ein Bellen. Es war der Hund mit dem Räude-Mantel, der mich seinerzeit verdächtigt hatte, mit meinem Herrn Dinge zu treiben, die unaussprechlich sind.

»He«, rief er aus, »Mbudjak, frisst du jetzt etwa schon Leichen, oho-o?«

»Bloß damit ich weiß, wie es schmeckt«, erwiderte ich hochmütig.

Er brach in sein von Ironie durchtränktes Gelächter aus. »Hier draußen wirst du sogar Scheiße fressen!«, prophezeite er mir. »Als du noch im Überfluss gelebt hast, oho-o, wollten wir mit dir reden, und du hast uns nicht mal eines Blickes für würdig befunden. Jetzt ist die Reihe an dir, nun gibst du für deinen Herrn den Sündenbock ab, nicht wahr?«

»A bo dze-a!«, rief eine einäugige Hündin, die sich dem Erstaunen und Amüsement des Räudigen angeschlossen hatte. »Bald bist du wie wir!«

Sie schlug ihr verfinstertes Auge auf und zeigte mir ihre abgestoßenen Fangzähne. Ich klemmte meinen Schwanz zwischen die Pfoten. Ja, es war so: Ich hatte mich den Leiden meiner Artgenossen zugesellt und rieb mich an ihrem Unverständnis. Sie hatten sich nur mit mir abgegeben, solange ich für sie ein Wesen von einem anderen Stern gewesen war! Doch warum ihnen das übel nehmen? Von nun an würde ich ihr ironisches Gebell, Getuschel und Gespött mit Gleichmut ertragen.

Zu jener Zeit wurde ich mit der dreckigen Fratze ihrer Welt des Hungerns vertraut. In den Abgründen ihres Elends lernte ich, dass die Not dem Reich der Halluzinationen Tor und Tür öffnet. Ich hörte ihnen manchmal zu, wenn sie sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend Geschichten erzählten – von Krankenhäusern für Hunde, von Kirchen für Hunde, von Fernsehsendungen für Hunde, von Speisen extra für Hunde, von einer Pflegeversicherung für Hunde, von Altenheimen für Hunde und von Hundefriedhöfen. Ich hörte mir ihre Verrücktheiten an und stellte mir nicht ohne Vergnügen vor, wie wunderbar das tierische Paradies sein musste, das sie sich ausmalten, um das allzu laute Knurren ihrer Mägen aus ihren Köpfen zu verdrängen. Ich schlug mich immer länger dauernde Ewigkeiten mit den üblen Ausdünstungen ihrer verkommenen Hölle herum, bis auch ich ein streunender Hund geworden war. Ich war auf die kümmerlichen Verhältnisse aller Hunde aus den Armenvierteln zurückgeworfen, schließlich hatte auch ich keine Perspektive mehr.

Ich würde lügen, gäbe ich nicht zu, dass ihre Fantastereien mir bisweilen das Ausmaß des Glücks bei meinem Herrn in Erinnerung riefen, eines Glücks, das ihre Gesellschaft mir in keiner Weise ersetzen konnte.

Anfangs lachte ich über ihre Hirngespinste und scheute mich nicht, sie voller Ironie, die ich aus meiner Vergangenheit schöpfte, zu fragen: »Was habt ihr denn schon gesehen?«

Mit meiner Verteidigung begann ich erst, als sie mit ihren Träumereien am Ende waren und mir vorhielten, ich hätte das menschliche Paradies verlassen. Die Debatten mit ihnen bewirkten, dass das Bild von Massa Yos Haus in meinem Kopf eine Wandlung erfuhr. Ja, ich gestehe, je tiefer mich das dunkle, stinkende Labyrinth der Straße und ihrer Mythen verschlang, desto stärker drängte sich Massa Yos Haus meiner Erinnerung auf als eine Insel des Glücks, von der ich mich nicht so leicht hätte vertreiben lassen sollen. Je länger ich das Leiden meiner Artgenossen sah, desto mehr warf ich mir meine Übereile vor. Mit aller

Wucht schüttelte ich meine Ohren, um die spöttischen Fliegen abzuwehren, die mich verfolgten; ich drehte und wand mich wie verrückt, um mir in den Rücken zu beißen, und sagte mir erschöpft, dass ich, Mbudjak, es nicht verdiente, im Dreck zu schlafen. Ja, ja, ja, die Halluzinationen meiner Artgenossen führten mir unablässig das lachende Gesicht meines Herrn vor Augen. Ich malte mir aus, wie Massa Yo aus seinem Elend befreit wurde. Einmal mehr sah ich ihn auf einem Absahner-Posten in der Verwaltung sitzen, der ihm immense Summen einbrachte. Manchmal stellte ich ihn mir mit einem anderen Hund an seiner Seite vor, einem Hund, den er aus Faulheit auch »Mbudjak« genannt hatte. Ja, ich sah ihn dann wieder auf der Straße von Mbankolo3 spazieren gehen, genau wie seinerzeit mit mir. Ich sah ihn mit seinem Hund an mir vorbeigehen, ohne dass er mich eines Blickes würdigte. Ich bellte meinen Neid in tausend Schmähungen heraus.

»Ein Großer ist nun mal kein Kleiner«, gab mir Mbudjak hochmütig zur Antwort.

So also war meine Lage: In meinem Rinnsteinbett ausgestreckt, dachte ich mit Wehmut an die goldene Zeit der Beziehung zu meinem Herrn. Um mich zu trösten, erzählte ich mir selbst die großartigsten Heldengeschichten, dachte mir die Geschichte eines Hundes aus, der einen silbernen Reif um seinen Hals trägt. Nach und nach vergaß ich die Momente bitteren Leidens, die ich bei Massa Yo durchlebt hatte. Einer Ohrfeige kann man ausweichen, indem man sich schnell genug zur Seite dreht, sagte ich mir in den Augenblicken, da mich die Feigheit überwältigte. Eine Beschimpfung kann schlucken, wer zu vergessen weiß, sagte ich mir auch. Rotz stinkt nicht mehr als Dreck. Ich warf mir vor, dass ich zu naiv oder zu idealistisch gewesen war und keine Ahnung von der rauen Wirklichkeit gehabt hatte. Und zwar in dem Moment, als ich bei einer stürmischen Diskussion jemanden sagen hörte: »Wie kann man nur mit einer Kette um den Hals herumspazieren!«

Mir war diese Meinung sofort sympathisch. Sie wurde von einem Hund geäußert, dem das Leben nur drei Pfoten gelassen hatte. Er fuhr fort: »Und wenn man mir eine Million bietet, Allah! – ich lehne es ab, mich in Sklaverei zu begeben!«

Betrübt sah ich ihn an. Ich kannte seine Geschichte. Er hatte eine Pfote verloren, als er die Straße überqueren wollte, und sein Herr hatte ihn vor die Tür gesetzt, weil seine Frau fand, dass der Hund lächerlich und hässlich aussah. Der Verstümmelte hegte seitdem einen tiefen Groll gegen die Menschen und bezeichnete sich selbst als Kommunisten. Er redete weiter und meinte: »Im Übrigen lassen sich nur die Hunde der Weißen an der Leine führen, und natürlich die Hunde ihrer schwarzen Lakaien … «

Ich sah, wie eine Spur von Eifersucht in seinen Augen aufblitzte: »… weil es Hunde sind, die sich ihrem Hundsein entfremdet haben! Bei uns wacht jeder eifersüchtig darüber, dass er ein Hund ist, denn Hundsein ist Freiheit.«

Da konnte ich nicht länger an mich halten: »Welche Freiheit?«, rief ich aus. »Ja, welche Freiheit denn? Weißt du überhaupt, was das ist – Freiheit? Etwa die Freiheit zu krepieren und auf den Müll geworfen zu werden, als hätten wir keine Seele?«

Die anderen Hunde brachen in Gelächter aus. Ich hielt in meiner Rede inne, denn zu spät hatte ich begriffen, dass ihre Diskussion lediglich dazu diente, sich über mich lustig zu machen. Ich stürzte mich auf einen von ihnen und wollte ihm die Augen auskratzen und die Schnauze zerfetzen. Es war höchste Zeit, dass auch der letzte streunende Hund aus dem Viertel begriff, ich, Mbudjak, ließ mich durch ihre Unterstellungen nicht beleidigen, ich zeigte ihnen meine Zähne. Als Schimpfworte zu Tiraden, Diskussionen zu Gefechten wurden und kongossa sich zu Verleumdungen wandelte, beschloss ich eines schönen Tages, aus ihrer Hölle auszubrechen. Lieber Massa Yos Kette als der penetrante Gestank, der von den Schnauzen dieser frechen Köter ausging, sagte ich mir.

Zu meinem Herrn ging ich einzig und allein zurück, um in meinen Ohren das Geschwätz jener zum Schweigen zu bringen, die nun wirklich nicht meine Brüder waren. Ich kehrte zu meinem Herrn zurück, ja. Aber nicht, ohne vorher meinen Schwanz und meine Ohren aufzustellen und die heruntergekommene Hundebevölkerung von Madagaskar wissen zu lassen, dass der Grund für ihre Eifersucht in ihrem Elend zu suchen war. Der dreibeinige Hund schüttelte sich vor Lachen und erwiderte mir: »Rede nicht so geschwollen daher, du kommst wieder.«

Ich maß ihn mit meinem Blick. »Das werden wir ja sehen«, bellte ich zurück.

3

Da war ich also wieder. Ein weiteres Mal rollte ich mich im Schatten von Massa Yos Haus zusammen. Dass ich einer tausendfachen Drangsal entronnen war, rührte ihn nicht. Mit meiner Rückkehr wuchs sein Zorn, und ich musste seine ständig wechselnden Launen ertragen. Bia Boy«. Meine Artgenossen hatte ich so beschimpft, dass ich mich nicht mehr zu ihnen gesellen konnte, ohne mich weiter zu demütigen. Indem ich sie verließ, hatte ich mich dazu verdammt, mich mit den täglichen Wutanfällen meines Herrn abzufinden. Um die Zweifel, die noch an mir nagten, zum Verstummen zu bringen, versicherte ich meiner um mich trauernden Ehre, dass ich aus keinem anderen Grund in das Haus des brutalen Mannes zurückgekehrt war als aus Freundschaft zu Sumi. Sumi war der Sohn meines Herrn. Zwar konnte er sich des spitzesten Hinterkopfs rühmen, der je gesehen wurde und seinen Schädel wie ein Dreieck aussehen ließ, doch flößte er mir Sympathie ein mit seinen zehn Jahren. Als ich ihn wiedersah, bezähmte ich die Ängste, welche die Gewalttätigkeiten seines Vaters früher in mir erweckt hatten. Ich ließ meine Ohren hängen, sprang ihn an und leckte ihm das Gesicht. »Du bist aber gewachsen!«, log ich ihm vor.

Doch dies sagte ich nur, um irgendetwas zu bellen. Sumi wusch mir den Staub und Dreck ab. Ich nahm die Geste als ein Zeichen seiner Freundschaft, obwohl es ein Befehl seines Vaters war. Ich lernte, mich selbst zu belügen, sonst hätte ich die Schande, dass ich mir alles gefallen lassen musste, nicht überleben können. Von nun an lief ich mit meinem jungen Freund durch das Armenviertel. Ich übertrieb meine Freude, damit jeder sie sehen konnte. Ich zappelte wie wild und bellte laut. Meine Artgenossen sahen mich auf der Straße verrückte Sprünge vollführen und wagten nicht, das Wort an mich zu richten. Sie blieben, den Mund weit aufgerissen, stocksteif stehen und ließen die Zunge auf den Boden hängen. Diesmal war ich es, der ihnen meine Grandeur entgegenbellte. Als sich die Leute angesichts meines Imponiergehabes vor Angst nicht in meine Nähe wagten, erklärte Sumi, sie könnten ohne Gefahr am mir vorbeigehen. Er sagte ihnen, ich sei nicht bissig, was der Wahrheit entsprach. Ich verrenkte mir die Wirbelsäule und krümmte meinen Körper rückwärts, wenn Sumi es mir befahl. Ich legte mich auf den Rücken und trommelte mit den Pfoten, um ihm zu zeigen, wie ausgelassen ich mich über seine kameradschaftliche Solidarität freute. Er warf einen gelben Tennisball weit weg, und ich lief hinterher, wobei ich bellend meine Begeisterung kundtat, dass ich den Ball zu ihm zurücktragen durfte. Und ich schwöre bei Allah: Ich hätte den Ball selbst dann apportiert, wenn Sumi ihn in die Hölle geworfen hätte, noch qualmend hätte ich ihn mit meinen Zähnen geschnappt und zurückgebracht. Freundschaft kennt keine Grenzen, sagte ich mir immer wieder.

»Sumi«, bellte ich ihn eines Tages an, »du bist mein Freund.« Er verstand mich nicht. Ein andermal hörte ich ihn zu seinem Vater sagen, was für ein lieber Hund ich sei. Diese Bemerkung bestärkte mich in meiner Überzeugung, dass ich auf dem richtigen Weg war, und ich verdoppelte mein choua, damit ich seine Freundschaft gewann. Was habe ich nicht alles unternommen, um in dem Jungen nicht die Gewalttätigkeit seines Vaters aufkeimen zu lassen! Manchmal bin ich bis an die Grenze zur Erniedrigung gegangen, die der Freundschaft nah verwandt ist. Hinter allem, was ich nicht müde wurde zu tun, stand mein feiger Wunsch, der Straße zu entkommen, die mir die abscheuliche Fratze ihrer todbringenden Verrohung gezeigt hatte. Wer einmal den Geruch der Gosse in seiner Nase gehabt hat, erkennt ihn schon von weitem. Mit jedem Spiel, jedem Weg, jedem Apportieren entspann sich, wie ich glaubte, eine echte Romanze mit dem Kind und über das Kind mit dem Menschen, und die Beziehung zu Sumi wurde für mich die Quelle meines Heils.

Eins hatte ich bei meinen übereilten Orgasmen allzu schnell vergessen: Ich blieb ein Hund. Ja, ich akzeptiere es: Ich laufe auf allen vieren, und das ist Gottes Wille. Sumi allerdings deutete meine vierfüßige Beschaffenheit als Begrenzung meines Seins; für ihn war sie identisch mit meiner Verurteilung zum plattbäuchigen Schicksal eines Reptils. Das wurde mir jedes Mal aufs Neue klar, wenn sein Zorn ausbrach und seinen Blick verdüsterte. Mein junger Freund begann dann hemmungslos in seinem Larousse der Verbalinjurien zu blättern und verwandelte sich binnen Sekunden in seinem Vater: »Mouf. Verdrück dich«, schnauzte er mich an, wenn wir uns im Haus aufhielten, »ab nach draußen, du Kakerlak!«

Und wenn der Zorn ihn draußen packte, brüllte er: »Du Meerschweinchen! Karnickelbock! Stinkender Wiederkäuer! Du Sauhund!«

Und so weiter und so weiter. Wenn ich den Gehorsam verweigerte und nicht das Weite suchte, ja, wenn ich, um meine Würde zu wahren, den Schwanz einkniff, die Ohren hängen ließ und mir den Anschein gab, als hätte ich nichts gehört, erhielt ich einen Tritt ins Hinterteil. Ich betrachtete diese Kapriolen als Verirrungen eines kindlichen Gemüts und wiegte mich in der Illusion, dass ich noch einiges an Erziehungsarbeit zu leisten hätte. Ich redete mir ein, dass er reifen würde, und hoffte, unsere Freundschaft wäre ihm dabei eine Hilfe. Es ist wahr: Ich hatte nie den Wunsch, ein Mensch zu werden, trotzdem versetzte ich mich oft in die Situation meines Freundes, um seine Ausrutscher zu verstehen und zu verzeihen. Warum trotzdem? Weil ich weiß, dass Sumi sich selbst in seinen kühnsten Träumen niemals vorgestellt hätte, er sei ein Hund. Der Kontrast zwischen seinem und meinem Denken zog eine wenngleich unsichtbare, so doch unabänderliche Trennungslinie zwischen uns – auf der einen Seite meine Manöver, seinem Zorn auszuweichen, auf der anderen die Unmöglichkeit, mir Partner zu sein. Wie soll ich es erklären? Beispielsweise stellte ich überrascht fest, dass Sumi, nachdem wir den ganzen Tag im gemeinsamen Spiel verbracht hatten, manchmal in einen herrischen Tonfall fiel, wenn er mir etwas zu verstehen geben wollte.

Und das war noch harmlos. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die Trennungslinie zwischen Sumi und mir verwandelte sich in eine Wand von Beton, sobald unsere Interessen sich kreuzten. Jedes Mal, wenn mein junger Freund seinen Lebensraum gefährdet sah, kehrte er den Herrn heraus, der in ihm schlummerte. Und sein Lebensraum – wie könnte es beim Kind eines tobsüchtigen Vaters anders sein – war ebenso aufgebläht wie sein Bauch.

4

Du darfst nicht zu viel vom Leben verlangen, sage ich mir manchmal, und ich füge hinzu und betone: BESONDERS, WENN DU EIN HUND BIST. Wie konnten Sumi und ich Freunde sein, wenn sein dekadenter Vater mich zwang, die Mahlzeiten, die nach Sumis Ansicht für die Familie gedacht waren, mit dem Jungen zu teilen? Wie konnten wir Freunde sein, wenn ich von einem Teller essen musste, den Sumi als den seinen und ausschließlich den seinen betrachtete? Wie konnten wir Freunde sein, wenn mein junger Freund sich jedes Mal, sobald die Essenszeit näher rückte, die verschiedensten Listen ausdachte, um mich aus dem Haus zu graulen; ja, wenn er um die Mittagsstunde alle Scham verlor, mir befahl: »Mbudjak, verschwinde mit deinen Fliegen nach draußen!«, und mir, falls ich nicht sofort aufsprang, mit einem ungeduldigen »Raus!« Beine machte. Einmal gebot mein Herr Sumi, er solle mir einen Teil des roten, in Öl gebratenen koki überlassen, von dem er sich reichlich auf den Teller gehäuft hatte. Meines Zeichens Fleischfresser, hätte ich auf einen Teller, der von fettigen, scharf gewürzten Bohnen nur so triefte, ohne weiteres verzichtet, und wäre es das beste Bohnengericht der Welt gewesen. Ich hätte mir nicht einmal einen Vorwurf daraus machen müssen. Sumi erklärte aber ohne Umschweife, seine Portion sei zu klein, als dass er sie mit einem Hund teilen könne (er betonte »Hund«). Mich kränkte diese Bemerkung eines Freundes. Mehr noch, sie traf mich ins Mark. Im Namen unserer Freundschaft war ich bereit, die unerquickliche Entgegnung schleunigst zu vergessen. »Hunger ist stärker als menschliche Intelligenz«, sagte ich mir säuerlich.

Was geschah aber? Schäumend vor Wut lief Massa Yo aus dem Haus und stieß den Teller koki seines Sohns mit einer unbedachten Bewegung direkt vor meine Schnauze. Gackernd stürzten sich die Hühner darauf. »Wenn du das nicht essen willst«, sagte mir eins, »ist es dein Problem, oder?«

Ich sah ihnen zu, wie sie aufgeregt pickend ihre Schnäbel füllten. Mich plagte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Mbudjak, sagte mir mein Magen, was fällt dir denn ein? Du wirst doch vor so einem koki nicht zurückschrecken! Und er hatte Recht, selbst die Mami Wata4 würden mir einen Denkzettel verpassen, wenn ich mich nicht von dem herrlich gewürzten Mahl betören ließe, das da, für Menschen nunmehr ungenießbar, vor mir auf dem Boden ausgebreitet lag. Ich hatte keinen Grund, mich nicht gleichfalls zu bedienen. Ich schüttelte mich kurz und ließ mich von den Argumenten meines Magens leiten. Und während ich gierig den Boden ableckte und Sumi herzzerreißend schluchzte, dröhnte aus dem Wohnzimmer die Stimme meines Herrn: »Das wird dich lehren, nicht so zu gieren!«, und weiter: »Dann isst du eben nichts!«

Ging mich das etwas an? Ich verspeiste meine Portion. Ich wusste, dass Sumi von seiner Mutter ein Ersatzessen bekommen würde, hinter dem Rücken seines Vaters. Wozu hat man schließlich eine Mutter? Auf keinen Fall würde Mama Mado ihren einzigen Sprössling hungrig zu Bett schicken. Welche Mutter hat ihren kleinen Liebling schon einmal wegen eines Hundes mit knurrendem Magen einschlafen lassen? Wohl keine. Ich sagte mir, dass im Hause bald wieder Frieden einkehren würde. Im Übrigen machte ich es mir für den kommenden Morgen zur Pflicht, Sumi zum Spielen zu ermuntern, um unsere Versöhnung auf den Weg zu bringen und ihn spüren zu lassen, dass er in seinem Schmerz nicht allein war. Ich hatte – zugegebenermaßen – seinen Kummer mit verursacht, doch darüber durfte er nicht unsere Freundschaft vergessen. Indem ich meinem untröstlichen Freund die Stärken unserer Gemeinschaft vor Augen führte, hoffte ich seine angespannten Nerven zu beruhigen und das Bewusstsein in ihm wachzurufen, dass man Erlebnisse, die einem bitter aufstoßen, am besten vergisst. Offensichtlich klappte es. Sumi fand schnell seinen alten Schwung wieder. Er spielte an jenem Tag ausgiebiger als je zuvor. Und ich ließ mich vom wilden Taumel seiner Begeisterung gern davontragen.

Zusammen tollten wir durch die Gassen des Armenviertels. Wir amüsierten uns unbeschreiblich. Wir liefen durch Täler, in denen wir noch nie zuvor gewesen waren. Wir sprangen über Tümpel, stürzten uns vor Freude johlend ins Wasser. Bald fanden wir uns in einem Wald wieder, ich glaube, es war der Wald von Mbankolo. Wir spielten verstecken, um die Wette laufen, Hindernis laufen, Laufen ganz allgemein, Hochsprung, Stabhochsprung. Wir dribbelten zwischen den Bäumen entlang und spielten Elfmeterschießen. Das schlechte Gewissen, das mich quälte, weil ich das leckere koki meines Freundes verschlungen hatte, verwandelte sich in überbordende Spielfreude. Unter dem Vorwand, er wolle ein neues Spiel ausprobieren, legte mir Sumi plötzlich meine Leine um den Hals. Ich ließ ihn japsend gewähren.

»Galopp!«, schrie er, »lauf Galopp, Galopp, mein Pferdchen!« Ich bin gewiss kein Pferd, doch ich ließ mich mitreißen. Wir drangen immer tiefer in den Wald ein. Ich lief hinter ihm her, ich lief vor ihm her, ich lief neben ihm her. Die Leine noch immer in der Hand, kletterte Sumi auf einen Baum, und bevor ich begriff, was in seinem Kopf vorging, war er auf der anderen Seite des Astes schon wieder hinuntergesprungen. Hopp! Ich baumelte in der Luft, streckte meine vier Pfoten in den Wind. Sumi sah zu, wie ich hin und her ruderte. Schlimmer noch: Er platzte vor Lachen. »Aschuka ngangali«, rief er, und Lachkrämpfe schüttelten ihn.

Ich hing dort und glaube, dass ich sah, wie er um mich herumtanzte. Der Schmerz machte mich blind. Meine Augen traten aus ihren Höhlen hervor. Meine Zunge langte bis auf den Boden. Ich konnte meine Qual nicht mehr herausbellen. Ich konnte die Ohnmacht meiner gepeinigten Seele nicht mehr herausschreien. Die Schlinge, die mir die Kehle abschnürte, die mir wie ein Messer in meinen Hals schnitt und mich zu Tode würgen würde, verdammte mich zum Schweigen. Ich strampelte mit den Beinen. Durch meinen Körper jagten Kälteschauer. Mein Bewusstsein verfinsterte sich. Wie lange ich an dem Baum gehangen habe, weiß ich nicht. Vielleicht ließ mich mein feiger Mörder ein paar Tage dort baumeln, zur Freude der Raubvögel, die Löcher in meine Eingeweide pickten. Vielleicht ließ er mich wie einen ganz gewöhnlichen bifaga in der Sonne hängen. Vermutlich wagte kein Mensch, mich von dem Ast herunterzuholen, alle glaubten sicherlich, dass ich den Vorfahren als Opfer dargebracht worden war. Ja, so war es: Nach meiner Erinnerung verliert sich das Verbrechen, dem ich zum Opfer gefallen war, im Unendlichen der so mannigfaltigen wie fragwürdigen menschlichen Glaubensüberzeugungen. Vielleicht ließen gläubige Katholiken gar den Priester kommen, der Weihwasser über mich ausgoss, wiederholt das Kreuz über mich schlug und rief: »Lasset die Toten ihre Toten begraben, Amen!«

Oder aber, kein Mensch hielt es für der Mühe wert, mich von meinem Ast zu nehmen, weil jeder erwartete, dass der Abdecker sich darum kümmern würde. Der wie gewöhnlich nicht kam. Und man weiß ja nie: Vielleicht hänge ich auch noch immer an jenem Baum, in meinen starren Augen ein leerer Blick, entsetzt, dass sie dem Tod ins Angesicht sahen, meine Schnauze weit aufgerissen, entsetzt, dass sie vor ihrem qualvollen Bellen verstummte.

Ich weiß nicht, ob Sumi nun viel größeren Appetit darauf hatte, sein koki allein zu verspeisen. Ich könnte es mir vorstellen. Ich weiß aber, dass es ihm leicht fallen würde, eine Geschichte zu erfinden, um seinem Vater mein Verschwinden plausibel zu machen. Er könnte sagen, ich hätte mich entschieden, Selbstmord zu begehen, da ich wegen meiner Untat von Gewissensbissen gequält wurde. Doch warum lügen? Ja, warum lügen, um den Tod eines Hundes zu erklären? Er könnte ohne weiteres sagen, dass er mich erhängt hatte. Ich weiß, im Schreck über diese Offenbarung würde mein Herr die schon erhobene strafende Hand sinken lassen. »Du bist schlimmer als ein Tier!«, würde er sagen. »Du kommst auf deine Mutter heraus!« Na und, na und, und wenn schon, was macht das?, würde der kleine Verbrecher denken. Er hätte Recht, denn das Leben ginge auf jeden Fall weiter.

5

Ob es Sumi nun gefiel oder nicht, ich überlebte meine Erhängung. Was soll ich sagen? Ich überlebte und ging zurück zu seinem Vater Massa Yo, meinem Herrn. Unter uns: Die Frage, warum ich das tat, werdet ihr mir vielleicht nicht stellen, da ich ja der treue Begleiter des Menschen bin. Aber muss ich, nachdem ich mehrfach Opfer der Tobsucht besagten Massa Yos geworden bin und nun den Mordanschlag seines Sohnes Sumi überlebt habe, denn unbedingt wieder im Schatten eines Menschen und im Haus des Hungers Zuflucht suchen, die beide meinen Tod verursachten? Muss ich denn – werdet ihr vielleicht fragen – erst getötet, erneut getötet und wieder und wieder getötet werden; muss ich denn erst ein, zwei, drei, zehn, hundert, tausend Male sterben, bis ich mich endlich dazu aufraffe, meinen ewigen Mörder zu verlassen? Denkt, was ihr wollt, liebe Leser, doch sagt nicht, ich sei zu meinem Herrn zurückgekehrt, weil ich ein Hund bin. Denn es verhält sich so: Zurück zu Massa Yo hat mich in erster Linie mein Entschluss getrieben, mir selbst Gerechtigkeit zu verschaffen. Die Betonung liegt auf »mir selbst«.

Wenn ich die Fährten durch das Labyrinth des Waldes von Mbankolo aufgespürt habe und den Weg zum Todesspiel in umgekehrte Richtung entlanggelaufen bin, dann nur, weil ich von meinem Willen getrieben wurde, dass Sumi für seine Grausamkeit büßen sollte. »Dafür wird er mir bluten«, sagte ich mir unterwegs immer wieder. Und: »Der wird heute noch sein blaues Wunder erleben!«

Als Sumi mich an der Schwelle des väterlichen Hauses erblickte, kam er vor Angst fast um. Aber nur keine Panik, er hatte damals doch Recht gehabt! Ich bin kein bissiger Hund. Ich doch nicht, Mbudjak, wie könnt ihr so etwas glauben? Davon überzeugte mich der drohend erhobene Arm meines Herrn, der mich von dem Bengel trennte. Sumi sprudelte etwas von »Tollwut« und »Raserei« hervor. Ich klagte ihn der Lüge an, ich berichtete in allen unglaublichen Einzelheiten von meiner missglückten Ermordung, doch meine lautstark vorgetragene Version des Tathergangs kümmerte Massa Yo nicht. Ich hörte ihn sagen, dass ich die Frechheit besäße, bellend vor ihm herumzuspringen, nachdem ich »einmal mehr« spurlos verschwunden gewesen war. Er schäumte vor Wut und packte mich grob im Nacken. Ich kläffte ihm zu, dass alles ein Missverständnis sei. Er hörte mich nicht an, sondern verpasste mir eine Tracht Prügel. »Wo bist du gewesen?«, fragte er mich bei jedem seiner Schläge, die im Stakkato auf mein Hinterteil trafen. Ich bellte es ihm unter Tränen zu, doch er glaubte mir nicht. »Wo bist du gewesen?« Ich bezähmte meinen Schmerz, es war umsonst: »Wo bist du gewesen?«

Angesichts seiner kalten Wut waren weitere Worte überflüssig. Ich schloss die Augen, ließ meine Ohren hängen und ergab mich seinem Zorn. Das Echo seiner Schläge, einer kakophonischen Hymne auf die Ungerechtigkeit, spürte ich in jedem meiner Knochen. Als er von mir ließ, schlich ich mich fort, bellte aber leise weiter. Ich ließ meine Stimme erst sinken, als er den

Tierarzt erwähnte. Vor meinem geistigen Auge erschien eine lange schwarze Nadel, und ich verstummte. Mein Herr fuhr dann fort, dass ich so störrisch geworden sei, weil ihm das Geld für meine tierärztliche Behandlung fehle. Er steigerte sich in ein Klagelied darüber, dass ich ein streunender Hund geworden sei, und verfluchte die Krise, die ihn seiner Männlichkeit beraubt hatte. Um seiner Verzweiflung und sogar Trauer adäquat Ausdruck zu geben, stützte er den Kopf in beide Hände. Ich tat keinen Mucks, als er erklärte, er müsse mich wohl bald dem Abdecker überantworten. »Sieh nur, nun schleppst du von deiner Rumtreiberei schon Krankheiten an«, sagte er und zeigte auf meinen Hals, an dem noch die Spuren meiner missglückten Erhängung zu sehen waren, sowie auf die zahlreichen Fliegen, die sich an meinen offenen Wunden labten. Ich verließ seinen Gerichtshof, entrüstet über seine Vorstellung von Gerechtigkeit: Er hatte meine Version des Tathergangs nicht einmal angehört. »Eine Woche!«, sagte er erzürnt zu Sumi, der heimlich grinste, wie ich wohl bemerkte. »Eine Woche! Und obendrein ist es das zweite Mal, dass er einfach so verschwindet!«

Massa Yos Wut hielt den ganzen Abend an. Er drohte mich anzuleinen, was an der Unfähigkeit seines Sohnes scheiterte, meine Leine wieder zu finden (die er, wie er behauptete, »ganz bestimmt« neben den Schrank gelegt hatte), und an seiner eigenen, mir eine neue zu kaufen – ach, die Krise! Ich versteckte mich in sicherer Entfernung von den Ausfällen meines Herrn, blieb aber innerhalb des Hofraums. Die Schmerzen fühlte ich in meiner Seele, in meinem Fell, meinem Fleisch und meinen Knochen gleichermaßen. Meine Empörung war so groß, dass ich unmöglich auf einen Racheplan verzichten konnte. Ja, sagte ich mir, wenn es dir um Gerechtigkeit zu tun ist – die kann dir niemand anders verschaffen als du selbst.

Ehrenwort Mbudjaks, Ehrenwort eines Hundes.

Wie war das zu bewerkstelligen? Nach seiner Untat wagte sich Sumi nie mehr in meine Nähe. Das hättet ihr sehen sollen! Mein so genannter Freund floh gar meinen Schatten. Wenn ich mich im Hof in einer Ecke aufs Ohr legte, blieb Sumi den ganzen Tag wie angewurzelt im Wohnzimmer. Und wenn ich ihm ins Wohnzimmer folgte, verzog er sich oben auf den Esstisch. Seine Eltern machten sich keine großen Gedanken über das veränderte Verhalten ihres Sohns, den sichtbaren Beweis seines Verbrechens. Und hatte überhaupt ein Verbrechen stattgefunden? Immer, wirklich immer, war ich es, den sie barsch aus dem Haus wiesen. Anfangs schlich ich mich knurrend hinaus. Bald jedoch fing ich an, Gefallen daran zu finden, wenn ich sah, wie Sumi vor Angst schlotterte, nur weil ich vorbeilief. Ich bellte vor Lachen, wenn ich sah, wie er bei meinem Anblick Reißaus nahm. Ich lachte, und er ergriff noch schneller die Flucht, nahm die Beine in die Hand und war auf und davon. Seine Feigheit verdammte meinen Freund zu einem Leben in ständiger Furcht. Bia boya. Ich ließ meine Absicht fallen, ihn in die Waden zu beißen, und bedauerte es nicht. Lohnte sich die Mühe noch? Seine Feigheit war Strafe genug.

Ich kostete mein Vergnügen aus, bis mir bewusst wurde, dass ich in das Haus des Verbrechens nicht zurückgekehrt war, um über Sumis kopflose Fluchten zu lachen. Ich war zurückgekommen, um zu ergründen, wie und warum ein Mensch (oder ein Kind – was aber keine Rolle spielt) so unmenschlich sein konnte. Dem Tod war ich entronnen, weil jemand, der vorüberging, sich entrüstete und den Strick durchschnitt, an dem ich hing. Und ich war nicht vom Tode errettet worden, um in die Arme des erstbesten Menschen zu sinken, der vorbeikam, und ihm meine Dankbarkeit vorzustottern. Nein. Ich war durch den Wald gestreunt und schließlich zu meinem Herrn zurückgekehrt, weil ich mir gesagt hatte, dass ich vor den Übeltaten der Massa Yos und ihrer Söhne nicht flüchten durfte, wollte ich ihnen wirklich entfliehen. Ja, ich hatte mir gesagt, wenn ich der

Raserei der Menschen ein für allemal entkommen wollte, durfte ich vor ihrem Blick nicht erzittern, dann musste ich mich im Wald verirren oder nachdrücklicher als früher die fragwürdige Freundschaft meiner Artgenossen suchen, die mich schon einmal abgewiesen hatten. Selbst wenn ich nur noch im Wald lebte, fernab jedes menschlichen Blicks, wenn ich die Hunderevolution vorbereitete und das Bewusstsein meiner Rasse schärfte, würde mich all dies nicht vor den animalischen Instinkten des erstbesten Jägers bewahren. Im Gegenteil! Um den Verbrechen der Menschen ein für allemal zu entgehen, hatte ich mir gesagt, musste ich heldenmütig in den gefährlichen Kreis ihrer Definitionen zurückkehren und Gerechtigkeit fordern.

Ja, ich gestehe es: Ich bin zu meinem Herrn zurückgekehrt, um an seine Humanität zu appellieren. Ja, ja, ja. Wäre er wirklich human, hätte er dann nicht seinen mörderischen Sohn zur Rechenschaft gezogen? Wenn er ein Mensch wäre! Und erst sein Sohn: Wenn der nur ein Quäntchen Mensch in sich verspürte, hätte er sich nicht dem anklägerischen Blick eines Hundes, wie ich einer bin, stellen müssen? Wenn nur ein Mensch in ihm schlummerte! Sind übrigens Sumi und Massa Yo die Einzigen in diesem Elendsviertel, die ihre Humanität verkauft haben? Wie kann ich es herausfinden, ohne dass ich mein Leben aufs Spiel setzen muss? Haben die beiden nicht getan, wozu alle Menschen im Viertel fähig wären? Nsong am nu! Das möge mir mal jemand verraten!

Eines aber habe ich für mein Leben gelernt: Mich erneut töten zu lassen, um meinen Hunger nach Gerechtigkeit zu stillen, wäre eine Dummheit, die mir kein Richter verzeihen würde. Hinzu kommt, dass ich, Mbudjak, nicht zweimal sterben will. Und doch, wenn ich sehe, wie mein teurer Sumi vor Angst schlottert, nur weil ich vorbeischleiche, wie sein Vater sich vor dem Gestank des eingestandenen Verbrechens in Schweigen hüllt und ganz Madagaskar sich im sanften Schlaf des guten Gewissens wiegt, dann platzt immer wieder dieselbe Frage in mein Gelächter: Wo ist der Mensch?

Die eine und einzige Frage.

Wenn ich mich mit meiner Frage systematisch auseinandersetze, sehe ich die Menschen jeden Tag ihren Beschäftigungen nachgehen, ich sehe, wie Massa Yo schweigt und Sumi sich in einem Winkel vor mir zu verstecken sucht. Ja, ich beobachte die Menschen jeden Tag; ich beobachte sie, ich beobachte sie, und abermals beobachte ich sie. Ich schaue sie an, höre, schlage mit dem Schwanz, schnüffle, kaue, ich schnüffle wieder, schmecke, lauere, schlage zu – kurz: Ich formuliere These, Antithese und Synthese, die Prothese ihres Tagwerks. Ich richte meine Sinne auf ihre Höfe und ihre Straßen, und vor meinem geistigen Auge ersteht ihr Universum. Ich beobachte und möchte verstehen, wie sie es machen. Wie sie was machen? Wie sie es anstellen, so zu sein, wie sie sind. Ihr lacht? Na gut, dann lacht. Ja, lacht! Ich aber weiß: Wenn man unter den Menschen überleben will, muss man wissen, wozu sie fähig sind.

Davon bin ich überzeugt.

6

Von nun an sieht man mich meist aufrecht dasitzen, auf die Vorderbeine gestützt, mit hochgestellten Ohren und hängender Zunge, vor lauter Wissbegierde hechelnd. In dieser Haltung bin ich für meinen Herrn ein Fremder geworden. Einen Hund, der von morgens bis abends und von abends bis morgens die Straße beobachtet, seinen Herrn beobachtet, die Menschen beobachtet, einen Hund, der immer nur beobachtet, der hin und her überlegt, bevor er endlich den Knochen nimmt, den ein vorbeischlendernder toya-Verkäufer ihm zuwirft, einen solchen Hund hat noch niemand gesehen in Madagaskar, Massa Yo eingeschlossen. Mein Herr hielt mein unermüdliches Observieren zunächst für eine extreme Fresssucht, die mich jede seiner Bewegungen verfolgen ließ, wenn er aß. Wenn ich von Zeit zu Zeit bellend kundtat, wie sehr ich mich darüber amüsierte, sagte er in aufgebrachtem Ton, dass ich zu unverschämt bettelte. Manchmal warf er mir auch einen Knochen hin, den er abgenagt hatte. Er war stets überrascht, wenn ich mich nicht gierig darüber hermachte, sondern den Knochen ganz im Gegenteil von allen Seiten besah und beschnüffelte und ihn mit einem freundlichen Lächeln betrachtete. Erst schimpfte er: »Das reicht dir wohl nicht!« Dann brüllte er: »Hau ab, verschwinde nach draußen!«