Hungern für Bischofferode - Christian Rau - E-Book

Hungern für Bischofferode E-Book

Christian Rau

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Beschreibung

Am 1. Juli 1993 traten Kalibergleute des Thomas-Müntzer-Werks im thüringischen Bischofferode in einen unbefristeten Hungerstreik, der nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Deutschlands breite Aufmerksamkeit erhielt und Solidarität hervorrief. Als »Treuhand-Trauma« der Ostdeutschen gewinnt dieses Ereignis – nach vielen Jahren des Vergessens – im Lichte der aktuellen Erfolge der AfD in den neuen Bundesländern wieder an trauriger Aktualität. Vor dem Hintergrund des noch immer virulenten Deutungskonflikts um die damaligen Proteste untersucht dieses Buch als erste zeithistorische Studie auf breiter Quellengrundlage die »lange« Geschichte des Streiks und zeigt, dass einseitige Narrative vom Siegeszug des Westens oder von der »Übernahme« des Ostens durch den Westen der historischen Wirklichkeit nicht gerecht werden.

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Christian Rau

Hungern für Bischofferode

Protest und Politik in der ostdeutschen Transformation

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Am 1. Juli 1993 traten Kalibergleute des Thomas-Müntzer-Werks im thüringischen Bischofferode in einen unbefristeten Hungerstreik, der nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Deutschlands breite Aufmerksamkeit erhielt und Solidarität hervorrief. Als »Treuhand-Trauma« der Ostdeutschen gewinnt dieses Ereignis – nach vielen Jahren des Vergessens – im Lichte der aktuellen Erfolge der AfD in den neuen Bundesländern wieder an trauriger Aktualität. Vor dem Hintergrund des noch immer virulenten Deutungskonflikts um die damaligen Proteste untersucht dieses Buch als erste zeithistorische Studie auf breiter Quellengrundlage die »lange« Geschichte des Streiks und zeigt, dass einseitige Narrative vom Siegeszug des Westens oder von der »Übernahme« des Ostens durch den Westen der historischen Wirklichkeit nicht gerecht werden.

Vita

Christian Rau, Dr. phil., ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vom widerständigen Osten: Bischofferode und die (Protest-)Geschichte unserer Gegenwart

Strukturwandel: Kaliwirtschaft zwischen Kontinuität und Wandel

Krise des Kartells: Kalipolitik in der Bundesrepublik

Krise des Kombinats: Kalipolitik in der DDR

Asymmetrische Kooperation: Umweltpolitik und erste Sanierungskonzepte

Vom Umwelt- zum Strukturprogramm: Die Treuhand und die Kalifusion

Heimat(en): Das Eichsfeld als umstrittene Bergbauregion

Aufbruch in die Moderne? Industrialisierung und regionale Identität im Eichsfeld bis 1945

Durchbruch der Moderne: Intervention, Integration und Konstruktion des Eichsfelds in der SED-Diktatur

Revolution und regionale Identität: Kali und Zukunft im Eichsfeld um 1989

Demokratisierung: Kaliproteste und Landespolitik in Thüringen

Vom Betrieb auf die Straße: Protest und Regionalpolitik im letzten Jahr der DDR

Von der Straße ins Kabinett: Protest und Landespolitik in Thüringen unter Josef Duchač (1990/91)

Die Kalifusion als demokratische Herausforderung: Protest, Parlamentarismus und Strukturpolitik unter Bernhard Vogel im Frühjahr 1993

Ausnahmezustand: Der Hungerstreik und die deutsche Transformationsgesellschaft

Bischofferode im Fokus: Politik, Protest und Solidarisierung am Vorabend des Hungerstreiks

Der Hungerstreik in Daten: Eine kurze Protestchronik

Transfers: Wie der Hungerstreik nach Bischofferode kam und zum Medienereignis wurde

Die Kumpel und die Demokratie: Der Hungerstreik als ordnungspolitischer Konflikt

Bischofferode als Klassenkonflikt: Der Hungerstreik und die außerparlamentarische Linke

Bischofferode und Brüssel: Der Hungerstreik als europäisches Ereignis

Entsolidarisierung: Der Hungerstreik als betrieblicher Konflikt

»Ostdeutsche Realität«: Wie »Normalität« in Bischofferode einkehrte

Ambivalenzen des Wandels: Konflikte und Ergebnisse der Thüringer Strukturpolitik

Making Miners Work Again: Arbeitsmarktpolitik in Bischofferode

Verlust von Männlichkeit: Arbeitsmarktpolitik, Geschlecht und Identität in Bischofferode

»Bischofferode ist überall«? Historizität, Erinnerungskultur und Aktualität eines Hungerstreiks

Dank

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Archivalien

Zeitzeugeninterview

Zeitungen und Zeitschriften

Internetquellen (ohne Zeitungen und Zeitschriften)

Gedruckte Quellen, Erinnerungen und Zeitzeugengespräche

Forschungs- und publizistische Literatur

Personenregister

Vom widerständigen Osten: Bischofferode und die (Protest-)Geschichte unserer Gegenwart

In regelmäßigen Abständen rückt Ostdeutschland in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Aufmerksamkeit kreist dabei in der Regel um zwei Ereignisse: den Mauerfall am 9. November 1989 und die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, die in der offiziellen Erinnerungskultur durch das Erfolgsnarrativ der »zielstrebige[n] Geschlossenheit des atemberaubenden Revolutionsgeschehens« erzählerisch verbunden werden.1 Angesichts einer wachsenden rechten bis rechtsextremen Polarisierung in Ostdeutschland beginnt diese Deutung jedoch seit einigen Jahren zu bröckeln. So geriet mit der Treuhandanstalt (kurz: Treuhand) jüngst eine längst vergessen geglaubte Behörde wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit, die von 1990 bis 1994 den Großteil der ostdeutschen Betriebe privatisiert, saniert oder stillgelegt hat, dabei rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze abwickelte2 und vielen Ostdeutschen bis heute als Symbol des systematischen »Ausverkaufs« ihres Landes gilt.

Die Beschäftigung mit der Treuhand und den damit verbundenen sozialen wie kulturellen Folgen dient im öffentlichen Diskurs vor allem dazu, die vermeintliche Andersartigkeit des Ostens im Vergleich zum Westen zu erklären. Zugleich markiert die neue Aufmerksamkeit für die Treuhand auch eine Trendwende in der Zeitgeschichtsforschung, die sich zur Erklärung der »besonderen« Entwicklung des Ostens bislang vor allem auf die von ihr ausgiebig erforschte Geschichte der DDR gestützt hat,3 während die Transformationszeit nach 1989/90 lange Zeit eine Domäne der Sozialwissenschaften war. Seit wenigen Jahren aber rückt auch die post-sozialistische Phase verstärkt in den Fokus zeithistorischer Debatten. Während ältere historische Darstellungen zur deutschen Einheit, gestützt auf die reichhaltige DDR-Forschung und die nicht weniger ergiebige sozialwissenschaftliche Transformationsforschung der 1990er Jahre, die post-sozialistische Geschichte Ostdeutschlands vorwiegend als einen Prozess der (noch unvollendeten) Angleichung an den Westen erzählt haben, wobei Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten jeweils unterschiedlich gewichtet wurden,4 entwickeln Zeithistoriker*innen in den letzten Jahren neue Fragehorizonte. So wird die Transformation vielmehr als ergebnisoffener Interaktionsprozess von west- und ostdeutschen Akteuren untersucht, es wird nach Rückwirkungen der ostdeutschen Transformation auf den Westen gefragt und es werden zunehmend Vergleiche zwischen Ostdeutschland und anderen osteuropäischen Transformationsländern angestellt.5 Dabei erfahren die in den Lebenserzählungen vieler Ostdeutscher dominierenden Themen von Privatisierung und Arbeitslosigkeit derzeit freilich eine erhöhte Aufmerksamkeit. Bislang kaum ins Zentrum der neuen Beschäftigung mit den 1990er Jahren gerückt ist jedoch die mit der Treuhand (aber nicht nur) vielfältig verwobene Protestgeschichte Ostdeutschlands. Dabei spielte Protest als Form des Politischen für die politische Kultur Ostdeutschlands auch nach 1989 eine besondere Rolle. So beziehen sich auch die Protagonist*innen der jüngeren islamfeindlichen Pegida- und Anti-Corona-Proteste genauso selbstverständlich auf das Erbe der Revolution von 1989 wie die Verteidiger*innen der Demokratie.6 Während letztere aber weiterhin den Zusammenbruch des SED-Regimes als die große Leistung der Ostdeutschen loben, deuten erstere das Erbe von »1989« zu einem subversiven Potential gegen die westlich-liberale Demokratie um, deren politische Eliten den Ostdeutschen Freiheit und Wohlfahrt vorgelogen hätten und damit der SED-Diktatur angeblich in nichts nachstünden. Dass Ostdeutsche einst den »Unrechtsstaat« der SED zu Fall brachten, erscheint den Populisten dagegen als Blaupause für die Möglichkeit eines erneuten und als längst überfällig präsentierten Systemwechsels. Die negativen Erfahrungen vieler Ostdeutscher mit der deutschen Wiedervereinigung, so die Suggestion, seien korrigierbar.

Der Konflikt um die Deutung von »1989« hat aber keineswegs erst in den letzten Jahren begonnen. Schon kurz nach der Wiedervereinigung gingen Ostdeutsche wieder zu Tausenden auf die Straße, um unter Rückgriff auf die Revolutionsparole »Wir sind das Volk« zunächst gegen den »Ausverkauf« des Ostens und die Treuhand, aber zunehmend auch gegen »Überfremdung« und andere als bedrohlich empfundene Entwicklungen zu demonstrieren. Die Protestgemeinschaften von einst gestalteten sich oft ähnlich heterogen und konfus wie diejenigen der aktuellen Proteste, Ausschreitungen und »Spaziergänge«. Auch damals schon mischten sich unter die ostdeutschen Bürger*innen und Belegschaften teilweise Gruppen, die die Proteste politisch zu vereinnahmen suchten. So standen neben Betriebsräten und Gewerkschafter*innen zuweilen auch frühere ostdeutsche Bürgerrechtler*innen, Parlamentsabgeordnete, aber auch Rechtsradikale, westdeutsche Linke und ehemalige SED-Kader. Vor allem in den zahllosen Protesten ostdeutscher Belegschaften gegen Arbeitsplatzabbau und Stilllegungen von Betrieben drückten sich schon früh, d.h. noch im letzten Jahr der DDR, nicht nur die Angst um Arbeitsplätze, sondern auch das wachsende Misstrauen vieler Ostdeutscher gegenüber der (west-)deutschen Demokratie als der erhofften Problemlöserin und die tiefe Enttäuschung gegenüber dem parallel herbeigesehnten nationalen Aufbruch aus,7 was oppositionellen und populistischen Akteuren und Gruppen wiederum eine verheißungsvolle Angriffs- und Entfaltungsfläche bot. Diese frühen Protestgeschichten stehen damit ganz am Anfang einer komplex-verworrenen und umstrittenen Deutungsgeschichte von »1989«.8

Einer dieser im betrieblichen Umfeld erwachsenden Proteste, die überregionale Strahlkraft erlangten und damit bald eine Projektionsfläche für politische Botschaften und Zukunftsentwürfe jedweder Art boten, ereignete sich 1993 in Bischofferode, einer mitten im katholisch geprägten Thüringer Eichsfeld gelegenen 2.000-Seelen-Gemeinde. Dort traten Anfang Juli etwa 40 Kalibergleute in einen unbefristeten Hungerstreik, um für die letzten noch verbliebenen Arbeitsplätze in ihrer Grube zu kämpfen. 2023 jährt sich der Hungerstreik zum 30. Mal. Aber nicht nur das ist Grund genug, sich einmal näher mit der Geschichte des Streiks zu beschäftigen. Vielmehr unterschied sich der Hungerstreik von allen anderen ostdeutschen Belegschaftsprotesten hinsichtlich der besonderen Form, Ästhetik und Radikalität des Widerstands, seiner langen Dauer, seiner symbolischen Strahlkraft der massiven Präsenz von Medien und der landesweiten Solidaritätsaktionen.

Seit 1911 war in Bischofferode Kalisalz gefördert worden – ein Rohstoff, der besonders in der Düngemittelproduktion, aber auch für die Herstellung alltäglicher Konsumgüter wie Waschmittel oder Speisesalz gebraucht wird. Kaliförderung war damit lange Zeit immanenter Bestandteil der Industrialisierung und des wirtschaftlichen Wohlstands in Deutschland sowie ein begehrtes Exportgut, weshalb das Salz (in Analogie zur Kohle, dem »schwarzen Gold«) schon bald als »weißes Gold« galt. Zur Zeit der DDR belieferte Bischofferode exklusiv die Märkte im Westen, was dem Werk ein besonderes Prestige verlieh. 1993 aber sollte damit Schluss sein. Dagegen stemmten sich die Kumpel mit allen Mitteln. Dabei erlangten sie in kürzester Zeit eine bislang im Osten ungekannte Medienpräsenz, die Solidarität und Empathie auch über nationale Landes- und Binnengrenzen hinaus erzeugte und einen wahren Protesttourismus in die Region auslöste. Für viele wurde der Hungerstreik zum hoffnungsfrohen Symbol zivilgesellschaftlich-demokratischer Rückeroberung.9 Mit großer Bewunderung blick(t)en viele nach Bischofferode, wo »DDR-Bürger ihren volkseigenen Besitz an Produktionsmitteln verteidigten«.10 Der Protestslogan »Bischofferode ist überall« hallte bis in die letzten Winkel der Republik, und der medial inszenierte körperliche Verfall der Hungerstreikenden geriet zum Signal für eine tiefe Krise, in der sich längst nicht mehr nur der Ostteil Deutschlands befand.

Journalist*innen, Politiker*innen, Fernsehteams und Intellektuelle sorgten wesentlich mit dafür, dass Bischofferode kein gewöhnlicher Arbeitskampf wurde. In Bischofferode, so der Spiegel am 8. August 1993, wurde um nichts Geringeres als für die »Würde der Ossis« gehungert.11 Aus Sicht des Hamburger Nachrichtenmagazins stand der Kampf der Kalikumpel sinnbildlich für einen Landesteil, der sich mit den rechtsradikalen Gewaltausbrüchen seit Herbst 1991 zusehends von der Werteordnung der westlich-liberalen Demokratie zu entfernen schien. In Bischofferode, so nahmen es viele Zeitgenoss*innen wahr, ging es auch um die Zukunft der westlich-liberalen Demokratie deutscher Spielart. Viele Beobachter*innen wähnten sich in dieser Zeit inmitten einer »Vereinigungskrise«,12 die der Demokratie und ihrer Werteordnung erheblichen Schaden zuzufügen drohte. Selbst ein so glühender Verteidiger der westlichen Ordnung wie Thüringens konservativer Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) konnte sich der Tragik der Ereignisse nicht entziehen. Ihn schienen die Entwicklungen derart überwältigt zu haben, dass er – obgleich Vertreter einer wirtschaftsfreundlichen Partei – bis heute demütig behauptet, in die »kalte Fratze des Kapitalismus« geblickt zu haben.13 Bewertungen wie diese machen deutlich, dass viele Zeitgenoss*innen nicht nur den Osten in ein gefährliches Fahrwasser abdriften sahen, dessen Ursachen systemischer Natur waren. Vielmehr spiegelte sich in Bischofferode kaleidoskopisch eine tiefe Krise, die die gesamte Nation betraf. Die rechtsradikalen Gewaltausbrüche, die ja nicht nur der Osten erlebte, waren nur ein Symptom, die Angst vor einer Massenarbeitslosigkeit bisher ungekannten Ausmaßes ein weiteres, ohne das sich nicht verstehen lässt, warum gerade der Arbeitskampf der bis dahin weitgehend unbeachteten Eichsfelder Kalibergleute für so viele Menschen im Land in kürzester Zeit zum Signal des Aufbruchs, ja sogar zum utopischen Ort wurde.

Umso herber war die Enttäuschung, als der Arbeitskampf am 31. Dezember 1993 nach einem halben Jahr sein jähes Ende fand. Die Kaligrube wurde wie geplant geschlossen, und die Kumpel erhielten eine außergewöhnlich hohe Abfindung. Dennoch blieb für viele von ihnen und ihre Unterstützer*innen die bittere Erfahrung der Niederlage. Der Hungerstreik geriet in der nationalen Öffentlichkeit aber auch schnell zu einer Randglosse der ostdeutschen Transformation. Lediglich im Transformationsgedächtnis der Ostdeutschen und in der Prosa lebte die Empathie mit den Eichsfelder Kumpeln fort, aber nur wenige der einstigen Unterstützer*innen besuchten Bischofferode ein zweites Mal. Einer von ihnen ist der ostdeutsche Publizist Landolf Scherzer, der sich bei seinem zweiten Besuch im Eichsfeld um die Jahrtausendwende sofort an das »Lied vom Tod« erinnert fühlte, das einst »[a]uf den Liegen der Hungernden zu hören« war – als sei in Bischofferode die Zeit nach dem Hungerstreik stehengeblieben.14 Der Dresdner Schriftsteller Volker Braun griff den Hungerstreik 2011 erneut auf und ließ ihn in seiner fiktiven Erzählung in einer apokalyptischen Schlacht zwischen den Protestierenden und der Staatsmacht kulminieren15 – und nahm damit einiges von dem vorweg, was sich drei Jahre später in seiner Heimatstadt zusammenbrauen sollte.

Es ist zugleich wenig verwunderlich, dass der Hungerstreik von Bischofferode angesichts seiner besonderen Politisierungsgeschichte vor wenigen Jahren in das öffentliche Bewusstsein zurückkam. Zunächst hob die Wochenzeitung Die Zeit die »Ursünde der Einheit« im Frühjahr 2014 wieder aufs Tableau.16 Anlass hierfür war die plötzliche Offenlegung des Kalifusionsvertrags durch ein Datenleck. Die semantische Rahmung des Hungerstreiks verwies jedoch bereits auf ein Erzählmuster, das wenig später in einem ganz anderen Zusammenhang zum Gegenstand politischer Debatten werden sollte. Im Lichte der im Herbst 2014 beginnenden islamfeindlichen Pegida-Proteste in Dresden, der seither wachsenden Erfolge der rechtskonservativen bis -extremen Alternative für Deutschland (AfD) in Ostdeutschland und der jüngsten Anti-Corona-Proteste steht Bischofferode heute vor allem symbolisch für die »Übernahme« Ostdeutschlands durch den Westen17 und damit als Sinnbild für die akute politische Vertrauens- und Integrationskrise, auf die besonders ostdeutsche Politiker*innen jüngst aufmerksam gemacht haben.18 Bischofferode, so die provokante These eines Radiofeatures von 2019, sei sogar der »Vorläufer« der gegenwärtigen »Wut auf den ostdeutschen Straßen«.19 Dass die AfD mit ihrer Forderung nach einer »Wende 2.0« zuletzt sogar viele Wähler*innen im katholischen Eichsfeld mobilisieren konnte,20 hat das Bedürfnis nach historischen Erklärungen für diese Entwicklungen befördert und dabei auch den Hungerstreik von Bischofferode ein Stück weit entzaubert. Die einstige Geschichte vom heldenhaften Widerstand wird nunmehr gebrochen durch das vermeintlich dunkle Erbe des ostdeutschen Aufbegehrens, dem geradezu der Status einer traumatischen Erfahrung zugeschrieben wird.21

Auch die Erzählmuster der Betroffenen, in deren Augen der eigene Arbeitsplatzverlust den unsozialen und undemokratischen Charakter der sozialen Marktwirtschaft offengelegt habe, erfahren in diesem Deutungskampf eine neue Aufmerksamkeit. Das demonstrierten zuletzt eine für den Grimme-Preis nominierte Dokumentation des MDR von 2018, in der Bischofferode als das »Treuhand-Trauma« der Ostdeutschen gezeichnet wurde, und eine jüngere Publikation des langjährigen ARD-Korrespondenten Hermann Vinke, der – nicht zuletzt inspiriert durch die MDR-Doku – mit zahlreichen Betroffenen sprach, die durch Treuhand-Entscheidungen ihre Arbeit verloren hatten, und die Gespräche für die interessierte Öffentlichkeit mit biographischen Details angereichert dokumentierte. In dieser 2021 unter dem polemischen Titel »Ein Volk steht auf – und geht zum Arbeitsamt« publizierten Sammlung finden sich auch drei Geschichten von ehemaligen Protestakteuren aus Bischofferode (Gerhard Jüttemann, Siegfried Hubenthal, Hans-Joachim Binder) und zwei ihrer damaligen Unterstützer*innen (Johannes Peine, Rita Süssmuth). Viel ist dabei die Rede vom Zusammengehörigkeitsgefühl der Belegschaft in Zeiten der Diktatur, das über die Entbehrungen und Unfreiheiten im SED-Regime hinweghalf: von der Reinheit des »weißen Goldes« in den unterirdischen Schatzkammern, die dem Eichsfeld noch mehr als 40 Jahre lang Wohlstand hätten bescheren können, von der euphorischen Stimmung, Bischofferode für die Marktwirtschaft fit machen zu können, von den großen Opfern, die man hierfür bereits erbracht hatte (bis 1992 wurde mehr als die Hälfte der über 1.500 Beschäftigten entlassen), von der »Kaltschnäuzigkeit«, die den Kumpeln in den Räumen der Konzernzentrale und der Gewerkschaft entgegenschlug, vom Ringen um Erklärungen für das durch den »Geheimvertrag« der Treuhand erfahrene »Unrecht«, von der großen, über die nationalen Grenzen hinausreichenden Solidarität, die den Kumpeln während ihres Hungerstreiks zuteilwurde und die fast zu einem »Flächenbrand« geführt hätte; und schließlich vom unmoralischen und unrühmlichen Sieg westdeutscher Konzerninteressen, den Erschwernissen des kapitalistischen Arbeitsmarktes und den vielen zurückgelassenen gebrochenen Biographien.22

Emotional eingebettete Erfahrungen und Einsichten wie diese stimmen nachdenklich und erzeugen Empathie, vielleicht auch Wut. Dennoch folgt die Sicht der Betroffenen einem sehr klaren narrativen Muster mit eindeutigem Täter-Opfer-bzw. West-Ost-Schema und blendet andere Akteure, Zusammenhänge, Tiefenschichten, Dynamiken und Widersprüche des historischen Prozesses aus. Anders ausgedrückt, spiegelt sich in den Erzählweisen der Betroffenen in erster Linie eine subjektiv-kollektiv begrenzte Art und Weise der kommunikativen Bewältigung der eigenen biographischen Brüche wider, in der bestimmte Erfahrungen dominieren, andere hingegen verblassen. Bezieht man diese aber in die Betrachtung ein, tun sich viele Fragen auf. Etwa: War der betriebliche Alltag vor allem in der späten DDR wirklich nur mit positiven Erfahrungen verbunden? Wie weit reichte der lokale Zusammenhalt in der DDR-Gesellschaft und speziell in Bischofferode tatsächlich? Wo lagen seine Grenzen? Wie hielten es die Bischofferöder selbst mit der Solidarität für ihre ostdeutschen Kollegen, deren Gruben bereits vor 1993 und gleichfalls nicht kampflos geschlossen wurden? Welche Rolle spielt die vergleichsweise privilegierte Position der Kalibergleute in der DDR für die Art und Weise, wie diese den Verlust ihrer Arbeitsplätze nach 1993 bewerte(te)n? Gab es vor Ort auch kritische Stimmen gegenüber den Protestaktionen der Bergmänner und einiger ihrer Ehefrauen und Kolleginnen? Lassen sich die Treuhand und die Gewerkschaften tatsächlich als Einheitsfront gegen Bischofferode zeichnen? Wie passt es ins Ost-West-Schema, dass auch auf westdeutscher Seite zwei Kaliwerke geschlossen und im Osten zwei Gruben erhalten wurden? Und welche Rolle spielte die in den Erzählmustern der Bergleute nur am Rande vorkommende Landesregierung, auch und gerade für die Zeit nach der Schließung der Grube? Hat sich in Bischofferode bis heute nichts verändert?

Anstatt solche und weitere Einzelfragen zu formulieren und diese zum Ausgang für eine historische Analyse zu machen, bestimmen die Emotionalität der historischen Ereignisse und der zunehmende Rechtfertigungsdruck, unter den die Narrative der damals Beteiligten aktuell geraten, weiterhin die öffentlichen und zum Teil auch wissenschaftlichen Debatten. So sieht der ostdeutsche Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler in Bischofferode den »widerständigsten Betrieb«23 im Osten gegen die »neoliberale Offensive der Regierung Kohl«, die sich in der Treuhand verdichtet habe und ihre Schatten bis in die Gegenwart werfe. Das Fehlen von demokratischen Möglichkeiten, auf die Treuhand-Politik einzuwirken, habe bewirkt, dass der »Streik für Betroffene in der Regel die einzige Möglichkeit [war], auf ihre Probleme aufmerksam zu machen bzw. zu versuchen, auf Privatisierungsverfahren Einfluss zu nehmen«. Und genauso sei auch heute noch das Fehlen demokratischer Alternativen ursächlich für den Erfolg der AfD in den ostdeutschen Ländern.24 Die ehemalige ostdeutsche Bürgerrechtlerin und Journalistin Marita Vollborn, die während des Hungerstreiks selbst als Korrespondentin für die taz berichtete, geht sogar noch weiter und stilisierte Bischofferode in einem 2016 publizierten Buch zum Spiegelbild des Lügengerüsts der angeblich freiheitlichen Gesellschaft des Westens,25 womit sie auch das Narrativ vieler Bürgerrechtler*innen von der »verratenen Revolution« fortschreibt.26

Auch westdeutsche Stimmen fehlen im Deutungskampf um Bischofferode nicht, sind aber deutlich in der Minderheit. Dazu zählen einzelne Gewerkschafter*innen27 und der westfälische Mittelständler Johannes Peine, den der Versuch, das Bischofferöder Werk nach der folgenschweren Entscheidung der Treuhand noch in letzter Minute zu kaufen, einst an den Rand des Ruins gebracht hat. Der sozialen Marktwirtschaft steht seitdem auch er kritisch gegenüber.28 Westdeutsche Sichtweisen auf den Hungerstreik laufen ansonsten aber mehrheitlich auf eine Verteidigung der sozialen Marktwirtschaft hinaus. Dabei erscheint Bischofferode geradezu als Beweis für die Funktionsfähigkeit des Marktes und des Sozialstaats, seien doch andere Kaliwerke durch die Schließung des Betriebs gerettet sowie obendrein eine großzügige Abfindung und eine (befristete) Auffanglösung ausgehandelt worden. In diesem an die gängige Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung anschließenden Narrativ erscheinen die Hungerstreikenden vor allem als uneinsichtige und naive Randfiguren in einem alternativlosen Prozess.29 Bischofferode sei der »unrentabelste aller ostdeutschen Kalischächte« gewesen30 und jede Schuldzuweisung an die Treuhand damit ungerechtfertigt.31

Historiker*innen müssen sich derlei Deutungen – egal ob sie aus der Perspektive der »Täter«, »Opfer« oder außenstehender Beobachter*innen formuliert sind – mit einer nüchternen Distanz nähern, ohne sie zugleich entlang eines (wertenden) Plausibilitätsrasters zu gewichten. So kann es nicht Aufgabe der vorliegenden Studie sein, die konfrontativ nebeneinanderstehenden Narrative auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen oder sie in (zum Teil bereits zeitgenössisch wirkmächtige) einseitige Erzählmuster wie der westdeutschen »Übernahme« oder dem Durchbruch des Neoliberalismus einzuordnen. Dadurch würde die Täter-Opfer-Dichotomie nur verfestigt, die der komplexen historischen Wirklichkeit kaum gerecht wird und überdies eine dringend notwendige sachliche Debatte über den »Osten« blockiert. Diese Studie möchte hierzu einen Beitrag leisten, indem sie breiter und ergebnisoffen auf die »lange Geschichte« des Hungerstreiks, seine politischen Rahmenbedingungen, Dynamiken sowie die Erfahrungsräume, Erwartungshorizonte32 und Handlungsspielräume der damaligen Akteure blickt und den Hungerstreik sowie seine Narrative in den Kontext einer erweiterten Transformationsgeschichte setzt, die neben »besonders tiefgreifenden, umfassenden und beschleunigten« wirtschaftlichen auch politische, soziale und kulturelle Wandlungsprozesse berücksichtigt.33 Denn der Hungerstreik erzählt uns nicht nur viel über vermeintlich irrationale Ansichten oder tragische Helden. Er war vielmehr eingebettet in eine verflochtene politisch-wirtschaftliche Transformationsgeschichte, die ost-westdeutsche Reibungen ebenso hervorbrachte wie hybride Integrationen, aber auch ältere inner-westdeutsche und inner-ostdeutsche sowie europäische Konfliktlinien sichtbar machte. Der Hungerstreik von Bischofferode zählte zu jenen Konflikten der jungen Berliner Republik, in der sich die deutsche Transformationsgesellschaft34 mit all ihren Hoffnungen und Ängsten im Hinblick auf eine völlig offene Zukunft kaleidoskopisch spiegelte. Hier wurden Erfahrungen, Erwartungen und (alternative) Demokratieentwürfe so konkret wie sonst nirgends verhandelt.

Als politische Kommunikationsform betrachtet, die weniger institutionellen Routinen folgt, sondern auf vorhandene Infrastrukturen, gesellschaftliche Akzeptanz und Breitenwirksamkeit angewiesen ist, wurde der Hungerstreik auch zur Erprobungsform demokratischer Teilhabe für diejenigen, die sich von den etablierten Institutionen des politischen Systems der Bundesrepublik in einer von völliger Ungewissheit geprägten historischen Situation nicht mehr vertreten bzw. ernst genommen fühlten. Damit geraten neben den Forderungen der Protestakteure vor allem deren Protestpraktiken, Konflikte, Selbstwahrnehmungen und die Reaktionen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfelds in den Blick. Dabei war der Hungerstreik zugleich in eine Vielzahl kleiner Transformationen eingebunden, die ihn hervorbrachten, Bündnisse mit anderen (erfahrenen) Protestgruppen ermöglichten, Solidarität erzeugten, aber auch Entsolidarisierung bewirkten. Damit gibt der Hungerstreik Aufschluss über die Eigenlogik und Dynamik von Solidarität in den frühen 1990er Jahren. Gefragt wird in dieser Studie somit nicht nach Vereinigungsprozessen, deren mentale Dimensionen sich ohnehin nicht empirisch-objektiv messen lassen, sondern vielmehr nach konfliktiven Verflechtungen und gegenseitigen Perzeptionen von Protestakteuren und sozialen Ordnungen im Transformationsgeschehen, bei denen das Ost-West-Deutungsmuster nur eine von vielen Diskursebenen darstellt.

Wenn hier von Transformation und besonders von kleinen Transformationen gesprochen wird, dann sind nicht in erster Linie Makroprozesse des Wandels politischer, ökonomischer und sozialer Ordnungen gemeint. Vielmehr soll es um die Frage gehen, wie sich Handlungsspielräume und Wahrnehmungen konkreter Akteure in historischen Transformationsprozessen veränderten. Im Sinne der mikro-qualitativen Transformationsforschung stehen damit Prozesse im Vordergrund, in denen »das Verhältnis von Vertrautem und Fremdem in der sozialen Wirklichkeit für die Akteure in weiten Bereichen fragwürdig geworden ist, gleichzeitig aber Handlungsdruck besteht, Vertrautheit und Routine wieder herzustellen und ihr einen Sinn zu verleihen«.35 Während der mikrosoziologische Blick aber häufig nur auf eine Handlungsebene (z.B. Betrieb) fokussiert (der makrosoziologische Blick dagegen oft im nationalen ›Container‹ verhaftet ist), schaut diese Studie stärker auf dynamische Verflechtungen verschiedener Ebenen und Räume politischen Handelns. Es geht also darum zu ergründen, wie in unterschiedlichen, aber miteinander verwobenen Mikroräumen der Transformation (Betrieb, Kabinette, Parlamente, Gewerkschaften usw.) über den Hungerstreik gestritten wurde und was dies über Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im sich vereinigenden Deutschland aussagt. Dabei wird deutlich, dass der Hungerstreik in ost- und westdeutschen Diskursräumen, die sich innerhalb von Institutionen (z.B. Parlamente, Parteien oder Gewerkschaften) auch überschnitten, jeweils sehr unterschiedlich wahrgenommen wurde. Daraus ergibt sich ein vielgestaltiges, häufig widersprüchliches Bild des Handlungs- und Erfahrungsraums Ostdeutschland, in dem die ost-westdeutsche »Transformationsgesellschaft« der frühen 1990er Jahre in dynamischen Konstellationen aufeinandertraf. Deren Eigenlogiken lassen sich aber kaum mit Makrotheorien wie der zuletzt von Philipp Ther prominent vertretenen These vom Durchbruch des Neoliberalismus nach 1989 erfassen.36

Die hier verfolgte mikrogeschichtliche Perspektive auf den Hungerstreik von Bischofferode verspricht damit auch neue Blicke auf die 1990er Jahre, die noch immer vornehmlich als Jahrzehnt der wirtschaftlichen und institutionellen Anpassung des Ostens an den Westen gelten, ohne dass dabei die Heterogenität des ostdeutschen Akteursfeldes, dessen Sinnwelten und schon gar nicht dessen vielfältige, über Prozesse der Anpassung hinausgehende Wechselbeziehungen zu nationalen, europäischen oder gar globalen Akteuren analytisch mitgedacht werden. Vielmehr dominieren aktuell noch immer sehr einseitige Sichtweisen auf die 1990er Jahre, nach denen der ostdeutsche Transformations- und Integrationsprozess trotz einiger Fehlentwicklungen entweder weitgehend gelungen sei37 oder in eine »Übernahme« des Ostens durch den Westen mündete, die bis heute als Damoklesschwert über der »inneren Einheit« Deutschlands schwebe.38 Zwar wird diese polarisierende Einseitigkeit seit einigen Jahren von Zeithistoriker*innen problematisiert und besonders die historische Zäsur von 1989/90 relativiert, es mangelt aber noch immer an empirischen Studien, die wirklich alternative Periodisierungskonzepte und innovative Zugänge erproben.39

Fragen der Periodisierung und des Zugangs stellen sich auch mit Blick auf die Protestgeschichte Ostdeutschlands. Die arbeitsweltlichen Proteste der frühen 1990er Jahre, die hier mit dem Beispiel Bischofferode im Mittelpunkt stehen, sind von der historischen Forschung bislang nur sehr selektiv wahrgenommen worden. So sprach etwa Lutz Raphael, einer der prominentesten Vertreter*innen der jüngsten Zeitgeschichte, die sich seit mehr als zehn Jahren mit Strukturbrüchen seit den 1970er Jahren befasst, irritierenderweise von einer »relative[n] Ereignislosigkeit der 1990er Jahre«,40 ignorierend, dass es gerade in den frühen Jahren des Dezenniums »in der einen oder anderen Form mindestens einmal wöchentlich zu Protesten ostdeutscher Belegschaften«41 kam. Auch eine neuere Überblicksdarstellung zur deutschen Protestgeschichte nach 1945 blendet die Arbeitsproteste (im Gegensatz zu den rechtsradikalen Ausschreitungen) in Ostdeutschland gänzlich aus, als wären diese nur eine temporäre Begleiterscheinung eines kurzen, wenngleich tiefgreifenden Transformationsprozesses gewesen.42 Insgesamt zeigen diese und andere Längsschnittstudien, dass der ostdeutsche Transformationsprozess bislang kaum in der allgemeinen Zeigeschichte verankert ist bzw. an diese rückgebunden wird.

So haben sich bislang auch nur wenige Arbeiten mit den betrieblichen Protesten im Osten seit der friedlichen Revolution beschäftigt. Dabei unterschieden diese Studien zwischen den »Wende-Streiks« vom Herbst 1989 bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 und den sich anschließenden Transformationsprotesten im Kontext der Wiedervereinigung. Studien, die sich mit der frühen Protestphase befassten, verweisen dabei vor allem auf verblüffende Kontinuitäten zur informellen Protestkultur in der »verbetrieblichten« Gesellschaft der DDR. Denn auch die hegemonial regierende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) konnte nicht einfach im Namen der »Arbeiterklasse« durchregieren, sondern war auf die Akzeptanz der von ihr umgarnten Industriearbeiterschaft angewiesen. Dies jedenfalls war die Konsequenz, die die Partei aus der Erfahrung des blutig niedergeschlagenen Aufstands vom 17. Juni 1953 zog, wo sich Arbeits- und politischer Kampf gegen die selbsternannte Arbeiterpartei eskalativ verbunden hatten. Seither gab es in der DDR zwar keine größeren Streikaktionen mehr, was aber auch daran lag, dass schon allein die Androhung von Arbeitsniederlegungen und Streiks traumatische Erinnerungen an 1953 wachrief und schnell zum Einlenken der Eliten führte. Arbeiter*innen waren auf diese Weise in der Lage, besonders auf betrieblicher Ebene über Arbeitsnormen, Arbeitsbedingungen und Löhne zu verhandeln.43 Daraus entstand 1989 jedoch keine nationale proletarische Solidaritätskultur, vielmehr folgten die Proteste weiterhin ganz der sozial-moralischen Ordnung der »verbetrieblichten« Gesellschaft. Der Kampf um Arbeitsnormen und Arbeitsbedingungen verband sich im Revolutionsherbst 1989 zwar auch mit national aufgeladenen Forderungen, die SED sowie ihre Institutionen und Vertreter*innen aus den Betrieben zu vertreiben und die Wiedervereinigung zu realisieren.44 Nach wenigen Monaten aber dominierten wieder konkrete betriebliche Probleme die Szenerie.

Studien, die auf das Protestgeschehen nach der Volkskammerwahl blickten, haben diesen Traditionsüberhang und dessen Aktualisierung im Lichte der Transformation jedoch ausgeblendet. Sie stellen die betrieblichen und überbetrieblichen Aktionen vielmehr in den Kontext der Geschichte der Treuhand und sehen diese vor allem als Versuch, sich im westdeutsch dominierten Geschehen (letztlich erfolglos) Gehör zu verschaffen.45

In dieser Studie werden anknüpfend an und im Kontrast zu den genannten Forschungen Kontinuitäten und Wandlungen der ostdeutschen Belegschaftsproteste exemplarisch und auf verschiedenen Ebenen in der longue durée beleuchtet. Dabei gilt es, das Blickfeld im Sinne der hier verfolgten erweiterten Transformationsgeschichte über die oft dominierende wirtschaftsgeschichtliche Dimension hinaus zu weiten. Bischofferode wird deshalb als Kristallisationspunkt von lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Ordnungsvorstellungen in den Blick genommen, an die sich jeweils unterschiedliche Erfahrungs- und Zeitschichten anlagerten und die mit der Wiedervereinigung nicht nur im Osten, sondern auch im Westen und in Europa in Bewegung gerieten. In und um Bischofferode stritten verschiedenste Akteure um die Legitimität politischen Handelns und die Form demokratischer Teilhabe in einer von tiefer Ungewissheit geprägten historischen Situation. Anhand des Hungerstreiks wird dabei auch deutlich, wie sich ostdeutsche Protestformen und damit verknüpfte Ordnungsvorstellungen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre im Möglichkeits- und Handlungsraum der europäisch und global vernetzten bundesdeutschen Demokratie veränderten und wie dieser deren politisches Koordinatensystem nachhaltig mitprägte. Kurzum: Es geht in diesem Buch auch um eine Integration der ostdeutschen Arbeitskämpfe in eine »lange« Geschichte der Demokratie als Erfahrungsraum und Aushandlungsprozess.

Das Kapitel »Strukturwandel« beschäftigt sich mit der wirtschaftlichen Transformation »von oben«, die auch in den Erzählmustern der Betroffenen den zentralen Bezugspunkt darstellt. Im Zentrum stehen hierbei die Erfahrungen, Erwartungen und Handlungsspielräume der politischen und Marktakteure, die über die Zukunft der ostdeutschen Kaliindustrie und das Schicksal von rund 30.000 Beschäftigten entscheiden mussten, von denen 2.000 (zum Zeitpunkt des Hungerstreiks noch 700) in Bischofferode arbeiteten. Eine besondere Rolle spielte dabei die noch im März 1990 von der ostdeutschen Übergangsregierung unter Hans Modrow (SED/PDS) installierte Treuhand, die ab Juni für die Privatisierung, Sanierung und Stilllegung der ostdeutschen Betriebe verantwortlich war. Diese Aufgabe stellte eine permanente Gratwanderung dar, denn die Sonderbehörde griff bei der Umsetzung ihres Auftrags zugleich in einen bestehenden Markt ein, in den die ostdeutschen Betriebe integriert werden sollten. Die Treuhand musste somit stets zwischen politischen und wirtschaftlichen Rationalitäten vermitteln und geriet dabei zunehmend in die Kritik, eine systematische westdeutsche Übernahme-Politik zu betreiben. Bevor die Treuhand aber in die Zukunftsdebatten um die (ostdeutsche) Kaliindustrie eingriff, hatten bereits andere west- und ostdeutsche Akteure Fakten geschaffen. So knüpften betriebliche und politische Akteure schon früh an ältere deutsch-deutsche und internationale wirtschafts- wie umweltpolitische Verflechtungen vor 1989 an. Dabei befand sich auch der westdeutsche Kalibergbau in einem bereits Jahrzehnte andauernden Transformationsprozess, der durch die ostdeutsche Transformation noch beschleunigt wurde. Als einer der letzten Überreste der Kartellwirtschaft in Deutschland, dem einst »höchstkartellisierten Land« Europas,46 stand die westdeutsche Kaliindustrie seit 1945 weniger für das »Wirtschaftswunder«, sondern vielmehr unter einem permanenten Wettbewerbs- und Liberalisierungsdruck, der sich mit dem Bedeutungsgewinn der Europäischen Gemeinschaft/Union seit den 1980er Jahren und dem Ende des Ost-West-Konflikts noch verschärfte. Die Treuhand hatte es deshalb mit einer doppelten deutsch-deutschen und europäischen Transformation zu tun, als sie ab 1991 zunehmend in das Geschehen eingriff.

Das Kapitel »Heimat(en)« ordnet den Hungerstreik und seine Vorgeschichte in die lange Transformationsgeschichte des Eichsfelds ein und lotet vor diesem Hintergrund die regionalen Implikationen des Kalibergbaus aus. Damit ist auch die Frage nach dem Erbe der DDR berührt, deren Eliten das Eichsfeld schon früh als Problem- und Interventionsgebiet einstuften. Für die SED verband sich der Anschluss des agrarisch-rückständigen Eichsfelds an die sozialistische Industriemoderne immer mit zwei Zielen: Die grassierende Armut in der Region sollte bekämpft und die Macht der bäuerlichen und klerikalen Eliten gebrochen werden. Stattdessen sollte das Industrieproletariat die regionale Machtstellung einnehmen und der SED einen allumfassenden Einfluss vor Ort verschaffen, der umso wichtiger war, da sich mitten durch das Eichsfeld die innerdeutsche Grenze zog, was für die Staatspartei ein erhöhtes Sicherheitsrisiko darstellte. Der Kaliindustrie kam dabei eine Schlüsselrolle zu, zumal sich der Bergmann gut als symbolisches Bindeglied zwischen Region und sozialistischer Moderne vereinnahmen ließ.47 Jedoch knüpfte die SED dabei keineswegs nur an sowjetische Leitbilder, sondern auch an bürgerlich-sozialreformerische Debatten der Jahrhundertwende an. Damit ordnen sich die Initiativen der SED auch in die lange Geschichte der organisierten Moderne seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis etwa 1970 ein. Diese zeichnete sich durch eine Zunahme von Partizipationschancen und Zukunftsoptionen bei gleichzeitiger Standardisierung und Konventionalisierung in nahezu allen Lebensbereichen durch den Bedeutungszuwachs des Nationalstaates aus. Faschismus und Kommunismus erscheinen dabei als zwei Varianten der organisierten Moderne.48 In Bischofferode gelang die von vielen ersehnte Modernisierung erst mit dem Aufbau der sozialistischen Diktatur nach 1945, ohne dass sich die Bergbaumoderne jedoch unwidersprochen in die Region einschrieb. Vielmehr spalten die radikalen Transformationen nach 1945 und 1990 die Region bis heute.

Das Kapitel »Demokratisierung« verlagert den Fokus auf die Thüringer Landesregierung als Akteurin zwischen der Bundespolitik, der Treuhand und den Betroffenen und fragt, wie diese mit dem Protest umging und den Wandel vor Ort moderierte. Dabei werden die politischen Praktiken der Landesregierung in den Kontext eigener postsozialistischer Transformationsprozesse gesetzt. In der Geschichtswissenschaft ist der Prozess der Demokratisierung im Anschluss an die sozialwissenschaftliche Forschung der 1990er Jahre bislang auf die kurze Phase von der friedlichen Revolution im Herbst 1989, der Bildung von Bürgerbewegungen, neuen bzw. reformierten Parteien und Runden Tischen, der Volkskammerwahl am 18. März 1990 und schließlich der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 beschränkt worden.49 Erst seit kurzem geraten die Veränderungen der bundesdeutschen Demokratie seit dem 3. Oktober in den Blick,50 wobei die Bundesländer noch immer wenig Aufmerksamkeit erhalten. In dieser Studie werden erstmals Praktiken der Demokratisierung des Landes Thüringen im Spannungsfeld von ostdeutschen Kontinuitäten, westdeutschen Erwartungen und der politischen Bewältigung der Transformation behandelt. Demokratisierung wird dabei nicht nur als Prozess des Institutionenaufbaus und Elitenwechsels verstanden, sondern im Sinne der mikro-qualitativen Transformationsforschung auch als Prozess der Sinnproduktion, d.h. als sozialer und kommunikativer Prozess, der die politischen Eliten und die von ihnen Repräsentierten miteinander verbindet. Untersucht wird vor diesem Hintergrund auch das Verhältnis der Thüringer Landesregierung zu nationalen Akteuren wie der Bundesregierung, den Gewerkschaften und zur Treuhand, die mit ihrer Politik stets auch massiv in die Handlungsfähigkeit der »neuen« Länder eingriff. Die ostdeutschen Landesregierungen waren deshalb über zahlreiche Gremien mit der Treuhand verbunden.51 Zugleich verfügten sie kaum über hinreichend eigene Ressourcen zur Gestaltung des wirtschaftlichen Wandels vor Ort. Überlagert wurden die damit verbundenen Gratwanderungen zwischen Selbstbehauptung und Pragmatismus immer wieder durch sich fortsetzende inner-ostdeutsche Konflikte aus der Zeit des Umbruchs 1989/90. In Erfurt, wie auch in anderen ostdeutschen Landesparlamenten, trafen ehemalige Bürgerrechtler*innen erneut auf die im Wandel befindliche SED-Nachfolgepartei PDS und frühere »Blockparteien« (vor allem CDU und LDPD), die sich parallel in ihre westdeutschen »Schwester«-Organisationen integrierten. 16 Prozent der Thüringer Abgeordneten der ersten Legislaturperiode hatten sogar der letzten, erstmals frei gewählten DDR-Volkskammer angehört.52 Häufig prägten alte Grabenkämpfe der Jahre 1989/90 das Verhältnis der Abgeordneten untereinander und zu den Kabinettsmitgliedern. Zugleich konkurrierten sie um die »richtige« Form der Solidarität mit den seit August 1990 im Dauerarbeitskampf befindlichen Kalibelegschaften Nordthüringens. Unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit inszenierten sich die Abgeordneten dabei immer wieder in der Tradition des sozialistischen Abgeordneten, der nur seinem Arbeitskollektiv im Wahlkreis verpflichtet war.53 Dieses Selbstverständnis geriet mit der Zeit jedoch nicht nur in Spannung zu politischen Erwartungshaltungen von außen, sondern – je nach parteipolitischem Kontext – auch zur Aneignung54 westdeutscher Rollenbilder vom Berufsparlamentarier und -politiker, aber ebenso zu lokalen Identitäten im Eichsfeld.

Das Kapitel »Ausnahmezustand« beleuchtet schließlich die Dynamik des am 1. Juli 1993 beginnenden und mit Unterbrechungen bis Silvester andauernden Hungerstreiks. Der Hungerstreik im engeren Sinne war dabei nur ein Teil des in Bischofferode bereits im Dezember 1992 beginnenden Arbeitskampfes, dem zahlreiche Proteste ostdeutscher Kalibelegschaften an anderen Standorten vorangegangen waren. Es wird nachgezeichnet, wie die zuvor untersuchten Handlungsstränge im Brennglas des Hungerstreiks zusammenliefen, sich gegenseitig aufluden und sich dabei mit weiteren Handlungssträngen der deutschen Transformationsgesellschaft verbanden. So betraten nun auch Personen die politische Bühne, die in heutigen Rekursen auf den Hungerstreik weitgehend vergessen sind – auch weil sie oftmals nach nur wenigen Wochen wieder von der medialen Bildfläche verschwanden. Vor allem Unterstützer*innen aus den Reihen der außerparlamentarischen Linken prägten die Protestdynamik nachhaltig. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass mit dem Hungerstreik eine Protestform der radikalen Linken55 ins Eichsfeld einsickern konnte. Trotz dieses erfolgreichen West-Ost-Transfers spaltete die Beteiligung linker Protestgruppen nicht nur die deutsche Medienöffentlichkeit, sondern auch den Betriebsrat und die Gewerkschaften, an deren Basis sich der Hungerstreik gleichermaßen zu einem eruptiven Widerstandspotential entwickelte, das wiederum der PDS neue Mitglieder zuführte und die Transformation der Partei nachhaltig prägte. Zudem wird das Protestmanagement von Treuhand, Bundesregierung und Unternehmensvorständen beleuchtet, das keineswegs einem westdeutschen Drehbuch folgte, sondern häufig spontanen Reaktionen entsprang und zugleich Konfliktlinien zwischen den westdeutschen Akteuren offenlegte. Überdies wird die Rolle der europäischen Kommission betrachtet, die in diesem höchst konfliktiven Feld eigene Interessen im Hinblick auf die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes durchsetzen wollte.

Das Kapitel »Ostdeutsche Realität« widmet sich schließlich der Nachgeschichte des Streiks in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Untersucht wird, wie die Protestakteure und ihre Diskurse noch über viele Jahre Einfluss auf die Landespolitik und den Aufbau der Bürokratie nahmen. Die Herstellung von »Normalität« nach dem Ausnahmezustand des Hungerstreiks wird dabei nicht als eindimensionaler Prozess der Entindustrialisierung durch den Westen, sondern als widersprüchlicher und konfliktreicher Aushandlungsprozess zwischen lokalen, regionalen und nationalen Akteuren analysiert. Dabei wird auch deutlich, dass die Auswechslung ostdeutscher durch westdeutsche Minister in Thüringen nach dem Hungerstreik bzw. nach der Landtagswahl 1994 nicht mit einer westdeutschen »Übernahme« einherging, sondern die Landespolitik weiterhin eng mit den Akteuren vor Ort verflochten blieb. Der Ton und die Diskursregeln wandelten sich jedoch. Zugleich zeigten sich besonders in der Arbeitsmarktpolitik die Grenzen des westdeutschen Sozialstaats, der zunehmend auch von unten unter Reformdruck geriet, woran Gerhard Schröder (SPD) seit der Übernahme der Kanzlerschaft 1998 anknüpfen konnte. Grenzen, aber auch Chancen für demokratische Teilhabe in diesen Prozessen zeigten sich überdies für Frauen, die ganz besonders von Arbeitslosigkeit betroffen waren, sich aber auch im katholischen Eichsfeld nicht einfach nur ins Private zurückzogen, sondern auch aktiv frauenspezifische Anliegen formulierten, auch wenn die politischen Umstände dafür alles andere als günstig waren. Das abschließende Kapitel »Bischofferode ist überall?« führt die Ergebnisse der Studie noch einmal zusammen, beleuchtet die erinnerungskulturelle Nachgeschichte des Hungerstreiks und fragt schließlich nach Potenzialen der historischen Analyse für eine demokratische Erinnerungskultur.

Die Studie beruht weitgehend auf neu zugänglichen und bislang wenig genutzten Archivquellen aus dem Bundesarchiv (Berlin-Lichterfelde und Koblenz), dem Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags, dem Thüringer Hauptstaatsarchiv, dem Archiv des Thüringer Landtags, dem Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft, dem Unternehmensarchiv von BASF56, dem Archiv der sozialen Demokratie und dem Archiv für soziale Bewegungen. Darunter fällt auch das lange Zeit für die Forschung unzugängliche Diensttagebuch des damals für den Kalibergbau zuständigen Treuhand-Direktors Klaus Schucht, das seltene Einblicke sowohl in dessen Denkweise als auch in das Funktionieren der »Blackbox« Treuhand gewährt. Hinzu kommen umfangreiche Pressedokumentationen, die dankenswerterweise in den Räumen der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) – der Nachfolgeorganisation der Treuhand – eingesehen werden konnten, sowie bislang wenig beachtete Publikationen (»graue Literatur«) und online als Audiodateien zugängliche Radiobeiträge des linksalternativen Piratensenders »Dreyeckland« mit Sitz in Freiburg (Breisgau), in denen auch die Protestakteure selbst ausgiebig zu Wort kommen. Zudem wurde auf weitere Online-Ressourcen zurückgegriffen, so auf Protokolle des Thüringer Landtags und des Deutschen Bundestags. Ergänzend wurde ein Interview mit dem damaligen Bürgermeister von Bischofferode, Eugen Nolte (1990–1999), geführt. Dadurch konnte auch das Fehlen kommunaler Archivquellen ein Stück weit kompensiert werden.

Strukturwandel: Kaliwirtschaft zwischen Kontinuität und Wandel

Krise des Kartells: Kalipolitik in der Bundesrepublik

Am 25. und 26. April 1992 fand in Rostock eine von vielen (kritischen) Konferenzen zur Politik der Treuhand statt. Eingeladen hatte Eberhard Wagner, Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Deutschen Seereederei Rostock und Mitglied des Bundessprecherrats von Bündnis 90/Die Grünen. Während der Tagung kamen aber nicht nur die Probleme der Werftenindustrie zur Sprache, auch die Zukunft der ostdeutschen Kaliwirtschaft sorgte für erhitzte Debatten. Jedoch stritten dabei nicht ost- und westdeutsche Akteure um die Rolle der Treuhand, sondern ein Schweizer Ökonom und ein westdeutscher Verbandsfunktionär. Ersterer, Peter Arnold, kritisierte die Treuhand dafür, dass die Behörde das westeuropäische Kalikartell »ungebremst« die DDR-Kaliindustrie »zerschlagen« lasse; letzterer, der Vizepräsident des Bundes Deutscher Industrieller (BDI) Tyll Necker, verteidigte dagegen den Treuhand-Kurs der schnellen Privatisierung, stimmte Arnold in seiner Kartell-Kritik aber zu: »Bei Kali gibt es keine Marktwirtschaft – Ende der Durchsage.«57 Die Debatte zeigt, dass es bei der Privatisierung der ostdeutschen Kaliindustrie um weit mehr ging als um die Privatisierung eines von vielen Unternehmen. Es ging um die Zukunft einer ganzen Branche, deren Strukturen und Erzählmuster noch tief im 19. Jahrhundert verankert waren.

Die lange Geschichte der Kartellwirtschaft in der Kaliindustrie führt bis in die frühen 1860er Jahre zurück, als der preußische Staat erstmals erfolgreich ein Kalisalzlager bei Staßfurt erschlossen hatte und damit nun die Möglichkeit gegeben war, Düngemittel in großem Umfang zu produzieren, um die stetig wachsende Bevölkerung (nicht nur im eigenen Land) zu ernähren. Dem folgte ein wahres Gründerfieber, das jedoch bald in einen erbitterten und ruinösen Konkurrenzkampf zwischen staatlichen und privaten Bergbauunternehmern mündete. Allein zwischen 1910 und 1918 wuchs die Zahl der fördernden Kaliwerke im Deutschen Reich von 68 auf 198.58 Analog zum Kohlebergbau hatten sich bereits Mitte der 1870er Jahre deshalb zwei preußische Kaliunternehmen zu einem Syndikat zusammengeschlossen, das – nach der Reichsgründung 1871 auch vom nationalen Gesetzgeber unterstützt – gegen den Wildwuchs von Kalibergwerken vorging: mit zunächst eher mäßigem Erfolg. Dennoch bot das Syndikat seinen Mitgliedern stabile Verkaufspreise auch in Krisenzeiten, da es den Wettbewerb auf bestimmte Bereiche (z.B. Rationalisierung) begrenzte und den Binnenabsatz sowie den Export von Kaliprodukten kontrollierte. Außenseiter wurden entweder in das Syndikat integriert oder durch Preisregulierungen vom Markt gedrängt. Wirtschaftlicher Profit traf dabei auf den Zeitgeist des imperialen Nationalismus.59 So präsentierte sich das Kalisyndikat immer wieder als Akteur des nation building. Auf dem X. Allgemeinen Bergmannstag 1907 in Eisenach etwa animierte dessen Vorsitzender Emil Paxmann die Anwesenden wortgewaltig dazu, die »nationalen Wirtschaftsziele« zu erfüllen, denn dies sei ein »Feld, wie geschaffen zur Betätigung echt vaterländischen Geistes auf dem Kampfplatz der Arbeit«,60 womit er nur leidlich die oftmals schlechten Arbeitsbedingungen unter Tage sowie die inneren Konflikte zwischen den Mitgliedern des Syndikats überspielen konnte.

Nach dem Ersten Weltkrieg aber waren die internen Konflikte weitgehend vergessen, vielmehr erwies sich das Kalisyndikat nun als Stabilitätsanker in dauerhaft unsicheren Zeiten. Zudem eignete es sich als Vehikel, um nach der als »Schmach von Versailles« auf der Weimarer Demokratie lastenden Kriegsniederlage in den Kreis der europäischen Großmächte zurückzukehren. Damit wuchs die Bedeutung des Kalisyndikats, das 1925 um internationale Kartellstrukturen mit Frankreich erweitert wurde. Obwohl das nationale Kartell staatlich beherrscht war, griff der Staat selbst kaum in unternehmerische Entscheidungen ein. Dadurch ließen sich auch außenpolitische Spannungen aus dem deutsch-französischen Kartell ausklammern, was die allmähliche Erweiterung des internationalen Kartells begünstigte.61 Die Stabilität der Weimarer Demokratie stand damit aber nicht auf der Agenda des Syndikats. Vielmehr trug dieses zur Krise der ersten deutschen Demokratie und zum Aufstieg des Nationalsozialismus bei. So führte das Kartell seine Konzentrations- und Rationalisierungsprozesse fort, sodass von 229 Schächten im Jahr 1925 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1932 nur noch 38 übrig waren; die Zahl der Beschäftigten schrumpfte im selben Zeitraum von etwa 29.000 auf 11.800.62 Zugleich näherte sich die Kaliindustrie zum Teil schon vor der Machtübernahme Adolf Hitlers 1933 den Nazis an.63 Der Generaldirektor des Kalisyndikats August Diehn zählte schließlich unter anderem neben Fritz Thyssen und Albert Vögler (Vereinigte Stahlwerke) zu den größten politischen und materiellen Unterstützern der Nationalsozialisten, die hierfür auch in den neugegründeten, aber kurzlebigen Generalrat der deutschen Wirtschaft berufen wurden, was der Kaliindustrie wiederum hervorragende Absatzmöglichkeiten im Inland und eine Beteiligung an der Ausbeutung von Rohstoffen in den im Zweiten Weltkrieg besetzten osteuropäischen Gebieten ermöglichte.64

Mit einem Anteil von 53 Prozent an der Weltproduktion im Jahr 1944 hatten die im deutschen Kalisyndikat organisierten Produzenten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine globale Monopolstellung erlangt. Der heraufziehende Kalte Krieg und die Dekolonisierung verschoben dieses globale Koordinatensystem jedoch nachhaltig. Bereits seit den 1930er Jahren bauten die USA und die Sowjetunion eigene Kaliindustrien in Abgrenzung zum europäischen und deutschen Kartell auf; der nach dem Zweiten Weltkrieg neugegründete Staat Israel und das 1946 unabhängig gewordene Jordanien taten es ihnen gleich. Und schließlich löste die wachsende Rohstoffnachfrage infolge weiterer Dekolonisierungsprozesse seit den 1960er Jahren einen rasanten Anstieg der Weltmarktpreise65 und damit eine weitere Gründungswelle aus, die bis in die 1980er Jahre anhielt (Kanada, Großbritannien, China, Chile, Brasilien). Die deutsche Kaliindustrie stand damit einer Vielzahl von überwiegend staatlich gestützten Produzenten gegenüber, mit denen sie um Absatzmärkte konkurrierte. Der Wettbewerbsdruck verschärfte sich zusätzlich, als der US-Dollar als Leitwährung mit dem Ende des Systems fester Wechselkurse 1974 an Stabilität verlor, der Umweltschutz an Bedeutung gewann und sich die Salzlager weltweit füllten.66

Der wachsende globale Wettbewerbsdruck nach 1945 stärkte jedoch zunächst die nationalen Kartellstrukturen, obgleich Kartelle nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus nun nicht mehr nur verpönt waren, sondern auch aktiv bekämpft wurden. Gleichwohl war auch der »Vater der sozialen Marktwirtschaft« Ludwig Erhard der Ansicht, dass »bestimmte Kartellformen« und staatliche Eingriffe der »menschlichen Psyche viel eher gerecht« würden und deshalb zur Stabilisierung der noch jungen Demokratie geboten seien, um Ordnung in das von »Unsicherheit und Unübersichtlichkeit« geprägte Marktgeschehen zu bringen.67 Kartellwirtschaft und Demokratie schlossen damit durchaus an Argumentationsmuster der Weimarer Republik und des Kaiserreichs an, wodurch aber zugleich die Erblast des Nationalsozialismus verdrängt wurde. So verbot zwar das 1957 verabschiedete »Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen« Kartelle in Übereinstimmung mit europäischem Recht, ermöglichte aber zugleich Ausnahmen, was vor allem dem Einfluss des BDI zuzuschreiben ist, dessen Vorgänger, der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) als glühender Kartell-Lobbyist agiert hatte.68 Das Bundeskartellamt erlaubte auf dieser Basis weiterhin Kartellverträge zwischen den nationalen Kaliproduzenten, sofern diese einen wirtschaftlich-rationalisierenden Effekt ihrer Absprachen nachweisen konnten, ohne dass die Behörde effektiv gegen illegale Kartellabsprachen vorging. So schlossen sich die zuvor im Syndikat versammelten Produzenten Ende der 1950er Jahre zur Gemeinschaft Deutscher Kali-Erzeuger (GDK) zusammen. Ihre Erzeugnisse setzten sie durch festgelegte Lieferkontingente ausschließlich über die parallel gegründete Verkaufsgemeinschaft deutscher Kaliwerke GmbH (VDK) ab, in deren Rahmen auch die Produktionspalette der beteiligten Unternehmen geregelt wurde. Die Bundesbahn gewährte der Kaliwirtschaft zudem Ausnahmetarife, und das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) zeigte sich für Preiserhöhungen aufgeschlossen.69

Der globale Wettbewerbsdruck zwang die deutsche Kaliindustrie erst zu umfangreichen Rationalisierungen, als das Bundeskartellamt seit den 1960er Jahren, gestützt auf eine zunehmend kritische Öffentlichkeit, verstärkt gegen Kartelle vorging.70 Als Vorbild dienten dabei nun die scharfen Antitrust-Gesetze der USA, die Kartelle als unvereinbar mit einer demokratisch-liberalen Ordnung erklärten.71 Dieser Haltung schloss sich auch die EWG an, die den Kampf gegen Kartelle zugleich mit der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes (der Vorläufer des europäischen Binnenmarkts) verband. Dabei musste sie angesichts divergierender nationaler Rechtssysteme freilich Kompromisse eingehen.72 So sah am Ende auch das EWG-Recht Ausnahmen vom grundsätzlichen Kartellverbot vor, wenn Absprachen »unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen«, ohne dass dadurch der Wettbewerb verzerrt bzw. die Unternehmen in ihrer Handlungsfreiheit beschränkt wurden.73 Jedoch erhöhte sich mit der Zeit der Begründungsaufwand für Kartellanträge, was es wiederum dem Ludwigshafener Chemieriesen BASF erleichterte, die deutschen Kaliunternehmen, an denen der Konzern zum Teil ohnehin schon mehrheitlich beteiligt war,74 Ende der 1960er Jahre ganz zu übernehmen75 und deren Kalisparten 1971 im neugegründeten Tochterunternehmen Kali und Salz AG mit Sitz in Kassel (ehemals Wintershall AG) zu bündeln.76 Der VDK wurde ebenfalls aufgelöst bzw. als Ressort in die neue AG eingegliedert. Was nach außen hin wie ein strategischer Coup eines bereits seit Jahrzehnten nach Rohstoffunabhängigkeit strebenden Großkonzerns aussah77 und auch vom BMWi als positiver Beitrag zum Wettbewerbskampf gelobt wurde,78 war de facto ein notwendiger Schritt, um die hohen Kosten der Kaliproduktion zu reduzieren. So ermöglichte erst die Gründung von K&S eine umfangreiche Verkleinerung von Kapazitäten. Aus anfänglich 18 Kaliwerken (1955) wurden bis 1990 acht, die Zahl der Beschäftigten sank um fast ein Drittel, von 21.000 (1955) auf 7.600.79

Der Arbeitsplatzabbau verlief dabei jedoch weitgehend in den friedlichen Bahnen der westdeutschen Sozialpartnerschaft, die bereits in den Mutterunternehmen der K&S einen wichtigen Pfeiler der Unternehmenskultur dargestellt hatte. Entsprechend zahlreich waren die Personalkontinuitäten im neuen Gesamtbetriebsrat, dessen Einfluss auf unternehmenspolitische Entscheidungen ungebrochen blieb. Zeitweise Absatzeinbrüche wurden durch tarifvertragliche Hebel (Urlaub, Arbeitszeitverkürzung) oder temporäre Kurzarbeit abgefangen, Entlassungen durch großzügige Sozialpläne abgefedert, Ersatzarbeitsplätze in anderen Werken des Unternehmens angeboten und Stellen durch vorzeitige Pensionierung frei bzw. nach dem Ausscheiden der Inhaber nicht wiederbesetzt.80 Eine kulturell wichtige Rolle für den konfliktarmen Arbeitsplatzabbau spielte auch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeitslosigkeit in der Werkszeitung K+S, in der immer wieder auf die Gefahren der Überbeschäftigung und die Vorzüge von Arbeitszeitverkürzung verwiesen, aber zugleich auch den Sorgen und Nöten der Kumpel Raum gegeben wurde. Dabei wurde auch der Gesamtbetriebsrat nicht müde, die engen und guten Beziehungen zur Unternehmensleitung zu betonen, wodurch »Entscheidungen mit der notwendigen Sachkenntnis getroffen werden konnten«.81 Häufiger Gast bei Betriebsversammlungen war seit 1984 der im Jahr darauf zum Vorsitzenden der IG Bergbau und Energie (IG BE) gewählte Heinz-Werner Meyer, der 1992/93 die Kalifusion als Vorsitzender des DGB begleiten sollte. Bei K&S machte sich Meyer vor allem einen Namen als Vermittler zwischen Umweltpolitik und Arbeitswelt.82 Wie kaum ein anderer Gewerkschafter verkörperte der zugleich als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender von K&S fungierende Meyer die enge Verzahnung von Arbeit und Kapital im Bergbau. Alle Akteure teilten dabei die Wahrnehmung einer sich zuspitzenden globalen Kalikrise, die (behutsame) Kapazitätsverringerungen alternativlos mache.

Dass das Fortbestehen von Kartellstrukturen eine ebenso wichtige Bedingung für den behutsamen Arbeitsplatzabbau darstellte, war indes kaum noch offen kommunizierbar. Im Gegenteil: Schon die Gründung der K&S AG provozierte öffentliche Gerüchte über undurchsichtige Machtstrukturen, gegen die sich das Unternehmen durch intensive Arbeit am eigenen Mythos wehrte. Dabei verwies das Management auf die alleinige Entscheidung der Mutterunternehmen Wintershall und Salzdetfurth, die Kaliproduktion zu konzentrieren, womit sich K&S in die 70-jährige Tradition und Fortschrittsgeschichte des (west)deutschen Kalibergbaus einschrieb.83 In der Öffentlichkeit zunehmend negativ konnotierte Traditionslinien blendete die offizielle Darstellung dagegen aus, auch weil die EWG (seit 1965 EG), die seit 1962 ein eigenes Kartellregister unterhielt, schon Ende 1970 gegen Absprachen des Unternehmens mit der zur belgischen Solvay-Gruppe und bis 1970 zur VDK gehörenden Kali Chemie AG vorging. Dass sich beide Unternehmen auf die Fortsetzung ihrer bisherigen Beziehungen verständigt hatten, wobei der Vertrieb nun über K&S lief, quittierte die EG-Kommission kurzerhand mit einem Verbot, das der Europäische Gerichtshof (EuGH) aber 1975 wieder kippte. Ebenso wenig verhindern konnte die EG letztlich auch internationale Kartellstrukturen, etwa die Verflechtung von K&S mit dem französischen Unternehmen Enterprise Minière et Chimique (EMC) über dessen Vertriebsunternehmen Société Commerciale des Patasses et de l’Azote (SCPA)84 sowie die Gründung des europäischen Exportkartells Kali-Export GmbH mit Sitz in Wien in den 1970er Jahren. So demonstrierte die EG nach außen unfreiwillig, wie begrenzt der europäische Handlungsspielraum im Kampf gegen Kartelle noch immer war. Das sollte sich 1989 ändern. Im selben Jahr kündigte der Vorstand von K&S zudem ein umfassendes Rationalisierungsprojekt mit dem sperrigen Titel »Ergebnissteigerungs-Programm« (ESP) an, das intern auch unter dem beschönigenden Namen »Existenz-Sicherungs-Programm« firmierte. Dabei sollten zusammen mit einer Düsseldorfer Unternehmensberatung alle Bereiche des Unternehmens auf Rationalisierungspotentiale geprüft werden.85 Bereits bis Ende 1992 waren auf der Basis des ESP fast 900 Mitarbeiter*innen ausgeschieden, das Werk Salzdetfurth befand sich in Abwicklung.86 Die Wiedervereinigung hatte den Druck auf K&S zwischenzeitlich weiter erhöht, denn BASF wollte das Ende des Ost-West-Konflikts zu umfassenden Umstrukturierungen im Konzern nutzen. Auf die interne »Streichliste« geriet dabei bald auch das Unternehmen K&S, dessen Umweltkosten infolge gesetzlicher Auflagen seit den 1970er Jahren stark gestiegen waren. Zwischen 1975 und 1989 hatte K&S, einem Gutachten vom Februar 1990 zufolge, durchschnittlich 25 Prozent der Gesamtinvestitionen für den Umweltschutz aufwenden müssen, was zu starken Wettbewerbsverzerrungen geführt habe. So wären »entsprechende Maßnahmen« von den »Hauptkonkurrenten« DDR, Sowjetunion, Frankreich, Kanada und Italien »bisher nicht oder nur teilweise verlangt bzw. durchgeführt« worden, während man selbst »in Zukunft mit weiter steigenden Anforderungen und Auflagen« rechnen müsse.87 K&S drohte damit zu einem Fass ohne Boden für die BASF zu werden.

Krise des Kombinats: Kalipolitik in der DDR

In den 1980er Jahren erreichte der Wettbewerbsdruck auch die vermeintlich abgeschirmte Kaliwirtschaft der Sowjetunion und der DDR, die beiden größten Kaliproduzenten im »Ostblock«. In der DDR waren 20 kaliproduzierende und verwandte Betriebe sowie ein für den Außenhandel zuständiger Betrieb (AHB) seit 1970 im VEB Kombinat Kali mit Sitz in Sondershausen zusammengefasst. Viele der Betriebe hatten bis 1946 zu den im Kalisyndikat versammelten Unternehmen gehört, bis sie von den Sowjets und der SED enteignet und für einige Jahre in sowjetisches Eigentum überführt wurden.

Kali Südharz

Kali Werra

Kali Zielitz

Fluss- und Schwerspat

Kali- und Steinsalz Saale

Bergwerkmaschinen

AHB

Sondershausen

Roßleben

Sollstedt

Bleicherode

Volkenroda

Bischofferode

Merkers

Unterbreizbach

Dorndorf

Zielitz (seit 1973)

Lengenfeld

Ilmenau

Schmalkalden

Rottleberode

Staßfurt

Bernburg

Oberlim

Teutschenthal

Dietlas

Obergruna

Außenhandels-betrieb KALI-BERGBAU

VEB Kombinat Kali (1970–1990) – Struktur, Betriebsteile und Werke88

Schon früh gehörte die ostdeutsche Kaliindustrie zu den weltweiten Spitzenproduzenten, bereits 1950 entfiel auf sie über ein Viertel der Weltproduktion. Mit der Globalisierung der Kaliförderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sank dieser Anteil bei stetig steigender Bruttoproduktion – ähnlich wie in der Bundesrepublik, nur mit dem Unterschied, dass die Kapazitäten nicht in vergleichbarer Weise reduziert wurden.

1950

1990

Bundesrepublik

Kaliproduktion

0,92 Mio. t K2O

2,7 Mio. t K2O

Anteil Weltproduktion

20 %

8 %

Werke

19

8

Beschäftigte

13.500

7.600

DDR

Kaliproduktion

1,18 Mio. t K2O

2,65 Mio. t K2O (1989:

3,2 Mio. t K2O)

Anteil Weltproduktion

26 %

10 %

Werke

14

11

Beschäftigte

24.000

22.922

Kapazitäten und Produktion der deutschen Kaliindustrie 1950 und 199089

In der Weltstatistik der Kaliproduktion verteidigte die DDR indes den dritten Platz hinter der Sowjetunion an der Spitze, gefolgt von Kanada, während die Bundesrepublik auf dem vierten Platz rangierte. An dieser Reihenfolge änderte sich bis 1989/90 nichts. Im Vergleich zur Bundesrepublik war die ostdeutsche Kaliindustrie zudem insgesamt exportorientierter. Stieg der Exportanteil von K&S erst in den 1980er Jahren auf 55 bis 60 Prozent, hatte die DDR diesen Wert bereits in den 1960er Jahren erreicht. Im Jahr 1984 machte der Exportanteil im Kalikombinat dagegen schon rund 82 Prozent aus. Davon wurden 41 Prozent innerhalb des RGW in Osteuropa gehandelt, 23 Prozent gingen nach Westeuropa, 21 Prozent nach Lateinamerika und 12 Prozent nach Asien; der Rest verteilte sich zu jeweils etwa gleichen Teilen auf Nordamerika und Afrika.90

Das Exportgut Kali erwies sich somit nicht nur als profitables Geschäft innerhalb des RGW,91 sondern auch als attraktiver Devisenbringer. Hierzu trug auch das Wiener Kalikartell bei. Dieses sicherte zwar vorrangig den (west-)europäischen und israelischen Kaliproduzenten einen relativ stabilen Absatz zu respektablen Preisen, kam damit aber auch der Devisenwirtschaft der DDR zugute, denn die Preisfestsetzung in Ost-Berlin orientierte sich unmittelbar an den in Wien festgelegten Werten. Preiserhöhungen im Westen verbesserten immer auch die Verhandlungsposition der osteuropäischen Exporteure.92 Seit 1982 waren die Sowjetunion und die DDR selbst in die Strukturen und Diskurse des Wiener Kartells durch halbjährliche Treffen mit Vertretern der westeuropäischen und der kanadischen Produzenten eingebunden. Dadurch schwappten seit Mitte der 1980er Jahre aber auch die westlichen Krisendiskurse von Überproduktion und Preisverfall in den Osten und gingen dort zunehmend in die politisch-ökonomische Planung ein.93 Als die gemeinsamen Treffen 1986 abgebrochen wurden und zeitgleich der westdeutsche Kali-Exportpreis durch Veränderungen in den Erfassungsmodi des Statistischen Bundesamts kaum noch für Preiskalkulationen in Ost-Berlin taugte, verschärften sich auch die Krisenwahrnehmungen in der Staatlichen Plankommission der DDR.94