Hungry Heart - Hannes Sonnberger - E-Book

Hungry Heart E-Book

Hannes Sonnberger

4,7

Beschreibung

Kein Mensch ist so, wie er glaubt zu sein. Der Wirtschafts-Coach Hannes Sonnberger erfindet seine Enkeltochter Laura, die aus dem Jahr 2041 einen Blick auf sein Leben wirft. Dabei besucht sie unterschiedlichste Menschen, die im Leben ihres Opas wichtig sind. So entsteht eine zirkuläre Biographie. Ein ironisch-irritierendes Kaleidoskop von Perspektiven tut sich auf. Lauras Bild ihres Opas wird mehrfach gedreht und gewendet.

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Für Gabi.

From the bottom of my hungry heart.

Inhaltsverzeichnis

Anfang

Der große Paul

Lisa

Paul

Hannah

Markus Enzi

Die Oma. Die richtige Oma

Gerhard Schilling

Walter Zinggl

Christian Zizka

Herbert Mayrhofer

Jörgen Manstein

Gerd Friedrich

Joachim Rosenberger

Gabi Plötzeneder

Michael Schipper

Gabi. Die Tango-Oma

Anfang

Da sitzt er nun vor mir. Im Rollstuhl, leicht nach links gelehnt. Schaut mich an. Der linke Mundwinkel nach unten hängend, die vollen Lippen nach außen gestülpt, so als wäre er zu faul, sich um ihre korrekte Position zu kümmern. Ich weiß nicht, ob er es könnte oder nicht. Opa spricht nicht mehr. Seit einem Schlaganfall vor einem Jahr ist sein Sprachzentrum zerstört. Nun muss er sehen, wie er mit Zuhören vorankommt. Manche sagen nun: „Endlich kommen wir auch einmal zu Wort – der Alte musste ja immer das letzte Wort haben.“

Ich sage das nicht. Mir fehlt seine Stimme, die immer noch ein bisschen rauchig klang, obwohl er schon vor 25 Jahren mit dem Qualmen aufhörte. Vielleicht wäre er sonst gar nicht so alt geworden.

Dreiundachtzig Jahre! Ich will mir mit meinen 15 gar nicht vorstellen, einmal so alt zu werden. Werden zu müssen – würde Opa sagen, der irgendwann einmal mit dem lieben Gott einen Deal gemacht hat, zweiundachtzig zu werden und kein Jahr mehr! Von diesem Deal scheinen die Ärzte nichts gewusst zu haben, die ihn drei Wochen nach seinem 82. Geburtstag auf der Intensivstation wieder zurückgeholt hatten.

Opa hatte sich mit dem Kopf ganz tief gebeugt, um sich ein offenes Schuhband zu binden. Erst schien es nur, als hätte er das Gleichgewicht verloren, doch dann blieb er eigenartig lange liegen, sein linkes Bein zuckte wie unter Strom und er schaute meine Oma ganz verzweifelt an. Ich war nicht dabei. Sie hat es mir so erzählt.

„Oma“ stimmt irgendwie nicht ganz.

Meine „richtige“ Oma – die Mama meiner Mama – lebt nicht mit Opa zusammen. Schon mehr als 30 Jahre lang nicht mehr. Die „andere“ Oma ist seine dritte Ehefrau. Sie war dabei. Und seitdem ist sie ein bisschen seltsam geworden. Sie färbt sich die Haare nicht mehr. Und geht nicht mehr in ihren heißgeliebten Tango-Kurs. Wegen ihrer Leidenschaft für den „getanzten Geschlechtsverkehr“ (wie Opa immer grinsend sagte), war sie für mich immer die Tango-Oma. Also, war ist jetzt natürlich ein Blödsinn – sie ist die Tango-Oma. Jetzt sind die langen feinen rötlich gefärbten Haare ganz weiß geworden. Das steht ihr sogar recht gut – sieht fast aus, wie eine echte Oma. Dabei ist sie ja auch eine echte Oma – nur eben nicht meine, sondern von den Enkelkindern, die sie von ihren eigenen Kindern hat. Die sind aber nicht vom Opa.

Viele in meinem Freundeskreis beginnen bei meinen Erzählungen aus meiner komplizierten Familie die Augen zu verdrehen. Dabei ist alles nur halb so wild. Ich zum Beispiel habe gar keinen Papa, das macht doch das Durcheinander schon einmal um einen Teilnehmer kleiner.

Meine Mama hat ihn weggeschickt, da war ich grade ein Jahr alt. Ich sehe ihm ein bisschen ähnlich, sagt Mama und dass ihr das schon genügt. Mehr braucht sie nicht von meinem Papa. Sie kommt schließlich ganz alleine supergut zurecht.

Und außerdem hatte ich bis vor einem Jahr immerhin noch Opa. Er wollte unbedingt OpA genannt werden, nicht OpI. Und doch: wenn ich mich an ihn kuschelte und Opili säuselte, fing er immer ganz sanft zu singen an. Irgendein Lied aus seiner unendlichen Jazz-Sammlung. Er hat es mir ohnehin schon so oft vorgespielt, ich glaube, es heißt „La Mer“ oder so ähnlich. Opa sang immer mit einem wohligen Vibrieren in seinem Bauch, an dem man so schön ausruhen konnte.

Nun ist der Bauch verschwunden. Opa isst nicht mehr viel, er kann nicht gut kauen mit seiner gelähmten Backe und immer, wenn er sich bei seinen unbeholfenen Versuchen, etwas Festes zu verarbeiten, in die linke Backe beißt, haut er mit der rechten Hand auf den Tisch und macht ganz schlimme Geräusche. Das klingt dann wie das Brummen eines Bären. Mein großer Onkel Paul muss dann immer so lachen und sagt zu Opa: „Na, Schepsnbär, hast wieder nicht aufgepasst?“ Und das macht den Opa dann nur noch wütender und er schüttelt seine dürre Faust in Onkel Pauls Richtung.

Jetzt sitze ich vor ihm und lese ihm aus dem aktuellen „profil“ vor. Es ist Sonntag später Vormittag und die Post hat das abonnierte Nachrichtenmagazin schon gebracht. Das Abo läuft noch immer auf seinen Namen, obwohl die „Tango-Oma“ es längst bezahlt.

Irgendwie glaube ich, hinter seinen Augen die Aufmerksamkeit und hin und wieder auch den Ärger zu erkennen. Opa kann seine Augen nicht im Zaum halten. Meine beiden Omas haben mir erzählt, wie sehr sie seine Augen lieben. Und wie sehr sie sich vor den Blitzen in seinen Blicken gefürchtet haben. Bis vor ungefähr fünf oder sechs Jahren. Da waren plötzlich die bösen Blitze aus seinen Augen verschwunden und ein Hauch von kindlicher Verspieltheit war in den braunen Untiefen eingezogen.

Opa ist trotzdem ein Fanatiker geblieben. Gegen Ungerechtigkeiten und ganz besonders gegen die „Blödheit der Menschheit“ wie er es wütend zu bezeichnen pflegte, wenn wieder einmal etwas „seinen Intellekt beleidigte“, konnte er lange Tiraden fast druckreifer Ausbrüche seines Zorns loslassen.

Nun habe ich seine Aufmerksamkeit. Ganz und gar. Ich genieße es. Dabei fällt es mir immer wieder schwer, ihn anzuschauen. Der weiße Haarkranz ist nicht mehr so akkurat gestutzt, wie noch vor einem Jahr. Bis dahin hatte er sich den Rest seiner Haarpracht jeden Samstag Vormittag mit einer Haarschneidemaschine auf exakt drei Millimeter gestutzt. „Rasenmähen“ nannte er das. Und wenn er gut gelaunt war, dann durfte ich auf einem Schemel stehend einen kleinen Taschenspiegel genau so balancieren, dass er seinen Hinterkopf im Spiegel sehen konnte. Damit nur ja kein Fleckchen unbearbeitet bleiben durfte.

Vor zwölf Jahren hat er sich aus seinem Beruf zurückgezogen, ist mit der „Tango-Oma“ ein halbes Jahr durch Kanada gefahren und mit einem abenteuerlichen Backenbart zurückgekommen. Es waren weiß schimmernde sogenannte „Koteletten“, die – exakt in der Länge seines Haupthaars – bis auf die Höhe seiner Mundwinkel reichten. Als ich Opa zur Begrüßung auf die Wangen küssen wollte, haben die Barthaare ganz fürchterlich gepiekst und Opa und wir mussten lachen. Dann ist er zu seiner umfangreichen Sammlung von CDs marschiert, hat eine herausgeholt und sie verschmitzt in den CD-Player gesteckt. Es war „Jailhouse Rock“ von Elvis Presley. Opa zeigte mir das Cover und da war Elvis abgebildet – mit genau der Art von Koteletten, wie Opa sie nun trug.

Natürlich in brünett und natürlich hatte Elvis sein Haupthaar zu einem Brillantine-glänzenden Kunstwerk aufgetürmt – das wäre nun bei Opa nicht mehr möglich gewesen. Opa stand vor mir, seine Hüften kreisten ein bisschen unbeholfen zum Rhythmus der Musik und er nahm meine Hände und drehte mich um meine eigene Achse. Dann ließ er mich zwischen seinen gespreizten Beinen durchrutschen, was ihm einen kurzen Schmerzenslaut abpresste: Ich glaube, seine Bandscheiben – oder was von ihnen übrig war – hatten sich gemeldet. „Laura“, hatte Opa gesagt, „Elvis ist schon lange tot, aber ich lebe noch und ich werde in den Jahren, die ich noch habe, ein bisschen Rock ´n´ Roll in die Welt tragen. Den passenden Bart hab ich mir schon zugelegt!“ Und dann machte er ein paar knirschende Kniebeugen, bis mit einem hörbaren Knacks seine Rückenwirbel wieder eingerastet waren.

Zum Samstags-Ritual gehörte auch das Trimmen der Koteletten. Sie mussten eine messerscharfe Kante haben, kein Zehntelmillimeter eines einzelnen Barthaares durfte die Unterkante des Backenteppichs überragen.

Das ist nun vorbei. Die Koteletten sind noch da, niemand wagt es, sie abzurasieren. Aber natürlich sind sie meilenweit von den ästhetisch-strengen Maßstäben Opas entfernt. Sogar ich erkenne, dass sie nicht gleich lang sind und rund herum wuchert ein weißer Stoppelfriedhof. Kein Wunder: Opa ist zu einem Konzentrat an Unduldsamkeit geworden. Die Rasur, die die „Tango-Oma“ alle zwei Tage an ihm verübt, ist in keiner Form innerhalb der strengen Normen. Oma tut mir leid. Ich weiß genau, wie gerne sie es ihm recht machen möchte und er ist doch nie zufrieden. Und alles dauert ihm zu lange. Manchmal, wenn sie sich über ihn beugt, um auf seinen schlaffen Wangen die Sisyphus-Fron der Rasur zu vollziehen, fährt er seinen intakten rechten Arm aus und kneift sie zart in den Popo. Oma protestiert dann immer mit theatralischer Entrüstung. Dabei sehe ich, wie sie sich darüber freut, dass noch ein bisschen Leben in ihm steckt.

In Opa steckt viel mehr Leben, als er selbst wahrhaben möchte.

Aber irgendwie glaube ich, er will es nicht mehr er-leben. Er ist sauer auf den lieben Gott und noch mehr auf die Ärzte, die den Deal mit Gott verpatzt haben – oder „verschissen“, wie Opa sagen würde.

Meine Mama hat mir erzählt, dass er ihr vor langer Zeit – es muss so um seinen 50. Geburtstag gewesen sein – versprochen hatte, auf jeden Fall „durchzuhalten“, bis sie 40 ist.

Das hat er dann auch großartig hingekriegt. Zu Mamas 40er war er 77, in bester Verfassung und sah ganz hervorragend aus. Ein bisschen gebräunt nach einem Sommer an der frischen Luft. Ein bisschen Übergewicht, das er einfach nicht loswerden konnte, obwohl er immer wieder darüber lamentierte. Aber die „Tango-Oma“ mochte doch seinen Bauch so gern.

Und ein bisschen beschwipst – vom Single Malt, den er sich bei freudigen Anlässen und wenn er allein war, gerne genehmigte.

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er – nach langem Zureden meiner Tante Lisa – doch bereit war, eine kleine Rede zu halten. Opa war ein guter Redner, vor allem, wenn es darum ging, ohne Vorbereitung ein paar schnelle treffende Anmerkungen zu platzieren.

Bei Mamas Geburtstag war alles anders. Ich habe ihn erwischt, wie er ein paar Wochen vor dem Fest in seinem Arbeitszimmer sitzend gegen die weiße Wand starrte und vor sich hin murmelte. Es war die Probe für seine Geburtstagsrede für die „Präsidentin seines Fan-Clubs“. Das ist meine Mama. Laut Opa schon seit ihrer Geburt. Und für die Präsidentin durfte nichts dem Zufall überlassen bleiben. Und genau das machte es so schwer für ihn. Wenn schon vorbereitet, dann richtig. Dann musste jeder Halbsatz sitzen, jedes Wortspiel treffen.

Opa sagte immer, dass das Sprechen in Bildern mitten in die rechte Gehirnhälfte hineinwirkt, wo Bilder viele Tausend mal schneller verarbeitet werden, als Worte in der linken. Schon seltsam, dass das Blutgerinnsel des Schlaganfalls ausgerechnet seine rechte Gehirnhälfte erwischt hat, wo die schönen Bilder wohnen. Was Opa wohl nun so sieht? Und wenn die Worte ohnehin in der linken Hirnhälfte wohnen, warum spricht er dann nicht mehr?

Jedenfalls hat er bei Mamas Geburtstag gesprochen. Mit einer anfangs sehr zittrigen Stimme. Ich saß in seiner Nähe und habe beobachtet, wie sich während seiner Rede immer wieder dicke Tränentropfen am unteren Rand seiner Brille ansammelten, um dann immer wieder als kleine Dammbrüche seine Backen runterzulaufen.

Ich habe mir von seiner Rede nicht viel gemerkt, eine kleine Anmerkung hab ich mitgenommen. Opa erzählte von Mamas Geburt und wie er dabei war. Dass er hinter Oma stand, die sich bei der zweiten Presswehe ganz in den kurzen Ärmeln seines Polohemds verklammert hatte und beim letzten Ruck so fest anzog, dass Opa plötzlich ohne Ärmel dastand. Da hat Mama auch ein paar gerührte Tränen vergossen, obwohl sie doch die Geschichte wirklich schon auswendig runterbeten konnte. Das ist so beim Opa. Er erzählt manche Geschichten immer wieder gern. Und manche davon schon fast zu gerne.

Und meine Tante Lisa kann ihn auf ihre eigene Art immer wieder daran erinnern:„Schau, Papsi, ich glaube, die Geschichte kennen wir schon“, sagt sie immer und dabei legt sie ihren Kopf auf seine Schulter und streichelt seine Hand und dann musste der Opa immer grinsen und hat uns eine andere Geschichte erzählt. Eine, die er ein bisschen weniger oft wiederholt hatte.

Schon komisch: Mein Onkel Paul, der so lang ist, dass er immer den Kopf einziehen muss, wenn er durch die Tür kommt, der kann von Opas Geschichten gar nicht genug kriegen. Er sieht das schon fast wie bei einer der alten Juke-Boxes, in die man Münzen einwarf, um eine Schallplatte zu hören. Onkel Pauls Münzen sind kleine Provokationen, die er gerne mit einem Grinsen über den Tisch schleichen lässt. Das Grinsen ein bisschen schief und wenn das Licht günstig steht, kann man die kleinen Narben an seinen Unterlippen sehen. Die sind von den Piercings, die Onkel Paul als Teenager trug. Onkel Paul und Opa hatten so ein komisches Code-Wort. Es klang so ähnlich wie „Hiteit“. Einmal hab ich mir ein Herz genommen und Onkel Paul gefragt, was das heißt. Und er erzählte mir eine Geschichte. Wie die ganze Familie – Opa noch mit der richtigen Oma zusammen – auf Sardinien auf Urlaub war. Und an einem faulen späten Nachmittag alle auf dem großen Doppelbett im klimatisierten Zimmer lagerten und durch die Fernsehprogramme zappten. Da war eine Sendung in einem englischen Programm über die alten Hethiter. Und der englische Kommentator sprach das Wort natürlich auch englisch aus. In Lautschrift: Hiteits.

Das hatte schon genügt, um Opa und Onkel Paul zu endlosen Lachstürmen hinzureißen. Da schlug der Mühlviertler in Opa durch, der seine halbe Linzer Kindheit im Mühlviertel verbracht hatte. Und die Mühlviertler sprechen in ihrer „Sprache“ das Wort „hindeuten“ so aus wie „hideiten“. Bis vor kurzem genügte dieses Schlagwort für Opa und Onkel Paul, um eine halbstündige Kaskade loszulassen, die immer so begann: „Wos is, wenn da Hiteit auf wos hideit?“

Dann hat Opa immer so gerne auf die Ohren vom Onkel Paul gedeutet. Die sind tatsächlich komisch. Onkel Paul hatte in seiner Jugend nicht nur Piercings in der Unterlippe, sondern auch Ohrstecker in den Ohrläppchen, die damals Löcher verursachten – mit etwa 2 cm Durchmesser. Es gibt Fotos meines Onkels, da hat er sich durch diese Löcher Zigaretten gesteckt. Heute sind die Löcher zugewachsen, aber man sieht noch so etwas wie sternförmige Narben rund um eine kleine Vertiefung. Opas bevorzugte Objekte des Spotts.

Opa hasst es, wenn er im nachhinein recht hat. Angeblich hat er damals immer wieder warnend auf Paul eingeredet, er soll sich doch diese Trümmer aus den Ohren ziehen, er sieht aus, wie ein afrikanischer Stammeshäuptling. So jedenfalls hat Opa mir die Geschichte erzählt, Onkel Paul sieht das natürlich anders. So auf die Art: Er hätte immer gewusst, dass das alles einmal wieder zuwachsen würde und der Opa übertreibt wieder einmal maßlos.

„Laura-Schatzi, ich sage Dir: Es gibt nichts Schlimmeres im Leben, als hintennach recht zu haben. Ich hasse es!“ So hat Opa sich immer aufgeregt. Natürlich auch dann, wenn ich entgegen seinen Ratschlägen einmal meinen eigenen Kopf durchgesetzt habe und manchmal damit gegen die Wand gerannt bin. Bei mir hatte Opa aber keine Chance und das wusste er auch. Schon alleine mein Vorname hat ihn über alles getröstet, was seine Enkeltochter da und dort verbockte.

Er hat mir erzählt, wie gerne er meine Mama Laura nennen wollte. Weil er eine Freundin aus Studentenzeiten hatte, die Laura hieß und ganz tragisch mit 28 Jahren an Darmkrebs gestorben ist. „Laura-Schatzi, Laura heißt ´die Goldene´ und Du BIST meine Goldene“.

Ja, Opili, ich weiß – auch so eine Geschichte, die ich schon etwas besser kenne.

Jedenfalls war´s so, dass, als meine Oma meine Mama in ihrem Bauch trug, eines der typischen Familientreffen stattfand, bei dem mein Opa erzählte, er würde das Baby gerne Laura nennen. Daraufhin machte mein Uropa – Omas Vati – ein papageienartiges Geräusch und sagte „Laura“ – so wie Papageien eben reden. Großes Gelächter am Tisch, großer Ärger bei Opa, aus war´s mit Laura. Meine Oma hat sich dann den Vornamen „Hannah“ für meine Mama gewünscht. Mit H vorn und H hinten, ganz wie bei der biblischen Hannah, die eine recht resolute Frau gewesen sein soll. Ganz wie meine Mama.

Opa hasst Familientreffen. Immer schon. Er liebt die kleine Runde. Maximal 3-4 Personen.

Das hat er mir erzählt, als wir einmal beide genug hatten von so einer Mega-Zusammenkunft.

Ich war damals sechs oder sieben Jahre alt und wir hatten uns zu einem runden Geburtstag versammelt – ich weiß nicht mehr, von wem aus der weitverzweigten Patchwork-Verwandtschaft.

Jedenfalls hat wieder einmal jemand sein „Kreuzworträtselwissen“ zur Schau gestellt, wie Opa zu sagen pflegte. Ich selbst hatte niemanden zum Spielen und habe sehr gelangweilt gegähnt. Das hat Opa gemerkt und wir haben uns rausgestohlen. Zuerst zu einem nahegelegenen Spielplatz und dann auf ein Eis. Auf einer Parkbank haben wir das Eis geschleckt und Opa hat mir erklärt, warum er diese „Klugscheißerei“ nicht mag. Das ist so etwas wie eine allergische Reaktion bei ihm. Die stammt aus der Zeit, als er noch zu den Familientreffen der Verwandtschaft meiner Oma mitging.

Egal, worum es bei diesen Treffen auch ging, immer fand sich jemand, der wie ein Lexikon zum grade besprochenen Thema Schulbuchwissen zum Besten geben musste. Opa nannte solche Leute „Kreuzworträtselkönige“. Später – da war ich schon 12 oder 13 – hat er dann augenzwinkernd ein anderes Wort benützt: „Bildungsbürgerliche Masturbation“. Und hat sich fürchterlich zerkugelt, als die Tango-Oma ihn dafür zurechtwies, vor mir solche unanständigen Sachen auszusprechen.

Opa konnte schon ein rechtes Ferkel sein. Immer wieder hatte er irgendwelche unanständigen Witze in der Hinterhand. Die habe ich lange Zeit nicht verstanden, erst in den letzten zwei oder drei Jahren kam ich hinter die zotigen Pointen und war immer wieder verwundert, wie jemand wie Opa solche Witze lustig finden konnte. Es gibt Freunde Opas, die haben mir erzählt, was für eine Witz-Kanone er einmal war. Opa konnte, wenn er einen zweiten Witze-Erzähler als Gegenspieler hatte, ganze Abende mit seinem unerschöpflichen Vorrat bestreiten.

Irgendwann hat er damit aufgehört. Und seine Freunde haben dann erstaunt festgestellt, dass Opa insgesamt besser drauf war. Sie behaupten, Opa hätte deswegen so viele Witze erzählt, weil er ganz tief drin sehr traurig war. Und wie diese Traurigkeit weggeflogen ist, musste er nicht mehr so viele Witze erzählen. Ich kenne Opa nicht aus der Zeit der Traurigkeit. Ich kenne so vieles nicht, was passiert ist, als Opa noch „jung“ war. Er ist doch mein Opi und Opis sind nun mal älter. Und wenn er mich dann anschaut mit seinem schiefen Gesicht, kommt manchmal so eine Stimmung auf: Eine Mischung aus ganz viel Liebe und ganz viel Leben, das ganz versteckt in ihm ist. Dann möchte ich so gern so viele Fragen stellen und habe zugleich so viel Angst, dass er mir doch keine Antwort geben wird.

Seit ein paar Tagen habe ich einen Plan: Ich werde einfach einige der Menschen fragen, die Opa gut kennen. Das ist dann, als würde ich Opa „googeln“, nur nicht im Internet, sondern in 3D. Ich schau mir „Opas Film“ an. Und mit dem „großen Paul“ fange ich an.

Und außerdem: Ich hab da einen Haufen Notizen vom Opa gefunden. Über 1000 verschiedene Themen. Kleine und große, dicke und dünne. Als ich sie durchgelesen hab, wars fast so, als würde der Opi doch wieder was sagen. Die muss ich einfach verwerten. Ich schieb sie einfach immer wieder zwischen meine Besuchs-Berichte. Und nenne sie „OO“.

Wie Opi-Original.

Der große Paul

Der große Paul heißt eigentlich Erich. Und obwohl ich die Geschichte seines zweiten Namens schon von Opa kenne, frage ich den großen Paul als erstes danach. Er erzählt mir, dass Opa und er das gleiche Stammlokal hatten. Opa war noch Student, der große Paul hatte ein kleines Kaffeehaus im 17. Bezirk in Wien. Und weil er bis Mitternacht im eigenen Lokal stand, konnte er erst gegen 1 Uhr in der „Palme“ auftauchen – so hieß die Diskothek, in der er und Opa immer waren. Diskothek? Ja, sagt der der große Paul, so hieß das damals. Ein Club mit kleiner Tanzfläche, einer verspiegelten Kugel, die das Licht der Scheinwerfer multiplizierte.

Da stand der große Paul immer in einer Nische gleich beim Disc Jockey – damals sagte man noch so und wenigstens weiß ich jetzt, was „DJ“ wirklich bedeutet – und er war ein großer starker Mann, den die Frauen spannend fanden. Das hat der große Paul mir nicht gesagt, das weiß ich vom Opa. Am anderen Ende der Bar war Opa. Meistens kam er alleine hin und oft ging er zu zweit.

Eines Tages ist Opa einfach auf den großen Paul zugegangen und hat ihn zu seinem Geburtstagsfest – in der „Palme“ – eingeladen. Obwohl die zwei vorher noch nie ein Wort gewechselt hatten! Der große Paul hat geantwortet: „Meinst Du das ernst?“ Und Opa sagte einfach nur „Ja! Weil ich Dich für einen coolen Typen halte und möchte, dass Du zu meinem Fest kommst.“ Seitdem ist der große Paul der beste Freund vom Opa. Opa hat einmal gesagt, der große Paul wäre der einzige Mann, den er sich jemals „aufgerissen“ hätte.

Opa hat den großen Paul auch verkuppelt – mit Heidi, die eigentlich noch mit jemand anderem lebte. Aber als es mit diesem Freund vorbei war, war der Weg frei. Der große Paul muss lachen, weil er sagt, dass Opa zuerst gar nicht kuppeln wollte – der andere Freund und so. Aber als Heidi sich dann nach dem großen Paul erkundigte, gab´s kein Halten mehr.

Opa war dann Trauzeuge von BEIDEN – eine Standesbeamtin ist eingesprungen, damit alles seine Ordnung hat. Und Opa hat mir erzählt, dass mit Ausnahme seiner eigenen Hochzeiten die von Paul und Heidi die schönste war, bei der er je war.

Da war die Tochter der beiden gerade ein Jahr und einen Tag alt, hat am Standesamt am Fußboden die Tasche ihrer Mama ausgeräumt. Nachher zum Fotografen. Ein Foto zu zweit und eines zu dritt und eines zu viert. Auf dem sind dann alle drauf, die bei der Hochzeit waren. Dann im offenen 2 CV durch die Landschaft bei St. Pölten und zu einem kleinen Supermarkt, wo drei Gläser und eine Flasche Sekt gekauft wurden und weiter zu einem Badesee. Dort hat Opa die kleine Viviane auf dem Arm gehabt, die Flasche wurde geschüttelt und der Korken schoss weit über den See. Der große Paul ist ein bisschen gerührt, während er mir das erzählt. Er ist immer noch ein großer stattlicher Mann mit kurz geschnittenem weißem Haar, das über der Stirn zu einem kleinen Knäuel zusammenwächst.

Und ich frage ihn, warum er der große Paul heißt. Er sagt mir, dass „Paul“ nicht nur ein Name ist. Es ist ein Lebensprinzip. Ein Paul ist man oder man ist es nicht. Es ist die Mischung aus Humor, politischer Einstellung („links“), Toleranz, Kraft, selbstbewusster Haltung zu Frauen und das „Etwas“, das jederzeit zu absurden Verrücktheiten imstande ist. Ganz trifft es das immer noch nicht, aber zumindest ein bissi – sagt der große Paul und lacht seinen Lacher, den ich auch so mag, wie mein Opa. Er kommt ganz tief von unten, das ganze Gesicht wird weit und offen und die Augen lachen mit.

Selbstverständlich war der Opa auch ein „Paul“. Den Ehrentitel hat ihm der große Paul verliehen und Opa war immer superstolz darauf. Und selbstverständlich haben die beiden Pauls auch streng darauf geachtet, dass der Titel nicht an Unwürdige ging. Da wurden sogenannte Aufnahmsprüfungen abgehalten, die zum Schluss auch eine Prüfung der Trinkfestigkeit der Kandidaten vorsah. Ab und zu, erzählt der große Paul, haben die zwei auch weibliche Kandidaten in Erwägung gezogen, sind dann aber bald wieder davon abgekommen.

Warum heißt der große Paul eigentlich großer Paul?

Weil – und darauf ist der große Paul sehr stolz – die beiden Männer einen Deal hatten: Wer zuerst einen Sohn hat, der tauft diesen Sohn Paul und der jeweils andere ist Taufpate.

Der große Paul hat zwei Töchter. Und der Opa hat zuerst einmal meine Tante Lisa mit seiner ersten Frau gehabt und mit meiner Oma kam dann mein Onkel Paul. Das war über einige Jahre natürlich dann der kleine Paul. Und der große Paul war selbstverständlich Taufpate und wundert sich noch heute ein bisschen, mit welcher Selbstverständlichkeit Opa meiner Oma klargemacht hat, dass am Namen Paul und der Taufpatenschaft nicht zu rütteln ist. Als mein Onkel Paul 16 Jahre alt war, war er dann schon 1,96 Meter groß und war in Zentimetern der größte von allen drei Pauls. Aber der große Paul blieb der große Paul – so viel Zeit muss sein, sagt der große Paul immer.

Der große Paul ist eine ganz besondere Auskunftsquelle. Er kennt Opas erste Frau – Martina, die Mama meiner Tante Lisa. Er war sogar Trauzeuge bei der Hochzeit der beiden – eine klare Sache, wie er sagt. Der große Paul und Heidi haben Martina sehr gern gehabt. Sie war eine sehr schöne Frau, das sagen alle, die sie gekannt haben oder die einmal ein Hochzeitsfoto von den beiden gesehen haben. Und in ihrem Wesen war sie der Heidi ein bissi ähnlich, sagt der große Paul, der aber mit Heidi verheiratet blieb. Der Opa mit Martina nicht. Der große Paul musste mehrfach ausrücken, als der Opa mit Martina wieder einmal Streit hatte. Da waren dann Martina und Heidi sauer, weil die Männer schon wieder zusammen unterwegs waren. Der große Paul sagt, viel hat er dem Opa gar nicht geraten, sondern immer nur zugehört und bei den ganz schlimmen Geschichten einfach dem Opa Recht gegeben.

Von Opa weiß ich da eine ganz besondere „Weisheit“: Opa hat mir einmal erklärt, woran man einen wirklich guten Freund erkennt. Und er hat natürlich dabei seinen besten Freund gemeint – den großen Paul. Opa hat mir ein Foto gezeigt – von seiner Promotion. Da ist Opa drauf, mit einem Doktorhut (vom großen Paul geschenkt – eh klar) und der große Paul. Beide lachen übers ganze Gesicht. Und der große Paul noch mehr, als der Opa. Wenn wir uns das Foto angeschaut haben, hat der Opa immer gesagt: „Schau, Laura-Schatzi, das ist wahre Freundschaft: Wenn sich Dein Freund über etwas, das Dir gelingt, noch mehr freut, als Du selbst!“

Der große Paul steckt voller Geschichten über den Opa. Als sie einmal ein Studentenfest heimsuchten und so betrunken waren, dass sie draußen am Parkplatz einen 2 CV, in dem ein Pärchen „schnackselte“ (der große Paul muss bei diesem Wort ein bissi kichern) mit Holzlatten einer nahe gelegenen Baustelle verbarrikadierten und das Liebespaar nicht mehr rauskonnte. Und wie sie dann gemeinsam mit Pauls Auto heimfuhren. Gemeinsam heißt, sie mussten beide das Auto bedienen – der große Paul hat Gas gegeben und gelenkt und der Opa hat auf den Verkehr geschaut und geschaltet.

Oder wie der große Paul, als er noch in Wien wohnte und Opa noch studierte jeden Morgen beim Opa vorbeischaute, der ihm im Pyjama öffnete und immer das gleiche Ritual ablief: Opa fragte „Magst einen Kaffee?“ Und der große Paul antwortete: „Wenn zufällig einer fertig ist!“ Natürlich war immer zufällig einer fertig und der große Paul musste die drei Stockwerke ohne Lift nur dem Geruch des frischen Kaffees folgen. Dann haben die beiden Kaffee getrunken, den Kuchen, den Opas Mama geschickt hatte, gegessen und die Weltlage besprochen. Zu der Zeit hatte Opa einen „Hänger“ bei seiner Dissertation. Es ging nichts weiter. Und der große Paul hat ihn einmal gefragt: „Wie viele Seiten hat so eine Diss eigentlich?“ und der Opa hat geantwortet: „Circa 300.“ „Dann kann´s ja nicht so schwer sein“, hat der große Paul genantwortet. „Schreibst jeden Tag eine Seite, bist in einem Jahr fertig!“ Und der Opa hat mir erzählt: Genau so war´s. So ist die Diss vom Opa auch ein bissi die Diss vom großen Paul.