Hunkeler in der Wildnis - Hansjörg Schneider - E-Book

Hunkeler in der Wildnis E-Book

Hansjörg Schneider

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Beschreibung

Ein friedlicher, sonniger Sonntagmorgen im Kannenfeldpark in Basel. Plötzlich schreckt ein Schrei Peter Hunkeler bei seinem ersten Kaffee auf: Eine Spaziergängerin hat hinter den Büschen einen Toten entdeckt. Auch wenn er inzwischen in Rente ist, ein Polizist bleibt ein Polizist, zumindest für seine Mitmenschen. Wohl oder übel muss Hunkeler nachsehen. Und merkt, dass er den Toten kennt: einen bekannten Journalisten und Kunstkritiker.

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Hansjörg Schneider

Hunkeler in der Wildnis

Der zehnte Fall

Roman

Diogenes

Peter Hunkeler, ehemaliger Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, nun im Ruhestand lebend, saß vor dem Kiosk von Erkan Kaya beim Eingang zum Kannenfeldpark und blätterte in einer Zeitung. Es war ein Sonntag im Juni, ein schöner Sommermorgen, die Sonne schien ihm angenehm ins Gesicht. Vor sich hatte er eine Tasse Kaffee, die ihm Frau Koller gebracht hatte.

Eigentlich war es schon lange kein bloßer Kiosk mehr, sondern ein richtiges Straßencafé. Ein Dutzend Tischchen, einige unter einem Vordach. Ein kleiner Anbau mit weiteren sechs Tischchen, für kalte, regnerische Tage. Man konnte essen hier, belegte Brote und heiße Würstchen. Dies alles hatte sich Erkan geduldig und schlau erkämpft in den letzten Jahren, den Behörden und den umliegenden Wirtschaften zum Trotz, die Einspruch gegen die drohende Konkurrenz erhoben. Aber Erkan hatte sich durchgesetzt. Und an schönen Tagen wie heute war hier reger Betrieb.

Hunkeler nahm einen Schluck aus der Tasse, zufrieden mit sich und der Welt. Er hatte in seiner Wohnung in der Mittleren Straße übernachtet, da es ihm in seinem Haus im Elsass öde geworden war. Ab und an brauchte er die Stadt, die Häuser ringsum, die Menschen, auch wenn sie noch in ihren Betten lagen und schliefen, wie jetzt. Dann schien die Welt aufgeräumt zu sein und zu glänzen.

Er sah zwei junge Typen vorbeirennen, in beachtlichem Tempo. Sie rannten wie fast alle Jogger im Gegenuhrzeigersinn. Eigentlich seltsam, dachte Hunkeler, dass alle in die gleiche Richtung rannten. Vorschrift war es ja nicht. Auch er war stets im Gegenuhrzeigersinn gerannt, fiel ihm ein, als er noch gerannt war. Aber das war vorbei. Heute ging er nur noch. Der Rücken, das Knie, der Fuß.

Er sah aus den Augenwinkeln, wie ein älterer Mann durch den pompösen Parkeingang kam. Dieser Eingang erinnerte als Einziges noch daran, dass hier ein städtischer Friedhof gewesen war. Ein Gottesacker, wie man in Basel sagte. In diesem Acker Gottes lagen wohl noch immer ein paar tausend Totengerippe drei Meter tief in der Erde. Ein tröstlicher Gedanke, fand Hunkeler. Unten ruhen die Toten, oben über den Kiesweg rennen die Lebenden. Und schon mittags würde es hier wimmeln von Eltern und ihren Kindern, die zwischen den immergrünen Trauergewächsen wie Buchs, Thuja und Eibe Fangen spielten.

Der ältere Mann trug Schirmmütze und Sonnenbrille. Er hieß Otto. Ein Rentner, der in einem der Wohnblocks nebenan wohnte, allein. Er kam jeden Morgen, um ein bisschen zu plaudern. Hunkeler hasste das, am Morgen mochte er nicht reden. Er blätterte in seiner Zeitung und hörte, wie Otto ein Ginger-Ale mit Zitronenschnitz bestellte. Er tat das jeden Morgen. Er setzte sich nie, sondern blieb immer an der Theke und schwatzte über irgendwas.

Aber an diesem Morgen mochte auch Frau Koller nicht. Sie half Erkan im Kiosk, die Brötchen mit Butter zu bestreichen und mit Ei und Büchsenspargeln zu belegen.

Hunkeler las einen Artikel über eine spanische Stadt, in der ein junger Mann mit einem Auto mehrere Menschen totgefahren hatte. Eigentlich wollte er nichts wissen davon, der Morgen war zu schön. Aber dieser Angriff auf unschuldige Menschen war von einer Zielstrebigkeit und Brutalität, die ihn wütend machten.

»Was regst du dich auf?«, fragte Otto.

»Ich rege mich nicht auf«, behauptete Hunkeler.

»Doch, du hast etwas gemurmelt, etwas Böses.«

»Es ist wegen des Attentats. Was stellen sich diese Typen vor? Glauben sie, sie können die Welt durch Mord verbessern?«

»Das sind Verrückte«, sagte Otto und zündete sich eine Zigarette an. »Die muss man totschießen.«

Hunkeler legte die Zeitung weg.

»Ich frage mich«, sagte er, »wie sie so weit kommen. Junge Kerle, die etwas lernen sollten. Wie man arbeitet, wie man lebt. Stattdessen lernen sie, wie man möglichst viele Menschen umbringt.«

»Das ist der Islam«, sagte Otto, »das ist eine Religion der Gewalt.«

»Red keinen Unsinn«, sagte Erkan, der nach vorn gekommen war. »Ich bin Muslim. Bin ich Gewalt?«

»Ach so«, sagte Otto. »Nein, du natürlich nicht.«

»Auch meine Mutter nicht. Und mein Vater nicht. Und meine Schwestern nicht und meine Brüder nicht. Also rede keinen solchen Unsinn, bitte.«

»Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt, es tut mir ja leid. Ich meine nicht dich.«

»Wen denn? Bin ich Muslim oder nicht? Bin ich dein Freund und Nachbar oder nicht?«

»Natürlich bist du mein Freund und Nachbar. Ich bin halt ein alter Schwätzer.«

»Stimmt«, sagte Erkan.

 

Draußen auf der offenen Wiese segelte ein großer Vogel heran, schwarzweiß gezeichnet, mit langem, rötlichem Schnabel. Er streckte die Beine vor, die riesigen Schwingen wie ein bremsendes Segel ausgespannt, und setzte auf. Es war Willy, der Storch, der im Basler Zoo daheim war und jeden Morgen einen Ausflug hierher unternahm, um von Frau Koller gefüttert zu werden. Gewöhnliche Wurst und Schinken verschmähte er. Er fraß nur Salami, und zwar fein geschnitten.

»Willy ist da«, meldete Otto.

»Der kann warten«, sagte Frau Koller, »ich habe bloß zwei Hände.«

Der Storch stakste zögernd heran. Er war recht zutraulich zu Menschen. Bloß Kinder mochte er nicht. Und er war hartnäckig. Er blieb so lange, bis er ein paar Scheiben Salami bekam.

Vom Turm der nahen Johanneskirche war eine Glocke zu hören. Weitere, tiefere setzten ein, ein sonntäglich friedliches Klingen und Dröhnen. Auch das Geläut der Antoniuskirche schwang mit, vom mächtigen Betonturm herunter, den man im Viertel Seelensilo nannte. Basel schien nur noch aus Glocken zu bestehen. Hunkeler liebte das. Er war zwar schon lange aus der Kirche ausgetreten. Aber er mochte es, wenn das tönende Erz die Luft über der Stadt erzittern ließ. Zu Ehren Gottes des Allmächtigen vielleicht? Zu Ehren der Muttergottes? Oder schlicht zur Feier des Sonntags?

Das Haus, in dem er aufgewachsen war, kam ihm in den Sinn. Der Kiesweg um das Haus herum, den er immer am Samstagabend rechen musste, um die Kiesel zu lockern und schön über den Weg zu verteilen. Er begriff den Sinn dieser Arbeit nie, er hatte schon damals viel für organische Unordnung übrig. Aber wenn er den Rechen durch die Kiesel zog und Druck aufsetzte, damit die Steinchen aus dem festen Boden gerissen wurden, überkam ihn jeweils die Genugtuung, dass mit dieser Arbeit alles in Ordnung gebracht wurde. Dann setzten im nahen Städtchen die Glocken ein. Erst die hohe, noch kaum wahrnehmbar. Dann die tiefen, die weiter trugen. Zuletzt der Bass, der das ganze Tal ausfüllte bis zu den bewaldeten Hügeln hinauf.

 

Er spürte, wie ihn jemand an der Schulter anfasste und schüttelte. Er hörte eine Stimme, es war die von Otto.

»Nicht schlafen, Hunkeler. Da ruft jemand um Hilfe.«

Er war also eingenickt, und dies schon am Morgen. Es war die Erinnerung, die ihn eingelullt hatte.

Otto deutete nach links zum Weg hinüber, wo eine alte schwarzgekleidete Frau heranhastete.

»Polizei, Polizei!«, rief sie.

»Nichts da«, murmelte Hunkeler, »ich bin nicht mehr bei der Polizei.«

»Einmal Polizei, immer Polizei«, sagte Otto. »Schluss mit dem Nickerchen. Es gibt Arbeit.«

Hunkeler trank seine Tasse leer, sehr langsam. Er sah, wie Willy seine Schwingen ausbreitete, abhob und fortflog, ein Bild, schien ihm, von dem er geträumt hatte. Er überlegte, ob er aufstehen und weggehen sollte. Aber er blieb sitzen. Gemeinsam schauten sie zu, wie die Frau herankam und vor ihnen stehen blieb. Sie hatte ein Bündel Sauerampfer in der rechten Hand. Mit der linken fasste sie sich an die Brust. Sie war so außer Atem, dass sie erst kein Wort herausbekam. Dann redete sie in einer Sprache, die Hunkeler nicht verstand.

»Sie sagt«, übersetzte Erkan aus dem Türkischen, »da unten liege ein toter Mann, dem der Schädel eingeschlagen wurde. An die Mauer gelehnt. Dort, wo das Gras wächst. Sie hat dort Sauerampfer gesammelt für den Salat. Sie ist sehr erschrocken. Sie sagt, das seien gottlose Menschen, die so etwas machen. Sie heißt Frau Dogan. Ihr Sohn arbeitet im Tankstellen-Shop beim unteren Ausgang des Parks.«

Die Frau ergriff Hunkelers Rechte und schüttelte sie mit aller Kraft. »Danke, danke«, sagte sie, »danke, danke.« Dann ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

»Du kümmerst dich um sie«, sagte Hunkeler. »Und ruf die Polizei an.«

»Natürlich«, sagte Erkan.

»Warum nicht du?«, fragte Otto. »Du bist doch Polizist.«

»So ein Schwachsinn«, sagte Hunkeler, »an einem so schönen Sonntagmorgen.«

Vom Turm der Antoniuskirche klang die letzte Glocke aus. Dann war Stille, bis aus dem Kiosk Erkans Stimme zu hören war, der die Polizei anrief.

 

Hunkeler ging über den Kiesweg, der den Park kreisförmig umrundete. Dorther war die Frau gekommen. An der alten Friedhofsmauer stand der Schuppen, in dem die Stadtgärtner ihr Gerät verstauten. Daneben war ein Kiesplatz, wo manchmal Boule gespielt wurde. Er kannte die Spieler, er hatte ein paarmal mitgespielt. Da er keine eigenen Kugeln besaß, wurde er nicht ernst genommen. Aber als Gast war er akzeptiert.

Obschon er wusste, dass ihm wenig Zeit blieb, ging er langsam. Er war ja in Rente, die Sache betraf ihn nicht. Aber einfach wegrennen konnte er auch nicht.

Er kam auf den Kiesplatz und sah an der alten Friedhofsmauer, die aus hellem Kalkstein gebaut war, eine Gestalt liegen. Es war Heinrich Schmidinger, ein Österreicher aus Wien, der in jungen Jahren nach Basel gekommen war, um erst bei der National-Zeitung und später bei der Basler Zeitung Literatur- und Theaterkritiker zu werden. Vor einigen Jahren war er in Rente gegangen. Er bewohnte ein Reihenhaus in der Glaserbergstraße gleich neben dem Park, zusammen mit seiner Freundin Ruth Mangold.

Hunkeler sah sogleich, dass Schmidinger tot war. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen. In seinem Mund steckte ein Büschel Gras. Zwischen seinen Beinen lagen zwei Boulekugeln. Die dritte Kugel fehlte. Das fiel Hunkeler auf, denn üblicherweise spielte man mit drei Kugeln. Die zwei, die dalagen, hatten sieben Ringe eingefräst.

Er spürte, wie sein Mund schlagartig trocken wurde, als hätte er tagelang nichts mehr getrunken. Fast wäre er umgekippt. Aber dann trat er zur Leiche, bückte sich und griff unter das Hemd. Dort, das wusste er, trug Schmidinger eine Art Amulett. Es war das Eiserne Kreuz seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien gefallen war. Das Einzige, hatte Schmidinger erzählt, was er von seinem Vater geerbt hatte.

Hunkeler nahm dieses Amulett, zog die Lederschnur, an der es hing, mit einiger Mühe über den Kopf der Leiche und schob beides in seine Tasche. Er wusste nicht recht, warum er das tat. Vielleicht, weil der Anblick so trostlos schrecklich war. Er hatte Heinrich Schmidinger gemocht. Er wollte ein Andenken haben. Oder wollte er ihn schützen? Er murmelte kurz etwas vor sich hin, drehte sich weg und ging schnell zurück zum Kiosk.

»Und?«, fragte Otto.

»Mausetot«, sagte Hunkeler. »Der Schmidinger. Wo ist Frau Dogan?«

»Sie sitzt drin bei Erkan. Sie ist beinahe ohnmächtig geworden. Er päppelt sie auf.«

»Ein Glas Wasser, bitte«, sagte Hunkeler zu Frau Koller, »aber schnell. Bevor sie kommen.«

 

Sie kamen mit heulender Sirene und Blaulicht, am Steuer Wachtmeister Lüdi, auf dem Beifahrersitz Kommissär Madörin, hinten Korporal Haller. Lüdi riss eine gewagte Kurve von der Straße weg in den Parkeingang hinein und hielt an.

»Du hier?«, fragte Madörin. »Was zum Teufel tust du an einem heiterhellen Sonntagmorgen im Kannenfeldpark?«

»Ich genieße Ruhe und Entspannung«, sagte Hunkeler und schlürf‌te vom Wasser. »Da unten beim Schuppen liegt übrigens eine Leiche.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich sie gesehen habe.«

»Wie bitte? Du hast den Tatort betreten?«

»Ich glaube nicht, dass dies der Tatort ist. Vielmehr vermute ich, dass er dort hingeschleppt wurde, als er schon tot war.«

»Was? Spinnst du?«

»Warum denn? Er hätte doch noch leben können. Es ist übrigens Heinrich Schmidinger, ein bekannter Journalist. Jemand hat ihm ein Büschel Gras zwischen die Zähne geklemmt. Jemand, der eine Riesenwut auf ihn hatte. Du kannst dem Gerichtsarzt Dr. de Ville mitteilen, er brauche sich nicht zu beeilen. Der rennt nicht mehr weg.«

Madörins Gesicht lief rot an vor Wut.

»Du mischst dich ein in einen Mordfall, ohne uns zu informieren?«

»Das hat Herr Erkan Kaya übernommen. Was hätte ich denn tun sollen? Eine Frau Dogan ist angekeucht gekommen und hat gesagt, an der alten Friedhofsmauer liege eine Leiche. Ich bin als Privatmann hier. Hätte ich weglaufen sollen? Ich bin gleich hinübergerannt, um zu sehen, ob ich ihm noch helfen kann.«

»Schluss jetzt, niemand rührt sich vom Fleck«, schrie Madörin. »Wir werden von Ihnen allen die Personalien aufnehmen. Das gilt auch für dich, Hunkeler. Aber los jetzt, einsteigen, wir fahren zuerst zum Tatort.«

Und zu Hunkeler: »Das wird Folgen haben.«

Hunkeler blieb sitzen, trank sein Glas aus und schaute zu, wie der Polizeiwagen hinüber zum Schuppen fuhr. Er wusste, was jetzt kam. Das Kommissariat würde alle seine Macht auf‌fahren, Technischer Dienst, Ambulanz, alle verfügbaren Einsatzkräfte. Den Park absperren, Erkans Kiosk schließen, den einen oder anderen in Untersuchungshaft nehmen. Es würde nichts nützen, sie waren zu spät dran. Sie waren immer zu spät dran.

Die Ambulanz kurvte in den Parkeingang, mit gellendem Martinshorn. Sie kannten das Ziel, sie rasten über den Kiesweg zum Schuppen hinüber.

Hunkeler erhob sich und trat zur Theke.

»Gib mir eine Zigarette«, bat er.

»Warum?« fragte Otto. »Du hast doch aufgehört.«

»Habe ich auch. Ausnahmsweise.«

Otto hielt ihm die Schachtel hin, Hunkeler zündete sich eine an und zog gierig den Rauch in die Lunge. Das tat gut ab und an, wenn man ein Leben lang Raucher gewesen war. Er schaute zu, wie Otto auf seinem Handy herumtippte.

»Was tust du da?«

»SMS verschicken«, sagte Otto.

»Wenn du nicht sofort aufhörst damit, schmeiße ich dein Handy hinüber zu den Wohnblocks.«

»Nur ruhig, Hunkeler, ruhig. Du bist nicht mehr der Chef hier. Du bist übrigens nicht hinübergerannt zum Schuppen, wie du den Tschuggern erzählt hast. Sondern du bist hinübergewandelt, wie auf Eiern.«

»Und? Willst du das den Tschuggern erzählen, wie?«

Otto erschrak.

»Keine Gewalt bitte. Wir leben immer noch in einem Rechtsstaat.«

Hunkeler warf die Zigarette auf den Boden und zertrat sie. Er sah Frau Dogan neben der Kaffeemaschine sitzen. Sie zitterte am ganzen Leibe. Erkan redete auf sie ein.

»Ihr wird nichts geschehen«, sagte Hunkeler.

Erkan übersetzte.

»Sie werden sie wahrscheinlich mitnehmen aufs Kommissariat und befragen. Es kann dauern, bis sie die Übersetzer organisiert haben. Sie soll ruhig bleiben.«

»Sie hat bloß Sauerampfer für den Salat gesammelt«, sagte Erkan. »Jetzt hat sie Angst, eingesperrt zu werden. Ihre Papiere sind nicht in Ordnung.«

»Nein«, sagte Hunkeler, »sie darf nicht eingesperrt werden. Sie wird bloß als Zeugin befragt.«

Er suchte und fand den Blick der alten Frau. Augen voller Angst, voller Unterwürfigkeit.

»Danke, danke«, sagte sie.

 

Hunkeler trat auf die Burgfelderstraße hinaus. Dort blieb er eine Weile stehen, unschlüssig, was er tun sollte. Er schaute dem Dreiertram nach, das Richtung Grenze fuhr. Alles leer, Triebwagen und Anhänger. Niemand fuhr Tram am Sonntagmorgen.

Eigentlich hätte er in Erkans Café bleiben müssen, schließlich war er so etwas wie ein Zeuge. Obschon Schmidinger längst tot war, als er ihn fand.

Er ging ein Stück weit Richtung Grenze, als ob er ins Elsass wandern wollte. Etwas zog ihn fort, weg von eingeschlagenem Schädel und Polizei. Hinaus in die weite Landschaft. Nur noch Wiesen und Bäume, das war das, was er sehen wollte, nichts anderes mehr. Er wusste, dass das nicht möglich sein würde. Der Tod hatte Einzug gehalten mitten in Basel, an einem strahlenden Sonntagmorgen, als die Welt mit sich einig zu sein schien. Er, Hunkeler, hatte die Leiche gefunden. Er würde befragt werden, das war unumgänglich. Aber nicht heute, beschloss er. Vielleicht morgen. Oder übermorgen. Am liebsten nie.

Es war ihm nämlich völlig egal, dem ehemaligen Kriminalkommissär, wie Heinrich Schmidinger zu Tode gekommen war. Tot war tot. Vielleicht würde die Täterschaft gefunden, vielleicht auch nicht. Beides machte den Toten nicht wieder lebendig. Und die sogenannte Gerechtigkeit konnte Hunkeler gestohlen bleiben.

Er setzte sich auf eine Bank unter den Bäumen, welche die Burgfelderstraße säumten, und dachte nach. Es waren Linden, unter denen er saß, er roch ihren süßen Duft. Die waren früh dran heuer, die letzten Tage waren alle schön und warm gewesen.

Warum eigentlich hatte er dauernd mit Leichen zu tun? Lag es nur an seinem Beruf, der ihn verpflichtete, Mord und Totschlag aufzuklären? Oder war er, von Geburt an schon, ein Verwandter von Freund Hein, dem Flötenspieler, der den Lebenden den Todesmarsch blies? Warum war er auf die Idee gekommen, bei Erkan einen Kaffee zu trinken? Er hätte noch früh genug von Schmidingers traurigem Abgang erfahren, aus der Zeitung oder dem Radio. Aber nein, er musste vor Ort anwesend sein und der Leiche ins eingefallene Gesicht schauen. Und er hatte dieses verdammte Eiserne Kreuz in der Tasche.

Er hörte, wie im Turm der Antoniuskirche eine einzelne Glocke anschlug. Offenbar wurde dort jetzt die Wandlung gefeiert, es war eine katholische Kirche, Brot wurde zum Leib Christi, Wein zum Blut Christi. Oder so ähnlich, Hunkeler war schon lange nicht mehr gläubig. Er wusste bloß, dass sich vor wenigen Jahrhunderten noch die Leute wegen solcher Fragen die Köpfe eingeschlagen hatten.

Er griff in die Tasche nach dem Eisernen Kreuz. Was für ein verrückter Gedanke, das christliche Symbol zur Tapferkeitsmedaille für besonders gut gelungenes Töten des Feindes umzufunktionieren. Am liebsten hätte er es in weitem Bogen über die Straße geschmissen, ins Geäst der Bäume gegenüber. Aber er tat es nicht. Denn leicht konnte es gefunden werden, wenn er es wegschmiss, von spielenden Kindern zum Beispiel. Und Madörin, der Bluthund, würde sich auf die Fährte setzen, die zu ihm, zu Hunkeler, führte.

Er versuchte, ruhig zu atmen. Was war eigentlich geschehen, warum fühlte er sich plötzlich mitschuldig?

Schmidinger war seit rund zehn Stunden tot, als er ihn fand, so viel hatte er festgestellt, er kannte sich mit Leichen ein bisschen aus. Er war also gegen Mitternacht umgebracht worden. Was hatte er um Mitternacht im Park getan? Und wer war bei ihm gewesen? Ein Boulespieler? Oder ein fremder Gast?

Hunkeler wusste jetzt plötzlich, was zu tun war. Schnellstmöglich zu seiner Wohnung zurückgehen, sich dort ins Auto setzen und über den Hegenheimer Grenzübergang ins Elsass hinausfahren. Dort war er vorerst sicher.

 

Eine Stunde später stand er in der Wiese vor seinem Elsässer Haus und begutachtete seine Bäume. Die alte Korbweide mit meterdickem Strunk, die seit Jahrzehnten nicht mehr geschnitten worden war, so dass sich einzelne Triebe zu eigentlichen Stämmen ausgewachsen hatten. An einem hing ein Nistkasten für Blaumeisen, der bewohnt war. Die Altvögel hatten eine Menge zu tun, um ihren Nachwuchs zu füttern und möglichst bald in die Luft zu bringen. Die Weide bot ihnen ein ideales Biotop. Sie klebten mit Vorliebe an den herabhängenden Zweigen, ein zartes Blau am Pastellgrün der silbern glänzenden Blätter.

Daneben, in der Ecke zur Scheune, hatte er in der ersten Nacht, die er in diesem Haus verbracht hatte, das Licht eines Leuchtkäfers gesehen. Es war ein Weibchen, das mit seinem Glühen herumfliegende Männchen anlocken wollte. Er hatte es behutsam auf seinen Handteller gehoben. Dort glomm das Licht eine Weile weiter, bis es erlosch, für immer. Seit jener Nacht hatte er auf seinem Grundstück keinen Leuchtkäfer mehr gesehen.

Er ging hinüber zum alten Schweinestall. Davor stand ein Birnbaum, der zur Hälfte verdorrt war. Aber noch trug die andere Hälfte Früchte, die an nebligen Herbsttagen zu Boden fielen, anfaulten und im Winter von den Amseln weggepickt wurden. Und jeden Morgen kurz vor elf flog ein großer Specht heran, grasgrün mit feuerroter Haube, um Stamm und Geäst nach Käfern und Raupen abzuklopfen.

An einem waagrechten Ast hing der Nistkasten für die Gartenrotschwänze. Hunkeler hatte ihn auf gut Glück hingehängt, gespannt, ob es funktionierte. Tatsächlich war an einem Aprilmorgen ein wunderschön gefiederter Gast aufgetaucht, roter Bauch, schwarze Kehle, weiße Haube, ein Gartenrotschwanzmann. Etwas später entdeckte Hunkeler auch das Weibchen. Seither traf das Paar jedes Frühjahr ein, nach langem Flug über Wüste und Meer. Hunkeler nahm jedenfalls an, dass es dasselbe Paar war. Er wusste, dass Gartenrotschwanzpaare ein Leben lang zusammenblieben. Der wahre Luxus, davon war er überzeugt, war das Glück, mit Vögeln zusammenzuleben. Beim Erwachen das Morgenkonzert, beim Einnachten das Abendlied. Zuletzt, wenn die Schwärze der Nacht alles einhüllte, das feine Zwitschern des Rotschwanzes.

Drüben gegen das Nachbarsgrundstück hin stand eine Reihe Zwetschgenbäume. Sechs Stück waren es, übervoll behangen mit kleinen, noch steinharten Früchten. Eine gute Zwetschgenernte heuer. Er würde sie alle pflücken im Herbst, er hatte jetzt Zeit als Rentner. Die Leiter anstellen und hochsteigen ins Laub, den Kratten füllen und in den Korb am Boden leeren. Den Korb hinübertragen zum Nachbarn, der die Ernte, zusammen mit der eigenen, zur Sammelstelle fuhr. Zwetschgen waren eines der wenigen Produkte, mit denen ein berenteter Bauer noch etwas Geld verdienen konnte. Wobei das Wort »berentet« natürlich ein Hohn war. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Wenn die Bauern bloß keine Milch mehr produzierten, alles andere war egal. Nur noch Mais, großflächig angesät von riesigen Traktoren, mit Insektiziden besprüht, mit Stickstoff gedüngt, so dass das Quellwasser kaum mehr trinkbar war. Das Ganze nannte sich Fortschritt.

Hunkeler betrachtete die Hühner, die unter dem Birnbaum scharrten. Ein geschäftiges Treiben, hin und wieder ein leises Gackern, das Hunkeler irgendwie optimistisch stimmte. Hahn Fritz, der schon weit bessere Tage gesehen hatte, pickte eifrig mit, als ob im Gras fette Körner lägen.

»Wacker, Kollege Fritz«, sprach Hunkeler, »wie du dich auf den Beinen hältst. Aber bald haut es dich von der Stange.«

 

Am Abend saß er, nachdem er die Hühner in den Stall gebracht hatte, am Küchentisch und schaute in die aufkommende Dämmerung hinaus. Er hörte das Telefon im Gang draußen schellen, über ein Dutzend Mal. Offenbar wollte jemand dringend mit ihm reden. Wieder einmal war er froh, keinen Beantworter eingerichtet zu haben. Die Nummer seines Handys kannten nur seine Freundin Hedwig und Korporal Lüdi, der ihm unter seinen ehemaligen Kollegen stets der liebste gewesen war. Hedwig war über das Wochenende zu einem Meditationskurs in der Toskana gefahren, in die alte Römerstadt Lucca.

Er nahm das Handy und wählte Hedwigs Nummer. Es meldete sich der Beantworter. »Ciao bella«, sprach er, »ich hocke im Elsass und habe Langezeit nach dir. Hier ist so weit alles in Ordnung, außer dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich habe nämlich das Eiserne Kreuz, das Heinrich Schmidinger um den Hals getragen hat, in der Tasche. Er ist totgeschlagen worden. Und geh einmal das marmorne Labyrinth anschauen, das in die Fassade des Doms eingelassen ist. Verirre dich nicht darin.«

Er schaltete das Handy aus. Vielleicht weil er unerreichbar sein wollte, für alle. Aus der Welt verschwinden. Sich verkriechen, im taufeuchten Gras liegen, den Käfern zuhören, die über seine Haut krochen. Das leise Rauschen der Weide im Ohr, über sich nichts als der Sternenhimmel. Eine Ewigkeit lang. Oder wenigstens eine Nacht.

Er genoss die kühle, feuchte Luft, die aus dem offenen Fenster hereinkam. Er lauschte dem Schnurren der beiden Katzen, die auf dem Tisch lagen, und überlegte, ob er eine Büchse Ravioli in die Pfanne hauen sollte. Er ließ es bleiben und beschloss, Nicole Schlienger zu besuchen.

 

Sie wohnte unten am Bach. Vor einigen Jahren hatte sie ihren Mann Martin verloren, der Komponist war, und lebte in einem alten Riegelhaus, zusammen mit Ziegen.

Sie hatte lange Jahre für die Basler Zeitung gearbeitet, erst als Korrespondentin in Mexiko, dann auf der Redaktion. Zuletzt war sie Redaktorin für Frauenfragen und Mode gewesen. Stets hatte sie ihren Mann Martin bei sich gehabt und ausgehalten. Bis sie mit nichts als einer schäbigen Rente in der Tasche wegen Umstrukturierungsmaßnahmen in den vorzeitigen Ruhestand entlassen wurde.

Sie saß in der Küche vor einer Schüssel Polenta und einer Literflasche Rotwein, als Hunkeler eintrat.

»Setz dich«, sagte sie, »iss und trink. Es ist genug da.«

Er setzte sich und schaute sich um, während sie einschenkte und schöpf‌te. Die niedere Decke, der Feuerherd, das Brennholz daneben. Das Fenster weit offen, draußen die Dunkelheit. In einer Ecke war Stroh aufgeschüttet. Eine Ziege war angebunden, ein winziges, beinmageres Kitz lag daneben.