Hunkeler und der Fall Livius - Hansjörg Schneider - E-Book

Hunkeler und der Fall Livius E-Book

Hansjörg Schneider

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Beschreibung

Das neue Jahr beginnt für Kommissär Peter Hunkeler mit einem schauerlichen Fall: In einem Schrebergarten am Stadtrand von Basel wird eine übel zugerichtete männliche Leiche gefunden. Auf der Suche nach dem Mörder muss sich der launische Kommissär nicht nur mit streitsüchtigen Hobbygärtnern, sondern auch mit den Widrigkeiten der grenzüberschreitenden Polizeiarbeit auseinandersetzen. Der Fall wird immer rätselhafter, als Hunkeler auf Verdrängtes aus dem Zweiten Weltkrieg stößt: Was genau geschah im Februar 1943 im elsässischen Ballersdorf, und was hat es mit diesem Fall zu tun?

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Seitenzahl: 269

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Hansjörg Schneider

Hunkeler und der Fall Livius

Der sechste Fall

Roman

Die Erstausgabe erschien

2007 im Ammann Verlag, Zürich

Umschlagfoto von Guido Studer (Ausschnitt)

Copyright © Guido Studer

Die Personen und die Handlung

des vorliegenden Romans sind frei erfunden,

jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder

Begebenheiten ist rein zufällig

Der Autor dankt Herrn

Kriminalkommissär Markus Melzl

für die Durchsicht des Manuskripts

sowie dem Zeitzeugen Herrn Oskar Runser

aus Knoeringue/Alsace für Hinweise

auf historische Begebenheiten

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24236 2 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60295 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Peter Hunkeler, Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, früherer Familienvater, jetzt geschieden, lag in seinem Haus im Elsass und schlief. Er merkte, dass er angenehm lag und es schön warm hatte. Er hörte etwas schnurren, das war die schwarze Katze, er spürte sie an seinen Kniekehlen. Er hörte ein Krähen, das war der Hahn Fritz im Hühnerstall. Er vernahm ein leises Schnarchen. Das war seine Freundin Hedwig, ihr Rücken hatte sich an seinen Bauch geschmiegt. Er öffnete die Augen und sah durchs Fenster draußen den Kirschbaum stehen, ein knorriges Geäst, kaum erkennbar im Nebel.

Gestern, fiel ihm ein, war Silvester gewesen. Sie hatten bis drei Uhr in der Wirtschaft in Zaessingue getanzt. Dann waren sie heimgetuckert auf Nebenwegen, weil sie reichlich Rotwein getrunken hatten zum Schweinebraten und um Mitternacht noch einen Crémant d’Alsace hatten knallen lassen. Die Gendarmerie verstand keinen Spaß, auch in den frühen Morgenstunden von Neujahr nicht.

Eine gute Nacht war es gewesen, ein übervoller Wirtsraum, Jung und Alt vereint. Eine Kapelle von ennet dem Rhein aus dem Markgräflerland, eine junge Frau an der Handorgel, ein alter Glatzkopf am Schlagzeug, der ihr Vater war oder ihr Liebhaber. Schützenliesl, drei Mal hat’s gekracht Pumm Pumm Pumm, Prosit Neujahr! Die Musik war immer noch in seinen Ohren, die Bewegung des Tanzes in seinen Hüften, er fühlte sich müde, leicht und froh. Er [6] schob sich näher an Hedwigs Leib heran, um wieder einzuschlafen.

Aber da war etwas, was die Ruhe aufriss. Ein Klingeln, er zählte mit, vier, fünf, sechs. Er gab es auf, er wusste, es würde nicht aufhören. Die Katze sprang vom Bett herunter, dehnte den Rücken und gähnte.

Er ging zum Telefon, das im Gang draußen an der Wand hing, ein schwarzer Festnetzapparat. Er hatte vergessen, den Stecker rauszuziehen. Er hob ab.

»Frohes Neujahr«, sagte er. »Wie spät ist es?«

Er vernahm ein kaum wahrnehmbares Kichern. Es war Korporal Lüdi.

»Tut mir leid, dass ich dich wecken muss. Es ist Viertel vor neun.«

»Und?«, fragte Hunkeler. Er hörte es draußen knallen. Das waren die Buben des Dorfes, die auf der Straße herumböllerten.

»Was knallt denn so in deinem friedlichen Elsass?«, fragte Lüdi.

»Alter Neujahrsbrauch. Schieß endlich los, ich will mich wieder hinlegen.«

»Ich fürchte, das geht nicht. Wir sind nämlich auf Pikett. Und wir brauchen dich.«

»Nein«, sagte Hunkeler, »mich braucht niemand mehr, außer der Katze und Hedwig. Die braucht mich als Bettflasche. Es hat die ganze Nacht kalte Luft hereingeweht.«

Wieder war das Kichern zu vernehmen, meilenweit entfernt, wie aus einem andern Erdteil. Hunkeler wusste, dass es nichts Gutes verhieß. Er spürte die Kälte des gefliesten [7] Bodens an den Fußsohlen, sie kroch ihm die Beine hoch in den Bauch.

»Die einen liegen in warmen Betten und schlafen gemütlich ihren Rausch aus«, sagte Lüdi, »und die andern müssen die Drecksarbeit machen.«

»Ich bin freigestellt für besondere Aufgaben. Weil meine Arbeitsmethoden scheint’s nicht mehr tolerierbar sind. Das hat der Erste Staatsanwalt persönlich erklärt. Du hast es selber gehört.«

»Stimmt, tolerierbar bist du vielleicht nicht mehr. Aber wie gesagt, wir brauchen dich.«

Draußen knallte es wieder, direkt vor der Haustür.

»Moment«, sagte Hunkeler.

Er riss die Haustür auf und sah, wie einige Buben wegrannten.

»Salauds«, schrie er, »verdammte Saubande, Saugoofe.«

Dann musste er grinsen. Er wusste eben, was sich gehört, er, Kommissär Hunkeler, im Nachthemd vor seinem Haus, schimpfend mit den frechen Flegeln, vor sich den verschneiten Vorplatz, auf dem sich die Spuren der Bubenschar abzeichneten. Im Stall gegenüber brannte Licht, die Melkmaschine war zu hören. Der Bauer war also auch spät dran. Vermutlich hatte er zusammen mit seiner Frau bis in die Morgenstunden hinein bei Scholler in Knoeringue gesessen.

Hunkeler trat zum Nussbaum, um sich zu erleichtern. Dann ging er zurück ins Haus. Er holte in der Stube eine Zigarette und steckte sie an. Das hatte er seit Jahren nicht mehr getan, am Morgen auf nüchternen Magen. Irgendetwas war los, irgendein Schrecken. Sonst hätte ihn Lüdi nicht am Neujahrsmorgen geweckt.

[8] »Also, was ist los?«, fragte er, als er den Hörer wieder in der Hand hielt.

»Du kennst doch die Schrebergärten an der Hegenheimerstraße, dicht an der Grenze. Du fährst dort vorbei, wenn du ins Elsass fährst.«

»Was soll das? Komm endlich zur Sache.«

»In allen diesen Gärten steht ein Häuschen, meist aus Holz. Man könnte in diesen Häuschen schlafen und zur Not sogar wohnen, aber erlaubt ist es nicht. Jedenfalls sind sie liebevoll ausgestattet mit Fähnchen und allerlei Andenken. Es sind Luxusvillen der armen Leute.«

»Was soll der Schwachsinn?«, schrie Hunkeler. »Wenn du es spannend machen willst, so sag’s. Dann frühstücke ich vorher.«

Aber Lüdi ließ sich nicht beirren.

»Auf Parzelle B35 steht ein besonders schönes Häuschen. Es sieht aus wie ein Berner Chalet im Taschenformat, richtig heimelig. Es heißt Enzian. Es steht eine Fahnenstange davor. Daran hängt die Berner Fahne mit dem Bär drauf. Das ist nicht gestattet. Denn die Gärten liegen auf französischem Hoheitsgebiet.«

Hunkeler wartete. Er wusste, dass ihm nichts anderes übrigblieb. Lüdi musste zuerst Anlauf nehmen. Dieser Anlauf zog sich manchmal in die Länge.

»Bist du noch da?«

»Ja«, sagte Hunkeler, »ich habe alle Zeit der Welt.«

»Dieses Häuschen auf Parzelle B35 also gehört einem Anton Flückiger. Ursprünglich heißt er Anton Livius und stammt aus Ostpreußen, aus Tilsit genau. Das haben wir aus dem Einwohnerregister. Er ist nach dem Zweiten Weltkrieg [9] in die Schweiz gekommen und hat sich in Rüegsbach im Emmental einbürgern lassen. Er ist über achtzig, Jahrgang 1922. Wohnhaft an der Dammerkirchstraße in Basel, vormals Magaziner bei einer Lebensmittelkette, ledig, ohne Nachkommen. Er spricht Berndeutsch. Das ist das, was wir bis jetzt wissen.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Paul Wirz ist da, von der Gendarmerie in St-Louis. Er sagt, er kennt dich.«

»Natürlich kennen wir uns, aber was hat Monsieur Wirz mit Anton Flückiger zu tun?«

Wieder war das Kichern zu hören, es klang fast schadenfroh.

»Ein Monsieur François Bardet ist auf der Anfahrt. Aus Mulhouse. Er hat am Telefon gleich nach dir gefragt.«

Die Kälte hatte jetzt Hunkelers Gedärm erreicht. Er schlotterte plötzlich. Er brauchte dringend etwas Warmes, Heißes in den Magen.

»Bardet«, sagte er langsam. »Der befasst sich mit Mord.«

»Das ist genau der Punkt. Dieser Anton Flückiger nämlich, alias Livius aus Tilsit, der ist heute Nacht aufgehängt worden.«

»Wie aufgehängt?«

»Erst wurde er erschossen, mit einem glatten Schuss in die Stirn. Jedenfalls nehmen wir an, dass das zuerst geschah. Dann wurde er aufgehängt, an einem Fleischerhaken, den ihm jemand unters Kinn gerammt hatte. Am Balken über der Tür des Chalets Enzian. Als ob ein Stück Vieh da hängen würde.«

[10] Eine halbe Stunde später saß Hunkeler am Küchentisch und schaute in den Nebel hinaus. Auf die weiß verschneite Wiese mit den braunen Hühnern drin, die er hinausgelassen hatte. Auf Kirschbaum und Weide, auf Birnbaum und Pappel, die kaum mehr zu erkennen waren. Ein Buchfinkenweibchen flatterte auf den Fenstersims, pickte ein paar Körner auf, die Hedwig hingestreut hatte, schaute kurz zu dem alten Mann, der am Tisch saß, und flog davon.

Er hatte Tee aufgegossen und Kaffee für Hedwig. Er hatte Feuer gemacht im Herd und dem Knacken des Tannenholzes gelauscht. Er hatte bedächtig einen Joghurt gegessen und Käse und Brot. Er hatte dies alles möglichst langsam getan, damit ja nichts die verschneite Morgenruhe beschädigen konnte, keine schnelle Bewegung, kein Klirren der Tasse.

Erst in die Stirn geschossen, dachte er, dann aufgehängt an einem Fleischerhaken. Oder umgekehrt? Erst aufgehängt bei lebendigem Leibe? Wie könnte jemand dies tun? Nein, das war unmöglich, der Mann hätte sich gewehrt.

Also erst der Schuss, der wohl nicht aufgefallen war bei der allgemeinen Knallerei an Silvester. Dann das Aufhängen. Aber wie hängt man einen toten Mann an einen Fleischerhaken? Wie viele Leute braucht es dazu? Zwei oder drei?

Hunkeler füllte den Katzen den Fressnapf nach. Die taten nichts anderes als fressen und schlafen zu dieser kalten Jahreszeit. Das war genau das, was er auch vorgehabt hatte. Und damit war jetzt wohl nichts.

Er steckte sich eine Zigarette an, nahm drei Züge und drückte sie wieder aus. Damit wollte er jetzt nicht wieder anfangen, mit der verdammten Raucherei schon am [11] Morgen. Mit der atemlosen Hetzerei, dem Hecheln auf unsicherer Spur. Er würde sich nicht mehr hineinziehen lassen. Diesmal nicht, nein.

Die Tür ging auf, Hedwig kam herein im blauen Morgenmantel. Sie trottete zum Tisch, setzte sich, goss sich Kaffee ein und einen Schuss Milch und trank. Sie fasste ihn kurz ins Auge, scheinbar noch halb schlafend. Dann schenkte sie sich eine zweite Tasse ein.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Ich muss zurück in die Stadt. Zu den Schrebergärten beim Grenzübergang nach Hegenheim. Dort hat sich ein alter Mann erhängt.«

Sie schaute ihn an, wortlos.

»Es hat ihn jemand erschossen und aufgehängt«, sagte er. »Heute Morgen haben sie ihn gefunden.«

Sie schnitt sich ein Stück Brot ab, strich Butter und Honig darauf, sie kaute sehr langsam.

»Wir haben abgemacht«, sagte sie, »dass wir uns bis Dreikönige nicht von der Stelle rühren. Nur Wandern durch den verschneiten Wald, sonst nichts.«

»Monsieur Bardet aus Mulhouse kommt her«, sagte er. »Er will mich sehen. Ich bin immer noch im Amt, ich beziehe Lohn.«

Sie tunkte die Messerspitze ins Glas und drehte sorgfältig den Honigfaden ab. Es fiel ihm auf, wie sehr er ihre Bewegungen mochte.

»Früher«, sagte sie, »wenn wir etwas abgemacht haben, habe ich mich gefreut wie ein Kind. Zum Beispiel zehn Tage Winterruhe in Hunkelers Haus im Elsass. Eine warme Ofenkunst. Eisblumen an den Fenstern. Eulenrufe in der Nacht. [12] Heute gelingt es mir nicht mehr, mich auf etwas zu freuen. Weil ich weiß, dass es nicht klappt.«

»Hör auf, ja?«, sagte er mit einer Schroffheit, die ihn selber überraschte.

»Siehst du?«, sagte sie.

Als er die Anhöhe zur Hohen Straße hinauffuhr, die Hésingue mit Altkirch verband, spürte er, wie die Antriebsräder durchdrehten. Unter dem Schnee lag Eis. Ein richtiger Winter also, er grinste zufrieden.

Oben beim Kreuz des St.Imber sah er einen Körper am Straßenrand liegen. Er trat voll auf die Bremse, er hätte ihn beinahe übersehen. Vorsichtig stieg er aus und näherte sich ihm. Es war ein großer, männlicher Dachs, den jemand totgefahren hatte. Er lag da, als ob er geschlafen hätte, vielleicht war der Körper noch warm. Dort, wo die Schnauze den Schnee berührte, leuchtete rot das Blut.

Er ließ das Tier liegen, stieg wieder ein und fuhr weiter. Bald würde ein Jäger vorbeikommen, der würde wissen, was mit dem Kadaver zu tun war.

Auf der Hohen Straße fuhr er im Schritttempo, so schlecht war die Sicht. Niemand überholte ihn, niemand kam ihm entgegen, er schien allein unterwegs zu sein. Bei Trois Maisons schaute er zum großen Riegelhaus hinüber, ob dort ein Licht brannte. Es brannte keines.

Er rollte langsam nach Ranspach hinunter, er hatte es nicht eilig. Es gefiel ihm, dieses Eingepacktsein im Nebel, es war wie ein Versteck. Das tote Tier kam ihm in den Sinn, Meister [13] Grimbart, der Pech gehabt hatte. Das graue Fell, die beiden Streifen über der Schnauze, das Blut im Schnee. Warum hatte er seinen Bau verlassen, was hatte er gesucht in der Kälte? Er hatte auf der Böschung gelegen wie ein Tier aus dem Märchen.

In der Ebene unten hatte sich der Nebel gelichtet. Der Schnee lag nur noch handhoch auf den Wiesen. Der Grenzübergang war unbewacht. Links die wieder aufgefüllte Kiesgrube, eine weiße Fläche, auf der Krähen hockten. Rechts die Lager der Baufirmen, zerlegte Krane, Lastwagen, gelbe Bulldozer. Vorne der Kiesturm aus hellem Beton, das Förderband ein schräger Strich. Ein Niemandsland die Grenze entlang, eine historische Absurdität im 21.Jahrhundert. Links lag der französische Kies im Boden, der von der Schweiz aus herausgeholt wurde. Ebenfalls links die Schrebergärten, von Schweizern bewirtschaftet. Weiter vorn, der Stadt zu, der Judenfriedhof.

Er sah die Autos von weitem. Mehrere Wagen der Gendarmerie, eine französische Ambulanz, drei Autos der Basler Polizei, darunter die kriminaltechnische Abteilung. Auch ein französischer Kommandowagen stand da, in einer Nische im Zaun. Das war wohl noch französischer Boden.

Zwei Gendarmen bewachten den Eingang. Es mussten Männer aus der Gegend sein, die sich auf Elsässisch mit aufgebrachten Gartenpächtern unterhielten.

Hunkeler trat zu Haller, der verlegen an seiner Luzerner Pfeife nuckelte.

»Ist Bardet schon da?«

»Ja«, sagte Haller, »auch Madame la Juge d’Instruction, Madeleine Godet. Die ist mit dem Kommandowagen [14] eingetroffen. Und der Verbindungsmann Pierre Morath, Paul Wirz von der Gendarmerie St-Louis ist da. Eine Menge Techniker. Ein Journalist von der Alsace. Nur wir dürfen nicht hinein. Ich wünsche ein frohes Neujahr.«

Er grinste bitter, entflammte ein Streichholz und zündete sich die Pfeife an.

»Madörin sitzt drüben in der Blume. Er hat eine Sauwut, zudem ist er betrunken. Lüdi ist im Waaghof und sucht in den verschiedenen Karteien, wer denn dieser Anton Flückiger war. Ich denke, er hat Pech, denn an so einem Morgen liegt jeder normale Mensch noch im Bett.«

»Wo ist Staatsanwalt Suter?«

»In Davos, am Spenglercup. Er ist doch Eishockeyfan. Oder weißt du das nicht?«

»Doch«, sagte Hunkeler, »aber ich habe es vergessen. Ich habe sogar vergessen, dass ich Polizist bin.«

Haller nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte auf den Boden.

»Hör mal, Hunki«, sagte er. Aber der hatte sich schon abgewandt und überquerte die Straße.

Rechts lag der Laden vom Garten-Walther, der geschlossen hatte. Es gab nichts anzupflanzen, der Boden war gefroren. Links ein kleiner Backsteinbau, Stadtgärten-West stand auf einer Tafel. Dazwischen die Wirtschaft Blume. Es war eine Baracke mit Ölofen in der Mitte, mit Stammtisch links und Theke rechts. Jassteppiche hingen an der Wand, das Zweierli Merlot kostete 3.80. Eine Vereinskneipe also, sonst wäre der Wein nicht so billig gewesen.

Der Stammtisch war voll besetzt. Ältere Männer, vor sich Bier oder Kaffee mit Schnaps. Am Nebentisch ein Mann in [15] violetter Jacke. Er trug einen Borsalino auf dem Kopf und sprach italienisch in ein Handy.

Detektivwachtmeister Madörin saß hinten in der Ecke vor einem Bier.

»Was tust du hier?«, fragte Hunkeler.

»Das siehst du doch, saufen.«

Hunkeler bestellte Kaffee.

»Ich habe dich noch nie am Morgen Bier trinken sehen.«

»Wer bin ich denn? Bin ich der letzte Dreck? Ich bin jetzt 26Jahre im Dienst und habe keinen einzigen Tag gefehlt. Was meinen diese Elsässer Waggisse? Ist dieser Flückiger ein Schweizer oder nicht? Sind das unsere Leute oder nicht?«

Er hob den Blick, ein Dackel mit traurigen Augen, den jemand in den Hintern getreten hatte.

»Ich habe mich um vier ins Bett gelegt, mit einigem Alkohol intus. Um acht rief Lüdi an und sagte, in den Familiengärten West hänge einer an einem Dachsparren. Ich bin gleich hingefahren, ohne Frühstück. Ich war der Erste am Tatort.«

»Bist du wahnsinnig geworden?« Hunkeler schrie es fast, so dass die Männer am Stammtisch herüberschauten. »Bist du verrückt geworden?«

»Warum? Er hätte doch noch leben können. Die französische Ambulanz ist erst um halb neun gekommen. Ich habe sie von weitem gehört und bin abgehauen.«

»Wenn das rauskommt«, sagte Hunkeler, »bekommen wir größte Schwierigkeiten. Die lassen sich nicht gern in die eigene Suppe spucken. Das ist französisches Hoheitsgebiet. Da ist die Gendarmerie zuständig oder die Police Nationale. Aber nicht du.«

[16] »Eben. Drum besaufe ich mich. Was kümmert es mich, wer den Kerl aufgehängt hat? Ich fahre jetzt gleich ins Kleinbasel hinüber und setze mich im Schwarzen Bären zum Pack.«

Er bestellte ein weiteres Bier.

»Pass auf«, sagte Hunkeler, »du bist im Dienst.«

»So, bin ich das?«

Hunkeler deutete zu einem Glatzkopf am Stammtisch hinüber.

»Wer ist das dort drüben? Kennst du den?«

»Wen?«

»Den Dicken mit der Glatze. Er hat mir zugenickt.«

»Was kümmert mich das?«

Hunkeler rührte zwei Zucker in den Kaffee. Er tat es sehr sorgfältig, er brauchte Zeit zum Überlegen.

»Ich habe Weihnachten im Emmental verbracht«, sagte Madörin, »mit meiner Frau zusammen, bei meiner Tochter. Die hat dort ganzjährig ein Häuschen gemietet. Sie will ihren Kindern eine ländliche Umgebung bieten, damit sie nicht ganz verstädtern. Und jetzt das.«

»Jetzt was?«

»Jemand hat ihm einen Fleischerhaken ins Kinn gerammt. Jemand hat ihm damit beinahe den Kopf abgerissen. Auch von der Stirn ist nicht mehr viel da. Der Schuss muss aus nächster Nähe abgegeben worden sein.«

Er hob den Blick, gequält, verzweifelt.

»Was ist das für ein Beruf? Kannst du mir das sagen? Da verbringst du geruhsame Tage im Emmental. Nur Schnee und Wind und Tannenwald. Und dann das.«

Hunkeler hatte sich wieder gefasst.

»Kamerad«, sprach er, »wir gehören beide dem Basler [17] Polizeicorps an. Wir halten zusammen, auch wenn wir uns manchmal anschreien. Fahnenflucht gibt es nicht. Ist das klar?«

Madörin nickte.

»Danke dir, Kamerad.«

»Und nun der Reihe nach. Hat der Mann noch gehangen, als du kamst?«

»Meinetwegen. Aber ich brauche noch ein Bier.«

»Nein. Kaffee.«

Er winkte der Kellnerin und bestellte Kaffee. Madörin schüttelte ein paar Mal den Kopf. Dann war er bereit.

»Es waren zwei Rentner da. Martin Füglistaller und Jürg Stebler. Die haben in der Hütte nebenan übernachtet. Die haben ihn heruntergenommen. Dann haben sie angerufen, Lüdi hat abgenommen. Er hat mich angerufen und die französische Ambulanz und anschließend in der Einwohnerkartei nachgeschaut. Es scheint ursprünglich ein Ostpreuße zu sein.«

»Bitte langsam und der Reihe nach. Ich bin auch erst um drei ins Bett gekommen.«

Madörin nahm mit zittrigen Händen die Kaffeetasse und trank.

»Also gut. Ich habe geparkt. Dann bin ich hineingegangen, das Tor stand offen. Ich habe niemanden gesehen. Es gab nur wenige Spuren im Schnee. Zwei waren von einer Frau oder einem Kind und einem Mann. Sie sind nebeneinander bis zum Ausgang gegangen. Sonst war alles frisch verschneit.«

»Hast du gesehen, woher diese zwei Spuren kamen?«

»Ja. Sie kamen von Parzelle B26. Parzelle B26 liegt links, [18] Parzelle B35 rechts, weiter hinten. Dort hat es mehrere Spuren gegeben, bis zu den Parzellen B37 und B39. Es waren auch Spuren da, die Richtung Elsass geführt haben. Ich habe nicht groß darauf geachtet. Füglistaller und Stebler waren eben daran, auf B35 die Berner Fahne herunterzuholen, als ich aufgetaucht bin. Der Tote lag quer vor dem Eingang zur Hütte auf den Steinplatten. Auf dem Rücken, in einem blauen Trainingsanzug. Blut ist keines mehr geflossen, aber die Steinplatten waren voll davon. Schnee lag dort keiner, der Vorplatz ist überdacht. Der Haken lag neben dem Kopf. Die Tür stand offen, die beiden Idioten sind in der Hütte herumgetrampelt. Sie sind auf dem ganzen Vorplatz herumgetrampelt. Das Einzige, was ich feststellen konnte, war, dass jemand neben dem eingepackten Rosenstrauch in den Schnee gepinkelt hatte. Und zwar war dieser Jemand ein barfüßiger Mann.«

»Und in der Hütte drin?«

»Da war am meisten Blut. Ich habe das Schussloch gesehen, in der Wand gegen Norden. Eine dünne Holzwand, es war ein glatter Durchschuss.«

»Hat jemand in der Hütte übernachtet?«

»Eindeutig ja. Auf einem Klappbett. Es war umgefallen. Die Decke lag auf dem Boden. Seltsam war, dass diese Decke einen rot-weiß karierten Überzug hatte. Meine Großmutter hat auch solche Überzüge gehabt.«

»Seltsam«, sagte Hunkeler, »ein alter Mann mit bewegtem Lebenslauf, der sich ein gemütliches Stück Emmental aufbaut, wird wie ein Kaninchen geschlachtet.«

»Das ist noch nicht alles«, sagte Madörin, und es war klar zu sehen, dass er sich wieder in seinen Beruf zurückgeredet [19] hatte, ein scharfer, zäher Dackel. »Es hat alles so ausgesehen, als ob sich einer zu später Stunde zum Schlafen hingelegt hätte. Gut, das Faltbett war umgekippt, auch ein Stuhl lag am Boden. Auf dem Tisch standen zwei leere Bierflaschen und drei Gläser, daneben eine fast leere Chiantiflasche. Eine Schachtel Kopfwehtabletten lag da, ein Wasserglas, in dem noch Reste eines weißen Pulvers zu sehen waren. Ich habe ja nur wenig Zeit gehabt, aber das habe ich genau gesehen.«

»Sehr gut.« Hunkeler nickte anerkennend.

»Hör bitte auf, verarsche mich nicht.«

»Wie kommst du da drauf?«

Aber Madörin schob das weg. Er war jetzt auf der Fährte.

»An der Wand rechts hingen Ansichtskarten, alle aus Thailand. Und Fotos von thailändischen Schönheiten, alle nackt.«

»Schau an«, sagte Hunkeler, »ein Lebemann also.«

»Daneben hing ein Apothekerkasten, weiß mit rotem Kreuz drauf. Am Boden darunter lagen Arzneimittel, der Kasten war leer. Ich habe kurz hingeschaut, was da alles herumlag. Pillen gegen hohen Blutdruck, Vitaminpillen, Magnesium. Zwei Packungen Kondome.«

»Er hat sich fit gehalten«, sagte Hunkeler, »und offenbar ist es ihm gelungen.«

»Ja, aber etwas hat gefehlt.«

»Was?«

»Was wohl? Denk mal nach.«

»Ach so. Das Potenzmittel.«

»Siehst du?« Madörin hatte jetzt Oberwasser, er genoss seinen Triumph. »Ich habe gesucht in seinen Hosentaschen. Da war nichts. Aber in seiner linken Jackentasche war es. Hier ist es.«

[20] Er legte die Schachtel auf den Tisch.

»Bist du wahnsinnig?«, schrie Hunkeler. »Das ist Entwendung von Beweismaterial.«

»Das ist mir egal. Ich habe Handschuhe getragen.«

»Das kann dich Kopf und Kragen kosten.«

»Ach was. Wer zu spät kommt, ist selber schuld.«

Hunkeler knallte seine Kaffeetasse auf den Tisch, so dass sie beinahe zerbrochen wäre.

»Wie stellst du dir das vor?«, brüllte er. »Wie sollen wir das erklären?« Er steckte sich eine Zigarette an, zog tief den Rauch ein. Dann, sehr leise: »Ein Basler Detektiv, der auf einem französischen Tatort herumtrampelt. Der Skandal ist perfekt.«

»Stimmt nicht. Ich bin herumgeschlichen.«

»So? Und die beiden Pächter, Füglistaller und Stebler? Die haben dir zugeschaut.«

»Das kann schon sein. Aber die werden das Maul halten. Die hatten ein schlechtes Gewissen.«

»Warum?«

»Das weiß ich nicht. Aber sie hatten etwas zu verbergen vor mir, das habe ich gemerkt.«

»Was denn? Was hatten sie zu verbergen?«

Madörin zuckte mit den Achseln.

»Keine Ahnung. Sie haben herumgedruckst, ich habe es genau gesehen. Füglistaller hatte immer noch die Fahne in der Hand, als ich abgehauen bin.«

»Sind sie nicht mit dir weggerannt?«

»Nein. Stebler hat gesagt, sie wollten noch ein bisschen Totenwache halten. Bezahlst du mir den Kaffee?«

[21] Hunkeler dachte an den Dachs, der im Schnee gelegen hatte. An das Blut um die Schnauze, das den Schnee geschmolzen hatte. War das Tier selber auf die Böschung gekrochen, mit letzter Kraft, um sich zu retten? Oder war es vom Fahrer von der Straße geschleppt worden? Hatte er weiterfahren können, so ohne weiteres, nach dem schweren Aufprall?

Wann hatte es überhaupt zu schneien aufgehört an diesem Morgen? Nach drei, als er mit Hedwig heimgetuckert war, war die Luft noch voller Schneeflocken gewesen.

Madörin, der kurz nach acht am Tatort gewesen war, hatte zwei Spuren gesehen, von einer Frau und einem Mann. Sie hatten von Parzelle B26 zum Ausgang geführt. Also hatten die beiden den Garten vermutlich nach drei verlassen. Oder hatte es in der Ebene unten früher aufgehört zu schneien als oben auf der Hohen Straße?

Er erhob sich, ging zum Stammtisch hinüber und setzte sich auf einen freien Stuhl.

»Darf ich?«

»Aber selbstverständlich, Herr Hunkeler«, sagte der Glatzkopf, »wir kennen uns ja.«

»Ach so?«

»Ich bin doch Ihr Nachbar. Ich wohne auch an der Mittleren Straße. Ich sehe Sie jeweils, wenn Sie zum Joggen in den Kannenfeldpark gehen. Mein Name ist Cattaneo, Ettore Cattaneo.«

»Ach so, ich erinnere mich. Sie haben doch diese kleine, lustige runde Frau, nicht wahr?«

»Nein, die ist tot.«

Ein Schimmer huschte über die Augen des Mannes, ein Nebelschleier, Wasserschleier. Er war gegen achtzig, [22] gedrungen, mit rotem, aufgeschwemmtem Gesicht. Dreitagebart, weiße Stoppeln. Warmes Sporthemd, schwarz-weiß kariert. Wattierte Jacke, schwere Schuhe an den Füßen, das Gummiprofil hatte sich auf dem Parkett nass abgezeichnet. Eine Vibramsohle, ein Bergsteigerprofil.

»Ach so«, sagte Hunkeler, »das tut mir leid.«

»Das ist schon vier Jahre her. Das Leben geht weiter, ich habe mich neu verliebt.«

»Ich gratuliere.«

»Danke, wir kommen gut aus miteinander. Darf ich Ihnen die Herren vorstellen?«

»Gern, wenn Sie gestatten, dass ich mir die Namen notiere.«

Er zog sein Notizheft heraus, das mit den blaukarierten Seiten. Er schaute sich die Herren an. Alte, gezeichnete Männer mit schweren Händen. Zwei trugen einen doppelten Ehering, das waren Witwer. Unrasiert waren sie alle und übernächtigt.

»Warum sitzen Sie hier und liegen nicht im Bett?«, fragte er.

»Beat hat es auf Radio Basilisk gehört«, sagte Cattaneo. »Der hat ein paar angerufen. Schließlich wollen wir wissen, was im Garten läuft.«

»Und die andern?«

»Ein paar haben im Garten übernachtet. Ausnahmsweise, weil Silvester war. Wie ist es überhaupt, wenn man fragen darf, führen Sie die Untersuchung? Oder macht das Paul Wirz aus St-Louis oder dieser Gockel aus Mulhouse? Wie heißt er schon wieder?«

»Bardet«, sagte sein Nachbar, »die Arroganz in Person. [23] Wir sollen uns zur Verfügung halten. Wie lange denn? Wer schaut hier eigentlich zum Rechten?«

»Dieser Anton Flückiger«, sagte Hunkeler, »was war das für einer?«

»Der war einer von uns«, sagte Cattaneo. »Stimmt es, dass sie ihm den Kopf abgerissen haben?«

»Nun mal der Reihe nach«, sagte Hunkeler, »schön langsam bitte.«

Er nahm einen Stift und notierte, was er hörte.

Werner Siegrist, Schreibwarenhändler am Blumenrain, Präsident des Vereins Stadtgärten-West. Der, der gefragt hatte, wer hier zum Rechten schaue. Dichtes, weißes Haar. Café crème.

Matthyas Schläpfer, Graphisches Büro, Bachlettenstraße, Vizepräsident, doppelter Ehering. Kaffee Schnaps.

Rudolf Pfeifer, Schreinermeister, Lothringerstraße. Doppelter Ehering. Schwarztee.

Beat Pfister, Antiquariat und Trödel, Hegenheimerstraße. Ehering. Kaffee Schnaps.

Alle in Rente, notierte Hunkeler, brave, gestandene Leute, les petites gens.

»Halt«, sagte er, »ich habe noch etwas vergessen. Was waren Sie von Beruf?«

Ettore Cattaneo, notierte er, Chemikant, Mittlere Straße. Neu verliebt, daher ohne Ring. Kaffee Schnaps.

»Wie ist das?«, fragte Siegrist. »Nützt das, was Sie hier aufschreiben, überhaupt etwas? Wenn Sie doch nicht die Untersuchung leiten?«

»Da die Gärten auf französischem Gebiet liegen«, erklärte Hunkeler, »hat die Gendarmerie St-Louis die Verantwortung. [24] Bei Mord die Police Nationale Judiciaire Mulhouse. Da das Opfer ein Schweizer Bürger ist, wird Mulhouse mit dem Basler Kriminalkommissariat zusammenarbeiten. Dafür gibt es einen Verbindungsmann. Er heißt Pierre Morath, wohnt in Village-Neuf und hat ein Büro im Spiegelhof. Die Police Nationale wird ein Rechtshilfeersuchen stellen. Der Staatsanwalt wird darauf eingehen. Das wird sich alles geben. Übrigens waren es zwei Schweizer Pächter, die den Toten gefunden haben. Füglistaller und Stebler. Hat jemand heute Morgen die beiden gesehen?«

Sie überlegten ziemlich lange. Sie kratzten sich hinterm Ohr, am Hals. Sie nahmen einen Schluck vom Bier, vom Kaffee.

»Hat sie jemand gesehen?«, fragte Schläpfer. »Ich nicht, ich habe sie nicht gesehen.«

Sie schüttelten alle den Kopf, keiner hatte sie gesehen. Hunkeler wartete, er ließ sie schmoren.

»Jetzt habe ich gemeint«, sagte er dann, »ein paar hätten im Garten übernachtet und gemeinsam gefeiert.«

»Hat einer von euch im Garten übernachtet?«, fragte Siegrist.

Nein, es hatte keiner im Garten übernachtet.

»Ich habe gehört«, insistierte Hunkeler, »dass Füglistaller und Stebler ihre Hütten gleich neben B35 haben. Ist das nicht so?«

»Doch, Füglistaller hat B37 und Stebler B39«, sagte Siegrist. »Sie brauchen ja nur auf dem Plan nachzuschauen, dann wissen Sie es.«

»Eben ja. Ich verstehe schon, dass Sie Ihre Kameraden schützen wollen. Aber so geht das nicht.«

[25] »Gut«, sagte Siegrist, »Sie werden es ohnehin erfahren. Füglistaller hat Kaninchen gehalten, obschon das nicht gern gesehen wird. Es ist gestattet, Kleintiere zu halten, wenn der Halter Mitglied eines Kleintiervereins ist. Und das ist er. Beat Pfister hält ja auch Enten.«

»Stimmt«, sagte Pfister, »und die Enten haben es gut bei mir.«

»Füglistaller hat seine Kaninchen so gern gehabt, dass er sie nicht selber gegessen hat. Er hat jeweils zwei aufs Mal geschlachtet. Er hat sie an Fleischerhaken aufgehängt und ihnen das Fell über die Ohren gezogen. Dann hat er sie verschenkt. Das ist gutgegangen bis zum ersten Advent. Oder wann war es?«

»Stimmt nicht«, sagte Pfister, »es war der zweite Advent. Es war schon kalt. Es fiel der erste Schnee. Jedenfalls lagen an jenem Sonntag alle 14Kaninchen tot vor der Hütte. Alle zusammen, es waren schöne Schweizer Schecken, mit weichem Fell. Alle durch einen Schlag ins Genick getötet. Man hätte die Tiere noch ohne weiteres essen können, aber Füglistaller wollte sie nicht hergeben. Er hat alle im Garten begraben. Obschon das ja verboten ist.«

»Das ging schon«, sagte Siegrist, »das Loch war tief genug.«

»Wer könnte die Tiere umgebracht haben?«, fragte Hunkeler.

»Keine Ahnung«, sagte Siegrist.

Hunkeler wartete eine Weile. Dann schloss er sein Notizheft und steckte es in die Tasche. Es war klar, dass hier nichts mehr zu erfahren war.

»Nur etwas noch«, sagte er. »Gibt es etwas wie eine Gartenordnung?«

[26] Siegrist nickte, ohne aufzuschauen.

»Dort, die Wirtin hat eine.«

»Also dann«, sagte Hunkeler fröhlich. »Wir sehen uns bestimmt bald wieder.«

Er ging zur Theke und wollte bezahlen.

»Schon gut«, sagte die Wirtin, »ist schon bezahlt. Hier ist die Familiengartenordnung.«

Sie zeigte auf das Heft, das sie hingelegt hatte.

Die Menschentraube draußen hatte sich vergrößert, die Mordtat hatte sich herumgesprochen. Die Leute schwiegen, als sie ihn kommen sahen. Sie schauten ihn aus bösen Augen an.

»Endlich«, sagte einer, »endlich taucht einer auf von den Basler Tschuggern. Was macht ihr denn, seid ihr eingeschlafen? Meint ihr, wir wollen den Mord den Waggissen überlassen? Das war einer von uns.«

Hunkeler blieb stehen und schaute sich den Mann an. Um die siebzig war er, kräftig gebaut, in grüner Jägerjacke.

»Ich bin hier gewählter Arealwächter. Widmer, Walter heiße ich. Die Pächter haben meinen Anweisungen unbedingt Folge zu leisten. Übrigens ist es verboten, im Garten eine Schusswaffe zu tragen.«

»Klar«, sagte Hunkeler, »im Garten drin ist ja alles verboten, nicht wahr?«

»Wollen Sie mich verarschen, was? Sie Tschugger.«

»Aber nein. Warum denn?«

Er schob den Mann zur Seite und trat zu Haller.

[27] »War der dicke Hauser da?«

»Nein, bis jetzt noch nicht.«

»Wenn du Verstärkung brauchst, ruf an. Es müssen einige auf Streife sein.«

»Ich habe schon mehrmals angerufen. Sie haben alle gearbeitet bis in den Morgen hinein.« Haller klopfte umständlich die Pfeife aus. »Was meinst du, wie viele Leute würde es brauchen, um den ganzen Garten abzuriegeln? Zwanzig oder dreißig?«

»Aber den dicken Hauser lässt du nicht hinein. Diesmal nicht.«

»Wenn er hineinwill, kann er irgendwo über den Zaun klettern.«

Es war heller geworden und merklich wärmer. Im Westen hing dunkles Gewölk. Links der Betonturm des Kieswerks, weiter nördlich das dunkle Band der Vogesen. Rechts durch den Hag sah man die Grabsteine des jüdischen Friedhofs, dahinter den Kamin der Kehrichtsverbrennung. Dahinter die langgezogenen Berge des Schwarzwaldes, die seltsamerweise in der Sonne lagen. Föhn wohl, oder war es der warme Westwind, der vom Meer her kam?

Hunkeler ging durch die Roggenburgerstraße. Links und rechts standen Mietshäuser, fünfstöckig, mit hellen Wohnungen und Spielplätzen. Schaukel, Rutschbahn, Sandgrube, der übliche Kram. Er hatte eine Zeitlang auch in einer solchen Wohnung gelebt, drüben an der Markircherstraße, mit Frau und Tochter. Isabelle hieß sie, er hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen.

Der Himmel hatte sich verfinstert, die dunklen Wolken schoben sich über die Stadt. Plötzlich fiel Schnee, nicht sanft [28] und leise, es waren keine schaukelnden Flocken. Graupelschauer nennt man das wohl, dachte er, es rieselt. Er zog die Kapuze über den Kopf.

Vorn neben der Kurve stand die Baracke des Robinsonspielplatzes. Da war er ein paar Mal hingegangen, zusammen mit seiner Tochter. Vor Jahren war es gewesen, oder hatte er es nur geträumt? Jetzt, an diesem Neujahrsmorgen, schien die Baracke leer zu sein. Daneben lag der Raum der Cannibal Frost, einer Heavy-Metal-Band, die man auf dem Kriminalkommissariat zur Genüge kannte. Ruhestörung noch und noch. Die Mieter der umliegenden Wohnungen hatten es durchgesetzt, dass die Band nur bis 22Uhr spielen durfte. Aber dann wollte diese erst anfangen. Jede Menge Sachbeschädigungen, wenn im Viertel etwas kaputtging oder gestohlen wurde, waren es die Cannibals gewesen.

Hunkeler kannte die Band ein bisschen. Die Burschen gefielen ihm nicht schlecht. Nur fand er ihre Musik zu laut. Jetzt schien der Raum leer zu sein, es war kein Licht zu sehen. Vielleicht lag es auch am Graupelschauer. Es trommelte herunter, dass man keine zwanzig Meter weit sah.

Als er die Hegenheimerstraße Richtung Wirtschaft Luzernerring überquerte, raste ein Kleinwagen heran. Er rettete sich mit einem Sprung aufs Trottoir. Das war der dicke Hauser gewesen, die schnellste Kamera Basels. Er war unterwegs für die Zürcher Boulevardzeitung.