Hunkeler und die goldene Hand - Hansjörg Schneider - E-Book

Hunkeler und die goldene Hand E-Book

Hansjörg Schneider

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Beschreibung

Peter Hunkeler liegt im Außenbecken des Solebads in Rheinfelden und kuriert sein Rückenleiden, als die Leiche eines Kunsthändlers aus Basel vorübertreibt. Der Kommissär beginnt zu ermitteln und taucht ein in die Welt des illegalen Kunsthandels, in der Erfolg und Verbrechen kein Widerspruch sind. Die Spur führt ihn schließlich zur sagenumwobenen goldenen Hand Rudolfs von Rheinfelden, für die sich einige Leute zu interessieren scheinen "

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Seitenzahl: 254

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Hansjörg Schneider

Hunkeler unddie goldene Hand

Der siebte Fall

Roman

Die Erstausgabe erschien

2008 im Ammann Verlag, Zürich

Umschlagfoto von Michael Fritscher (Ausschnitt)

Copyright © Zoonar/Michael Fritscher

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24237 2 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60296 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Peter Hunkeler, Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, ehemaliger Familienvater, jetzt geschieden, lag im Solebad des Hotels Marina in Rheinfelden/Schweiz und hatte eine Depression. Er lag im Außenbecken an der Massagedüse vier, die ihm warmes Salzwasser gegen die Lendenwirbel spritzte, heraufgepumpt aus tausend Metern Tiefe, wo früher der Meeresboden gelegen hatte.

Hunkeler versuchte, ans Meer zu denken. An sich brechende Wogen, an ihr Ausrollen auf Kies oder Sand, an den Geruch von Tang. Es gelang ihm nicht, es roch nicht nach Meer hier, sondern nach Solebad.

Rechts von ihm, und das ärgerte ihn besonders, suhlten sich zwei alte Frauen, direkt vor Düse fünf. Schon gut zehn Minuten lagen sie dort, ohne Anstalten zu treffen, sich weiter zu Düse sechs bewegen zu wollen, wie man eigentlich hätte erwarten dürfen. Niemand hatte das Recht, eine Düse für längere Zeit zu blockieren. Es gab noch andere Kunden hier, die es vielleicht gerade auf diese Düse fünf abgesehen hatten. Aber darum scherten sich die beiden nicht. Die eine trug eine Badekappe mit roten Blumen, die andere eine mit blauen Schuppen. Lächerlich war das. Und natürlich redeten sie einen Dialekt aus dem Badischen. Hotzenwald vielleicht oder Dinkelberg, dachte Hunkeler mit verstecktem Ingrimm. Die schauten genau so aus, als wären sie von den einsamen Höhen jenseits des Rheins extra heruntergekommen, um Düse fünf zu blockieren. Als ob es drüben keine Heilquellen gegeben hätte.

[6] Draußen in der Mitte des Bassins crawlte ein junger Mann, von links nach rechts, dann wieder von rechts nach links. Er hatte ein beachtliches Tempo drauf, das musste man anerkennen. Am linken Oberschenkel trug er ein Tauchermesser. Auf seinen Oberarmen waren Tätowierungen zu sehen, irgendetwas Vogelartiges. Gut, der musste sich austoben. Aber musste das unbedingt hier sein, in diesem Reservat für ältere Menschen, die der Ruhe bedurften?

Hunkeler beschloss zu handeln. Er stellte die Fußsohlen hinten gegen die Bassinwand, holte Luft und stieß sich ab. Tauchend gedachte er, die beiden Hotzenwälderinnen zu umschwimmen. Da fuhr ihm der Schmerz in den Rücken, wie immer genau über den Lendenwirbeln. Fast hätte er geschrien, aber das ging nicht gut unter Wasser. Er tauchte auf und atmete durch.

»Geht’s Ihnen nicht gut?«, fragte die mit den roten Blumen auf dem Kopf. »Können wir helfen?«

»Danke Madame«, sagte Hunkeler hart und knapp, »es geht immer noch.«

Langsam ruderte er sich Richtung Düse sechs, steif wie ein Brett, sorgsam darauf achtend, dass er den Rücken nicht bewegte. Nur keine Schwäche zeigen, vor den beiden alten Frauen schon gar nicht. Er erreichte Düse sechs, hielt sich an der Querstange fest und versuchte, ruhig zu atmen.

Es war der 13.August, ein für die Jahreszeit kühler Montagmorgen, kurz nach neun. Das warme Wasser des Solebads dampfte. Nebel trieb vorbei, ein Vorbote des nahen [7] Herbstes. Ein verregneter Sommer war es gewesen. Erst ein brütend heißer Juni, dass man es in Basel kaum mehr aushielt. Dann Kälte und Regen. Eines Morgens auf dem Vita Parcours, als er sich an einer Reckstange hatte hochziehen wollen, der plötzliche Schmerz. Seither war er krankgeschrieben, abkommandiert zur Kur auf Kosten der Krankenkasse, bis auf weiteres. Was das hieß, war Hunkeler sofort klar gewesen. Man wollte ihn abschieben, direkt in die Rente.

Er gehörte also zum alten Eisen. Zu den alten Knackern, die sich in der Umkleidekabine kaum mehr selber umziehen konnten. Zu den unförmigen Leibern, die ängstlich zur Dusche tappten. Zu den Hinkebeinen, die es nur noch mit Mühe ins Schwimmbecken schafften. Und seine Gespielinnen würden fortan alte Hotzenwälderinnen mit Blumen und Schuppen auf dem Kopf sein.

Zum Glück hatte er Hedwig, dachte er. Aber hatte er sie tatsächlich? Sie war nicht an seiner Seite, sie war zur Kur in der Schönheitsfarm Helena in Todtnauberg oben auf tausend Metern Höhe, in der frischen Schwarzwaldluft. Bloß die letzte Woche der Ferien, hatte sie gesagt, zur Erholung, bevor der Kindergarten wieder aufmachte. Von was musste sie sich denn erholen? Vielleicht von Hunkeler, von seinen Altersgebrechen, von seinem Altersstarrsinn gar? Aber nein, er war noch immer beweglich, mobil in Körper und Geist. Jedenfalls fühlte er sich so, bis auf den Rücken natürlich. Aber den würde er schon wieder hinkriegen.

Er verließ Düse sechs und stakte hinüber zu einer Stelle, wo er sich hinsetzen konnte. Er lehnte sich zurück und schaute hoch ins Geäst einer Tanne. Dort oben saßen zwei Krähen, reglos, als würden sie nichts sehen und nichts hören. Der [8] junge Crawler tauchte auf aus dem Nebel, er steuerte genau auf Hunkeler zu. Im letzten Moment drehte er ab, schlug an und wendete mit kräftigem Stoß. Er trug Badehosen mit Leopardenmuster, eine Schwimmbrille und im rechten Ohr einen Brillanten.

Hunkeler hasste sich. Was tat er hier, auf was wartete er? Die warme Salzbrühe würde nichts nützen, da war er sich sicher. Sein Rücken war nun einmal kaputt. Die beiden Wirbel, die ihn plagten, hatten zu lange aneinander geschabt, da war kein Knorpel mehr dazwischen.

»Das Rückgrat ist nicht gemacht für den aufrechten Gang«, hatte ihm Dr.Neuenschwander erklärt, nachdem er ihn untersucht hatte. »Es ist im Grunde keine tragende Säule. Eher ist es konstruiert wie eine Hängebrücke, für den Gang auf allen vieren. Wenn es dazu noch einen Bierwanst tragen muss, wie Sie einen haben, nützt es sich ab, bevor Sie sterben. Damit müssen Sie leben.«

Sollte er sich vielleicht auf allen vieren durch Basels Straßen bewegen, als wandelnde Hängebrücke? Woher hatte er überhaupt den Schaden? War nicht die jahrzehntelange Arbeit auf dem Kommissariat schuld daran? Das öde Sitzen auf hartem Stuhl während der Rapporte? Hatten nicht die verschiedenen Neu- und Umstrukturierungen des Kommissariats, die sich folgten wie die Jahreszeiten, an seinem Rückgrat geschabt wie die Feile am Eisen? Wo war sein Charakter, seine Persönlichkeit geblieben? War es überhaupt noch möglich, in dieser leerlaufenden Maschinerie Rückgrat zu zeigen? Er zweifelte daran. Hier wurde mit dem groben Hobel gearbeitet, mit der elektrischen Fräse, die jede Verwachsung, jedes Astloch in Sekundenschnelle wegfraß. Ziel war einzig [9] und allein das gut geölte Laufen der Maschine, die sich Kriminalkommissariat nannte. Die Beamten waren die Rädchen darin. Wenn ein Rädchen nicht mehr einwandfrei funktionierte, wurde es ausgewechselt.

Hunkeler fand sich zum Kotzen. Warum hatte er so lange ausgeharrt in diesem üblen Männerverein? Er hätte den Dienst schon längst quittieren müssen, spätestens dann, als ihm der Schmerz zum ersten Mal so richtig in den Rücken gefahren war. Auswandern in sein Haus im Elsass hätte er sollen. Gurken und Tomaten anpflanzen. Ein paar Schweine halten, ihren Speck und Schinken in die Rauchkammer auf dem Estrich oben hängen. Behutsam Scheite in den Ofen schieben, damit stets ein bisschen Rauch im Kamin war und die Fliegen vertrieb. Ab und zu ein paar Wacholderbeeren in die Glut streuen, damit der Speck den richtigen Geschmack bekam.

Bald war Herbst, dachte er. Bald würden Eicheln und Rosskastanien von den Bäumen fallen, ein gefundenes Fressen für jede Sau. Und Hunkeler beschloss, sein Leben zu ändern.

Er schaute hinüber zu den beiden Frauen. Sie hatten sich noch keinen Meter weiterbewegt. Die eine redete, die andere hörte zu. Vermutlich waren sie bloß hier, um sich ungestört unterhalten zu können.

Rechts, gegen den Kurpark hin, tauchte hin und wieder ein Männerkopf mit rot-weiß gestreifter Badekappe aus dem Nebel auf. Er trug einen dunklen Schnauzbart, er schien zu schlafen. Er bewegte sich auch nicht, als ein alter Mann dicht an ihm vorbeischwamm, das Gesicht im Wasser. Ein geübter Taucher offenbar, der es lange ohne zu atmen aushielt. Seine Badehose schimmerte rot.

[10] Etwas später lag Hunkeler im Ruheraum, geduscht und schamponiert, mit einem vorgewärmten Badetuch um den Leib. Vor sich hatte er die Glasfront aufs Außenbecken hinaus. Im Ohr leise Musik, wie sie in Flughäfen und Pissoirs üblich war, endlos und langweilig wie die Ewigkeit. Im Rücken, dort, wo der Schmerz saß, spürte er den Knick des Liegestuhls, den irgendein Idiot konstruiert hatte, um ein rückenfreundliches Liegen zu garantieren. Davon hielt Hunkeler gar nichts, er hätte sich lieber flach auf den Boden gelegt. Aber das ging wohl nicht in diesem noblen Etablissement.

Nebenan lag ein Dutzend weiterer Badegäste auf den Stühlen, griesgrämig vor sich hin dösend. Auch der junge Crawler war da. Hunkeler hatte beim Hereinkommen genau hingeschaut. Die Vögel auf den Oberarmen waren Adler mit ausgebreiteten Schwingen.

Da hörte er Frauenstimmen kreischen. Sie kamen von draußen, vom Schwimmbecken her. »Um Gottes willen, Hilfe, Hilfe!«

Er war sofort auf den Beinen. Er trat an die Glasfront und schaute hinaus. Er sah die beiden Frauenköpfe vor Düse fünf, rote Blumen und blaue Schuppen, darunter schreckensstarre Gesichter. Ausgestreckte, kräftige Frauenarme, die etwas, das bei ihnen andocken wollte, wegstießen in die Strömung hinein. Es war ein Mann, der auf dem Bauch trieb, den Kopf im Wasser. Rote Badehose, um den Hals ein rötlicher Schimmer.

Hunkeler zögerte nicht und ging hinaus. Er sah den Mann davontreiben, mit seltsam verrenkter Kopfhaltung. Er sah eine Blutspur, er wusste sogleich, dass da eine Leiche im Wasser trieb.

[11] »So helfen Sie doch«, sagte die mit den blauen Schuppen, »tun Sie was, der ist am Ertrinken.«

Er schüttelte den Kopf und schaute hinüber, ob der Mann mit dem Schnauzbart noch dort war. Er war nicht mehr dort.

Da erschien der Crawler am Beckenrand. Er fasste den treibenden Körper ins Auge. Er sprang kopfüber hinein, tauchte bei der Leiche auf, umschlang sie mit beiden Armen. Er stieß einen Schrei aus, eigentümlich und wild. Es standen inzwischen mehrere Menschen am Beckenrand, niemand war im Ruheraum geblieben. Niemand rührte sich, die Szene war zu erschreckend, zu ergreifend. Schweigend sahen sie zu, wie der junge Mann die Leiche zum Ufer trug.

Später saß Hunkeler in der Lobby mit dem schwarzen Klavier. Ein nobler Raum vormals, mit roten Sesseln und Liegebetten, die Fenster gingen auf den Park hinaus. Jenseits der Bahngeleise lag das Städtchen Rheinfelden, dahinter der Dinkelberg. Er war nicht zu sehen, der Nebel hatte ihn eingehüllt. Eine Spur von alter Herrlichkeit war hier zu ahnen, von Kurkonzert und Gigolos.

Er schaute, ob er einen Aschenbecher fand. Es war keiner da, selbstverständlich nicht. Da man der Auto-Abgase nicht Herr wurde, wollte man wenigstens das Rauchen verbieten. Immerhin etwas, und immer gegen die Minderheiten.

Er hatte zwei Sirenen gehört, die der Polizei und das Martinshorn der Ambulanz. Weitere Autos waren vorbeigerollt, sie fuhren ihr ganzes Arsenal auf. Vermutlich war auch das [12] Kriko Basel schon da, Detektivwachtmeister Madörin vielleicht mit Korporal Lüdi und Haller.

Es war eine eigentümliche Leere im Saal, die fast mit Händen zu greifen war. Eine geradezu aufdringliche Stille, bis ein Schnellzug vorbeirollte. Er dachte an den Schrei. Der war gewaltig gewesen, der hatte bestimmt alle im Hotel erschreckt. Was verbarg er, aus welchen Tiefen war er hochgestiegen?

Eine junge Frau brachte ihm den Cappuccino, den er bestellt hatte. Sie war wohl noch keine 18Jahre alt. Offenbar war sie die Einzige, die nicht zum Tatort gerannt war.

»Danke«, sagte er. »Wie heißt du?«

»Irina Hausova«, sagte sie. »Und du?«

»Ach so. Entschuldigen Sie bitte die unpassende Anrede. Sind Sie aus Tschechien?«

»Nein, aus Bratislava.«

Er roch den Kakao, spürte den Milchschaum an den Lippen, schob eine Schmerztablette in den Mund und trank einen Schluck.

Sie blieb neben ihm stehen, verlegen, sie hatte etwas auf dem Herzen.

»Ich habe gehört«, sagte sie, »dass Sie von der Polizei sind. Stimmt das?«

Er betrachtete neugierig das Dekolleté, das sie ihm darbot. Schön war das, ohne Zweifel.

»Ich bin zur Kur hier«, sagte er, »nicht beruflich. Ich habe einen kaputten Rücken.«

Sie versuchte ein Lächeln, sie war wirklich süß.

»Sind Sie von der Fremdenpolizei?«

»Nein, vom Kriminalkommissariat. Warum?«

[13] Sie schaute sich um, ob sie beobachtet wurde.

»Eigentlich bin ich zu jung, um hier arbeiten zu dürfen. Er hat es gemerkt.«

»Wer hat es gemerkt?«

»Der Chef, Dr.Neuenschwander. Er hat mir gedroht, mich zurückzuschicken. Aber ich gehe nicht zurück. Hier, ich habe etwas für Sie.«

Sie nestelte an ihrem Kleid herum und holte eine Tube hervor. Es war Mastix, ein Leim, mit dem man sich falsche Bärte ankleben konnte. Die Tube war nur noch zur Hälfte voll.

»Woher haben Sie das?«, fragte er, plötzlich hellwach.

Sie errötete leicht. Sie flüsterte.

»Aus der hinteren Toilette im Bad. Die Tube lag am Boden. Ich habe sie aufgehoben. Ich weiß nicht, was drin ist.«

»Und was machen Sie auf der Toilette im Bad?«, fragte er streng.

»Ich habe geraucht.«

Ihr Gesicht war jetzt rot angelaufen. Eine schnelle, überraschende Veränderung, die ihn faszinierte.

»Rauchen ist strengstens verboten«, sagte sie. »Wenn es rauskommt, werde ich gefeuert.«

Sie versuchte, noch einmal zu lächeln. Dann verschwand sie nach hinten.

Hunkeler erhob sich und ging nach draußen. Er traf auf den dicken Hauser, die schnellste Kamera Basels, der vor seinem gelben Kastenwagen stand.

»Verdammte Scheiße, der Nebel«, sagte Hauser, »wie soll ich da arbeiten? Weißt du etwas?«

»Nein. Außer, dass du hier nicht fotografieren darfst.«

[14] »Ich bin ja schon wieder weg. Du weißt etwas, gell? War es Rebsamen?«

»Wer ist Rebsamen?«

Hauser grinste. Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. Er schwitzte immer, wenn er fotografierte.

»Ach komm, Hunki, verkauf mich nicht für blöd. Roger Ris, der reiche Basler Kunsthändler aus besten Kreisen, von seinem Bubi erdolcht. Eine richtig geile Geschichte. Nur leider stimmt sie nicht.«

Er packte seine Gerätschaft in den Wagen.

»Valentin Burckhardt war auch da, habe ich gehört. Stimmt doch, oder? Du brauchst nichts zu sagen, ich weiß es auch so. Ein bisschen viel Geld war da zusammen, findest du nicht? Und ein Tscheche sei auch dabeigewesen. Der sei verduftet, einfach so. Da steckt doch etwas dahinter. Aber was?«

Er wartete, ob Hunkeler etwas sagte. Aber der sagte nichts.

»Gut, meinetwegen. Wir sehen uns. Bis bald.«

Er stieg in sein Auto und fuhr davon.

Hunkeler setzte sich an ein Tischchen unter den Bäumen. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute zum Schwimmbecken hinüber, wo sich die Polizei zu schaffen machte. Die Leiche lag auf einer Bahre. Der Notarzt unterhielt sich mit Dr.Neuenschwander. Der junge Crawler trug Handschellen, und zwar auf dem Rücken. Der übliche Schwachsinn, dachte Hunkeler. Aber was sollten die Männer auch anderes tun?

Korporal Leimgruber von der Regionalpolizei Unteres Fricktal kam herüber. Er holte eine Rolle aus einem der [15] Wagen, um das Areal abzusperren. Reichlich spät, dachte Hunkeler, es standen an die dreißig Gaffer herum.

»Du hier?«, fragte Leimgruber. »Was tust denn du hier?«

»Kuren«, sagte Hunkeler, »wegen des Rückens.«

»Daraus wird nichts. Wir müssen die Schwimmbecken leeren, innen und außen. Aber erst, wenn die Taucher alles abgesucht haben.«

Er schaute sich um, kam dann näher heran.

»Erdrosselt«, sagte er, »mit einem Stahlkabel oder Ähnlichem. Das sieht man auf den ersten Blick. Die Gurgel ist aufgerissen, der Nacken ist entzwei. Er hat geblutet wie ein Schwein. Ich habe ihm eine verpasst, direkt in die Fresse.«

»Wem?«

»Der jungen Schwuchtel natürlich. Ich habe ja nichts gegen Schwule. Aber sie sollen uns bitte nicht das Bad versauen. Es war Notwehr, er hat sich widersetzt.«

Leimgruber holte einen Stumpen hervor und steckte ihn umständlich in Brand.

»Er ist ein Kunsthändler aus Basel«, sagte er, »alt, reich und schwul. Eine angesehene Persönlichkeit offenbar, Dr.Neuenschwander hat ihn gekannt. Das ist ein Skandal. Wir sind angewiesen auf die reichen Basler.«

»Ich habe damit nichts zu tun. Es ist ein Fall für die Aargauische Kantonspolizei. Für Polizei-Hauptmann Mauch, nehme ich an.«

»Aber er hat in Basel gewohnt. Also geht es auch die Kripo Basel etwas an. Er heißt übrigens Roger Ris.«

»Tut mir leid, ich bin krankgeschrieben.«

Leimgruber schaute ihn böse an und tippte ein bisschen Asche auf den Boden.

[16] »Das darfst du nicht«, sagte Hunkeler, »das ganze Arsenal gehört zum Tatort.«

»Hau ab«, sagte Leimgruber, »verschwinde.«

Hunkeler schaltete sein Handy aus und ging nach hinten zum Parkplatz, wo eine Menge Polizeifahrzeuge standen. Er setzte sich in sein Auto und wollte losfahren. Ein junger Mann hielt ihn an, er war von der aargauischen Kantonspolizei.

»Niemand verlässt den Tatort, bevor wir es erlauben. Wer sind Sie?«

Hunkeler holte seinen Ausweis hervor.

»Und was suchen Sie hier?«, fragte der junge Kerl. »Wir sind hier im Aargau und nicht in Basel.«

»Ich weiß. Deshalb fahre ich ja weg. Wenn Sie die Güte hätten, mich durchzulassen.«

Weiter vorn sah er seine Kollegen Lüdi, Madörin und Haller neben ihrem Wagen stehen. Sie hatten in einer Rosenrabatte geparkt. Typisch Madörin, der kannte nichts, der wäre wohl am liebsten ins Schwimmbecken hineingefahren.

Er steuerte langsam das Bahngeleise entlang, dann durch das Areal der Brauerei. Er kam auf die Straße Richtung Magden. Im Nebel erkannte er eine Panzersperre aus dem Zweiten Weltkrieg, tonnenschwere Betonblöcke, von Büschen überwuchert. In Magden wurde es hell, man sah den blauen Himmel. Ein typisches Juradorf. Jahrhundertealte Gehöfte aus Kalkstein, Scheunentor, Stall, Wohnhaus. Er fuhr langsam, grinste fröhlich. Endlich der Knochenmühle [17] entkommen, keine Spurensicherung mehr, keine provisorische Befragung, kein Kompetenzgerangel mit den Aargauer Kollegen. Er schob sich zwei Schmerztabletten in den Mund, kaute sie, würgte sie hinunter.

Ein sanft geschwungenes Juratal. In der Niederung Wiesen und Maisfelder, ein schmaler Flusslauf mit Eschen und Erlen, darüber Wald. Als er die Grenze zum Baselland passierte, steckte er sich eine an. Er blies den Rauch in den Fahrtwind hinaus, aus voller Lunge. Er bog ab Richtung Farnsburg.

Er war allein auf der schmalen Straße, rollte an feuchten Schattenwiesen vorbei, in denen Bäume standen mit grünen, harten Äpfeln. Ein Waldrand mit Farnen und Brennnesseln, ein verlassener Steinbruch mit einem verrosteten Traktor. Ein Bauernhaus mit Biberschwanzziegeln und Scheiterbeige neben dem Eingang. Es war bewohnt, Rauch kam aus dem Kamin.

Dann stieg der Weg an. Er fuhr im zweiten Gang und schaute zu, wie sich die Landschaft öffnete. Weite Weidewiesen mit einzelnen Wettertannen. Kuhherden mit Glocken, das Gebimmel war durchs offene Seitenfenster zu hören. Ein Hof mit Nussbaum und neuem Schweinestall. Zwei Mädchen im Sonnenlicht mit Puppen im Arm. Ein Sennenhund rannte heran und kläffte.

Oben auf der Buuser Egg parkte er. Er holte die Wanderschuhe aus dem Kofferraum und zog sie an. Gutes, altes Schuhwerk, darauf war Verlass. Er ging über eine Wiese. Er hob einen Apfel auf und biss hinein, doch der war hart wie Stein. Eine Renette vielleicht, sie würde erst Ende September reifen. Er warf sie weit in die Weide hinein.

[18] Er folgte der Krete, die sich flach gegen Westen hinzog. Im Halbkreis gegen Süden lagen die Hügel im Sonnenlicht, teils von Wald bestanden, teils frei, besetzt von einzelnen Höfen. Fern am Horizont ahnte er die Schneeberge. Zu sehen waren sie nicht, der Herbstdunst verbarg sie.

Wie früher, fiel ihm ein. Wie in der leibhaftigen Jugend, als er mit einem Mädchen über Jurahöhen gegangen war, bis hin zu einer Stelle, wo sie sich umarmten und von der Sonne bescheinen ließen. Fast fünfzig Jahre waren seither vergangen, und noch immer lagen die Höhen im Licht.

Weiter vorn stieg das Gelände an. Er keuchte, er spürte sein Herz hämmern. Er folgte dem Pfad, den die Kühe getreten hatten, rechts die Flanke entlang, die sich ins Tal senkte. Er sah Silberdisteln, mehrere Fliegenpilze, die unglaublich rot aufglänzten. Er beschloss zu gehen, bis er an ein Ziel kam, das er nicht kannte.

Vorne am Waldrand sah er eine kleine Herde. Sie stand ruhig, als ob sie Ausschau gehalten hätte. Sie war von einem unerwartet kräftigen Braun. Kurze, gedrungene Körper, dichtes Fell auf dem Rist. Links von der Gruppe ein mächtiger Schädel, das musste der Stier sein.

Hunkeler blieb stehen und schaute hinüber, mehrere Sekunden lang, vielleicht waren es Minuten. Kein Mensch war zu sehen, kein Auto. Unten im Wald heulte eine Motorsäge auf, erstarb und begann aufs Neue zu heulen.

Dann setzte sich die Herde in Bewegung. Überraschend, aus dem Stand heraus. Nicht die einzelnen Tiere, sondern gemeinsam, als würde ein kompaktes Lebewesen losrennen.

Er bewegte sich noch immer nicht. Er blieb stehen und schaute zu, was geschah. Kräftige Schädel, sich hebend, sich [19] senkend. Wilde Augen, böse, wie es schien. Schlanke Läufe, die Riste sich wiegend wie Dünung im Meer. Er hörte das Trommeln der Hufe, sah vorne die Leitkuh, dahinter Rinder, links außen den Stier.

Sie rannten direkt auf ihn zu, als wollten sie ihn überrollen.

Dann waren sie vorbei. Es waren neun Stück, er roch ihren scharfen Geruch. Die Hinterteile erstaunlich schlank, Leib an Leib, als hätte sie nichts trennen, nichts aufhalten können. Weiter unten rissen sie einen Weidezaun mit, die Pfähle wirbelten durch die Luft. Sie rannten über die ganze Krete, bis sie jenseits der Straße in einem Waldstück verschwanden.

Wieder heulte die Motorsäge auf, sehr schrill diesmal, das ging durch Mark und Bein. Dann erstarb sie ganz, es war Stille.

Er merkte, wie seine Knie zitterten. Er wollte es erst nicht wahrhaben, er senkte den Kopf und schaute nach, ob es so war. Tatsächlich, er stand auf schlotternden Beinen. Es zitterten auch seine Hände, es vibrierte sein ganzer Körper, sein Bauch, sein Rücken. Es war nichts zu machen dagegen, es musste so sein. Langsam, als ob etwas hätte zerbrechen können, ging er in die Hocke und setzte sich hin. Er musterte seine Umgebung. Einzelne Steine lagen auf dem Pfad, gelbliche Kalkbrocken, rötliche Erde. Ein gelbgestreifter Käfer kroch darüber, schön anzuschauen. Daneben allerlei Gräser, winzige Blumen von einem matten Blau. Etwas entfernt die Reste einer Heckenrose mit Hagebutten. Die waren von einem unwirklichen Orange. Er schaute in den Himmel hinauf und sah einen Jet gegen Osten ziehen, lautlos, [20] von der Sonne beschienen. Er schaute ziemlich lange hinauf, bis er den fernen Vogel aus den Augen verlor. Dann rollte er sich zusammen und schlief ein.

Eine Stunde nach Mittag war er wieder bei seinem Auto. Es war ihm kalt, er musste sich beim Schlafen in der Wiese verkühlt haben. Es war ihm, als wäre er ein anderer geworden. Irgendetwas hatte sich verschoben, irgendetwas hatte sich in die Wirklichkeit hineingedrängt.

Er fuhr nach Westen über die Krete Richtung Farnsburg. Drüben lag die Stelle, wo er geschlafen hatte. Zwei Frauen kamen ihm entgegen, mit langen Stöcken. Dann Obstbäume eines Baumgartens, Kälber in der Wiese, Schweine im Auslauf. Rechts oben drei gedrungene, tiefbraune Rinder.

Es war ein mächtiger Hof mit Ställen, Scheune und Schuppen. Daneben der Landgasthof Farnsburg. Eine Linde stand in der Hofstatt, mit einem Durchmesser von fast drei Metern. Er sah, dass sie hohl war. Man hätte hineinschlüpfen können, es gab eine größere Öffnung. Er fragte sich, ob er das tun sollte, er zögerte. Vermutlich war das etwas für Kinder.

»Das ist eine Wunschlinde«, sagte eine Stimme, als er ausgestiegen war. Es war eine Frau in roten Stiefeln. Verwaschene Jeans, helle Bluse, wirres, rötliches Haar.

»Ach so«, sagte Hunkeler. »Guten Tag. Darf man wünschen?«

Sie nickte fröhlich, sie führte gern ein Gespräch.

»Am besten kriechen Sie gleich hinein, legen beide Hände [21] gegen das Holz und sprechen Ihren Wunsch aus. Aber bitte leise, dass es niemand hört. Dann wird er erfüllt.«

Sie hatte graugrüne Augen, sie war um die vierzig.

»Nein«, sagte Hunkeler, »ich wünsche nicht. Ich wüsste nicht, was.«

»Vielleicht gute Gesundheit?«

Er überlegte, ob er sich Gesundheit wünschen sollte. Er fasste sich an den Rücken, dorthin, wo der Schmerz gesessen hatte. Dort war etwas geschehen, er spürte es deutlich.

Er bückte sich und kroch in den Baum hinein. Er sah dunkles, abgestorbenes Holz, das an einigen Stellen blankgescheuert war. Einzelne Buchstaben waren hineingeschnitten, vor Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten musste das geschehen sein. Einige waren kaum mehr lesbar. Ganze Namen, Vreni, Anita, Uli. Mehrere Herzen, Zeugnisse der Sehnsucht nach Liebe.

Zwei Buchstaben fielen ihm auf, die neu waren. Er sah es am hellen Holz. LR. Daneben ein Kreis mit fünf Strichen dran. Es war nicht zu erkennen, was diese Figur bedeuten sollte.

Er kroch wieder heraus und stützte eine Hand in den Rücken. Es wäre nicht nötig gewesen, es war kein Schmerz mehr da.

»Und?«, fragte die Frau.

»Ich glaube, es hat schon gewirkt. Gibt es hier in der Gegend eigentlich Bisons?«

»Ja natürlich. Wir hatten zwölf Stück. Vor einer Woche hat jemand das Gatter eingerissen. Vielleicht waren es die Tiere selbst, wir wissen es nicht genau. Neun sind auf und davon, samt dem Big Boss. Das ist der Stier. Wir haben versucht, sie [22] einzufangen. Die Jäger haben geholfen. Aber das geht nicht, es sind wilde Tiere. Wahrscheinlich müssen wir sie erschießen.«

»Sie sind an mir vorbeigerannt«, sagte er, »so nahe, dass ich sie hätte berühren können.«

»Wo war das?«

»Da vorn, Richtung Buuser Egg. Kurz vor Mittag. Ich habe nachher am ganzen Körper gezittert.«

»Das verstehe ich gut. Die meisten Menschen fürchten sich vor ihnen. Weil man merkt, dass es Wildtiere sind. Obschon sie noch niemanden angegriffen haben. Das würden sie nie tun. Außer man stellt sich ihnen in den Weg.«

Sie holte ein Handy hervor, wählte eine Nummer.

»Hör mal, Walter. Da ist ein Mann, der hat die Bisons gesehen. Vor zwei Stunden, auf der Buuser Egg. Ja, er wartet.«

Sie versorgte das Handy wieder.

»Bleiben Sie hier. Der Bauer kommt gleich. Er will wissen, wo sie sind. Er ist selber Jäger. Vielleicht muss er sie tatsächlich erschießen.«

»Das wäre schade. Eine Bisonherde, die über den Jura prescht, wie schön. Und hintendrein die Indianer.«

»Sagen Sie das nicht. Die Indianer jagen keine Bisons mehr. Sie hocken in Spielsalons, kassieren und verblöden.«

»Hier oben nicht«, widersprach er. »Hier oben reitet der Sioux auf edlem Mustang über die Höhen der aufgehenden Sonne entgegen. Ist es nicht so?«

Sie lächelte ein bisschen, sie unterdrückte es gleich wieder.

»Ach hören Sie auf. Sie heißen nicht Sioux, sie heißen Lakota.«

»Was tragen Sie eigentlich am Hals?«, fragte er und zeigte [23] auf das Amulett, das sie an einer Lederschnur um den Hals trug. Es sah aus wie ein abgeschnittener Finger.

»Das geht Sie nichts an.«

Sie wandte sich ab und ging Richtung Stall. Dann kam sie noch einmal zurück.

»Was wollen Sie hier oben? Wer sind Sie überhaupt?«

»Hunkeler Peter«, sagte er, »Alt-Kommissär aus Basel. Ich suche Linderung meiner Rückenschmerzen. Ich glaube fast, eine Bisonherde hat sie weggetrommelt.«

»Das ist gut möglich«, sagte sie und ging weg.

Er trat an den Rand der Hofstatt, wo man weit nach Süden sah. Knapp über dem Dunst glänzten ein paar weiße Gipfel der Alpen. Oder waren es die Rocky Mountains?

Er drehte sich um und sah vor sich einen kleinen, feingliedrigen Mann stehen, der überhaupt nicht wie ein Bauer aussah.

»Leutwiller Walter«, sagte er. »Sie haben die Bisons gesehen?«

»Ja. Ich bin von der Buuser Egg aus nach Westen über die Krete gegangen. Sie sind direkt auf mich zugerannt. Sie haben mich fast gestreift. Sie sind im Wald jenseits der Straße verschwunden.«

Ein Flackern war in den Augen des Bauern, nur kurz. Aber Hunkeler sah es.

»Wer hat denn das Gatter aufgemacht?«, fragte er.

»Was weiß ich? Es gibt viele, die dagegen sind, dass hier oben Bisons leben. Sie wollen, dass ich Milchwirtschaft betreibe. Aber wie soll ich im Winter die Kühe durchfüttern? Die Bisons können im Winter draußen bleiben. Außerdem sind sie schön.«

[24] »Stimmt. Wenn man von ihnen nicht gerade über den Haufen gerannt wird.«

»Sie haben noch niemanden über den Haufen gerannt. Sind Sie von der Presse?«

»Nein, ich bin ein ausgedienter Kommissär aus Basel. Aber ich ermittle nicht.«

»Bloß aus Neugier?«

»Bloß aus Neugier. Großes indianisches Ehrenwort.«

»Hören Sie auf. Ich habe genug von dem Zeug.«

»Was für Zeug? Haben Sie eine Ahnung, wer das Gatter geöffnet haben könnte? Indianer vielleicht? Wie heißt übrigens die Dame mit dem abgeschnittenen Finger am Hals?«

»Die heißt Angela Bruggisser. Die ist schon recht. Nein, da habe ich eine andere Vermutung. Gegen Bisons auf meinem eigenen Grund und Boden kann man nichts unternehmen. Gegen wild herumziehende Bisons schon. Aber ich will niemanden zu Unrecht verdächtigen. Deshalb sage ich nichts.«

Hunkeler ging zum Landgasthof hinüber und setzte sich an einen Tisch auf der Terrasse. Ein wunderschöner Ort, windgeschützt, von der Sonne beschienen. Er schaute zur Linde zurück, auf ihren mächtigen Stamm, über den sich eine erstaunlich kleine Laubkrone wölbte. Er fragte sich, wie so ein Baum funktionierte, wie er die Jahrhunderte überstand. Der lebte in seinen Rändern, schob sich nach außen Jahr für Jahr. Was innen war, seine Geschichte und Erinnerungen, ließ er in sich zusammenfallen. So hatte er es geschafft, die lange Zeit seines Daseins zu überstehen.

[25] Und er selber, wie hatte er es geschafft? Er kam sich innen nicht hohl vor. Auch waren seine Erinnerungen nicht in sich zusammengefallen. Im Gegenteil, sie rumorten in ihm, sie meldeten sich immer mehr zu Wort, je älter er wurde. Vielleicht war das der Unterschied zwischen ihm und dem Baum. In Hunkeler konnte niemand hineinkriechen und sich etwas wünschen. Er bestand selber aus Wünschen. Jedenfalls war es lange Jahre so gewesen. Vielleicht war es ein Zeichen des Alters, dass das Wünschen aufhörte.

Er war herbstlich gestimmt, ein bisschen melancholisch halt. Das passte gut zur Landschaft hier oben, dachte er. Er schaute zu den Schweinen hinüber, die sich in einer Wiese suhlten. Ob die auch Rosskastanien fraßen? Er würde es herausfinden.

Er musste geschlafen haben. Jedenfalls wusste er nicht, wo er war, als er erwachte. Ein junger Mann in roter Radfahrermontur stand vor ihm. Der hatte ihn geweckt. Er war hochaufgeschossen, sein Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Auf der Oberlippe war eine kleine Hasenscharte zu erkennen.

»Ach so«, sagte Hunkeler, »Entschuldigung. Ich muss eingeschlafen sein.«

»Macht nichts«, sagte der Mann, »hier können Sie schlafen, so lange Sie wollen. Heute haben wir Wirtesonntag, und morgen auch. Ich bin übrigens Ali Grieshaber.«

»Hunkeler Peter. Die Schweine dort drüben, fressen die auch Rosskastanien?«

[26] »Die fressen alles, was von den Bäumen fällt. Die verdauen alles, die haben einen Saumagen.«

Er öffnete das Schloss eines roten Fahrrades, das an der Mauer lehnte.

»Halt, nicht so schnell, junger Mann«, sagte Hunkeler. »Wir wär’s mit Speck und Brot? Und einem Zweier Buuser? Und wenn Sie eine Zeitung aus der Gegend haben, hätte ich nichts dagegen.«

»Sie sind nicht schlecht. Aber der Ali macht alles, den Ali kann man schicken, auch am Wirtesonntag.«

Er ging hinein und holte das Gewünschte. Nachdem er kassiert hatte, setzte er sich aufs Bike und spurtete den Wanderweg hinauf.

Hunkeler schnitt sich den Speck zurecht und aß. Herrlich. Er trank einen Schluck Buuser. Himmlisch. Er liebte den hiesigen Landwein über alles.

Er griff zur Zeitung, es war die Basellandschaftliche.