Hüterin der Schwäne - Julia Lalena Stöcken - E-Book

Hüterin der Schwäne E-Book

Julia Lalena Stöcken

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Beschreibung

Wales, im Jahr 547 nach Christus Adwen, die Tochter des Fürsten Madoc, lebt behütet auf dessen Festung Caer Eog– bis unerwartet ihre Mutter stirbt und ihr Vater nur knapp einem Mordanschlag entgeht. Während der Täter auf seine Hinrichtung wartet, enttarnt er Adwens ganzes bisheriges Leben als Lüge. Als Madoc handgreiflich wird, sucht sie ihr Heil in der Flucht. Sie trifft auf den düsteren Kynan, den ein großes Geheimnis umgibt, das mit Adwens wahrer Herkunft verknüpft zu sein scheint. Bald zeigt sich, dass Hexen mehr sind als nur Schauergeschichten und Flüche wahrhaftig existieren. Gemeinsam mit Kynan stellt sich Adwen dem Kampf, von dem nicht nur ihrer beider Leben abhängen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

 

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2025 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Auflage (Februar 2025)

Coverdesign: Kuneli Verlag

ISBN Epub: 978-3-948194-49-9

www.kuneli-verlag.de

Die Autorin

Julia Lalena Stöcken ist fasziniert von Mythologie und überlieferter Vergangenheit, deshalb verwebt sie in ihren Geschichten düstere Epochen mit fantastischen Elementen. Moralisch graue Charaktere sind ihr die liebsten.

Neben Romanen schreibt Julia auch Kurzgeschichten.

Sie lebt mit ihrer Familie bei Lüneburg.

Mehr über die Autorin und ihre Werke:

julia-lalena-stoecken.jimdofree.com

www.facebook.com/JuliaLalenaStoecken

www.instagram.com/julia.lalena.stoecken

Hüterin der Schwäne

Gwarcheidwad Yr Elyrch

 

 

Julia Lalena Stöcken

 

 

 

 

 

 

 

Kuneli Verlag

 

 

 

 

Für meinen Vater

Prolog

Getreidegarben, Blumensträuße und Körbe mit Nüssen und Äpfeln schmückten den Altar, um den sich nicht nur die Bewohner der Festung, sondern auch die des Dorfes drängten. Nacheinander traten Mädchen und Jungen vor, um eine Opfergabe zum Erntefest niederzulegen. Der Priester daneben nickte bei jeder versonnen. Die Gebete hatten ihren Zweck erfüllt, die Vorratsspeicher waren voll. In diesem Winter würde niemand auf Caer Eog hungern. Die hölzerne Befestigungsanlage lag im Südosten des Königreiches Gwynedd, weit genug von der Küste entfernt, um den Überfällen der Iren zu entgehen, und von fruchtbarem Land umgeben. Der Kriegsfürst, der es erobert hatte, wusste, wie es zu halten war.

Sonnenstrahlen wärmten Branwens Gesicht, vermochten jedoch nicht die Kälte dieses Gedankens zu mildern.

Plötzlich berührte etwas die Herrin von Caer Eog am Ärmel und sie bemerkte ihre Dienerin neben sich, die höflich den Kopf senkte. »Melyn, was gibt es?«

Die Frau sah auf und vollführte eine Abfolge verschiedener Gesten. Sie war stumm, aber nicht taub.

Branwen nickte. »Ich sehe später nach. Hab Dank, meine Freundin.«

Die Dienerin verneigte sich noch einmal und verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war.

Ihr wurde das Herz schwer. Gute Melyn – sie war das Einzige, was Branwen außer Erinnerungen geblieben war. Nie hatte die Dienerin ihr einen Vorwurf gemacht.

Auch in ihrer Heimat fand gerade das Erntefest Gŵyl Awst statt. Sie erinnerte sich an die Tänze der Jugend und an das Lächeln in den Augen ihres Mannes. Damals hatte er sie zum ersten Mal bei der Hand genommen und damit war ihr gemeinsames Schicksal besiegelt gewesen. Sehnsucht dehnte schmerzhaft ihren Brustkorb.

Hastig richtete Branwen den Blick wieder auf den Altar. Just in diesem Moment trat eine vertraute Gestalt aus der Menge, in den Händen einen Tonkrug, und Liebe schwemmte den Schmerz fort. Wie die anderen Mädchen trug ihre Tochter das honigblonde Haar zu einem Kranz auf dem Haupt geflochten, in dem Schafgarbenblüten und Kornähren steckten. Adwen kniete vor dem Erntealtar nieder und drückte den Krug an ihr Herz, ehe sie ihn abstellte und sich wieder aufrichtete. Sie machte kehrt und kurz trafen sich die Blicke von Mutter und Tochter. Adwen lächelte – warm und jede Dunkelheit erhellend. Bei dem Anblick durchzuckte es Branwen. Die Ähnlichkeit zum Vater schien von Tag zu Tag zuzunehmen.

»Was hast du?«, ertönte die Stimme ihres Ehemannes so dicht an ihrem Ohr, dass Branwen erschrocken herumfuhr.

Sie bemühte sich um einen ungerührten Ausdruck. »Es ist nichts.«

Madoc rieb die Perle in seinem sorgfältig geflochtenen Bart, während er sie ohne Arg betrachtete. Schließlich lenkte er seine Aufmerksamkeit über die versammelte Menge im Hof, sodass er ihr die rechte Seite seines kahl geschorenen Schädels zuneigte. Symbole hoben sich dunkel von der hellen Haut ab. »Im nächsten Monat beginnt der Hauptmann mit Cadels Ausbildung. Auch wenn es dir nicht gefällt, er ist alt genug und ich will es so.«

Er hatte recht – das missfiel ihr, trotzdem begehrte sie nicht dagegen auf.

»Adwen ist ebenfalls kein Kind mehr.«

Jetzt versteifte Branwen sich. »Was willst du damit sagen?«

Erneut sah er sie an. »Dass sie heiraten sollte.« Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Züge. »Es scheint mir, als bemerktest du das nicht.«

Selbstredend wusste sie, dass Adwen inzwischen zur Frau gereift war.

Seine blassblauen Augen leuchteten. »Oder willst du es nicht sehen?«

Wie leicht es Madoc fiel, ihre Gedanken zu lesen. Auch nach sechzehn gemeinsamen Jahren war ihr Ärger darüber keineswegs verraucht, aber das zeigte sie nicht. »Hast du jemanden im Sinn?«

Er schüttelte den Kopf.

»Dann spar dir die Mühe«, bestimmte Branwen. »Darüber entscheidest du nicht.« Cadel mochte ein Krieger werden, wie sein Vater es wünschte, doch in dieser Angelegenheit besaß Madoc kein Mitspracherecht.

»Wie du willst«, gab er zurück. Er wirkte nicht beleidigt. Das war er selten. »Ich habe noch etwas mit Cadfannon zu besprechen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte er davon.

Branwen sah ihm nach, bis sein blanker Schädel in der Menschenmenge verschwand. Ihr Magen zog sich zusammen. Madoc sprach die Wahrheit – Adwen war längst kein Kind mehr. Ein Umstand, der Branwen Bauchschmerzen bereitete. Es wurde Zeit, dass sie mit ihrer Tochter ein ernstes Gespräch führte.

Teil 1Seelennacht

Kapitel 1

Anderthalb Monate später

Fröstelnd zog Adwen den wollenen Umhang enger um ihre Schultern, während ihr Blick auf dem Fluss verharrte. Die Abendsonne reflektierte auf der sich kräuselnden Wasseroberfläche wie geschmolzenes Gold, das durch ein schützendes Dickicht kniehoher verdorrter Grashalme floss. Doch die junge Frau nahm die Schönheit dieses Augenblicks nicht wahr. Der Schmerz trübte ihren Blick.

Warm und glatt spürte sie die Silberfibel in ihrer Hand – ein Andenken an Branwen. »Mutter«, flüsterte sie mit belegter Stimme und schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter.

Adwen erinnerte sich an das seltsame Verhalten ihrer Mutter an Gŵyl Awst. Am nächsten Morgen hatte eine Dienerin Branwen tot in ihrem Bett gefunden.

Sie öffnete die Faust und betrachtete die Fibel. Ein Ring, nicht vollständig geschlossen, dessen Enden in fein gearbeiteten Schwanenköpfen mündeten. Die Befestigung der Nadel war geschmückt mit einem winzigen Flügel. Der Wert des Schmuckstücks lag nicht im Silbergewicht sondern in der filigranen Handwerkskunst, mit dem es hergestellt worden war. Adwen hatte die Fibel unter Branwens Habseligkeiten gefunden und heimlich an sich genommen.

Ihre Sicht verschwamm und sie wischte die Tränen von den Wangen. Scham erfüllte Adwen, weil sie weinte wie ein kleines Kind, welches sie längst nicht mehr war. Bald fand ihr siebzehnter Geburtstag statt und als erwachsene Frau sollte sie ihre Gefühle zu beherrschen wissen.

Adwen ließ die Fibel in der Tasche verschwinden und klopfte die losen Halme von ihrem Rock. Da nahm sie ein Rascheln wahr. Erschrocken fuhr sie herum. Gerade trat eine Gestalt aus dem erkahlten Dickicht und der unverwechselbare kupferrote Haarschopf ihres Bruders tauchte auf.

»Schwester!« Cadel grinste.

Erleichtert atmete Adwen aus, dann erwiderte sie die Geste. »Du bist es.«

»Hast du jemand anderes erwartet?« Er trat mit einem schelmischen Ausdruck neben sie. »Wer ist es?«

Adwen winkte ab.

»Sag schon«, forderte er. »Etwa Alun?«

»Unsinn!«, entfuhr es ihr, als sie an den einsilbigen Soldaten dachte, mit dem sich ihr Bruder seit neuestem herumtrieb. »Ich treffe niemanden.«

»Nein?« Cadel schob sein Gesicht in ihr Blickfeld und musterte sie eingehend. »Und was hast du allein hier draußen verloren? Erinnere dich an Vaters Geheiß.«

Bevor Madoc, der Herr von Caer Eog, eine Woche zuvor der Einladung des neuen Königs von Gwynedd zu einer Unterredung mit den anderen Fürsten nach Caerhun gefolgt war, hatte er verboten, die Festung allein zu verlassen.

»Ich brauchte frische Luft.« Sie wandte sich ab und sah erneut auf den Fluss. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Cadel die Arme hinter dem Kopf verschränkte.

»Die kannst du auch im Hof schnappen.«

Adwen seufzte leise. »Ich musste hinaus … um nachzudenken.«

»Worüber?«

Sie zögerte. »Mutter.«

Statt etwas zu erwidern, legte Cadel eine Hand auf ihre Schulter und drehte Adwen zu sich herum. Der Kummer entzog dem leuchtenden Blau seiner Augen die Strahlkraft. Wortlos drückte er sie an sich.

Adwen barg ihr Gesicht im Stoff seines Mantels. »Du solltest auch nicht allein hier draußen sein«, flüsterte sie.

»Du vergisst, ich bin jetzt Soldat«, tadelte er und fügte weicher hinzu: »Außerdem habe ich dich gesucht.«

Wie könnte Adwen das vergessen? Schon während des letzten Sonnenumlaufs war ihr Bruder in die Höhe geschossen und überragte sie, obwohl anderthalb Jahre älter als er, bereits um eine Handbreit. Die Ausbildung des Hauptmanns tat ihr Übriges und Cadels Umarmung war nicht länger die eines schlaksigen Jungen. Allerdings bekam sie ihn seither kaum mehr zu Gesicht und fühlte sich allein gelassen mit ihrer Trauer. Deswegen schloss Adwen die Augen und genoss Cadels Trost, solange er ihr vergönnt war.

»Wie bist du überhaupt an den Wachen vorbeigekommen?«, fragte ihr Bruder unvermittelt.

Sie kicherte. »Der alte Vorratskeller.«

Cadel schob seine Schwester von sich und starrte sie ungläubig an, dann lachte er. »Sag bloß, da passt du noch durch?«

Adwen machte sich los und stemmte die Hände in die Seiten. »Was soll das heißen?«

Bedeutsam verdrehte Cadel die Augen, aber als sie darauf eingehen wollte, verschwand der Schalk unvermittelt aus seiner Miene. »Bevor ich es vergesse …« Er löste einen Lederbeutel von seinem Gürtel und streckte ihn Adwen entgegen. »Für dich.«

Neugier flammte in ihr auf und sie wollte am liebsten danach greifen, doch stattdessen gab sie sich betont gleichgültig. »Was ist das?«

Ihr Bruder grinste. »Ein Schutzamulett.« Er fasste nach ihrer Hand, drehte die Innenfläche nach oben und ließ den Inhalt des Beutels hineingleiten.

Der Gegenstand war überraschend leicht. Bevor Adwen ihn betrachten konnte, zog Cadel sie an sich und drückte einen Kuss auf ihr Haupt.

»Es wird auf dich aufpassen, wenn ich nicht da bin.«

 

 

Ein Rascheln, der Schrei einer Eule.

Der graue Schleier der Abenddämmerung legte sich schützend über Carwyns Versteck. Für gewöhnlich wäre er hinauf in eine Baumkrone geklettert, um den herannahenden Trupp frühzeitig zu erspähen, doch es war so spät im Jahr, dass die Bäume bereits ihr Blätterkleid abgeworfen hatten. Daher lag Carwyn bäuchlings im dichten Brombeergestrüpp nahe der unbefestigten Straße und wartete. Unsichtbar für jeden Späher.

Viele Wege führten nach Caer Eog, aber der junge Mann hatte zuverlässige Informationen, dass Madoc diesen nehmen würde. Daher zweifelte er nicht, obwohl das Sonnenlicht weiter schwand und keine Menschenseele zu sehen war. Er fühlte die Feuchtigkeit des welken Laubs unter seinem Bauch und einen spitzen Stein, und schob sich vorwärts, bis er wieder bequem lag. Wer wusste schon, wie lange er so würde ausharren müssen? Seine Waffe lag griffbereit neben Carwyn. Er hatte den Platz gut gewählt – perfekt für seinen Plan.

Schatten tauchten die Umgebung in dunkles Grau, bis der Weg vor Carwyn kaum mehr zu erkennen war. Stunde um Stunde verging. Das letzte Tageslicht versiegte und schwarz brach die Nacht herein. Kein Anzeichen von den Männern. Langsam keimten Zweifel in Carwyn. Trotz der Kälte brach ihm der Schweiß unter den Armen aus. Was, wenn der Fürst wider Erwarten eine andere Route gewählt hatte? Oder er die Nacht in einem Gasthaus verbrachte? Panik erfasste Carwyn. Er zitterte.

Nein! So kurz vor dem Ziel durfte er jetzt nicht den Kopf verlieren. Carwyn rief sich noch einmal die Informationen ins Gedächtnis, die er erhalten hatte. Er zweifelte nicht an ihrer Echtheit und das erfüllte ihn erneut mit tiefer Ruhe. Früher oder später käme Madoc hier vorbei. Und Carwyn wäre bereit für ihn.

Gerade als er diesen Gedanken fasste, vernahm er Geräusche. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf und wie von selbst umschlossen seine ausgekühlten Finger das Bogenholz. Er lauschte angestrengt in die Finsternis. Tatsächlich, dumpfe und rhythmische Schläge näherten sich. Pferde!

Carwyn kam in die Hocke und tastete in der Dunkelheit nach einem der Pfeilschäfte, die er mit der Spitze voran in den weichen Waldboden getrieben hatte. Er fühlte Federn, fasste eine Handbreit tiefer nach dem Holzschaft und zog ihn heraus. Dann steckte er ihn zwischen die Zähne und suchte nach dem zweiten. Als er ihn gefunden hatte, wich er eine Schrittlänge zurück, wo es ihm möglich war, aufrecht zu stehen und den Bogen zu spannen, ohne sich im Dornengebüsch zu verfangen.

Stimmen erklangen jetzt. Keine ausgelassenen Gespräche, bloß einzelne Worte, die Carwyn aufgrund der Entfernung nicht verstand. Er legte den Pfeil an das Bogenholz, zögerte jedoch, die Sehne zurückzuziehen. Er stierte in die Richtung, wo der Weg an seinem Versteck vorbeiführte. Allerdings war es so dunkel, dass er nichts mehr erkennen konnte. Kurz sah Carwyn hinauf zum Himmelszelt. Heute Nacht war Vollmond, doch die weiße Scheibe versteckte sich hinter dichten Wolken. Carwyn hielt den Atem an. Er stand so dicht davor, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, und nun sollte ihm das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen?

Der Geräuschpegel schwoll an und war für Carwyns geschärfte Sinne unerträglich laut. Nicht mehr lange, bis die Reiter seine Schusslinie kreuzten. Verflucht, er brauchte Licht!

Just in diesem Moment brach die Wolkendecke auf und der weiße Schein des Mondes zeichnete schwarz die Silhouette des Waldes nach. Carwyn unterdrückte nur mit Mühe ein freudiges Keuchen. Eilig zog er die Bogensehne zurück, bis sie dicht an seinem Ohr surrte und er die Vibration in seiner Schulter spürte. Ein dünner Wolkenschleier glitt am Mond vorüber, dann stand er frei am Himmel und enthüllte kalt und gnadenlos alles, was sich bewegte.

Sofern Madoc keinen Helm trug, wäre es ein Leichtes, ihn zwischen seinen Männern auszumachen. Und das war anzunehmen, denn des Nachts einen Helm zu tragen, machte einen nahezu blind.

Das erste Pferd passierte Nebelschwaden schnaubend Carwyns Versteck. Sein Reiter trug das Haar lang – Madocs war abgeschoren.

Zwei weitere folgten, doch keiner von ihnen war der Fürst von Caer Eog. Carwyn presste die Kiefer fest aufeinander, sodass sich seine Zähne in das Holz des Pfeilschafts gruben. Sein Arm schmerzte, trotzdem hielt er den Bogen gespannt, und blickte zu dem nächsten Reiter des Trosses.

Der blanke Schädel leuchtete weiß. Carwyn blieb das Herz stehen.

Madoc!

Der Schütze zielte auf den Hals, hatte aber keine freie Schussbahn. Er musste warten, bis die anderen vorbeigezogen waren und Madoc sich genau vor seinem Versteck befand. Hass breitete sich wie schwarzer Qualm in seiner Kehle aus und raubte ihm den Atem. Die Zeit schien quälend langsam fortzuschreiten, während Carwyn seinem Feind entgegensah. Gleich, gleich würde er ihm das Leben nehmen!

Plötzlich knackte es hinter ihm. Der Schreck fuhr Carwyn in die Glieder, übernahm die Befehlsgewalt über seinen Körper, sodass er zu Eis erstarrte, obgleich er besser herumwirbeln sollte. Etwas packte seine Schulter und riss ihn rückwärts. Unabsichtlich ließ er die Bogensehne fahren, der Pfeil schlug irgendwo im Gebüsch ein und Carwyn landete mit dem Hinterteil in den Dornen. Ohne nachzudenken zog er den zweiten Pfeil zwischen seinen Zähnen heraus und legte ihn an. Das Mondlicht entblößte seinen Angreifer und er schoss. Seiner unvorteilhaften Stellung geschuldet traf er bloß dessen Schulter. Der andere brüllte vor Schmerz und Wut, und stürzte sich auf ihn. Carwyn griff nach dem Messer in seinem Gürtel, doch es war fort. Er fluchte. Dann holte er in Ermangelung eines weiteren Pfeils mit dem Bogen aus und schlug nach dem Kerl. Er traf ihn im Gesicht und der andere knurrte, drehte sich hastig ein, um dem nächsten Hieb zu entgehen. Dadurch hatte Carwyn die Gelegenheit auf die Füße zu kommen. Schwarz lief das Blut über die Wange des Mannes.

Carwyn grinste und holte erneut aus, als ihn ein harter Stoß in den Rücken traf, der ihm den Atem raubte und nach vorne taumeln ließ. Ihm blieb keine Zeit zur Erholung – nur einen Atemzug später fuhr ein gleißender Schmerz durch seinen Schädel. Widerstandslos ging er in die Knie. Schwarzer Wald und weißes Mondlicht verwirbelten zu seltsamen Mustern in seinem Sichtfeld. Carwyn fasste an seinen Kopf, in dem es laut rauschte, und gewahrte die Platzwunde. Warmes Blut sammelte sich in seiner Ohrmuschel und tropfte auf seinen Hals. Er wankte.

»Was dauert das so lange?«, durchschnitt eine laute Stimme das Rauschen und warf ihn zurück in die Gegenwart.

Carwyn bemerkte die Schwertklinge in seinem Augenwinkel, die offenkundig für seine Kopfverletzung verantwortlich war. Sie wollten ihn lebend, sonst wäre er längst tot – und das war sein Problem. Er fletschte die Zähne und wollte aufstehen, als er mit seiner gesamten Länge in Richtung Boden gedrückt wurde. Sein Gesicht versank im modrigen Laub und er drehte den Kopf zur Seite, spie aus und linste hoch. Zu seiner Rechten stand der Kerl mit dem Striemen, einen Fuß auf seinen Rücken aufgestellt. Eine Grimasse ziehend verlagerte er mehr Gewicht darauf.

Carwyns Rippen knackten, und er stöhnte. Unvermittelt verschwand der Druck, aber ehe er reagieren konnte, wurde er am Schopf gepackt und über den Boden geschleift. Schreiend umklammerte Carwyn die Faust, die ihn bäuchlings durch das Dickicht zerrte. Dornen zerschnitten ihm die Haut. Carwyn heulte. Auf der Straße ließ der Kerl ihn endlich los.

Carwyn keuchte und blutete. Mühsam stemmte er sich auf alle Viere. Flüssigkeit tropfte von seiner Nase in den Sand. Tränen oder Blut, vielleicht beides. Es war ihm gleich. Er war verloren.

Im nächsten Moment packte jemand Carwyn am Kragen und riss ihn hoch. Sein Gegenüber sah ihm geradewegs in die Augen und blies warmen Atem in sein Gesicht. Carwyn fröstelte. Der andere zog die Mundwinkel herunter, holte mit der Faust aus und hieb sie ihm in den Magen. Die Wucht schleuderte Carwyn erneut auf die Straße und er rollte sich stöhnend zusammen.

»Das genügt, Alun!«, brüllte die Stimme von zuvor.

Mit schmerzendem Körper richtete Carwyn sich auf die Unterarme auf.

Der Mann namens Alun spie vor ihm aus, bevor er in den Kreis der Soldaten zurück trat, die abgesessen waren und Carwyn mit gezückten Waffen anstierten. Der Mann mit dem rasierten Schädel saß nach wie vor hocherhoben auf seinem Pferd.

»Dieser Kerl will mich töten?«, höhnte die Stimme, doch es war nicht der Reiter, der sprach. »Das ist ja nur ein Ziegenschiss!«

Die Soldaten wichen zur Seite, um eine in einen Mantel gehüllte Gestalt durchzulassen. Zwei Schritt von Carwyn entfernt blieb sie stehen und schob die Kapuze zurück. Mondlicht reflektierte auf dem nackten Schädel, das die dunklen Zeichen auf der Haut noch stärker hervorhob.

Carwyn stieß zittrig den Atem aus, als er begriff. Ihm war eine Falle gestellt worden.

Madoc streckte seinen Schwertarm aus, sodass die Spitze der Waffe auf Carwyns Kehle deutete. Er lachte laut und die hellen Perlen in seinem dunklen Bart zitterten. »Für wie dumm hältst du mich?«

 

 

»Ist Arwel schon zurück?« Kynan brachte seine Stute zum Stehen.

Im Mondlicht schüttelte der Wachmann den Kopf. Er wirkte müde, aber seine Nachtwache war längst nicht vorbei. »Du bist der Erste.«

Kynan brummte. Er hätte dem Anführer gerne sofort Bericht erstattet, doch da ließ sich nichts machen. Er musste warten. Und ein paar Stunden Schlaf und ein kräftiges Frühstück schadeten kaum. Er nickte dem Wachmann zu, ehe er sein Pferd an ihm vorbei den Pfad entlang lenkte.

Es war tiefste Nacht, aber der Vollmond stand hoch und erhellte die Umgebung, sodass Kynan mühelos den Weg fand. Er beschrieb einen Bogen zwischen zerklüfteten Felsen bis zu einem Hang. Das Gelände in dieser Gegend war gefährlich. Erdrutsche kamen häufig vor, die Wege waren unbefestigt und Menschen gingen in den Felsspalten verloren. Die Leute erzählten sich, dass die Seelen der Toten noch immer hier umherirrten und ihren Weg nach Hause suchten. Derlei Gerüchten zum Trotz führte Kynan seine Stute weiter.

Der kalte Herbstwind fuhr ihm durch die Locken und bereitete ihm eine Gänsehaut. Die Witterung saß ihm in den Knochen und seine Glieder schmerzten. Es wäre gelogen, zu behaupten, dass er sich nicht auf ein wärmendes Feuer freute.

Auf der wetterabgewandten Seite wuchsen zwischen Stein und Geröll hohe Nadelbäume, die vor Regen und Wind Schutz boten. Trotzdem war der Weg nicht minder riskant, aber Kynan kannte jeden Zoll in- und auswendig.

Er bemerkte ein hellrotes Flackern oberhalb eines Plateaus und Erleichterung durchströmte ihn, weil er es beinahe geschafft hatte. Nur ein winziges Stück trennte ihn noch von einer gemütlichen Bettstatt. Er vernahm Stimmen. Richtig, in den verfluchten Bergen waren Menschen verlorengegangen – doch sie waren nicht tot. Kynan grinste. Sie lebten hier.

Der Reiter erreichte das Plateau und rutschte aus dem Sattel. Als er nach dem langen Ritt wieder auf eigenen Füßen stand, brannten seine Muskeln unerträglich. Eine Fackel leuchtete in seine Richtung. Als der Mann ihn erkannte, hob er die Hand zum Gruß und drehte wieder bei.

Kynan führte seine Stute über das Plateau auf einen Unterstand aus festen Baumstämmen zu, wo bereits zwei andere Pferde untergebracht waren. Er machte sich daran, die Schnüre seines Gepäckbündels zu lösen, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Kynan hob den Blick und gewahrte einen Lichtschein, der auf ihn zu wippte. Als er nah genug war, erkannte er Aled, den Jüngsten von ihnen.

»Ich habe eine Nachricht für dich!«, rief der atemlos.

»Von wem?« Kynan wandte sich wieder seinem Gepäck zu.

»Carwyn.«

»Ist er nicht hier?«

Der andere verneinte. »Er ist kurz nach euch aufgebrochen.«

»Was?« Kynan fuhr herum und packte den mageren Jüngling bei den Schultern, sodass die Fackel zu Boden fiel. Funken sprühten und Kynan sprang fluchend einen Schritt zurück. Dabei ließ er Aled los. »Wohin?«

»Ich weiß es nicht.« Der Junge nahm die Fackel auf. »Er sagte bloß, du sollst dir keine Sorgen machen und ihn nicht suchen. Er kommt zurück, sobald er alles erledigt hat.«

Kynan erstarrte. Carwyn würde doch nicht nach Caer Eog gegangen sein? Madocs Frau mochte tot sein, aber die Lage war ungewiss und gefährlich! Arwel hatte ihnen eingebläut, erst weitere Erkundigungen einzuziehen, bevor sie in Erscheinung traten. Kynan knirschte mit den Zähnen. Nein, nicht einmal Carwyn wäre einfältig genug, sich geradewegs in Feindesland zu begeben.

»Kynan?«

Er würde nicht …

Eine Feuerwoge aus Zorn und Furcht brandete durch seinen Körper und eine schreckliche Erkenntnis packte sein Herz mit Flammenfingern. Ohne nachzudenken zog er sich in den Sattel, griff nach den Zügeln und riss das Pferd herum. »Verflucht!«

Genau das würde Carwyn tun.

Kapitel 2

Fackeln brannten im Innenhof der Festung, doch der harsche Herbstwind brachte die Flammen fast zum Verlöschen und wilde Schatten huschten über die Gesichter der heimkehrenden Männer. Der Morgen war nicht mehr fern.

»Herr, soll ich dein Pferd wegbringen?«

Vom Rücken seiner Stute aus blickte Madoc auf den Stallburschen zu seiner Rechten, brummte zustimmend und schwang sich aus dem Sattel, um ihm das Tier zu überlassen. Seine Füße berührten eben festen Untergrund, als er einen dumpfen Laut vernahm. Er wandte sich danach um.

Keine drei Schritte entfernt war der Gefangene mit gefesselten Händen und dem Gesicht voran auf dem Boden zusammengebrochen. Madoc trat auf die kümmerliche Erscheinung zu und stieß ihr mit der Stiefelspitze in die Seite. Der Mistkerl rührte sich nicht, aber er lebte. Womöglich war er mit seinen Kräften am Ende, weil er den ganzen Weg nach Caer Eog hinter einem Pferd her getaumelt war.

Madoc verengte die Augen, dann ließ er jäh von ihm ab. »Holt mir Cadfannon her!«, brüllte er über den Lärm im Burghof hinweg und stopfte seine Lederhandschuhe hinter den Gürtel. Seiner Stellung gemäß sollte der Kerl längst da sein.

Die Versammlung der Fürsten, die der neue König von Gwynedd einberufen hatte, war Zeitverschwendung gewesen. Rhun Hir pisste sich in die Hosen, weil die Festlandsachsen eigene Königreiche in Britannien errichteten. Deswegen forderte er, dass sich die Fürsten Gwynedd fortan als Einheit verstanden und nicht länger bloß in ihrem eigenen Interesse handelten. Nach Madocs Einschätzung war es weniger die Bedrohung durch sächsische Kampfkraft, sondern deren Vielgötterei, die der verfluchte Christ Rhun Hir fürchtete. Weil er selbst in Schande geboren war, hielt er es für seine Berufung, seinen Glauben zu verbreiten.

Der Herr von Caer Eog war müde und hatte schlechte Laune. Und keine Lust zu warten, bis sein Hauptmann sich aus dem Bett irgendeiner Metze rollte, um seine Unterhosen zu suchen. Madoc knurrte.

»Vater!« Im nächsten Moment schob Adwen sich an den Soldaten vorbei. Sie schenkte Madoc über die Distanz hinweg ein Lächeln, aber bevor er es erwidern konnte, brachte ihn eine vertraute Stimme dazu, sich umzudrehen.

»Wer ist das, Vater?« Cadel hielt den Blick auf den Gefangenen gesenkt.

»Jemand, der mich umbringen wollte«, gab er ungerührt zurück.

Adwen, nun dicht neben ihm, stieß einen erschrockenen Laut aus.

»Dann verdient er den Tod.« Cadels Spucke landete auf dem reglosen Leib.

»Bist du wohlauf?« Adwen schob ihre besorgte Miene in Madocs Sichtfeld.

Lächelnd umfasste der ihr Gesicht mit einer Hand. »Keine Sorge, mein Vögelchen.« Er ließ sie los und nickte Cadel zu. »Geh mit deiner Schwester ins Haus. Ich komme gleich nach.«

Sein Sohn runzelte die Stirn. Es schien, als läge ihm noch etwas auf den Lippen, dann trat er jedoch von dem Gefangenen zurück und ergriff Adwens Arm. »Wir warten in der Halle.«

Madoc sah ihnen nach und gewahrte dabei seinen einäugigen Hauptmann, der auf ihn zuhielt. Überraschenderweise vollständig bekleidet. Er schob den Kiefer vor. »Da bist du endlich.«

Cadfannon neigte das Haupt. »Ich nahm an, du bliebest eine Nacht dort.«

Madoc schnaubte. Caerhun war ein Schlangennest. »Gewiss nicht.« Der neue König hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er dem Herrn von Caer Eog wenig zugetan war. Verfluchter Christ.

»Ein Gast?«, riss Cadfannon ihn aus den Gedanken und deutete auf den Gefangenen.

Madoc musste grinsen. »Nun, er bleibt eine Weile bei uns.«

»Aus welchem Grund?«

Madoc zögerte. »Er hat mir aufgelauert«, gab er schließlich zu.

»Ich habe dich gewarnt.«

Grimmig nickte er. Ihm war bewusst gewesen, dass die Teilnahme an der Versammlung eine Gefahr darstellte. Da draußen gab es mehr als einen Mann, der seinen Tod wünschte, und so mancher Fürst würde sich die Hände reiben. Allerdings wäre es einer Beleidigung gleichgekommen, dem König von Gwynedd abzusagen. »Es ist alles gut gegangen«, brummte er und fügte leise hinzu: »Der Fluch ist gebrochen.«

Cadfannon musterte ihn mit stechendem Blick. »Weißt du das sicher?«

Bei diesen Worten zuckte Madoc zusammen, aber er fasste sich schnell wieder und machte eine harsche Armbewegung. »Genug davon!« Er deutete auf die Gestalt am Boden, die sich gerade zu regen begann. »Sperr ihn ein und sorg hier für Ordnung. Ich kümmere mich später.«

»Ist gut.« Der Hauptmann stapfte an ihm vorbei und schon erklangen die ersten Befehle.

Obwohl seine Anwesenheit überflüssig war, rührte Madoc sich nicht von der Stelle. Ein Gedanke lähmte seine Glieder. War Cadfannons Warnung berechtigt? Branwen lebte nicht länger. Wie ein Blitz schlug der Schrecken in sein Herz und brachte es zum Stillstand. Er schüttelte den Kopf. Gwrachs Versicherung genügte ihm.

Jäh wandte Madoc sich dem erleuchteten Eingang des Haupthauses zu, als zu seiner Rechten wütendes Gebrüll ertönte.

»Ich habe dir alles gesagt. Töte mich!«

Mit einem wölfischen Grinsen auf den Lippen drehte Madoc sich um und zupfte an seinem geflochtenen Bart. Die Geschichte des Jungen war von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Rache für den Bruder, der durch Madocs Schuld zu Tode gekommen sein sollte? »Ich bin kein Holzkopf.«

Zwei Soldaten stützten den Gefangenen beidseits. Dessen Versuche, den Herrn von Caer Eog hasserfüllt anzufunkeln, versagten, weil sein Kopf hin und her schwankte. »Es ist aber die Wahrheit.«

»Wie du meinst.« Unbekümmert kehrte Madoc ihm den Rücken. »Dann kann ich ebenso gut essen gehen. Du hingegen bekommst nichts. Vielleicht fällt dir eine bessere Geschichte für mich ein, wenn der Hunger dich von innen auffrisst.« Er beachtete die Beschimpfungen nicht, die darauf folgten, sondern suchte Cadfannons Blick. »Nichts, verstanden? Ich will wissen, wer ihn schickt.«

»Jawohl, Herr.«

 

 

Mit dem Korb in der Hand stolperte Adwen die Treppenstufen hinunter und fing sich gerade noch, bevor sie in den niedrigen Gang fiel. Ihr Herz schlug viel zu schnell. Sie hielt einen Moment inne und legte die Hand auf ihre Brust, um sich selbst zu beruhigen, bevor sie weiterging.

Seit seiner Rückkehr ließ ihr Vater jeden einzelnen überprüfen, der in die Festung hinein- oder hinauswollte. Gerade heute an Galan Gaeaf hatten sich lange Schlangen zu beiden Seiten des Tores gebildet und es hatte gedauert, bis Adwen endlich an die Reihe gekommen war. Doch obwohl sie im Dorf etwas Wichtiges für die Festlichkeiten zu erledigen hatte, hatte der Wachmann sie zurückgeschickt. Und Adwen beschlossen, sich durch den Vorratskeller zu schleichen.

Auf dem Weg dorthin hatte sie sich bereits Worte zurechtgelegt, falls jemand sie behelligte, aber als sie den von zwei Talglämpchen spärlich erhellten Flur erreichte, war er leer. Das erleichterte ihr Vorhaben. Sie nahm eins der Lichter aus der Wandverankerung und stellte es neben die Holzluke im Boden. Adwen hob die schwere Platte an und sogleich schlug ihr modriger Kellergeruch entgegen. Sie stieg mit dem Korb in der Linken die Sprossen der Leiter hinab. Unten angekommen angelte sie nach dem Talglämpchen und leuchtete damit in den Raum hinein, der mit allerlei Unrat und geleerten Bretterregalen angefüllt war. Adwen ging vorwärts. Einst war das hier der Vorratsraum gewesen, denn tief im Erdboden blieb es auch im Sommer kühl. Allerdings hatte der Ausbau des Haupthauses dazu geführt, dass dieser Keller bei Regen häufig überflutet wurde, weswegen er sich nicht mehr zum Lagern von Lebensmitteln eignete, und ein neuer Lagerraum neben dem Küchenhaus errichtet worden war.

Abrupt blieb Adwen stehen.

Ihr gegenüber saß eine Gestalt an ein von schwarzem Schimmel überzogenes Holzregal gelehnt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wer war das? Das vom Haar verdeckte Gesicht ließ keine Schlüsse zu, die Statur hingegen sprach eindeutig für einen Mann. Seine Arme waren gefesselt, die Fußknöchel ebenfalls. Von den nackten Sohlen bröckelte dunkel getrocknetes Blut. Wie eine heiße Woge glitt Panik durch Adwen hindurch. War das etwa der Gefangene? Ihre Hand zitterte und das Licht des Talglämpchen flackerte über die Wände. Sie hatte nicht gewusst, dass er hier eingesperrt war. Sollte nicht jemand hier oder vor dem Zugang Wache halten?

Intuitiv wich Adwen zurück, sodass sie mit dem Rücken an ein weiteres Regal stieß. Dem hatte die Feuchtigkeit so zugesetzt, das es schauerlich knarzte. Obwohl es standhielt, ließ Adwen vor Schreck den Korb fallen. Als sie die Hand danach ausstreckte, bemerkte sie, dass der Mann vollkommen reglos dasaß. Nein, nicht ganz. Seine Atmung hob und senkte seinen Brustkorb und die Schultern, also war er nicht tot. Vielleicht schlief er oder war bewusstlos.

Adwen blickte nach rechts. Die Wand dort war mit Holz verkleidet – ein kläglicher Versuch, das Spülwasser abzuhalten, welches kurzerhand die Planken verrotten ließ und die Erde dahinter fortspülte. Der Regen, der in einer vom Dach des Haupthauses und eines Nebengebäudes erzeugten Wasserrinne herunterkam, legte einen schmalen Zugang frei. Dahinter lag die Palisade – ein aufgeschütteter Erdwall mit angespitzten Baumstämmen zum Schutz vor Angreifern, und ganz in der Nähe die Jauchekuhle. Der bestialische Gestank bewirkte, dass die Wachsoldaten ihrer Arbeit an dieser Stelle weniger geflissentlich nachgingen. Von Zeit zu Zeit wurde das Loch zugekippt, doch gerade war es groß genug, dass ein Mädchen sich hindurchzwängen und unbemerkt zwischen den Stämmen hinausgelangen konnte.

Adwen sah wieder zu der gefesselten Gestalt. Es wäre ein Leichtes, sich vorbeizustehlen. Trotzdem rührte sie sich nicht.

Dieser Mann hatte versucht, ihren Vater zu töten. Abscheu kroch über ihre Haut und stellte die feinen Härchen auf. Wie mochte sein Gesicht wohl aussehen?

Pochenden Herzens trat Adwen mit dem Licht auf den Mann zu und hockte vor ihm nieder. Sie lugte unter den Wust blonden Haares und keuchte bei dem Anblick der jugendlichen Züge, die von Blessuren überschattet wurden. Der Gefangene war kaum älter als sie, besaß noch keinen nennenswerten Bart. Verstört schüttelte Adwen den Kopf. Dieser Junge sollte ein Mörder sein? Sie zweifelte nicht an den Worten ihres Vaters, trotzdem sträubte sich etwas in ihr gegen diese Vorstellung. Zwischen Schmutz und Blut leuchtete helle unschuldige Haut.

Unvermittelt stöhnte der Gefangene.

Adwen schreckte zurück, verlor das Gleichgewicht und landete auf ihrem Hintern. Sie wollte sich aufrappeln, schaffte es indes nicht, fahrig wie sie war, und rutschte stattdessen rückwärts über den Erdboden. Talgtröpfchen fielen auf den Boden, aber wie durch ein Wunder erlosch das Licht nicht.

»Da bin ich endlich eingeschlafen, und schon habe ich wieder deine hässliche Fratze vor mir, Cadfannon«, murmelte der Gefangene heiser und hob schwankend den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als er Adwen gewahrte. »Wer bist du?«

Sie antwortete nicht.

Der junge Mann räusperte sich. »Sag schon.« Mit gefesselten Händen wischte er umständlich über seinen Mund.

Adwen starrte ihn an, während er sich nach seinen Möglichkeiten abmühte, in eine aufrechtere Sitzhaltung zu finden, und richtete ihren eigenen Oberkörper kerzengerade auf. »Das brauche ich einem Gefangenen nicht zu sagen!«

Nickend lenkte er seine Aufmerksamkeit von ihr fort und ließ sie wachsam über die Einrichtung wandern. »Verstehe. Dachte, Madoc schickt dich, damit du nett zu mir bist.« Sein Blick kehrte zu Adwen zurück, die darunter zusammenzuckte. »Hast du etwa Angst?« Belustigt hob er seine verschnürten Hände. »Was soll ich schon anstellen?« Er legte den Hinterkopf an das Regal und die Hände wieder in den Schoß.

Mitleid wallte in Adwen auf, doch sie wischte es harsch beiseite. »Stimmt es, dass du versucht hast, meinen Vater zu töten?«

»Wenn dein Vater Madoc ist – ja.« Er verzog seine Lippen zu einem verdrießlichen Lächeln, das ein Hustenanfall jäh fortfegte.

Eiskalt lief es Adwen den Rücken hinunter. Er leugnete es nicht einmal. »Warum?«

Der Gefangene schnalzte. »Sollst du mich das fragen?« Seine Stimme brach.

Obwohl Adwen voller Abscheu war, zog sie den Korb heran und nahm den Trinkschlauch heraus, bevor sie näher rückte. »Trink.« Auffordernd hielt sie ihm das Wasser hin.

Verächtlich starrte er darauf und sie dachte schon, er würde ablehnen, als er ihr plötzlich den Trinkschlauch entriss. Mit den Fesseln stellte er sich ungeschickt an und verkleckerte einen Teil der Flüssigkeit über Kinn und Brust, aber das kümmerte ihn nicht. Er trank einfach weiter. Als er fertig war, warf er den geleerten Beutel achtlos zu Boden. Sein Blick fiel auf den Korb. »Was ist in dem Tuch? Käse? Gib ihn mir.«

»Nein, den brauche ich selbst!«, entfuhr es Adwen entrüstet.

»Ach ja?« Er versuchte, die Hände hinter dem Kopf zu verschränken. Das schien mit der Fessel unmöglich und schließlich gab er es auf. »Was hat Madoc sich dabei gedacht, dich zu schicken? Du stellst dich nicht gerade klug an, mich auszuhorchen.«

Adwen wollte widersprechen, doch als ihr Gegenüber sie eingehend musterte, bekam sie kein Wort heraus.

»Hübsch bist du ja. Wie heißt du?«

Das Blut schoss heiß in ihre Wangen. »Adwen.«

»Mein Name ist Carwyn«, erwiderte er. »Das richte Madoc gerne aus, etwas anderes wird er von mir nicht erfahren.«

»Du irrst dich.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater weiß gar nicht, dass ich hier bin.«

»Ich bin kein Dummkopf.« Lau lächelnd nickte er zum Korb hin. »Willst du mir weismachen, das sei kein Bestechungsversuch?«

Für ihn schien die Sachlage klar. Adwen überlegte und wickelte den Käse aus dem Tuch. »Wenn ich ihn dir gebe, erzählst du mir dann, warum du meinen Vater ermorden wolltest?«

Carwyn antwortete nicht sofort, was Adwen als gutes Zeichen wertete. Sie streckte ihm den faustgroßen Laib entgegen. Offenkundig dachte er über ihren Vorschlag nach. Schließlich nickte er und entwand ihr den Käse.

Sie sah zu, wie er ein großes Stück herausbiss und mit kräftigen Backenzähnen zermalmte. »Also?«

»Rache«, antwortete er mit vollem Mund. Weiße Bröckchen spritzten über seine Cotte.

Adwen erschauerte bei dem Anblick. »Wofür?«

Inzwischen war der Käselaib vollständig in seinem Mund verschwunden. Carwyn leckte sich die Finger ab, ehe er mit der Zunge die letzten Reste von seinem Ärmel auflas.

Als Adwen gewahrte, dass er nicht vorhatte, weiterzusprechen, wallte Ärger in ihr auf. »Du hast mir eine Antwort versprochen!«

»Die hab ich dir gegeben. Madoc weiß am besten, warum die Leute hinter ihm her sind.«

Die Leute? »Dann kommen noch mehr, die ihn töten wollen?«, fragte sie entsetzt.

Carwyns Züge versteinerten.

Einem Impuls folgend umfasste sie seine schmutzigen Finger. »Was hat er getan?«

Kurz erwiderte der Gefangene ihren Blick, bevor er sein Gesicht zur Seite wandte und den Mund verzog. »Frag ihn doch selbst.«

Kurz hatte Adwen den Schmerz in seinen Augen gesehen. Sie zog langsam ihre Hände zurück. »Das werde ich.«

Carwyn sah sie aus dem Augenwinkel an. »Wenn du Madocs Tochter bist, bist du auch Branwens Kind, richtig?«

Überrascht darüber, dass er den Namen ihrer Mutter kannte, nickte sie.

»Und es macht dir nichts aus, was ihrer Sippe in den Feuernächten widerfahren ist?«

Adwen starrte ihn an. Feuernächte? Ein vages, nicht greifbares Entsetzen breitete sich in ihrem Inneren aus.

Dieses Mal packte Carwyn ihre Hände und zog Adwen nah zu sich heran. Seine Augen glitzerten. »Falls dir die Sippe deiner Mutter etwas bedeutet, berichte Madoc besser, dass ich allein gehandelt habe.«

Adwen schüttelte den Kopf. Er mochte jung sein, aber er war ein gescheiterter Mörder. Warum nicht auch ein Lügner? Dies war unverkennbar eine Finte, um sie dazu zu bringen, nichts zu verraten. »Du willst mir Angst machen«, mutmaßte sie und versuchte, sich ihm zu entziehen.

»Stimmt«, gab er zu und ließ sie los. »Doch glaub mir, Branwen würde wollen, dass du lügst.«

Nach Luft schnappend schüttelte Adwen den Kopf. Sie wollte nichts mehr hören. Eilig sammelte sie ihr Hab und Gut ein, kam auf die Füße und kehrte ihm den Rücken. Seine Stimme hielt sie zurück.

»Ich bitte dich, sag Madoc nichts.«

Adwen blieb kurz stehen, dann hastete sie auf die Leiter zu. Jeder Gedanke daran, sich in das Dorf zu schleichen, war vergessen. Sie erklomm die Sprossen, drückte die Luke auf und zog sich über den Rand. Der Griff der schweren Luke entglitt ihren Fingern und der laute Knall beim Zufallen ging ihr durch Mark und Bein. Schlagartig fiel ihr ein, dass sie das Lämpchen vergessen hatte – den Beweis für jemandes Anwesenheit dort. Erneut packte sie den Griff, als sie das Knarzen einer Diele hinter sich vernahm.

Erschrocken drehte Adwen den Kopf zur Seite und sah den Mann, der auf sie zusprang und nur einen Herzschlag später an die Holzwand drückte. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch der Angreifer verschloss ihn mit einer Hand und brachte sein grimmiges Gesicht vor ihres.

»Du solltest nicht hier sein, Mädchen«, knurrte Alun. »Verschwinde.«

Eben gab er Adwen frei, als auf der Treppe dumpfe Schritte erklangen und ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Zuerst erschienen die Stiefel, danach folgte das unverwechselbare Antlitz des einäugigen Hauptmanns im Gang.

Alun fluchte unterdrückt, bevor er Adwen erneut mit hartem Griff an der Wand fixierte.

»Hab ich mich also nicht verhört«, stellte Cadfannon fest. »Was geht hier vor?«

»Ich hab nach dem Gefangenen gesehen und das Fräulein aufgegriffen«, antwortete der Freund ihres Bruders.

»Gut gemacht, Alun. Lass sie los.«

Sofort trat der Wachmann zurück und Cadfannon schob sich an seiner Statt vor Adwen. Er musterte sie mit seinem einen Auge. »Dieser Ort ist nichts für dich.«

Adwen erschauerte unter seinem Blick.

»Sie hat dem Gefangenen Essen gebracht«, berichtete Alun unvermittelt.

Erschrocken blickte sie zum Wachmann hinüber. Hatte er sie beobachtet? Mit einem Mal kam sie sich töricht vor. Natürlich wurde der Gefangenen nicht sich selbst überlassen. Nur, warum hatte Alun sie nicht sofort gestellt?

»Der Fürst hat verboten, dass der Gefangene Essen bekommt«, unterbrach Cadfannon ihren Gedankengang.

Adwen brauchte einen Moment, um seine Worte zu begreifen. »Das … das wusste ich nicht!«

»Erzähl das deinem Vater.« Er griff nach ihrem Oberarm, bevor er sich noch einmal an Alun wandte. »Ich schicke dir zwei Soldaten zur Verstärkung her.«

 

 

Das Holz bebte unter den schweren Schritten, die Madoc von der Tür seines Gemachs zu dem Holzsessel neben seinem Bett führten. Tief sank er hinein, streckte die Beine aus und machte keine Anstalten, sich der schmutzigen Stiefel zu entledigen. Stattdessen legte er den Kopf zurück und blickte zur Decke empor. Mit jedem Atemzug wich mehr Anspannung aus seinen Gliedern, schließlich senkte er die Lider.

Heute war Nos Galan Gaeaf – die Nacht, in der die Seelen der Toten wandelten. Die Verstorbenen wurden geehrt und gütlich gestimmt, denn nicht jeder Geist kehrte in friedlicher Absicht zurück. Madoc selbst kannte genug davon, die Grund zur Rache hatten. Ihm blieb nur, die Tore zu schließen und auf den Sonnenaufgang zu warten, damit die Seelen im Morgengrauen in die Anderswelt zurückkehrten.

Der Herr von Caer Eog fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und gewahrte den Geruch von Blut. Er öffnete die Augen. Von seinen Fingern bröselte das getrocknete Blut des Ochsen, der für das Ritual geschlachtet worden war. Madoc schloss die Faust. Seit dem frühen Morgen beschäftigten ihn die Vorbereitungen für das Fest, die zu Lebzeiten stets seine Ehefrau verrichtet hatte. Adwen hatte zwar geholfen, dennoch war sie längst nicht soweit, Branwens Platz einzunehmen, und Cadel war gestern Früh im Auftrag des Hauptmanns aus Caer Eog aufgebrochen. Wenigstens blieb Madoc etwas Zeit zum Ausruhen, in der die Frauen das Festessen zubereiteten, bis am Abend die Feuer entzündet werden würden.

Ihm klebte die Zunge am Gaumen. Wein. Auf dem Tisch zu seiner Linken standen ein Krug und ein Zinnbecher. Er richtete sich im Sessel auf und zog beides zu sich heran. Tiefrote Flüssigkeit plätscherte in den Becher.

Madoc schnaubte belustigt. Sein Gefangener sollte ihm dankbar sein, kein Essen zu bekommen, so konnte er sich wenigstens nicht zuscheißen. Seit drei Tagen hockte der Kerl jetzt hungernd in der Dunkelheit, umgeben von Schimmel und Dreck.

Der Kriegsfürst stellte den Krug ab. Wer schickte den Jungen? Der neue König von Gwynedd wollte keine Vasallen, die – nach seinen Worten – der Dunkelheit zugetan waren. Reichte Rhun Hirs Abscheu gegen Nichtchristen, um Madoc gleich nach ihrem ersten Treffen beseitigen zu lassen? Vielleicht steckte auch einer der Fürsten dahinter. Im Kopf ging er sie der Reihe nach durch.

Gedankenverloren führte Madoc den Becher zum Mund, als das Gefäß ihm plötzlich aus den Fingern glitt. Fluchend sprang der Mann aus dem Sessel auf. Trotzdem landeten Spritzer auf seinem Beinkleid, als der Becher scheppernd auf den Fußboden traf und sich einmal um die eigene Achse drehte. Der Wein rann über die Dielen und versickerte in den Ritzen.

Madoc bückte sich nach dem Becher und riss sofort die Hand zurück. Hellrotes Blut quoll aus dem Schnitt in seiner Daumenkuppe. Warum war der Metallrand so scharf? Cadfannons Worte über den Fluch kamen ihm wieder in den Sinn und Madoc wurde abwechselnd heiß und kalt. Das war doch alles Unfug! Bloß ein Missgeschick, nichts weiter. Er lächelte müde. Es hatte keinerlei Bedeutung.

Richtig?

Rhythmisches Poltern ertönte vom Flur her. Madoc lauschte den sich nähernden Schritten – harsch und unnachgiebig. Es fiel ihm nicht schwer, sie dem richtigen Mann zuzuordnen. Doch Cadfannon kam nicht allein. Da war ein zweites Paar Füße. Ein schriller Protest erklang vor seiner Tür, gefolgt von einem Klopfen.

Madoc erhob sich und trat den Becher in eine Ecke des Zimmers. Ihm war die Lust auf Wein vergangen. »Ja!« Er verbarg seine zitternde Hand hinter dem Rücken.

Sofort flog die Tür auf und sein Hauptmann trat ein. Er zerrte Adwen mit sich, die verzweifelt die kräftige Hand um ihren Oberarm loszuwerden versuchte.

Madoc runzelte die Stirn über das ihm dargebotene Bild. Warmes Blut tropfte von seinen Fingern.

»Vater!« Adwen keuchte. »Er soll mich loslassen!«

Cadfannon senkte höflich sein Haupt, ohne der Forderung des Mädchens nachzukommen. »Verzeih die Störung.«

»Erklär mir das, Hauptmann«, grollte der Herr von Caer Eog.

Der andere sah auf und ihn unverwandt an. »Deine Tochter hat dem Gefangenen Essen gebracht.«

Madoc erstarrte. Dann lenkte er seinen Blick auf Adwen und lächelte gärig. »Ist das wahr, mein Vögelchen?«

Kapitel 3

Als Adwen den Zorn in den Augen ihres Vaters aufblitzen sah, wollte sie unwillkürlich zurückweichen, doch Cadfannon hinderte sie daran. Seine linke Hand, an der zwei Finger fehlten, schloss sich fester um ihren Oberarm. Adwen schluckte.

»Ich habe dich etwas gefragt«, erinnerte Madoc und tat einen Schritt auf sie zu.

Schuldbewusst schlug Adwen die Augen nieder. »Ich habe ihm Essen gebracht«, gab sie zu. »Aber ich wusste nichts von deinem Verbot.« Sie senkte die Stimme. »Ich hielt es für eine gütige Tat.«

Während der Hauptmann keinen Ton von sich gab, stieß ihr Vater so plötzlich ein lautes Lachen aus, dass Adwen zusammenfuhr.

»Gütig?«, wiederholte er. »Sieh mich an.« Adwen gehorchte und bemerkte den betrübten Ausdruck auf seinem vertrauten Gesicht. »Dieser Mann will meinen Tod. Bedeutet dir das nichts?«

»Doch!«, entfuhr es ihr. »Wie kannst du so von mir denken?«

Madoc nickte kaum sichtbar, dann wandte er sich halb zur Seite. »Du suchst also nach einer Verwendung für dein Mitgefühl.« Er richtete das Wort an Cadfannon: »Wie lange ist deine Frau jetzt tot?«

Mit einem Mal fühlte sich der Griff des Hauptmanns wie eine sengende Fessel an, die sich mit jedem Atemzug tiefer in Adwens Arm brannte.

»Seit einem Jahr, Herr.«

»Du wirst meinen Hauptmann sicher zu trösten wissen, wo du doch so voller Güte bist.« Die Stimme ihres Vaters klang dumpf und hohl, als spräche er durch ein Gefäß zu ihr.

Adwen blieb die Luft weg. Statt eines Protests perlte nur ein erstickter Laut von ihren Lippen.

Das schien Madoc nicht zu kümmern. »Was sagst du, Cadfannon? Dein Sohn braucht eine Mutter.«

»Wenn du es befiehlst«, erwiderte der.

Madoc lächelte matt.

Ungläubig schüttelte Adwen den Kopf. Das meinte er nicht ernst. Ihre Mutter hatte ihr versichert, dass sie allein diese Entscheidung träfe. Ein Impuls schoss durch ihre Glieder, der Adwen die Kraft verlieh, sich mit einem Ruck von Cadfannon loszumachen. »Nein!« Sofort schnellte sein Blick zu ihr und sie wich weiter zurück. Seit jeher verdeckte ein breites Lederband sein linkes Auge. Es hatte sie nie gekümmert, nun fragte sie sich plötzlich, wie er es verloren hatte. Wieder schüttelte sie den Kopf.

Ihr Vater lachte. »Sie will dich nicht, Hauptmann. Und sie hat recht. Das entscheidet keiner von uns.«

Erleichterung ließ ein zittriges Lächeln über Adwens Lippen flattern. Madoc machte sich bloß auf Cadfannons und ihre Kosten einen Spaß.

»Geh, Hauptmann«, befahl er jetzt. »Ich will allein mit meinem Vögelchen sprechen.«

Cadfannon verneigte sich vor seinem Fürsten, ehe er Vater und Tochter alleinließ. Die Tür schlug zu. Seine Schritte entfernten sich und verklangen schließlich ganz.

Derweil sah Madoc sie forschend an. »Ich möchte dich etwas fragen.« Er kehrte ihr den Rücken und trat an den Tisch. »Was hat dir deine Mutter über die Tylwyth Teg erzählt?«

Adwen war ihm zwei Schritte gefolgt, nun blieb sie verwirrt stehen. So hatte sie ihn noch nie erlebt: Der übertriebene Zorn, die ungewohnt zotigen Späße, und nun wollte er über Märchen reden? »Dass es Feenwesen sind, die Kinder stehlen.«

Seine Finger schlossen sich um den Griff des auf dem Tisch stehenden, hübsch verzierten Tonkruges. »Mehr hat sie nicht gesagt?«

»Sie verführen die Menschen«, fügte Adwen hinzu und dachte an die schönen Korriganen, die gemeinsam mit der irischen Kultur nach Gwynedd geschwappt waren. »Manchmal verlieben sie sich auch.«

Einen Moment lang stand er ganz still da, bevor er den Krug hob und trank. Er setzte ab und wischte sich über den Mund. »Willst du mich für dumm verkaufen?«

»Vater?«

Madoc knallte den Krug auf die Holzplatte und fuhr zu ihr herum. Er fasste nach ihrem Gesicht. Doch anders als sonst umfing er es nicht mit sanften Fingern, sondern quetschte ihre Kiefer. Hell und kalt und viel zu nah glitzerten seine blauen Augen.

Erschrocken blähte sie die Nasenflügel.

»Was hat Branwen gesagt?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Vater.«

»Hör auf mit dem Schauspiel.« Madoc verzog den Mund zu einem Lächeln, das einer Grimasse ähnelte.

»Vater?«

»Schluss!« Er stieß Adwen von sich, die vor Schreck beinahe das Gleichgewicht verlor. Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und rieb ihre schmerzenden Wangen.

»Ich bin nicht dein Vater.« Es klang wie ein Vorwurf.

Adwen lachte auf. Das war wieder ein Scherz.

Verdrießlich musterte er ihre Erscheinung von oben bis unten und ihr Lachen erstickte. Nie zuvor hatte er sie mit solch tiefer Verachtung angesehen.

Adwen schüttelte den Kopf. »Das ist …« Ihre Stimme versagte.

»Eine Lüge?«, half er ihr. »Ich habe keinen Grund zu lügen. Es war deine Mutter, die nicht wollte, dass du die Wahrheit erfährst.« Lächelnd trat er näher, hob die Linke und Adwen schreckte zurück, aber dieses Mal strich er bloß über ihre Wange. »Da sie nun tot ist, ist es einerlei.«

Zitternd verharrte sie unter der Berührung, während ihre Augen sich bis zum Überlaufen mit Verzweiflung füllten.

Mit der Daumenkuppe strich Madoc eine Träne fort. »Ich frage mich, wie viel du weißt. Und wie lange du es schon vor mir verheimlichst.«

Adwens Sicht auf den Mann, den sie ihr ganzes Leben als Vater betrachtet hatte, verschwamm. Ein leises ungläubiges und zugleich begreifendes Glucksen entglitt ihrer Kehle.

Sein Ausdruck wurde hart. »Wie klug von Branwen, mein Vögelchen zu benutzen.«

Sie schüttelte den Kopf, begriff nicht, wovon er sprach.

Madoc beugte sich vor und küsste ihren Mundwinkel, seine nächsten Worte nur ein lauer Lufthauch auf ihrer nassen Wange. »Ich hätte dich damals töten sollen.«

Seine Worte ließen Adwen erstarren. Ehe sie etwas erwidern konnte, grub er die Faust in ihren Magen. Statt eines Aufschreies entrang sich ihrer Kehle nur ein erstickter Laut. Durch den dichten Nebel des Schmerzes gellte eine Warnung ihres Instinktes. Er wollte sie töten! Sofort stemmte Adwen die Hände gegen seine Brust, um Madoc von sich zu stoßen. Der packte ihren Hinterkopf und zog sie fest an sich. Sie rang nach Luft und trat ihm gegen das Schienbein.

Madoc grunzte und ließ von ihr ab, nur um sofort erneut auf sie loszugehen.

Raus! Sie musste hier raus. Sofort!

Einer Eingebung folgend griff Adwen hinter sich, tastete nach der Kanne auf dem Tisch und kippte sie dabei um. Der Inhalt kleckerte über den Rand der Platte. Endlich fanden ihre Finger den Griff. Sie atmete ein, sammelte ihre Kraft und schleuderte den Krug mit voller Wucht gegen Madocs Haupt. Ein lauter Schrei ertönte, als das Gefäß an seinem Schädel zerbrach und in Scherben zu Boden ging.

Madoc gab sie augenblicklich frei, taumelte rückwärts und fasste nach seinem Kopf. Statt wie erhofft das Bewusstsein zu verlieren, schwankte er bloß. Atemlos gewahrte Adwen das Blut, welches aus der Platzwunde an seiner Schläfe hinab und über seine Finger rann. Plötzlich knickte sein linkes Knie unter Madoc ein und er stürzte auf die Dielen – geradewegs in die Scherben hinein. Er schrie auf.

Das war die Gelegenheit! Adwen riss sich von seinem Anblick los, wirbelte herum und stürzte zur Tür.

»Flieh ruhig, mein Vögelchen«, höhnte Madoc ihr hinterher. »Ich werde dich finden.«

 

 

Mit wild klopfendem Herzen kauerte Adwen hinter dem Strohballen. Die Rufe der Soldaten klangen durch die grobe Bretterwand und übertönten die Tierlaute im finsteren Stall. Adwen befürchtete, jeden Moment eine Schwertschneide an ihrer zugeschnürten Kehle zu spüren. Wider Erwarten schauten die Männer, die nach ihr suchten, nicht einmal in den Stall hinein. Ihre Stimmen entfernten sich.

Adwen stieß den angehaltenen Atem aus.

Dieses Mal hatte sie Glück gehabt, doch es war nur eine Frage der Zeit, wann sie hier nachsehen würden. Verzweiflung trieb ihr die Tränen in die Augen und sie zog die Knie eng an die Brust, um ihr Gesicht zu bergen.

Was nun? In Caer Eog war sie nicht sicher. Aber sie hatte die Festung stets nur für kurze Ausflüge verlassen und selbst wenn es ihr gelänge, den Wachen zu entkommen und zu fliehen – es war Nos Galan Gaeaf, die Nacht, in der die Grenzen zwischen Totenreich und Menschenwelt durchlässig waren. In so einer Nacht sammelten sich Geister an Wegkreuzungen und Zaunübertritten. Sobald die Feuer im Hof erloschen, sollte niemand mehr draußen unterwegs sein.

Es gab ohnehin keinen Ort, an dem Adwen Zuflucht suchen konnte. Über die Familie ihrer Mutter wusste sie nichts.

Wut brandete in Adwen auf und versengte ihr die Zunge. Allein Branwens Schweigen hatte sie in diese ausweglose Lage gebracht.

Adwen atmete tief ein und aus, brachte Luft in ihre Lungen, die ihren Verstand klärte. Sollte sie versuchen, mit Madoc zu sprechen? Für gewöhnlich war er ein vernünftiger und ehrlicher Mann und vielleicht war alles bloß ein Missverständnis. Blut rauschte in ihren Ohren. Er wollte ihren Tod.

Wie von selbst fanden ihre Finger den Anhänger auf ihrer Brust, Cadels Schutzamulett. Cadel. Gerade jetzt, da sie ihn am meisten brauchte, war er nicht da und heute Nacht kehrte er sicher nicht zurück. Das Holz fühlte sich warm und tröstlich an.

Draußen ertönte ein Krachen, das Adwen aufschreckte. Sie vergeudete wertvolle Zeit. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen ab. Wenn sie leben wollte, musste sie fliehen. Allerdings war der Weg durch den alten Vorratskeller nicht mehr zugänglich, seitdem Cadfannon mehr Soldaten zu dem Gefangenen geschickt hatte, und die Tore waren seit Einbruch der Dunkelheit verschlossen.

Adwen stand auf. Sie würde einen anderen Weg finden.

Plötzlich vernahm sie ein leises Schaben an der Tür. Da war jemand! Adwen duckte sich wieder in ihr Versteck, umfasste den Griff ihres kleinen Messers und zog es aus dem Gürtel.

Strohhalme raschelten. Ein matt rötlicher Schimmer flackerte über die Wände.

Adwen drückte sich tief in die Ecke und harrte mit angehaltenem Atem aus, während die Kraft sich in ihren Muskeln staute. Schweiß machte den Messergriff rutschig. Jetzt!

Mit hocherhobener Waffe sprang Adwen auf. Und hielt inmitten ihrer Bewegung inne, als sie das besorgte Frauengesicht erkannte. »Melyn!« Die Spannung wich aus ihren Gliedern und sie sank auf den Boden zurück.

Die Dienerin nickte stumm und winkte sie sogleich wieder auf die Füße.

Adwen reagierte nicht. Auch wenn es Melyn war – man hatte sie gefunden. Ihr konnte sie kein Leid antun. Das Messer rutschte aus ihren Fingern und in die Falten ihres Rockes.

Die Dienerin kniete sich neben Adwen und stellte das Talglämpchen ab. Ein ernster Zug lag um ihren Mund. In Zeichensprache gab sie zu verstehen, dass sie helfen wollte.

Adwen öffnete den Mund, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich traue dir nicht.«

Melyn wirkte gekränkt. Ich verrate meine Herrin nicht, erklärte sie mit Handzeichen. Damit meinte sie nicht Adwen sondern deren Mutter.

Adwen bereute ihre Worte. Solange sie sich erinnerte, war die stumme Dienerin Branwen treu ergeben gewesen. Wenn sie jemandem trauen durfte, dann ihr.

Melyn drückte ihre Schulter. Komm.

 

 

Ein heißer Luftstrom versengte Carwyn die Wangen und er wurde schlagartig wach. Dicht vor seinem Gesicht knisterte eine Fackel. Er kniff die Augen zu und lehnte den Kopf zurück, um dem Funkenregen zu entgehen. Carwyn stieß gegen das morsche Regalbrett. Etwas verglühte auf seiner Haut.

»Hoch mit ihm!«

Grobe Hände packten ihn links und rechts und zerrten ihn auf die Füße.

Carwyn blinzelte, versuchte etwas zu erkennen, indes machte ihn das Wechselspiel aus Finsternis und greller Flamme halbblind.

»Bringt ihn nach draußen.«

Ihm schwindelte. Die Kraft wich aus seinen Beinen, aber das kümmerte die Soldaten wenig. Sie waren stark genug, sein Gewicht mitzuschleifen.

Die Fackel verschwand, blendete den Gefangenen nicht länger, sodass der endlich seine Umgebung sehen konnte. Er erkannte Madoc, dessen Miene eingefroren wirkte, in seinen Augen jedoch glühte der Zorn. Womöglich war es auch bloß der Fackelschein, der darauf reflektierte.

Carwyn grinste. »Geht es endlich los?«

Der Herr von Caer Eog schwieg. Schon zerrten die Soldaten Carwyn weiter, sodass er den Kriegsfürsten aus den Augen verlor. Fackelruß brannte in seinen Augen und in seinem Hals, als er den Gang entlang und die Treppe hinaufgebracht wurde. Stimmen tönten durcheinander und Gesichter fremder Soldaten glitten an ihm vorbei. Ihm schwirrte der Kopf und er senkte die Lider, um sich vor den Eindrücken zu schützen. Plötzlich schlug ihm kalte Luft entgegen.

Carwyn öffnete vorsichtig die Augen. Draußen empfingen ihn weitere Soldaten, die aufgestellt im Halbkreis allesamt Fackeln trugen. Trotzdem wirkten ihre Gesichter unnatürlich blass. Hinter ihnen glommen noch die Überreste von Feuern, die den Hof zusätzlich ausleuchteten.

Warum schleppte Madoc ihn für das Verhör nach draußen? Oder plante er gar etwas anderes? Carwyn brach der Schweiß aus. Die Männer drückten ihn zu Boden, bis er auf dem Erdboden kniete, und wichen nicht von seiner Seite.

»Weißt du, welcher Tag heute ist?«, hörte er schon die Stimme, bevor Madoc mit auf dem Rücken verschränkten Armen in sein Sichtfeld trat.

»Nos Galan Gaeaf.«

»Richtig.« Madoc lächelte, aber das flackernde Licht verwandelte seine Züge in das Zähneblecken eines Raubtiers. »Niemand sollte heute Nacht das Haus verlassen.« Seine Worte schallten laut über den Hof. Madoc lenkte seinen Blick hinauf zur Palisade. »Die Geister haben Gefallen daran, eine junge Seele zu stehlen.«

Carwyn schmunzelte. »Du willst mich den Geistern überlassen?«

»Wer redet denn von dir?«, knurrte Madoc und kehrte ihm den Rücken.

Der Gefangene runzelte die Stirn.

»Adwen!«, brüllte der Kriegsfürst jetzt. »Ich weiß, dass du mich hörst.«

Carwyn erstarrte, dann begriff er und lachte. »Dein Töchterchen hat Reißaus genommen.«

Madoc fuhr mit finsterer Miene zu Carwyn herum, stapfte näher und drängte den Soldaten zu seiner Rechten zur Seite. Grob packte er Carwyn beim Schopf. »Siehst du, wer hier bei mir ist?«, flötete Madoc und riss an seinen Haaren, sodass Carwyn sich unwillkürlich in die Höhe strecken musste.

»Komm heraus, dann lasse ich ihn am Leben«, rief der Herr von Caer Eog. Er senkte den Blick in Carwyns Gesicht und zog die Nase hoch. »Andernfalls töte ich ihn.«

Der junge Mann hob trotzig das Kinn, obgleich Schmerzblitze über seinen Schädel jagten. »Meinst du, das lockt sie heraus?«

Madoc verengte die Augen. »Sie wird ihr Leben gegen deines tauschen.« Er wechselte einen Blick mit seinem Hauptmann, doch der schüttelte wortlos den Kopf. »Willst du seinen Tod auf dich laden, mein Vögelchen?«, schrie er so laut, dass dem Gefangenen die Ohren klingelten.

Nirgendwo regte sich etwas.

Carwyn schnalzte. »Sie kommt nicht.« Er empfand Genugtuung.

Jäh machte Madoc einen Schritt rückwärts und ließ dabei seinen Schopf los, bevor er sein Schwert mit einem leisen Schleifgeräusch aus der Scheide an der Hüfte zog. Rotes Licht spiegelte auf der blanken Klinge, und Carwyn wurde der Mund trocken. »Wenn du nicht sofort herauskommst, schlitze ich deinen Freund auf! Das verspreche ich dir.«

»Einem Versprechen von Madoc ist nicht zu trauen«, befand er herausfordernd, obwohl ihm beim Anblick des Schwerts das Blut in den Adern gefror.

»Schnauze!« Madoc hieb ihm den Knauf gegen den Kopf.

Schmerz gleißte durch seine Wahrnehmung, schnitt ihn von seinen Sinnen ab. Kurzzeitig war er taub und blind, bevor er urplötzlich in eine von verschmierten Bildern und wütenden Stimmen beherrschten Umgebung zurück geschleudert wurde. Warmes Blut tropfte in sein Auge und erschwerte seine ohnehin schlechte Sicht.

»Ich halte meine Versprechen immer«, erklärte Madoc mit Nachdruck.

Carwyn hätte gerne seinen Unglauben darüber kundgetan, leider war sein Verstand nicht in der Lage, die richtigen Worte zu finden. Vielmehr kämpfte er darum, nicht in die Besinnungslosigkeit zu gleiten.

Der Hauptmann trat vor. »Ich denke, sie ist nicht mehr hier, Herr.«

»Sie soll ganz allein aus Caer Eog geflohen sein?«, schnauzte der zurück.

Wie zur Antwort senkte Cadfannon das Haupt.

Auch Madoc schwieg.

Allmählich fanden die Gedanken in seinem Kopf wieder einen Zusammenhang. Carwyn ahnte, was in seinem Feind vorging, der zum geschlossenen Tor hinübersah. Sogar die Soldaten warfen einander unruhige Blicke zu. Niemand wollte sich vor die Tore von Caer Eog wagen. Schlimm genug, dass sie sich zurzeit nicht in ihren sicheren Häusern befanden. Der Fluchtzeitpunkt des Mädchens war gleichermaßen gut und schlecht gewählt.

»Was wirst du jetzt tun, Madoc?«, spottete Carwyn. »Deine Tochter ist fort und keiner deiner Männer wird ihr heute Nacht folgen.« Er hoffte ehrlich, dass Adwen ausreichend Vorsprung gewinnen und ein Versteck finden würde, bevor sich die Soldaten im Morgengrauen auf den Weg machten.

Langsam drehte Madoc sich zu seinem Gefangenen um. Er hob dabei das Schwert in seiner Hand. Das Gesicht eine starre Maske. »Ich löse mein Versprechen ein.«

Kapitel 4

Leere Augenhöhlen starrten Kynan an. Ein eisiger Schauer, der nicht von dem schneidenden Morgenhauch rührte, rann seinen Rücken hinab und ließ ihn frösteln.

Carwyn.

Schmerz und Reue dehnten seinen Brustkorb. Er war zu spät gekommen. Sein Freund baumelte inmitten verwitterter Gerippe an der kahlen Eiche als Warnung eine Meile von Caer Eog entfernt.

Carwyn war noch nicht lange tot. Vielleicht ein paar Stunden, im ersten Morgenlicht aufgehängt. Die Augäpfel holten sich die Krähen immer zuerst.

Der Wind frischte auf und die bloßen Knochen klapperten hohl. Darüber kreischten die Aasvögel. Sie lauerten darauf, dass der Störenfried verschwand, damit sie sich wieder ihrem Festmahl widmen konnten.

Kynan erzeugte ein verächtliches Schnalzen. Er wünschte, den Leichnam seines Kameraden abnehmen zu können, um ihn vor den Krähen zu schützen. Selbst ein flaches Grab wäre besser als auf diese Weise Wegelagerer und Verbrecher abzuschrecken. Aber er durfte es nicht.

Es würde zeigen, dass jemand hier gewesen war, der mit Carwyn in Verbindung stand. Und Madoc würde wissen wollen, wer dieser jemand war, und nach ihm suchen. Das konnte Kynan nicht riskieren. Zu wichtig war das Vorhaben, welches Carwyn durch sein unbedachtes Handeln unlängst in Gefahr gebracht hatte.

Es wäre das Beste, sofort zu verschwinden.

Er fuhr sich mit der Hand über die brennenden Augen und zog eine Grimasse. Dann lenkte er sein Pferd herum und trieb es den Weg zurück, den er gekommen war.

Durch die dichte Wolkendecke war die aufgehende Sonne bloß als heller Schimmer zu erkennen und färbte diesen Morgen in Trostlosigkeit. Der Wind brachte eine feuchte Kälte mit sich und kurz darauf setzte Eisregen ein. Kynan fluchte. Er verengte die Augen, barg die Nase tiefer in seinem Mantel und atmete den muffigen Geruch von feuchter Wolle ein. Die Intensität des Eisregens nahm zu und seine Sichtweite in gleichem Maße ab. Kynan kümmerte es nicht. Mitten auf dem Weg hielt er an. Er fühlte sich im Inneren leer und gleichzeitig zum Bersten gefüllt.

Pferd und Reiter wurden von einer eisigen Böe erfasst.

Kynan riss sich aus seiner Lethargie. Er durfte sich diesem Trübsinn keinesfalls hingeben. Er war nicht abergläubisch, doch er war in der Geisternacht unterwegs gewesen. Womöglich hatte er sich in einem Zauber verfangen. Kynan atmete tief durch, um die Sinne zu schärfen und seinen Verstand zu klären.

Die Stute wieherte, wie um Kynan daran zu erinnern, dass sie noch immer im Eisregen standen, aber der beachtete sie nicht.

Keine Menschenseele war heute unterwegs. Er könnte die großen Straßen nehmen, ohne gesehen zu werden, was seine Reisedauer erheblich verkürzte. Allerdings ließ die Witterung ein Weiterreiten nicht ohne das Risiko zu, sich heute Nacht den Tod zu holen.

Kynan warf einen Blick über die Schulter. Der zurückgelegte Weg verschwand im Schneeregen. Wenn er sich nicht irrte, befand sich in gut zwei Meilen Entfernung ein Dorf und hoffentlich ein trockener Schlafplatz für ihn. Er schnalzte und seine Stute setzte sich wieder in Bewegung.

Die Hufe patschten in Eiswasser, das hoch in den Schlaglöchern stand. Die durchnässten Beinkleider klebten Kynan an den Unterschenkeln. Er zitterte.

Auf halber Strecke bemerkte Kynan einen Schemen am Straßenrand. Spielten ihm seine Augen einen Streich? Angestrengt blinzelte er die Tropfen an seinen Wimpern fort. Nein, er täuschte sich nicht – da lag jemand.

Eine Falle von Räubern? Kynan lauschte, hörte jedoch nur das Klirren des Eisregens. Nichts Beunruhigendes – nichts außer diesem reglosen Bündel.

Bis aufs Äußerste angespannt lenkte Kynan seine Stute darauf zu. Von oben herab musterte er die in einen Mantel gehüllte Gestalt.

Kynan rutschte aus dem Sattel und hockte sich mit einer Hand am Messerheft daneben. Der Statur nach handelte es sich nicht um einen kräftigen Räuber, der ihn im nächsten Moment an der Gurgel packte. Doch womöglich war diese Gestalt hier bloß das Lockmittel. Noch einmal schaute er sich um, dann zog er das Messer und hob mit der Klinge die triefende Kapuze an. Eine junge Frau. Sie regte sich nicht, aber Kynan spürte warmen Atem auf seinen ausgekühlten Fingerknöcheln. Er zog eine Grimasse. Bewusstlos, nicht tot. Letzteres wäre ihm lieber gewesen.

Kynan fluchte leise. Das Schicksal des Mädchens ging ihn nichts an und eine unglückliche Seele, die an Nos Galan Gaeaf unterwegs war, brachte zweifellos Ärger mit sich. Kynans Begabung lag darin, nicht aufzufallen. Es war ein Leichtes, überall unerkannt hinein- und wieder hinauszukommen. Allein. Zu zweit zu sein, bedeutete unweigerlich aufzufallen.

Eilig zog Kynan das Messer fort und kehrte zu seinem Pferd zurück, aber er machte keine Anstalten, sich wieder in den Sattel zu ziehen.

---ENDE DER LESEPROBE---