Hyäne – Eine Erlösungsfantasie - Benjamin von Wyl - E-Book

Hyäne – Eine Erlösungsfantasie E-Book

Benjamin von Wyl

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Beschreibung

Ein bulimischer Global Player, der nervös wird, wenn er zu wenig fliegt. Eine junge Frau, deren unstetes Leben zwischen sinnlosen Callcenter- und Garderoben-Jobs schwebt. Und eine Aktivistin, die nachts Warenhäuser verwüstet. Dazu die Angestellten eines multinationalen Konzerns mit einem visionären Plan für die Menschheit. Benjamin von Wyl führt uns in hohem Tempo vom Jetzt in eine Zukunft, die Erlösung verspricht. ​Er wird nervös, wenn er zu wenig fliegt. In die Hinterhof-Region Mitteleuropa reist er nur deshalb, weil ihm Neocitranis alle Freiheiten beim Test seines "CEO For One Month"-Programms gibt. Sie sitzt jede Nacht im Fenster und beobachtet den Wachmann im Warenhaus gegenüber. Ihr Leben ist unstet, ihre Jobs verschaffen ihr eine arhythmische Woche. Aus diesem stotternden Dasein wird sie rausgerissen, als sie beobachtet, wie dem Wachmann eines Nachts eine Espressokanne über den Kopf gezogen wird. Die Erzählerin folgt der Flüchtenden, Hanna mit Namen: in einen Park, ins Jura, und in Hannas Theorien. Zusammen bildet das Paar eine Kapsel, ein Lebensmodell. ​Doch dann besucht die Erzählerin das Casting für "CEO For One Month". Hier will der Global Player sie zum "UBER-Mensch" formen. Hanna sucht die Erzählerin mit zunehmender Sorge. Eines Nachts stampft sie während der Suche über Kleiderberge und Firmenbadges. Am nächsten Morgen ist Hanna skeptisch. Sind es wirklich die Leute vom Neocitranis-Konzern, die die Menschheit von sich befreien wollen? Wenn es aber stimmt, als welche Art will sie fortan leben?

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Benjamin von Wyl

Hyäne

Eine Erlösungsfantasie

Der Autor dankt dem Fachausschuss Literatur BS/BL für den Werkbeitrag an dieses Buch.

Benjamin von Wyl

Hyäne – Eine Erlösungsfantasie

Roman

lectorbooks GmbH, Zürich

[email protected]

www.lectorbooks.com

Gesamtproduktion: www.torat.ch

Umschlagbild vorn: Gefunden von Evan Ruetsch

Umschlaggestaltung: André Gstettenhofer

Lektorat/Korrektorat: Patrick Schär

1. Auflage 2020

© 2020, lectorbooks GmbH

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-906913-24-7

Für Mirjam, Kissi und Susanne

Inhalt

1. Du guckst dir zu

2. Du bist ein Arschloch

3. Du wirst geschlagen

4. Du gewinnst immer

5. Sonderangebot: Du schlägst zu

6. Atempause

7. Du wirst ausgewählt

8. Du bist auserwählt

9. Du bist alle – alle werden gerettet

Elysium

Danksagungen

Zum Autor

1.Du guckst dir zu

Er ist kein »very good looking blond boy«, wie es der Maler einst notiert hat. Ob seine Haare blond sind, siehst du nicht. Er zieht die soldatische Security-Kappe zwar ab, wenn er sich zwischen den Runden an die Theke setzt und auf die entleerte Schlagader blickt, aber bei dem Licht erkennst du seine Haarfarbe nicht. Nighthawk, dein einzelner Nighthawk. Du siehst auf ihn herunter.

Er sitzt da, hinter der orangen Leuchtschrift. Die Straße leer, sie ist immer so leer nachts. Bevor du hierhergezogen bist, hattest du ein ganz anderes Bild von ihr. Hattest sie während den Konsumstoßzeiten am Samstagnachmittag erlebt, immer dann erlebt, wenn Trams fahren. Die Tramhauptschlagader dieser Stadt – hier passieren sie die Schaufenster der großen Ketten. Das Bimmeln, wenn Fußgänger queren. Die Brems- und Beschleunigungsmanöver – die in deinen Kreislauf übergegangen sind wie früher die Glocken der Dorfkirche – überspielen, dass diese Stadt abends schläft. Einmal, als du nachts aus dem letzten Tram gestiegen bist, hat dich eine Polizeistreife angehalten. »Ausweis bitte.« Es war die Ausnahme, unter der Woche bist du sonst um 22 Uhr zu Hause. Von da an siehst du auf die Tramstation runter, den Burgerladen, vor dem bis Ladenschluss Dealer stehen – und siehst auf ihn herunter, deinen Nighthawk. Der Security sitzt im Kaufhaus-Café Zeit ab, beleuchtet von der Reflexion des Logos im Warenhausfenster. Vielleicht dunkelblond? Nicht gut aussehend jedenfalls, anders, als Hopper meinte. Eher teigig, vom Sitzen an seinem Aussichtsposten geformt. Ein alleine Hingestellter, einzelner Angestellter, ein Vereinzelter. Nighthawk, ein einzelner Nighthawk. Er gleicht auch nicht dem zweiten Mann auf dem Gemälde, dem mit der spitzen Nase, dessen Hand bei der Frau ist. Nighthawks – was bleibt: die klaren Linien, die satten Farben, die Uhrzeit.

Der Security-Mann lebt nachmodern, keine Vorzüge, keine Gründe für das Präfix »Vor-«: keine Vorfreude, keine Vorsätze, keinen Vorsprung. Die Beschleunigung ist aber auch nicht das Problem meines Nighthawks: Nachts fährt nichts. In seinen ersten Stunden fahren noch Trams, aber in der Innenstadt tun sie das im Schritttempo. Nicht er hat Valium geschluckt, sondern seine Situation, seine Arbeit bei 21 Grad mit Bodenheizung. Es geht nirgends mehr hin für ihn, denkst du. Denkst an dich. Willst dich wegschieben, alles andere wäre anmaßend, aber in deiner Welt gibt es Beschleunigung: Deine Gedanken rasen, Absprung unmöglich, dein Bewusstsein hat die Kindersicherung aktiviert. DU. Du bist der einzige Mensch, der in seinen Albträumen das Login-Geräusch des Callcenters hört. In unzähligen Wiederholungen, wie ein Jingle, dein Soundtrack. Ergänzt durch das »Feueralarm-deaktiviert«-Geräusch im Museum und das befriedete Summen des lächerlich kleinen Safes, in den du den Abendumsatz packen musst, wenn du beim Garderobendienst in der Konzerthalle zum Geldzählen eingeteilt bist. Du rast jetzt durch die Klick- und Surrgeräusche: Einchecken mit der Login-Karte, Auschecken, die Tramtickets, die Anfahrtszeit, die Fünf-Stunden-Schichten, die internen Learnings, die Sohlen der Supervisoren, die Absätze der Kolleginnen, deren Desinteresse.

Der Nighthawk steht auf, du nimmst deinen Kaugummi aus dem Mund und wirfst ihn. Deine Kaugummis landen nie auf der Straße; sie landen immer auf dem Vordach hinter der Werbung für den Donutladen. Nicht im Sichtfeld des Nighthawks. Du verlässt jetzt deinen Fensterplatz, du schaltest deine Musik ein, du schaltest deine Musik aus, du beachtest deine Lichtquelle: der offene Laptop auf dem Bett. Du schaust vorbeiflirrende Clips. Du verklickst dich in den Empfohlenen Videos, landest bei dem Bildmaterial deiner Kindheit. Pumuckl, die Blocksberg-Bibi, Teenage Mutant Ninja Turtles. Was für ein aufgeräumtes Leben hat doch Pumuckl versprochen: die echte Welt klar, alles Chaos als Cartoon. Immer klar trennbar. Wann immer das Chaos zu dir kam, den Bildschirm zersplittert hat, gab es noch wen, der Halt bot. JC.

Als Kind hattest du Ausschläge. Immer im Sommer. Auf deiner Haut bildeten sich rote Inseln. Wenige, dafür talergroße. Du hast gekratzt, du hast die Sekrete gespürt, nie aber den Punkt, an dem sich dein Blut mit der Lymphe mischt. Zwei Taler sind geblieben. An beiden Knöcheln, dort, wo Socken und Schuhe aufeinanderliegen, drücken, Schweiß treiben. Dort haben sich Male gebildet. Stigmata, hast du früher gewitzelt, in den Sommerlagern. Charismatische Christengemeinde, in die dich die Scheidung deiner Eltern geführt hat. Du hast Kapuzenpullis mit ihren Codes getragen: »ER.LEBT.«, »Catch up with Jesus«, rot, der Schriftzug dem Etikett von Heinz Tomato Ketchup nachempfunden, dazu immer das Armbändchen mit dem Fisch-Zeichen. Als wäre es gefährlich, eine Geheimsache: Christin sein in Mitteleuropa. Wo Glacewerbungen sexuell provozieren und der Teufel im Quellcode jeder Homepage haust. Ob am Sonntag auf dem Holzstuhl oder wochentags auf Plastikpolster: Du hast gekratzt, Nägel gekaut. Die Häutchen oberhalb der Fingernägel weggebissen, gerissen, Eiter gezüchtet und in weißen Tropfen rausgedrückt. Du hast die Ausschläge zu einer feuchtklebrigen Oberfläche provoziert. Im Holzstuhl, während dem Gottesdienst, hast du deinen Schlüsselbund in den Handteller gepresst. Scheidungskinder haben früh einen eigenen Schlüsselbund. Du hast gepresst. Um was zu spüren, das zu spüren. Bei Scheidungskindern sind doppelt so viele Schlüssel am Bund. Du musstest dich an was klammern, um die Hoffnung auszuhalten. Es ging nicht um Buße, das stimmt nicht, du hast ja nichts gemacht, also auch nichts Falsches. Vielleicht beschreibt es »Tilgung« besser? Oder vielleicht ging es dir einfach um Ruhe? Ruhe während den Gebeten, Ruhe zwischen den Gebeten, Ruhe, bis das nächste Stoßgebet nicht mehr verhinderbar war.

Du kommst vom Zentrum und doch vom Rand. Dort hast du dich umgeschaut und gesehen: das Plastikpolstersofa, durchgesessen. Und die aufgezeichneten Leben, die sich ebenfalls dort festgesessen haben, wo du sitzt: Unterschichtsfernsehen. Deine Kindheit über hast du das inhaliert. Auch die Nachrichtenvariante davon, »das Jugendgericht«, »Exclusiv Weekend«, »taff«. Die Nachrichten, die Eltern nicht gucken. Wolltest wissen, ob deine Familie so ist, wie die Familien aus den »Frauentausch«-Sendungen. Wolltest wissen, was du gemein hast mit den Scheidungskindern, die in Frühabendschocknachrichten kommen, weil sie ihre Eltern der Trennung wegen auf Genugtuung verklagen. Plastikpolster vor der Schule, nach der Schule. Zum Unterricht musstest du rennen. Nur noch die nächste Wendung im Laienschauspieler-Gerichtsprozess abwarten, nur noch einen halben Beitrag schauen – über einen Bauern, der seine Opfer Schweinen verfüttert hat, nur noch bis zur nächsten Werbepause. Dann bist du gerannt. Dann gab es Noten. Und deine Noten blieben gleich und gut, die Konstante. Nichts Bipolares wie mit JC, sie boten Halt. Die immer gleichen Noten versicherten: Du bist wer. Wo. An einem Ort. Jetzt gibt es keine Noten mehr, und du rennst und rennst und rennst. Kommst nicht an, bist nicht da, verkennst. Nighthawks! Von wegen.

2.Du bist ein Arschloch

Du überlegst, es zu tun: dein erstes Mal im Flugzeugklo. Es wär eine kleine Pointe für dich, ein Bruch mit deiner Routine. Sonst ist alles wie sonst auf dem frühen Flug, von der Limousine bis zum Fast Check-in. Der Airline-Jingle gibt dir Geborgenheit, das Nackenkissen ist dein Mutterschoß. Fliegen ist doch schon lange kein Traum mehr, kein Menschheitstraum. Fliegen als Traum stammt aus dem Tierreich, als Menschen noch Säugetiere waren.

In der Lounge vor dir sitzt eine fünfköpfige Männergruppe. Einer zum andern: »Mir ist egal, ob du jetzt schon trinkst. Mir wär wichtiger, dass du wieder mal zum Barber gehst.« Der Dude, der das sagt, hat ein fliehendes Doppelkinn. Sie sind vielleicht zehn Jahre jünger als du, ihr Glück. So ein Doppelkinn hätte zu deiner Zeit bereits in der Unterstufe genug auf die Fresse bekommen, der wär Bulle geworden. Bulle oder Maschinenbauingenieur. Der hätte nichts auf sein Ego geben dürfen. Damals. Rare ould Times. Heute gelten andere Schönheitsideale. Ein fliehendes Doppelkinn ist individuell. Du bist auch Wegbereiter von Menschen wie dem, musst du dir eingestehen. Du hast ihn gemacht. Die Kommodifizierung der Durchschnittlichkeit! Was ist das jetzt für ein Soziologen-Sozialpädagogen-Sprech? Weg damit. Du fühlst dich wie der Manager von Avicii, als der beim Touren aussteigen wollte. Avicii – auch so ein schmalbrüstiger Boy! Was hatte der für ein Kinn? Niemand weiß es, zu große Shows, niemand stand nah genug. Bald werden es alle vergessen haben. So läuft das. Das grüne Licht, du freust dich, wenn es ausgeht und du deinen Gurt lösen darfst. Diese Scheiß-Boygroup macht dich wütend. Du vergewisserst dich, dass dein Kinn noch dasselbe ist. Wenn du auf der First bestanden hättest, hättest du nun deine Ruhe. Welches Unternehmen fragt nicht nach, bevor es Business bucht? Eigentlich eine Sauerei.

Du wirst nervös, wenn du nicht zweimal pro Woche im Flieger sitzt. Dir stehen schwierige Wochen bevor. Dort, wo du landest, wissen alle, wie weit sie gehen dürfen. Auf der Nordhalbkugel war in diesem Jahrzehnt noch nichts los zwischen Längengrad 6 und 11. Das sind einige Grade. Du weißt das, denn du warst da zweimal kurz zu Silvester und einmal ein Wochenende lang an der French Riviera. Dort wissen alle, wie weit es gehen soll. Wie weit sie gehen dürfen. Aufgedunsene Fressen ja, degenerierte Zähne nein. Koks ja, Crystal nein. Mitteleuropa ist eigentlich zu einfach für dich. Beginner Mode. Aber du musst das aushalten, eine Weile. Dann kannst du zurück in die USA. Auf deine verbrannte Erde, zu deiner verbrannten Social-Media-Timeline.

Ein Lob auf das On-board Wi-Fi! Du liest auf Facebook: Ein 16-jähriger Umweltaktivist hat in Seattle gerade 80 Kilogramm Pasta gegessen. Als Umweltaktion. Damit die Leute über ihren Fleischkonsum nachdenken. Wer tut so was? Nervt dich, dass du so was zu sehen bekommst. Moralismus-Nummer. Hat sich geändert in den letzten Jahren. Früher waren die noch nicht so verbissen, anfangs hat Facebook auch Links auf rotten.com stehen lassen, heute wird alles gesiebt. Das ist die Generation nach dem Doppelkinn. Das sind die, die die Marskolonie blockieren, weil sie unbedingt die Erde retten wollen. Noch immer steigt das Flugzeug. Essen sollte man nur um des Essens willen. Genuss ist Genuss, und du wartest jetzt, bis du deinen Gurt lösen darfst und zu deinem Genuss kommst. Höher, höher. Endlich kommt ein Flight Attendant, sein Kinn scheint in Ordnung, aber er sieht ein bisschen aus, als hätte er gestern Abend 80 Kilogramm Pasta gegessen. Oder sogar Mac’n’Cheese. Ja, der ist mac’n’cheese-gepolstert. Flight Attendant – sicher der Plan B vom fliehenden Doppelkinn.

Top of climb.

Wann hat die Luftfahrt so viel Stil verloren, dass sie solche Leute einstellen? Liegt das am Preiskampf mit den Billigairlines? Shortbread for a short break, vier Packungen. Beim Bestellen fragst du, ob er auch noch eine Packung für sich wolle, damit seine Polsterung sicher erhalten bleibe. Du würdest sogar dafür zahlen. Er lächelt, er lächelt falsch. »Das Sortiment ist eingeschränkt, ich bin zweimal wöchentlich auf diesem Flug. Nein, danke.« Dann halt nicht. Genau darum switchst du Airlines, nicht wegen dem Sortiment, sondern wegen solchen Antworten. Stell dir vor, du müsstest den wiedersehen! Vier Packungen reichen für deine Kloaktion, um keine Säure zu schmecken. »Die Toilette vor Ihnen ist den Passagieren unseres Exclusive-Nomad-First Class-Angebots vorbehalten.« Will das Cookie Monster dich verarschen? »Nein, Sir, die Toiletten hinten entsprechen höchsten Komfort- und Hygienestandards.«

Dein Zahnarzt bekommt so viel Schweigegeld. Du bist wohl der einzige Mensch, der seinem Zahnarzt Trinkgeld zahlt. Viel Trinkgeld, damit er nicht auf die Idee kommt, sein Wissen über dich einem Lästermedium zu verkaufen. Das würde dich töten – im Internet. Bist du im Internet tot, bist du tot. Ok, du bist im Internet halbtot, im Koma zumindest. Du schiebst dir ein Shortbread in den Mund und schaust dir danach deine Finger an: ein Butterfilm. Fett.

Du nimmst dein Mobile vom Tisch und streichelst es mit den Butterfingern. Du öffnest die TED-Talks-Homepage. Auf langen Flügen schaust du dir gerne Aufnahmen deiner alten Lectures an. Das gibt dir Sicherheit. Selbstbeobachtung, Selbstvergewisserung, Selbsterinnerung. Es ist fast Therapie, deinem Ich von vergangenem Weihnachten zuzugucken. Damit hast du begonnen, weil dich eine Weile die Panik überkommen hat, in jeder Stadt, in jedem Land jemand anderes zu sein. Die Panik, dass du in 10 000 Metern Höhe neu programmiert wirst. Deine Mutter hatte die Idee, als du ihr von den Panikmomenten erzählt hast. Deine Mutter war dein Profi, deine Expertin – du wendest ihren Rat an, du wendest sie an. Schon Scheiße, dass sie seit der Aktion mit den Fingern den Kontakt abgebrochen hat.

Mit der Zeit hast du dann auch gemerkt, dass das Schauen alter Talks eine einfache, relativ bequeme Möglichkeit ist, deine Sprache zu schärfen. Mittlerweile schaust du deinem alten Ego deshalb zu: Become the most successful you.

Heute mal was Älteres, ein TED-Talk in Adelaide. Das war irgendwann in der zweiten Hälfte der Nullerjahre. Zu viel Bühnenlicht, um an deiner Mimik zu forschen. Was für eine peinliche Truckermütze du damals getragen hast. Genau wegen so was bist du mitverantwortlich an der Flut der fliehenden Doppelkinne. Du bist schuld. Du bist schuld. Du drehst das Display um. Du musst dich auf dich konzentrieren. Du magst es, deine eigene Stimme zu hören. Du schließt die Smartphone-Hülle.

»Mitte der Neunzigerjahre, People, da war ich ein heroinsüchtiger, arbeitsloser Typ in Montréal. Ich war damals so froh, Kanadier zu sein. Das hätte ich niemals zugegeben: Kanada galt als uncool. Das war noch lange vor dem Crack rauchenden Bürgermeister von Toronto. Kanada hat mir Tagesstruktur gegeben. Ich bin froh, dass ich ausgewandert bin, als ich auf den Beinen war. What a ride! Heute gehört ein Teil meiner Junkie-Leber Walt Disney. Walt – fucking – Disney! Keiner deiner alten Freunde hängt noch an der Nadel, alle haben Jobs. Alle haben Jobs und können – zumindest theoretisch – spontan 300 000 Dollar für ein Steak Dinner ausgeben. Außer mir hat’s einfach noch niemand getan. Und, dear people of Adelaide: Seit es Social Media gibt, vermisse ich die Nadel kein bisschen! Stellt euch das mal vor: wie viel Biochemie etwas überwinden kann, das nur auf Bildschirmen passiert. Am Ende des heutigen Talks werdet ihr wissen, wie ihr in der roughen neuen Social-Media-Welt – nix gegen die Heroinszene der Neunziger – überlebt. Regeln gibt es ohnehin keine, man darf alles. Aber nicht alles hat Erfolg.

Twitter könnt ihr nicht missverstehen. Jede Äußerung ist gut! Wichtig ist, dass ihr Signalworte aneinanderhängt. Nicht zu viele, nicht zu wenige Hashtags setzen. Dann klappt das schon mit den Followern. Ich kenne mehr Leute, die Facebook missverstehen, als Leute, die Twitter missverstehen. Die Facebook-Legastheniker machen einen zentralen Fehler: Sie meinen, es bekomme Futter, wer jammert. Und sie jammern falsch! Die einzige Art, wie ihr auf Social Media jammern dürft: der Humblebrag. Der Humblebrag ist das Zentrum meines heutigen Talks.

Gerne erzähle ich euch ein Beispiel aus dem real existierenden Facebook-Feed einer Person, die in eurem und meinem Leben zentral ist: Ich. ›Scheiße, ich hab mich voll verloren und 300 000 für Steaks ausgegeben.‹ – normalerweise poste ich längere Texte, berichte vom Deal hinter unserer grandiosen neuen Fernsehsendung oder hebe einen unserer Reporter hervor. Aber dieser eine Post war kurz, ihr seht auch: Dieser eine Post wurde um halb 3 Uhr morgens gepostet. Standort: Vegas. Wer jetzt picky und/oder ein jämmerlicher Lonely-Planet-Autor ist, würde motzen: What happens in Vegas stays in Vegas. Aber nein: Mit dem Post ist alles in Ordnung. Er sagt: Ich hab Geld und lebe trotzdem on the edge. Dieser Facebook-Post: Er brachte mir 14 000 neue Facebook-Fans, er wird bis heute im Schnitt 22 Mal am Tag gesharet und er sorgte für internationale Berichterstattung über meine Person. Ein classy Humblebrag: ›Silly me, ich hab mich nicht unter Kontrolle – ABER ich kann mir das leisten.‹

Die Facebook-Legastheniker, diese Neandertaler, die wahrscheinlich auch ihren eigenen Schnaps brennen, posten Sätze wie: ›Schaut, wie schick meine neue Homepage ist!‹ Das ist Jammern. Man kann ihnen nur wünschen, dass ihr Fusel sie erblinden lässt, damit sie den Werdegang ihres Online-Ichs nicht länger miterleben müssen. Wer so was postet, jammert: Wäh, wäh, ich bin ein kleines Baby, ich bin verzweifelt. Niemand beachtet mich. Gebt mir Aufmerksamkeit, gebt mir Geld. Ich bin die Art Leute, die sich auf Tinder neben Tieren zeigen, weil mein Gesicht langweilig ist. Wenn ich was von deinem fucking Labrador will, entführ ich ihn im Park, mein Freund! Niemand mag Tiere auf Datingplattformen.

Ein weiteres Beispiel dieser Urmenschen, das vielleicht fatalste Beispiel: die Karrierebettler. Sie posten Statusupdates wie ›Zwei Informationen und ein Aufruf: a) Ich bin jetzt Kurator. b) Suche als Kurator geeignete Off-Space-Räume. c) Falls jemand etwas von einer Stelle in einem Projekt mit geregelter Finanzierung weiß …‹. Punkt punkt punkt. Alleine das Satzzeichen! Es bedeutet Schwäche, Unentschiedenheit, wenig Textarbeit beim Posten. Aber die drei Punkte sind noch das geringste Problem dieser Menschen. Sie denken, diese Posts bringen sie gesellschaftlich weiter. Sie denken, irgendein Kuratoren-Dude vom MOMA sitzt am Bildschirm und sieht die sympathischen drei Sätze von Pleistozän-Facebook-Nutzer Nr. 964 312, der sich die Selbstbezeichnung Kurator gegeben hat, und bietet ihm eine Stelle an. Diese Karrierebettler-Posts werden fleißig gesharet, man zeigt die öffentliche Unterstützung des um eine Zukunft bibbernden Freundes. Sie bekommen Likes. Nett – arbeitslos, aber wenigstens reich an Likes. Aber was soll dann passieren? Sogar die, die es liken, tun es aus Mitleid.

Zu welcher Anstellung soll das führen? Keiner mit Gestaltungsmacht! Solche Posts zeigen Schwäche. Auf Social Media zeigst du Schwäche höchstens gönnerhaft, als Humblebrag. Niederlagen existieren bloß als Vorteil, als Advantage, vielleicht als Pointe, als Beweis für Selbstironie. Der Subtext von unserem selbst bezeichneten Kurator aus dem Pleistozän: ›Liebe Welt, ich brauch Geld.‹ Dieser Subtext zeigt immer Schwäche, und die Leute landen nie im herbeigeflennten Beruf. Das ist ähnlich wie bei Büchern im Selbstverlag: Das sind in die Biografie eintätowierte Kapitulationen. Ausnahmen ausgenommen. Es gibt genau eine Ausnahme. Die heißt 50 Shades of Grey.«

Das war 2011 oder so, du hast geglaubt, es sei früher! 50 Shades of Grey wurde 2011 veröffentlicht. Hatten die Australier erst ab 2011 Social Media? Muss so gewesen sein, anders kannst du es dir nicht erklären. Du bist dir sicher, die Lecture hat Social Media erst nach Australien gebracht. Langsam meldet sich dein Magen. Es fühlt sich an, als möchte er deinen Körper verlassen. What the fuck: Schon drei Packungen Shortbread weg? Du schleckst deine Finger. Aber die eine muss noch sein, heute ist Premierentag.

»Auf den Facebook-Profilen dieser Pleistozän-Vormenschen trefft ihr mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit auch auf die Beziehungsstatus ›Single‹ oder ›Ich bin ein geschlossenes Buch‹. Wie absurd ist das denn? Schreibst du, du bist eine mysteriöse Person, bist du keine mysteriöse Person. So einfach ist das! Du bist eine mysteriöse Person, wenn du dir zwei Finger abschneidest und ein Foto davon auf Facebook postest. Es wird vielleicht nach einer Weile gelöscht, aber die Aufmerksamkeit ist dir gewiss. Am meisten haut es rein, wenn du ein Meme draus machst. Schwarzer Hintergrund, Rahmen und ein Schriftzug wie: ›Only $ 3.99 in the Halloween shop you trust.‹ Dass ich weiß, wovon ich rede, seht ihr …«

Raunen. Du genießt die Publikumsreaktionen, aber du genießt auch die Erinnerungen daran, wie du dich in diesen Momenten gefühlt hast. Vollkommen. Wie der Architekt der verdammten Statue of Liberty. Damals konntest du dich nicht auf diese Empfindung konzentrieren, musstest die Spannung halten. Jetzt kannst du auskosten, was dir zusteht. Du schaust auf deine Hände. Es war schon eine Umgewöhnung beim Tippen. Die kleinen Finger helfen beim Abstützen auf der Tastatur. Das ist dir erst klar geworden, als sie dir gefehlt haben.

»Selbstverletzung ist immer ein Grenzgang. Ich würds nicht ins classic Humblebrag-Spektrum einordnen, aber wer oben im Leben steht, kann auch mal experimentieren, denkt an meine finanzielle Anlage ins Steak. Eins könnt ihr mir glauben, dem Typen mit acht Fingern und 300 000 Facebook-Fans: Ihr könnt auf Social Media kaum größenwahnsinnig genug sein – aber nur solange ihr oben seid. Solange die Welle nach oben geht. Ihr müsst wachsen. Und ihr müsst euch mit der Plattform, aber vor allem mit der Stimmung in eurer Community verändern. Immer dazu bereit sein, von Katzenbildchen auf Politpolemik umzustellen. Je nachdem, was eure Community gerade tut. Aufmerksamkeitsökonomie – die Wall Street der Übermenschs, die Wall Street des Jahrhunderts!

Für diesen TED-Talk bekomme ich kein Honorar. Aufmerksamkeit ist mir wichtiger als Geld. Geld ist eine Nebenwirkung. Mit Geld, der Währung der alten Imperien, baust du eine Lego-Burg. Die Aufmerksamkeitsökonomie eröffnet das Feld den Playmobil-Kindern. Playmobil-Burgen sind hässlicher als Lego-Burgen, aber auch viel massiver, weil die einzelnen Teile größer sind. Weil die Teile größer sind, braucht man in der Aufmerksamkeitsökonomie, im Playmobil-Zeitalter, weniger Geduld und weniger Feinmotorik. Die Geduld, die ihr braucht, bis aus Lego-Klötzen eine Trutzburg gebaut ist, nimmt euch das Größendenken. Die Aufmerksamkeitsökonomie überlässt es euch: Wachstum mit News, Gerüchten, Trash und besoffenem Getexte. Alles ist Wachstum! Alles, was in den Stream of Unconsciousness der Social-Media-Welt eingeworfen wird. Ihr braucht das Größendenken, wenn ihr wirklich frei sein wollt. Darum ist die Kernwährung des 21. Jahrhunderts – an der Wall Street werden sie das auch bald einsehen – Aufmerksamkeit. Stellt euch vor: Social Media hat mich von jeder Sehnsucht nach Heroin befreit! Stellt euch vor, wer ich mal gewesen bin, in meinem früheren Leben. Mein Gott, mich wollte man vor fünfzehn Jahren nicht mal als Freiwilligen beim Süchtigentreff, und letzte Woche stand Rupert Murdoch vor der Tür und wollte mir Geld in den Arsch schieben. Fucking hell, was war ich froh um den kanadischen Sozialstaat, das Beschäftigungsprogramm, Süchtigentreffs, die nicht von evangelikalen Kirchen, sondern von der öffentlichen Hand gestiftet werden. Oh Canada! Heute denk ich: Kanada ist so 20. Jahrhundert. Murdoch war natürlich nicht vor der Tür, sondern meldete sich per Video Call. Oh my fucking god, was würde ich tun ohne Video Call? Kennt ihr das schon hier in Down Under – Video Calls? Ich find’s nur schon deshalb geil, weil meine Gesprächspartner nie wissen, ob ich überhaupt eine Hose trage. Als ich mit Rupert gesprochen habe, sag ich jetzt euch, unter Freunden, hab ich einen Moment lang überlegt: Soll ich die Hose runterlassen und masturbieren? Die traurigen Schlupflider anschauen und mein faltiges Stück massieren? Ob ich’s getan hab? Ich poste die Antwort morgen auf Facebook. Gute Nacht, Adelaide! Bye-bye Australia!«

Was war das damals für eine Zeit! Du hast wirklich geglaubt, dass dir die digitale Welt gehört. Dass sie dir reicht, die digitale. Rare ould Times, Truckermützen-Zeiten. Du kannst es noch immer nicht glauben, 2011, das heißt, du hast noch 2011 Truckermützen getragen? So. Vier mal 80 Gramm Shortbread kleben dir zwischen den Zähnen und sind auf einer Reise zwischen Speiseröhre und Magen. Zeit für dein erstes Mal, das erste Mal in der Luft, deine Wiederkäuerfreude.

Essen zum Kotzen: Pizza, Kekse, Erdnussbutter, Brot, Bananen, Ananassaft als Schmiermittel.

Essen, das du ohne Genuss kotzt, das aber meist Vorspeise vor einer deiner Sessions ist: Salat, Peperoni, Gurken.

Essen, bei dem das Wiederkäuen selbst angenehm ist: Zerkochte Linsen, Steak ab der Garstufe Medium.

Auf Kaviar, Schnecken, Austern und alles andere, das sich beim Kotzen anfühlt, als hättest du Alien-Eier im Mund, verzichtest du.

Vomitonomics 101 – das wär mal eine Lecture, mit der du Skandale erzeugen könntest. Du notierst auf deinem Smartphone ein paar leuchtraketenmäßige Sätze, die darin vorkommen könnten: »Schon die Aristokratie im alten Rom hat gewusst, dass das Brechen Genusserfahrung erweitern kann … Genussfähigkeit und Leistung … Niemand mag den Streber … Und für die Dicken: Wie wollt ihr sechs Langstreckenflüge pro Monat aushalten, wenn der Stress mit der Erniedrigung des XXL-Platzes einhergeht? … Aber wir sind ja hier nicht bei den Weight Watchers … Wie soll ich Männlichkeit repräsentieren, wenn meine Erscheinung Männlichkeit nicht hergibt? … Essensreste in den Mundwinkeln … Würdet ihr darüber nachdenken, ob das, was glitzert, Butter oder Margarine ist? … Xiamen. In Xiamen gibt es Ölgemäldefabriken. Sie produzieren die Ölgemälde für Hotels, teure Ketten … Vomitonomics … Ihr Zahnarzt wird Sie lieben, wenn Sie ihm zu jeder Sitzung einen Fake-Monet oder -Manet bringen! Zahnärzte haben Wartezimmer. Füllen Sie diese Wartezimmer … Die gesellschaftliche Ächtung von Bulimie geht ungleich weiter als die gesellschaftliche Ächtung der Dicken … Erfahrung in Xiamen: Produktion rein-raus, Pinsel hoch, runter, Ritalin, Bulimie-Lernen an Med Schools, wie Binge-watching, Binge-drinking, Binge-eating, Binge-working schon lange dabei sind, die Menschheit näher zum perfekten Termitenbau zu führen. Fressbrech-Lernen, Fressbrech-Arbeiten. Psychohygiene-Brechen nach Ayahuasca …«

Ok, du merkst es selber: Diese Lecture wird es nie geben. Sie würde dich zerbrechen. Das ist anders als das Heroin, über das Heroin sprichst du als Survivor. Das Kotzen ist dein Operating Mode. Also genug davon. Du stehst auf. Du verlässt die fünfköpfige Boygroup. »Ihr seid deshalb widerlich, weil ihr Budweiser trinkt. Nicht weil ihr morgens trinkt«, sagst du beim Gehen. »Wieso fliegt ihr Business, wenn ihr Budweiser trinkt?« Du verlässt die Privileged Zone schnell genug. Du lässt den Boys keine Zeit zu antworten. Du willst nicht Energie darauf verschwenden, sie zu ignorieren. Abgang. Durch den Vorhang. Doppelkinne, das ist der Zeitgeist. Zeitgeist ist deiner Meinung nach das zweitbeste deutsche Lehnwort.