Ich bin nicht dabei - Michael Andrick - E-Book

Ich bin nicht dabei E-Book

Michael Andrick

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Beschreibung

Der Philosoph Michael Andrick schreibt klar und zugänglich über die großen Fragen. Er ist in alten wie neuen Medien präsent, überbrückt Diskursgräben und boykottiert „Brandmauern“, die politische Gegner zu Unmenschen erklären. In seinen Kolumnen für die Berliner Zeitung, seinen Essays und in den viel besprochenen Büchern „Erfolgsleere“ und „Im Moralgefängnis“ ermutigt er zu vernünftigem Eigensinn. Als Denker mit internationaler Wirtschaftserfahrung beobachtet Andrick, wie die offene Gesellschaft des Westens sich schließt, und tritt für Toleranz und eine angstfreie Diskussionskultur ein.Dieser Band präsentiert eine Auswahl seiner stärksten Texte und ergänzt sie um bisher unveröffentlichte Denk-Zettel: kurze Bemerkungen, die lange nachhallen.

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EPUB
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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Andrick

Ich bin nicht dabei

Denk-Zettel für einen freien Geist

Vorbemerkung des Verlags:

Die Texte dieses Bandes sind meistens nicht wissenschaftlich. Sie sind Meinungs-kolumnen, Feuilletons, Essays, Satiren, Aphorismen und Gedichte. Stellenweise vertritt der Autor seine Positionen genregerecht in radikaler Zuspitzung und nutzt rhetorische und künstlerische Mittel, die dem wissenschaftlichen Schreiben fremd sind. Der Verlag Karl Alber identifiziert sich nicht durchgängig mit den vom Autor dargelegten Inhalten. Unser Ziel ist es, ein breites Spektrum qualitätvoller Texte zu veröffentlichen und den kritischen Austausch zu fördern.

© Coverbild: Karolina Kovac

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-495-99088-9 (Print)

ISBN 978-3-495-99089-6 (ePDF)

ISBN 978-3-495-99037-7 (ePub)

1. Auflage 2025

© Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2025. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper.

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Niemand schreibt wirklich alleine.

Rebecka, Helene, Ida und Anna – Danke für eure Liebe und Geduld

Einleitung

Man wird nicht Philosoph, weil es einem ach-so-gut geht. Mit dem Philosophieren anzufangen ist vielmehr eine Gnade des Elends. Irgendwann muss man nicht hineingepasst haben, irgendwie muss einem das bedenkenlose Mitgehen mit den Anderen vereitelt worden sein. Das Mitmachen und Mitlachen muss einmal geendet haben.

Mir ist das so früh im Leben passiert, dass meine Versuche, dieser Not Herr zu werden durch Erkenntnis meiner selbst, der Anderen und unseres Schicksals, mittlerweile 25 Jahre zurückreichen. Heute bin ich mit diesen Bemühungen nicht mehr so allein.

Die selbstgemachten Katastrophen unserer Gegenwart haben nach Jahrzehnten ruhigen Wohllebens viele an den Punkt geführt, an dem das Philosophieren beginnen kann: Sie verstehen die Welt, sich selbst oder auch beides nicht mehr – und sie wollen nicht einfach weitermachen wie bisher. Findet auch ihr Mitmachen und Mitlachen nun ein Ende, werden große Veränderungen möglich.

In diesem Band versammle ich Essays aus Medien eines breiten politischen Spektrums: von sozialistisch bis erzkonservativ, von regierungsfreundlich bis unerbittlich regierungskritisch. Am Ende jedes der fünf thematischen Kapitel stehen einige kurze Denk-Zettel, die man sich im Dialog mit den längeren Stücken vorstellen kann.

Alle Texte laden dazu ein, den Zeitgeist, den eigenen Geist und ihr Zusammenspiel näher zu erkunden – um sich die Freiheit zu erringen, auch einmal nicht dabei zu sein.

Berlin und Boltenhagen im Frühjahr 2025

Inhaltsverzeichnis

1 – Arbeiten

Das Rätsel unserer Normalität

Philosophen: Vordenker oder Hofnarren?

„Work-Life Balance“ – Zeitgeistiger Unfug oder Schlüsseldiskussion?

Lebensgeschichte, erster Teil

Wer Mut machen muss, hat das Fürchten schon gelehrt

Was ist Führung? Oder: Mit Kuhn um die Kurve

Denk-Zettel – Gruppe 1

2 – Herrschen

Was ist „politische Korrektheit“?

Die Fakten und ihre „Checker“

Die Abschaffung des Anderen

Wie funktioniert Digitaltechnik?

Die Sprache „gerecht“ machen?

In der Notstandshypnose

Die wichtigsten Soldaten

Denk-Zettel – Gruppe 2

3 – Demokratie?

Demokratie als Elitenverschwörung?

Spaltung lebt vom Mitmachen

Aufkündigung der Republik

Was ist und was soll eine „Brandmauer“?

Verbrecher, Komplizen und Dulder

War „Nie wieder!“ schon gestern?

Der stets untote Totalitarismus

Alle wissen es

Denk-Zettel – Gruppe 3

4 – Lachen?

Dein Leben als Milliardär

Im Reich des Kaisers ohne Kleider

„Dir ist Schutz befohlen!“

Gespräch im Sumpf, oder: Wie ich meine Meldestelle bekam

Azteken – alt und neu

Denk-Zettel – Gruppe 4

5 – Philosophieren

Philosophieren ist das Handwerk des Lebens

Von Kunstwerken und Werkzeugen

Hat wirklich jeder seine eigene Wirklichkeit?

Die Karriere und ihr Erfolg

Das Leben offen halten

Denk-Zettel – Gruppe 5

Ich bin nicht dabei

Textnachweise

1 – Arbeiten

Das Rätsel unserer Normalität

Warum geschieht in der Welt so vieles, das die einzelnen Menschen je für sich verabscheuen und bedauern? Diese Frage bezeichnet das Rätsel unserer Normalität. Denn normal ist in den westlichen Industriegesellschaften und den von ihnen dominierten Regionen, dass wir in zweckorientierten Institutionen mit ruhigem Gewissen unserer Arbeit nachgehen – und dass wir dabei gemeinsam, als Koproduktion unserer „Arbeitswelten“, einen Zustand extremer materieller Ungleichheit und fortschreitender Umweltverschmutzung fortschreiben, der moralisch gesehen längst hätte beendet werden müssen.

Das ist erklärungsbedürftig. Und es kann dafür überraschenderweise keine überzeugende soziologische, politikoder geschichtswissenschaftliche Erklärung geben. Eine jede solche Erklärung hätte ihre Grundlage in den Begriffs- und Auffassungsgewohnheiten einer Regionalkultur, etwa Europas oder Afrikas oder Chinas; das Rätsel unserer Normalität ist aber ein globales. Es überschreitet alle Kulturgrenzen, denn die Abhängigkeitsgeflechte unserer Politik, des Kulturlebens und der Wirtschaft sind global geworden.

Deswegen brauchen wir zur Auflösung dieses Rätsels eine philosophische Hypothese – eine Behauptung über das Prinzip, oder wie Marx sagen könnte, über das „Bewegungsgesetz“ des modernen Geschehens auf globaler Ebene. Das klingt nach einem größenwahnsinnigen geistigen Vorhaben; aber in Wahrheit ist es bloß Philosophie, wie sie immer ist, wenn man sie nicht politisch kastriert und zu „sprachanalytischen“ Spielchen degenerieren lässt: Denken aufs Ganze hin.

Ich vertrete in meinem kurzen Buch Erfolgsleere – Philosophie für die Arbeitswelt (Karl Alber 2020) die Auffassung, dass der Schlüssel zum Verständnis unserer rätselhaften Normalität in einer bestimmten Form der sozialen Koordination von Menschen liegt, die ich die „Ordnung des Ansehens“ nenne. Meine philosophische Hypothese zum modernen Weltgeschehen ist, dass eine solche Ordnung existiert und dass sie als globales Interpretationsmuster des Lebens in unseren Industriegesellschaften taugt.

In diesem Essay stelle ich das Konzept der Ordnung des Ansehens mit seinem historischen Kontext vor. Dabei gerate ich natürlich in dieselbe Schwierigkeit, die ich gerade für soziologische, politikoder geschichtswissenschaftliche Erklärungen des Weltgeschehens benannt habe: Ich muss das Gewebe meiner Argumentation aus den Fäden meiner Heimatkultur spinnen, denn nur deren Begriffstraditionen kenne ich ausreichend gut. Der Wert der Hypothese von der Ordnung des Ansehens bemisst sich deshalb daran, in welchem Maße der Leser dieses Gedankenkonstrukt zum Verständnis unserer Gegenwart erhellend findet.

Die Vorgängerkultur unserer Industriegesellschaft

Wir nehmen die Fährte im europäischen Mittelalter auf, bei der Vorgängerkultur der Ordnung des Ansehens. Die Funktionen der Menschen füreinander, die ihnen bestimmte Befugnisse übereinander gaben, wurden im ausgehenden Mittelalter strittig. Dies gab im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation den Anlass zu ausgedehnten und verheerenden Kriegen.

Eine „Neuzeit“ musste erfunden werden, weil die alte, weltanschaulich fundierte Ordnung nicht mehr regelungsmächtig war und deshalb keinen stabilen Frieden begründen konnte. Im Friedensvertrag von Münster und Osnabrück, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, einigte man sich deshalb darauf, dass Fragen religiöser Wahrheit nicht Gegenstand der Verhandlung sein würden. Man wusste, dass man nicht zusammenkommen würde, wenn jede Partei sich auf „die Wahrheit“ beruft.

Alasdair MacIntyre schildert den sozialen wie kognitiven Haltverlust der Epoche hellsichtig als Abhandenkommen des Tugendbegriffs. Tugenden sind historisch erprobte und bewährte Zugangswege zu menschlich bedeutsamen Gütern: Ehrlichkeit z.B. ist eine Tugend, weil sie Vertrauen stiftet und Verlässlichkeit in unsere Beziehungen bringt. Damit kann praktizierte Ehrlichkeit uns Stabilität, Ruhe und Gelassenheit einbringen.

Tugenden waren nach MacIntyres Erzählung bis zum Ende des Mittelalters in Gemeinschaft durch Nachahmung und Austausch erlernbar; ein weitgehender Konsens über die Bedeutung und Erfordernisse einzelner Tugenden konnte das Handeln in der Gemeinschaft tatsächlich wirksam regeln. Denn in einer räumlich eng gedrängten, im Glauben weitgehend einigen Gemeinschaft herrscht eine Lebenspraxis, die alle Mitglieder teilen. Diese Praxis bringt Wertmaßstäbe hervor und stabilisiert sie über Generationen hinweg.

Dies ist aus heutiger Sicht ein moralisches Idyll (jedenfalls sofern man die Gegenwart als sozial zersplittert, komplex und vielleicht sogar unheimlich erfährt). Dieser Betrachtungsweise folgend wächst eine zuverlässige Lebensorientierung in jedem Mitglied der Gemeinschaft langsam heran. In seiner Gemeinschaft entwickeln sich Werte und Ansprüche an seine Person zwar weiter fort, aber niemals in sprunghafter oder bedrohlicher Weise. Dieses Idyll kam spätestens mit der konfessionellen Spaltung des Christentums abhanden.

Es wird durch das für MacIntyre unselige, zum Scheitern verurteilte Projekt ersetzt, die Moral durch philosophische Argumentation zu rechtfertigen – anstatt sie durch lebendige Beispiele und Gespräche in überschaubaren Gemeinschaften direkt zur Wirkung zu bringen. Das neuzeitliche Bedürfnis nach intellektueller Rechtfertigung unserer Lebenspraxis und Moral zeigt, dass es für uns „Neuzeitler“ keine gemeinsame, einfach als natürlich und unstrittig verstandene Lebenswirklichkeit gibt.

Der Ideenhistoriker Hans Blumenberg schildert denselben Vorgang in ganz anderer Perspektive und sagt vom Übergang zur Neuzeit: „Das Mittelalter ging zu Ende, als es innerhalb seines geistigen Systems dem Menschen die Schöpfung als ' Vorsehung' nicht mehr glaubhaft erhalten konnte und ihm damit die Last seiner Selbstbehauptung auferlegte.“ Diese Entwicklung bahnte sich seines Erachtens an im Entstehen der nominalistischen Philosophie des Spätmittelalters: in einem neuen Denken, das die Sprache als rein menschlich-konventionell versteht. Unsere Begriffe sind einfach Namen (nomina), also Benennungen der Dinge. Darin liegt die damals revolutionäre Vorstellung, dass vom Menschen gewählte Bezeichnungen die begriffliche Ordnung unseres Denkens stiften – und nicht Gottes Schöpfungsakt am Anfang der Welt.

MacIntyre und Blumenberg denken auf unterschiedlichen Wegen über denselben Vorgang nach: Der Mensch wird Maßstab aller Dinge, Souverän der Welt und des Lebens darin. Der menschliche Wille übernimmt die Festlegung des Werts aller Dinge. Damit sind die Menschen in gewissem Sinne in den Rang der Gleichheit erhoben. Ihre gleiche Würde liegt darin, dass jeder von ihnen über den Willen verfügt, der nun für die Ordnung der menschlichen Verhältnisse zuständig ist und deshalb z.B. Verfassungen formuliert.

Diese neue Grundordnung der Sittlichkeit erfordert eine neue Form der sozialen Koordination von Personen, die nicht mehr in einer durch göttliche Offenbarung diktierten und dann überlieferten Über- und Unterordnung zueinander stehen. Was wir nun brauchen, ist eine soziale Koordinationspraxis, in der sich Gleiche glaubhaft ihrer gegenseitigen Achtung und Rücksicht versichern: eine Ordnung des Ansehens.

Die Ordnung des Ansehens

Der Begriff von Ansehen oder Ehre einer Gesellschaft fasst all das zusammen, was einen Menschen zum guten Kooperationspartner im Sinne ihrer Wertvorstellungen macht. Diese Wertvorstellungen einer Gesellschaft sind in Teilen explizit formuliert und erklärt, etwa in einer Verfassung; ebenso wichtig sind aber auch die ungeschriebenen Wertvorstellungen, die einfach praktiziert werden. Der Ehrbegriff einer Zeit ist der Inbegriff dessen, was in einer Gesellschaft gewöhnlich gelobt oder getadelt wird. Wer Anerkennung will, muss diesen Kodex bedenken und seine Anforderungen einhalten.

Meine persönliche Ehre, mein Sozialstatus ist der Barometerstand meiner Anpassung an die Erwartungen meiner Gesellschaft, den die Anderen an mir ablesen. Der Stand dieses Barometers ist nie genau zu erkennen und hält meine Beurteiler und mich selbst in steter Unsicherheit. Einerseits ist das Quecksilber stets im Steigen oder Fallen begriffen, je nachdem wer gerade bei mir ist, und andererseits ist auch die Skala des Barometers nie mit völliger Sicherheit zu fixieren. Denn stetig entwickeln sich die konkreten Konformitätserwartungen meiner Gesellschaft im Lichte neuer Erfahrung fort.

Auch wenn das Sprechen von Ehre ein vages, von Vermutungen und Intuitionen getragenes Geschehen ist, können wir doch nicht darauf verzichten. Unser Reden über Ansehen und Status markiert ein Wähnen und Urteilen übereinander, ohne das eine Gruppe von Menschen nicht als Gesellschaft zusammenhängen kann. Nur im Wege dieses Wähnens und Urteilens darüber, ob jemand die Wertvorstellungen der Gemeinschaft verwirklichen hilft oder ihnen schadet, kann diesen Wertvorstellungen Geltung verschafft und die Gemeinschaft erhalten werden.

Jedes Zeitalter hat einen Ehrbegriff, aber seine logische und politische Funktion wandelt sich vom Mittelalter zur Neuzeit entscheidend: In einer weltanschaulich weitgehend einigen christlichen Gesellschaft kann der Ehrbegriff als eine Art soziales Abbild der allgemein geglaubten göttlichen Ordnung eher die „Begleitmusik“ wirksamer Über- und Unterordnungsverhältnisse sein. Nach der Pluralisierung der Glaubensüberlieferungen in der Reformation wird er nun meiner Ansicht nach zum Grundstein der sittlichen Ordnung einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft.

In unserer Gesellschaft von Situation zu Situation gehen bedeutet, sich selbst von außen zu betrachten und zu fragen: „Wie wirke ich in diesem Moment wohl? Stimmt diese Wirkung mit den vermutlichen Erwartungen der anderen an mich in dieser Situation zusammen? Gibt es eine Dissonanz? Wenn ja, welche Kosten kann sie für mich haben?“

Wir sind in weiten Teilen unseres modernen Soziallebens deshalb gedanklich und nervlich nicht bei uns selbst, sondern bei den Anderen, um ihre Erwartungen für uns gewinnbringend (oder wenigstens friedensichernd) zu erraten – und ihnen dabei auch deutlich zu machen, dass wir auf diese Erkenntnis den Wert legen, der ihrer Würde als uns gleichberechtigten Personen angemessen ist. Dieses Navigieren unter den vermuteten Erwartungen anderer in einer Situation nach der anderen ist eine stetige, aktive Selbstverunsicherung. Wir werden andauernd von uns selbst weggeführt, weshalb der Lebenshilfekitsch der Gegenwart auch ganz sinnvoll immer wieder davon spricht, sein „wahres Selbst“ zu entdecken oder „zu sich selbst zu kommen“.

Der Ehrbegriff von Ansehen und Status ist in der Moderne unser kulturelles Mittel, Achtung für das Wollen, für die Werthaltungen anderer zu demonstrieren, sie also zu respektieren. Indem wir das ebenso ausgedehnte, unendlich komplexe wie oft versteckte Regelwerk des Ehrerweises gegenüber unseren Mitmenschen anwenden – von Begrüßungsritualen bis zum Bemühen um Takt bei der Vermittlung unserer Vorstellungen und der Vertretung unserer Interessen –, zeigen wir permanent, dass anderer Leute Denken und Wollen von uns als praktisch wichtig begriffen und in Betracht gezogen wird.

Unser Verhalten lässt sich als Autoritätskult verstehen, als ein Verfassungsritual. Es ist Ausdruck einer erlernten Mentalität, die unsere Werteordnung stabilisiert: Der Quell aller Normen, unter denen ein Mensch rechtmäßigerweise zu leben kommen könnte, ist in jedem Menschen gegenwärtig; der Souverän bin in diesem Sinne ich als menschliche Person. Der Wille des Menschen ist der Souverän der Neuzeit, und jeder Souverän muss stete Anerkennung fordern, um tatsächliche Macht zu entfalten. Unsere spezielle Form der sozialen Navigation, die diese stete Anerkennung organisiert und garantiert, nenne ich die „Ordnung des Ansehens“.

Sie scheint mir keine „westliche“, „abendländische“, oder sonst wie regional eingrenzbare Besonderheit zu sein. Bei internationalen Begegnungen von Menschen aus industrialisierten Gesellschaften geht es nach meiner Erfahrung jedenfalls immer nur um die Art und Weise, auf die der äußerliche Ehrerweis bei Angehörigen einer bestimmten Nation zu erbringen ist.

Dass eine Routine der sichtbaren Statuspflege für Austausch und Kooperation sowie für die Stabilität jeder dieser anderen Gesellschaften fundamental ist, steht aber außer Frage. Dass der menschliche Wille der neuzeitliche Souverän ist, steht außer Frage. Und was außer Frage steht, gilt als selbstverständlich und stiftet damit soziale Realität – in diesem Fall eine globale soziale Realität.

Das übliche Verhängnis der Moderne: Ehrgeiziger Konformismus

Abschließend möchte ich die charakteristische Gefährdung unserer moralischen Integrität ansprechen, die sich aus unserer biographischen Einübung in die Ordnung des Ansehens ergibt: Wir geraten leicht in gedankenlosen Konformismus und einen Habitus seiner beinahe sportlichen Perfektionierung, d.h. in den Ehrgeiz.

Konformismus ist gewohnheitsmäßiger Gehorsam gegenüber dem Ehrbegriff meiner Gesellschaft. Konformes Denken und Tun suspendiert den Menschen als moralisches Wesen, denn im unreflektierten Mitmachen ist der Vorbehalt aufgehoben, den jeder Mensch mit seinem Nachdenken gegen das etablierte Tun seiner Umgebung geltend machen kann. Konformismus als festen Habitus zu pflegen bedeutet deshalb, sich bedingungslos der von uns Menschen kollektiv selbstgemachten Wirklichkeit zu unterwerfen.

Damit aber ist der Vernichtung alles Wertvollen und seines einzigen Urhebers, des Menschen, prinzipiell die Bahn eröffnet. Die Konformisten aller Zeiten haben gemeinsam die Macht, dem gerade etablierten Werte- und Herrschaftssystem unkontrollierte und damit ungehemmte Machtentfaltung zu erlauben.

Für jeden Einzelnen ist sein Ausmaß an Konformität folglich der Gradmesser seiner moralischen Gefährdung. Dem Konformisten wird das Selbst schwach – sein Wille und damit seine Fähigkeit, die eigene Erfahrung durch Nachdenken zu verarbeiten, wird schwach; seine Moralität, der Vorbehalt des Nachdenkens gegen das Tun, wird nicht kultiviert, und so festigt sich mit jedem Jahr des bloßen Mitmachens das eigene Schicksal, vor allem als Funktionär zu existieren. Das eigenwillige Leben wird durch die Gewohnheit verdrängt, dem Druck oft nur vermuteter fremder Erwartungen nachzugeben, um zu gewinnen, was die etablierte Ordnung zu bieten hat.

Konformistisch sein ist somit eine komplizierte, kraftraubende Sache und keineswegs der berühmte „Weg des geringsten Widerstands“. Es ist der Sport, mit anderen um die Wette fremde Erwartungen zu erraten und zu antizipieren. Man versucht dabei, auf möglichst glaubhafte Weise ein für andere simuliertes Innenleben nach außen zu kehren. Genau dies ist das in jeder Gesellschaft für uns vorgesehene Programm: Abschaffung des eigenen Nachdenkens zugunsten eines vorauseilenden, über fremde Erwartungen spekulierenden Gehorsams. Dies ist der Weg zur Verkümmerung unseres Selbst, zur Abschaffung unserer eigenen, wertenden Perspektive auf die Welt.

Was bleibt, ist ein allein noch außen operierender Mensch, der auf eingehende Reize umstandslos durch zweckmäßige Verarbeitung in gewohnheitsmäßigem Denken und Tun reagiert. Der Konformist exekutiert damit die bestehende Ordnung bruchlos, ohne verzögernde oder den Betrieb gefährdende Reflexion; er macht, wie Theodor W. Adorno sagt, „mit der Welt gemeinsame Sache gegen sich“. Dieser zeitlose Typus Mensch ist der Funktionär, dessen Erzählung von sich selbst schlicht und direkt durch die herrschenden Tatsachen und allgemein akzeptierten Forderungen bestimmt ist. Seine gedankenlose Klarheit ist es, die ihn zum perfekten Organisator und Mitläufer jedes beliebigen Unrechts macht.

Daraus erklärt sich, dass Ehrgeiz als Leittugend der Industriegesellschaft auftritt und durchweg positiv verstanden wird. Der planvolle, geradezu sportliche Eifer, zugunsten des eigenen Fortkommens auch ja so zu erscheinen, wie die anderen mich mutmaßlich gerne hätten, ist das zuverlässigste äußere Zeichen der Systemfrömmigkeit eines Menschen – seiner moralischen Anspruchslosigkeit, seines Desinteresses an eigenen Wertungen und Haltungen. Ehrgeizige Konformisten machen gerade keinen Unterschied, und deshalb werden sie von unserer (wie auch jeder anderen) etablierten Ordnung bevorzugt herangebildet.

Philosophen: Vordenker oder Hofnarren?

Die besonderen Fähigkeiten von Philosophen haben meines Erachtens dank der Digitalisierung Konjunktur. Ich suche immer mal wieder im Netz, ob nicht jemand eine „Chief Philosopher“ Stelle ausgeschrieben hat. Aber außer einigen prophezeienden Artikeln, dass man dies doch wohl bräuchte, finde ich nichts. Sollte es eine Konjunktur für Philosophie und Philosophen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik geben, so scheint es eine ungewöhnliche Konjunktur ohne Nachfrage zu sein.

Die unverstandene Konjunktur der Philosophie

Es regt sich das Gefühl, die Ahnung, dass in Zeiten großformatiger Umwälzungen in Geopolitik, Märkten, Technologie und digitalisierter Kultur ebenso großformatige, prinzipielle Sinnstiftung gebraucht wird, um nicht ganz die Orientierung zu verlieren. Wer wäre dazu besser geeignet als Philosophen?

Und hier liegt das Nachfrage-Problem, im wortwörtlichen Sinne: Man weiß nicht, wonach man einen Philosophen fragen sollte. Worauf soll man jemanden ansetzen, der darin ausgebildet ist, über Wirtschaft, Religion, Politik, Moral, Kunst, Wissenschaft, das Leben und den Tod und den Zusammenhang all dessen im Großen und Ganzen nachzudenken? Wir haben für alle Bereiche Spezialisten, und bei denen wissen wir, wonach wir sie fragen können. Aber wonach jemanden fragen, den man nach allem fragen kann?

Philosophieren – verstanden als schonungslose, kriterienprüfende Reflexion – hat tatsächlich, hat objektiv Konjunktur. Der sachliche Grund für diese Konjunktur ist unter verschiedenen Bezeichnungen in der Diskussion: Industrielle Revolution 4.0, Digitalisierung oder Digitale Transformation. Danach sollten Sie mich fragen. Also tue ich im Weiteren so, als hätten Sie das auch getan.

Digitalisierung ist ein Fall für Philosophen

Die Wertschöpfung unserer Gesellschaft hängt an Information, d.h. an Daten, die zu einem bestimmten Zweck analysiert und aufbereitet wurden. Die materiellen Zutaten von Produkten und Dienstleistungen werden mittels einer komplexen Informationslogistik koordiniert und zusammengebracht. Auf dieser Grundlage kann Digitaltechnologie revolutionäre Wirkung entfalten.

Die technischen Grundkoordinaten kennen wir: Billiger, fast lächerlich billiger Datenspeicher trifft heute auf immer steigende und dabei immer billiger werdende Rechenkapazität. Dank allgemeiner Konnektivität ist der Grundstoff der Produktion – Information – jetzt überall und jederzeit abrufbar, kombinierbar, analysierbar und auch kreativ verwertbar. Zeitgleich wachsen die ungeheuren Datenberge an, die von immer mehr und oft vernetzten Endgeräten erzeugt werden. Was hat das mit Philosophieren zu tun?

Das wird deutlich, wenn wir einen gedanklichen Schlenker zu der Frage machen, was Erkenntnis eigentlich ist und worin sie besteht. Allgemein können wir sagen, dass beim Erkennen etwas zusammenkommt, besser gesagt: Wir bringen beim Erkennen etwas zusammen, das vorher getrennt und einzeln unfruchtbar war, und zwar verschiedene Informationen.

Stellen wir uns Erkenntnis als die Zusammenschau und Auswertung unterschiedlicher Informationen vor, so springt ins Auge, dass die machbaren Kombinationen und Verwertungen im Zeitalter der Digitalisierung fast keine Grenzen mehr kennen. Zusammenhänge differenter Informationen können nun z.B. im Wege des „Durchanalysierens auf Verdacht“ gewaltiger Datenberge erkannt werden – Zusammenhänge, die vorher nicht einmal untersuchbar waren.

Große Bestände natürlicher Sprache aus Zeitungen, Büchern, Social-Media-Inhalten und Tondokumenten können mittels sog. „generativer Künstlicher Intelligenz“, die spätestens seit ChatGPT einen Hype erlebt, nach Wahrscheinlichkeitskriterien durchforstet und zu sinnvollen Aussagen neu kombiniert werden. Auch das ist, bei aller gebotenen Vorsicht vor probabilistisch „fantasierenden“ Maschinen, ein neues und mächtiges Verfahren zur Gewinnung von Erkenntnis.

Ich sagte zuvor, die Informations-Kombinationen würden fast keine Grenzen mehr kennen – denn es gibt tatsächlich eine Grenze: unsere Fragen an die Welt der Informationen. Fragen an den Informationskosmos, die unreflektiert in alten Denktraditionen feststecken und die so immer dieselben gefahrlosen Gemeinplätze aufrufen, markieren die Grenzen, die unserem produktiven Umgang mit Informationen im Digitalen Zeitalter gesetzt sind.

Deshalb ist die Digitalisierung die Stunde derer, die in der Lage sind, durch geschickte Abstraktion und radikales Fragen Verdachtsfälle für Zusammenhänge zu generieren, denen dann nachgegangen werden kann. Dies ist die Stunde des Philosophierens, der schonungslosen, kriterienprüfenden Reflexion.

Experten für Werturteile gesucht

Bedenken wir noch eine andere kulturelle Konsequenz des Einzugs von Digitaltechnologie etwas näher, die ein weiteres Tätigkeitsfeld für Philosophen markiert. Beim Thema generative KI klang es gerade schon an: Jetzt sind alle kognitiven Vorgänge der Informationsverarbeitung im Prinzip der Automatisierung zugänglich geworden – und nicht nur der Automatisierung im Sinne von „Umsetzung ohne (oder mit weniger) Menschen“, sondern in einem tieferen Sinne: Maschinenlern-Systeme, die ihre Leistung durch die algorithmische Verarbeitung ihrer eigenen Outputs stetig optimieren, könnten zur weiteren Entmenschlichung der Arbeitswelt führen.

Alle kognitiven Vorgänge sind prinzipiell automatisierbar geworden – außer das wertgeleitete Urteilen von menschlichen Individuen. Selbstlernende Maschinen, die unsere repetitiven, auf einen beschränkten Zweck ausgerichteten kognitiven Tätigkeiten mehr und mehr für uns übernehmen werden, bewegen sich immer im Rahmen menschengesetzter Zwecke.

In dem Maße, wie wir von reproduktiven Aufgaben entlastet werden können, die immer nach demselben, vorgezeichneten Muster ausgeführt werden, rückt die eigentlich menschliche Frage in den Vordergrund: Nach welchen Zielen lohnt es sich eigentlich zu streben? Was ist das Gute, nach dessen Maßstäben wir unsere Algorithmen und Roboter agieren lassen sollten?

Um diese Frage sachgerecht und nach allen Seiten durchdacht zu beantworten, braucht es Experten für normatives Urteilen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Annahmen und Wertvorstellungen offenlegen und wesentliche gedankliche Alternativen gleich mit aufzeigen und thematisieren.

Das ist das Handwerk der Philosophie: die begriffliche Landkarte eines Themas zeichnen und die schlüssig begründbaren Antworten auf seine zentralen Fragestellungen systematisch klären.

Was will man wirklich vom Philosophen?

In meinem eigenen Berufsleben als Philosoph in mehreren Unternehmen und Ländern habe ich die Konjunktur für philosophische Kompetenzen deutlich erlebt. Aber ich habe auch ein Dilemma wahrgenommen, in dem sich jede hierarchische Organisation gegenüber radikal eigenständigen, also schwer steuerbaren Denkern befindet.

Man möchte schon kritische Intelligenz bei sich haben; eine Intelligenz, die Vorhandenes hinterfragt, auch unerhörte (also bisher nicht gehörte) Alternativen aufwirft und im äußersten Fall auch unbekleidete Kaiser identifiziert. Man mag durchaus Philosophen bei sich haben, einerseits jedenfalls.

Andererseits aber – will man auch, dass sie gerade einen selbst und die eigenen Strukturen verstehen und unter den Druck des Nachdenkens setzen? Man mag durchaus Philosophen bei sich haben; aber möchte man selbst, vielleicht institutionsöffentlich, tiefgreifend analysiert und schonungslos, kriterienprüfend befragt werden?

Möchte man sich von einem Lautdenker etwas vordenken lassen, auf die Gefahr hin, dass er überzeugt und den Status Quo und seine Verwalter unter Veränderungsdruck setzt – oder möchte man im Zweifel lieber nur die witzige konzeptionelle Anregung, das gelegentliche Kratzen am Lack der etablierten Professionalität, und damit auch den Ausweis der eigenen Offenheit und Intellektualität? Will man den Philosophen als Vordenker oder doch lieber als Hofnarren?

Der Weg aus diesem Dilemma jeder hierarchischen Organisation im Umgang mit ihren Philosophen besteht darin, sie dort zu platzieren, wo konzipiert und pilotiert wird – wo also das Andersdenken und Andersmachen Programm ist und nicht ständig aufs Neue gegenüber den Ansprüchen des Bestehenden gerechtfertigt werden muss. Der „Chief Philosophical Officer“ kann dann aufs Ganze denken, ohne ständig in voller Reibung mit der Mitwelt auch aufs Ganze gehen zu müssen. So hätte man einen Vordenker, der nicht in den Grabenkämpfen der Organisation zum Narren gehalten wird.

„Work-Life Balance“ – Zeitgeistiger Unfug oder Schlüsseldiskussion?