Im Moralgefängnis - Michael Andrick - E-Book

Im Moralgefängnis E-Book

Michael Andrick

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wieso enden unsere Meinungsverschiedenheiten in bitteren Fehden, die uns entzweien? Warum können wir nicht mehr gesittet streiten? Woher rührt das peinliche Schweigen in Familien, unter Freunden und Kollegen, sobald es um Politik geht? Ob Coronakrise, Zuwanderung oder Ukrainekrieg: Dass die Gesellschaft wahlweise "polarisiert" oder "gespalten" sei und das Diskussionsklima "vergiftet", hören wir seit Jahren. Doch bisher fehlte eine überzeugende Erklärung dieser verbreiteten Überzeugungen, die nicht einfach solche Floskeln wiederholt. Der Philosoph Michael Andrick zeigt, dass unser Diskurs-Elend aus einer Verhaltensweise entsteht, die wir alle beherrschen: Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung. Dieses Buch klärt auf, wie wir uns derart voneinander entfremden konnten, wohin dies die Gesellschaft führt - und wie neue Verständigung gelingen kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 226

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ebook Edition

Michael Andrick

Im Moralgefängnis

Spaltung verstehen und überwinden

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2024

ISBN: 978-3-910972-03-2

© Westend Verlag GmbH, Neu-Isenburg 2024

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Inhalt

Titel

Einleitung

1 Gemeinsam durch die Angst

Warum so still?

Dümmer und böser als sonst

Verstehen, nicht verurteilen

Das Befürchtungsregiment

Virusangst oder Virusangst-Angst?

2 Spaltung lebt vom Mitmachen

Zwei Fehler und ein Neubeginn

Intellektuelle Ausreden

Spaltung als Handlungsweise

Eine Infektion der Kommunikationswege

3 Kulturvirus Moralin

Moral, Moralisierung und Demagogie

Was ist und wie wirkt Moralin?

Verurteilung und Moraldefensive

Moralitis und Freiheit

4 Das Regime des Moralismus

Abkanzeln

Vorabmarkieren und Umstrittenmachen

Den anderen kontaktverschulden

Das Moralgefängnis: Wahnwelt von Fundamentalisten

Bekenntniszwang und pädagogische Sendung

5 Volkserziehung im Moralgefängnis

»Unsere Demokratie« schützen?

»Die Fakten« checken?

»Hass und Hetze« bekämpfen?

»Gerechte« Sprache sprechen?

Totalitärer Geist contra Demokratie

6 Bedrohung und Befreiung

Westliche Immunschwäche

Deutsche Immunschwäche

Die Möglichkeit eines totalitären Staates

Das Diktat des Guten Menschen

Befreiung: Den Respekt wiederfinden

Anmerkungen

Einleitung

1 Gemeinsam durch die Angst

2 Spaltung lebt vom Mitmachen

3 Kulturvirus Moralin

4 Das Regime des Moralismus

5 Volkserziehung im Moralgefängnis

6 Bedrohung und Befreiung

Orientierungsmarken

Titel

Inhaltsverzeichnis

Für meine geliebten Töchter Helene, Ida und Anna

Die echteste Tyrannei beherrscht die Seelen unbewusst, denn sie allein ist nicht zu bekämpfen.

Gustave LeBon, Psychologie der Massen

Wir sind das, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht durch unsere Gedanken.Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Welt.

Buddha (nach Dhammapada, 1)

Einleitung

Geistige Offenheit und Toleranz kommen unserer Gesellschaft zunehmend abhanden. Die Diskussionskultur ist vergiftet, moralische Verurteilungen treten an die Stelle der Verständigung über das Gemeinwohl. Wie kam es dazu? Und wie können wir diese unheilvolle Entwicklung wieder umkehren?

Fast jeder, dem ich von meinem Plan zu diesem Buch berichtete, unterbrach mich nach wenigen Sätzen. Und alle – ob Mann oder Frau, alt oder jung, reich oder arm, Doppeldoktor oder ungelernter Arbeiter, auf dem Land oder in der Stadt – alle sagten dann im Grunde dasselbe: »Ich muss dir mal was erzählen dazu … wir sind mit diesem Ehepaar schon seit vielen Jahren befreundet, und dann…«

Ja, was dann? Dann kamen Misstrauen, Entfremdung, Feindseligkeiten, manchmal auch die endgültige, mit dramatischen Szenen besiegelte Entzweiung – »wegen Corona«, »wegen des Ukrainekriegs« oder »weil die das rassistisch fanden, was ich gesagt habe«. Jeder scheint so etwas entweder selbst erfahren zu haben oder reichlich Beispiele aus seinem Umfeld und natürlich aus den Medien zu kennen.

An mir nagt nach Jahren heikler und hitziger Auseinandersetzungen um Flüchtlinge, Kriege, Klima und ein Virus ein wachsendes schlechtes Gewissen: zu viele Gespräche, die ich nicht oder nur halb geführt, zu viele Freundschaften, die ich nicht oder nur halb wiederbelebt habe. Ich weiß, dass es vielen ähnlich geht, die sich frisch von Bekannten und sogar Familienmitgliedern entfremdet haben oder die einfach von endlosen Streitereien frustriert sind.

Auf keinen Fall will ich in ein Leben unaufrichtiger Beziehungen voll peinlichen Schweigens und leeren Füllgeplappers hineinstolpern – aus Feigheit davor, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Oder weil ich mich nicht traue, sie anders als lauwarm und übervorsichtig, voll Versteckspielerei zu besprechen – so, wie Menschen aus Angst in Diktaturen reden.

Was sollen wir also tun? Kann es überhaupt eine Verständigung mit »den anderen« geben? Mit denen, die (je nach eigenem Standpunkt) entweder die regierungsamtliche Linie akzeptiert oder gegen sie protestiert haben – sei es bei der Finanz- oder Einwanderungskrise, bei Pandemie, Ukrainekrieg oder Klimapolitik? Besteht die Gesellschaft nicht längst nur noch aus chaotisch sich hier und da überlappenden Meinungsfraktionen, die sich bei jedem Streitthema anders zusammensetzen? Sind wir nicht bereits eine gespaltene Gesellschaft?

Und egal, ob wir nur eine schwer gestresste oder in der Tat schon gespaltene Gesellschaft sind: Mit wem und wie geht das Leben jetzt weiter? Müssen wir unser soziales Umfeld neu sortieren? Müssen wir damit rechnen, von anderen wegen unserer Meinung zu diesem oder jenem Thema »aussortiert« und geschnitten zu werden? Und müssen wir das vielleicht selbst einigen einstigen Weggefährten antun, weil kein gedeihlicher Austausch mehr möglich ist?

Das kommt für mich nicht in Frage. Und warum eigentlich sollte die Vielfalt von Standpunkten überhaupt ein Problem sein? Es ist doch eine Binsenweisheit, dass wir nur durch abweichende Sichtweisen etwas Neues erfahren und dazulernen können. Ich will mit Offenheit für alle, die mir begegnen, durchs Leben gehen, will unbeschwert meine Ansichten kundtun, will anhören und frei diskutieren, was die anderen zu sagen haben. So sollen auch meine Kinder aufwachsen.

Dieser Wunsch ist bei mir Vater eines Gedankens, der mir Hoffnung macht und mir auch den letzten Anstoß zu diesem Buch gab: Wie wäre es, wenn es so etwas wie eine geteilte Krisenerfahrung gäbe, von der alle, die heute zerstritten sind oder sich heikel anschweigen, gemeinsam ausgehen könnten, um einen Neuanfang zu machen?

Dieser Gedanke kam mir erstmals, als in Deutschland gerade die Corona-Politik auslief und die Ukraine-Frage in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rückte. Die schnelle Festlegung auf gewisse Sprachregelungen in den Leitmedien (»tückisches Virus«, »völkerrechtswidriger russischer Angriffskrieg«), das Abkanzeln Andersmeinender mit moralischen Schmähbegriffen (»Corona-Verharmloser«, »Lumpenpazifist«) und das Aufblühen von Kontaktschuld-Vorstellungen (»Wer mit Rechten auf die Straße geht…«, »Putin-Freund Schröder…«) kamen nicht nur mir im Frühjahr 2022 eigenartig bekannt vor.

Die moralisch aufgeladene, im Ganzen friedlose Diskussion des Krieges glich in vielem sehr schnell der Corona-Debatte. Wir wiederholen als Gesellschaft hier ein ungesundes Muster und sollten seine Ursachen erkunden, um künftig wieder ziviler, gedeihlicher miteinander streiten zu lernen.

Mit Blick auf die Corona-Krise – in die wir nicht so akut verstrickt sein sollten wie in die noch »heiße« Kriegsdebatte – gehe ich deshalb in den ersten Kapiteln dieses Essays den folgenden Fragen nach: Gibt es irgendwo einen Standpunkt, von dem aus betrachtet jeder in den letzten Jahren dasselbe erlebt hat? Egal, ob als Doppelt-Geboosterter, als Querdenken-Demonstrant oder als weniger Entschiedener irgendwo in der Mitte? Und könnte eine solche gemeinsame Erfahrung uns nicht als Ansatzpunkt neuer Verständigung und Annäherung dienen?

Die Antwort ist: »Ja«. Es gibt ein gemeinsam Erlebtes und Erlittenes, auf das wir uns beziehen können, wenn wir wieder aufeinander zugehen möchten. Diese gemeinsame Erfahrungsbasis versuche ich in den ersten Kapiteln schrittweise zu beschreiben – angefangen bei der ungewöhnlich hohen Stressbelastung der letzten Jahre und dabei, wie wir sie bewältigt haben.

An diesen Überlegungen wird vielleicht schon deutlich werden, dass schmerzhafte Konflikte auch ohne bösen Willen der Beteiligten unumgänglich waren. Und wir werden sehen, dass die Kenntnis der am Beispiel »Corona« identifizierten Muster und Mechanismen auch für das Verständnis anderer Kontroversen von Nutzen ist.

Danach geht es mir darum, einige naheliegende Missverständnisse im Zusammenhang mit dem schillernden Begriff »Spaltung« aufzuklären. Z. B. kann man leicht dem Gedanken aufsitzen, die großen Meinungsverschiedenheiten der Menschen seien das Grundproblem oder die sogenannten »Filterblasen« der Sozialen Medien, in denen man nur noch zu hören bekommt, was man ohnehin schon denkt – und sich so mehr und mehr von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt.

Diese Diagnosen erscheinen naheliegend und bequem: Sie haben mit uns persönlich nichts zu tun, sondern verweisen auf die anderen oder auf die Tücken neuer Technologien. Bei näherem Nachdenken aber erweisen sie sich als falsch. Spaltung entsteht nicht durch die Schuld gewisser Leute mit weit auseinanderliegenden Meinungen oder durch neuartige Kommunikationsplattformen.

Spaltung ist ein Gemeinschaftsprodukt vieler Menschen, die bestimmte Umgangsformen pflegen und die so miteinander eine bestimmte Kultur betreiben: Spaltung lebt vom Mitmachen. Und machen genügend Menschen bei spalterischen Praktiken mit, so verformt sich die private und die öffentliche Diskussion in der Gesellschaft derart, dass ein zwangloser Austausch unterschiedlicher Ansichten zur selben Sache fast unmöglich wird und eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen dominiert. Wir sitzen dann in einer selbsterbauten Zwingburg, die ich das Moralgefängnis nenne – auch deshalb, weil wohl jeder am liebsten aus dieser unangenehmen Lage ausbrechen würde.

Der längste Teil dieses Essays ist deshalb der Darstellung und Analyse zentraler Aspekte unserer bundesrepublikanischen Kultur gewidmet. Die Details des Geschehens der letzten Jahre, die Feinheiten der Corona-, Ukraine- oder sonst einer Debatte beschäftigen mich dabei nicht. Mich interessiert als Philosoph hier nur, was sich an diesem Geschehen offenbart hat – wie es zu verstehen ist oder wovon es zeugt.

Welche Verhaltensweisen und welche psychologischen Mechanismen spielen eine Rolle? Was für eine soziale Dynamik erzeugen diese Faktoren? Was wird unter diesen Umständen mit Absicht getan, was geschieht in der Regel unbewusst oder wird halbbewusst (mit)gemacht? Gibt es typische gedankliche und sprachliche Operationen, die das ungedeihliche Diskussionsklima in Deutschland erklären (und die wir vielleicht auch selbst praktizieren)?

Meine Analyse unserer aktuellen Kultur und der Rolle des Einzelnen inihr lässt sich in folgender These zusammenfassen: Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung. Ich komme zu dem Schluss, dass wir mitten in einer schweren Epidemie des Kulturvirus Moralin stecken – und dass die an einer unbehandelten Moralitis leidenden Bürger, zu denen wir durchaus selbst gehören können, sich eine ganz eigene Kultur errichtet haben, die mit einem demokratischen Zusammenleben unvereinbar ist.1

Diese Kultur, in der spalterisches Handeln vorherrscht, nenne ich das Regime des Moralismus. Seine Kennzeichen sind u. a. Verhaltensweisen wie das gegenseitige Abkanzeln, Stigmatisieren und Umstrittenmachen, aber auch gedanken- und sprachpolizeiliche Initiativen und das Operieren mit Kontaktschuldfantasien. Sogar eigene Institutionen hat das Regime des Moralismus sich erfunden, darunter »Faktenchecker« und staatliche Gesinnungsmeldestellen.

Nicht mehr freiheitliche Politik – d. h. der Interessenausgleich von Andersdenkenden unter Bedingungen bürgerlicher Gleichheit – steht im Zentrum dieser Kultur, sondern die dringend empfundene Pflicht, die Wahrheit gegen den Irrtum durchzusetzen. So entsteht ein von Ausschlussangst und Paranoia geprägtes Diskussionsklima, das den Werten einer freiheitlich-demokratischen Ordnung Hohn spricht und sie jeden Tag aufs Neue auch emotional unglaubwürdig macht. Das Regime des Moralismus erlaubt es nicht, in demokratischem Geist zusammenzuleben. Mit ihm erbauen wir das Moralgefängnis, in dem wir jetzt einsitzen.

Die gute Nachricht dieser kurzen Philosophie zur Verständigung ist, dass es einen klaren Ausweg gibt: Haben wir das Wesen und die Funktionsweise spalterischen Handelns einmal verstanden, so verliert das durch lange Gewöhnung internalisierte Regime des Moralismus seine Macht über uns. Wir werden es dann leicht erkennen, bei den anderen und bei uns selbst, und uns dagegen wehren. Wer sich ein Gefängnis baut, der kann es auch wieder einreißen. Schließlich möchte niemand in Angst und Paranoia leben oder seine Kinder in einer solchen Atmosphäre großziehen.

1Gemeinsam durch die Angst

Warum so still?

Mittlerweile kennt wohl jeder die Anzeichen von Entfremdung und Vertrauensverlust aus eigener Erfahrung: Verunsicherung im zwischenmenschlichen Umgang, die Entartung politischer Diskussionen zum Pöbelwettstreit, neue Empfindlichkeiten in der Familie, das Zerbrechen alter Freundschaften oder aber ihr qualvolles Lau- und Flauwerden – und das peinliche Schweigen über diese Kümmernisse. Es herrscht Unsicherheit, wie man sich verhalten soll, denn die Ursachen dieser Entwicklungen werden meist nur vage erahnt, aber nicht klar verstanden.

Auf Texte und Interviews, in denen ich mich an der Verarbeitung dieser Erfahrungen versuchte und Erklärungen anbot, erhielt ich öfters die Rückmeldung: »Das ist nicht neu. Das kennen wir spätestens seit der Finanzkrise.«1 Und tatsächlich: Bei jedem Großthema – ob Flüchtlingskrise, Corona-Politik oder Ukrainekrieg – scheint sich in Deutschland eine schnelle und markante Polarisierung in unseren Diskussionen zu wiederholen, die oft die Sachebene verlässt und in kaum verhohlene Beschimpfung umkippt.

Schnell wurden z. B. Menschen, die Angela Merkels Politik der offenen Grenzen und »Willkommenskultur« für Flüchtlinge in den Jahren 2015 und 2016 mit skeptischen Fragen begleiteten, massenmedial als »rechts« oder »fremdenfeindlich« tituliert. Zugleich konnte es in staatsnahen Medien anscheinend nie genug Berichte über dramatische Flüchtlingsschicksale und die Unermüdlichkeit der freiwilligen Helfer geben. Wer einfach auf eine differenzierte öffentliche Diskussion aller politisch relevanten Aspekte des Problems und der realen Sorgen von Menschen aller Schichten und Hintergründe angesichts dramatischer Bilder hoffte, der wurde enttäuscht.2

Ein Interview des Deutschlandfunk (DLF) mit der Schriftstellerin Juli Zeh vom 28.08.2015 erhellt den Kern des Problems in mustergültiger Weise. Diffamierende Äußerungen Joachim Gaucks (»Dunkeldeutschland«) und Sigmar Gabriels (»Pack«) gegen Straßendemonstranten werden darin zum Anlass genommen, über »Rhetorik in der Flüchtlingskrise« zu sprechen.3

Die Romanautorin führt »die fehlende Bereitschaft, die fehlende Fähigkeit der Menschen im Land, mit dem Problem fertig zu werden«, darauf zurück, dass sie »rhetorisch schon völlig falsch darauf vorbereitet« worden seien – durch den Gebrauch von Worten wie »Flüchtlingsstrom«. Die DLF-Journalistin Sandra Schulz teilt mit, was das Publikum denkt:

[D]ie Forderung nach einer Political Correctness, die werfen uns – das sind die Reaktionen, die wir von vielen Hörern bekommen – die Hörer gerade auch vor. Da wird gesagt, es müssten die Flüchtlinge begrüßt werden und da würden gar keine anderen Meinungen daneben geduldet werden, was natürlich dann auch Vorbehalte durchaus wieder schürt und dazu führt, dass sich auch Menschen vom Rechtsstaat abwenden.

Nach diesem Einsichtsmoment, dass das Fehlen eines vielstimmigen Diskurses mit unterschiedlichen Meinungen Misstrauen und die Ablehnung offizieller Politik »schürt« und das Vertrauen in den Rechtsstaat schwächen könnte, wird aber schnell wieder deutlich, dass Juli Zeh und ihre Interviewerin ein gemeinsames Projekt haben: den Leuten durch die Wahl der richtigen Begriffe klarzumachen, dass es gar kein Problem gibt. Ansonsten, so erklärt Juli Zeh,

ist nämlich irgendwann gar niemand mehr bereit, für eine Flüchtlingsunterkunft zu stimmen und die Sachen einfach so zu sehen, wie sie sind. Es gibt Flüchtlinge, es ist unsere moralische und rechtliche Pflicht, diesen Flüchtlingen zu helfen, und wir können das auch. Das ist nicht schlimm. Niemand stirbt davon, wenn er ein Flüchtlingsheim in seiner Nachbarschaft hat, und diese Menschen werden uns keinesfalls die Butter vom Brot nehmen. Es gibt diese Bedrohung überhaupt nicht und das muss man erst mal vermitteln, damit man dann sachlich damit umgehen kann. Solange diese Angstrhetorik herrscht, ist es schwierig, die Leute zum Mitmachen zu bewegen.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk dient hier als Ort der Volkspädagogik von oben herab mit Hilfe einer regierungsunkritischen Intellektuellen. Es wird von vornherein einfach ausgeschlossen, dass Ängste oder Vorbehalte gegen verstärkte Zuwanderung irgendeinen sachlichen Anhalt in der Wirklichkeit haben könnten. Es wird kein Bedarf an einer echten politischen Diskussion gesehen, sondern nur an Erziehung »der Leute« zur richtigen Haltung. Dafür, so erklärt Juli Zeh, habe man »die Worte auf die Goldwaage« zu legen.

Nach der wiederholten Erfahrung, dass in den wichtigsten Medien bei jeder größeren Streitfrage sehr schnell eine Haltung als gut und richtig, alle anderen aber als irgendwie verdächtig erschienen, ist eine allgemeine Vorsicht eingezogen: Man überlegt sich, bei wem man welche Themen anschneidet und welche Ansichten man dabei äußert oder zu erkennen gibt. Manchmal spüre ich selbst, dass ich nach dem Willen der (meist selbsternannten) Beschützer potenzieller Diskriminierungs-, Beleidigungs- oder auch nur Verstimmtheitsopfer jedes Wort vorsichtig abwägen, rhetorisch auf Eierschalen wandeln, ja, Selbstzensur begehen soll.

Diese Atmosphäre ängstlicher Verhaltenheit, einer sanften, aber allgegenwärtigen Paranoia, beunruhigt mich; es herrscht ein undemokratisches Klima. Demokratie ist die Entmachtung der Starken, Reichen, durch Abstammung oder Aberglauben Privilegierten – und ihre Einbindung in gleichberechtigte Verhandlungsarbeit mit allen anderen, auch den Schwächsten. Ohne eine tolerante, ebenso geduldige wie streitfreudige Gesprächskultur kann Demokratie nicht funktionieren.

Wollen ökonomisch mächtige oder intellektuell überlegene Bürger den respektvollen Streit nicht pflegen, sondern einfach alles zu ihren Gunsten dominieren, so werden sie Wege finden, die Demokratie zur bloßen Fassade ihrer Oligarchie zu machen; mit Geld und Propaganda lässt sich das erreichen.

Wollen normale, also weder besonders reiche noch besonders intellektuelle Leute den respektvollen Streit nicht pflegen, sondern einfach alles zu ihren Gunsten dominieren, so werden sie Wege finden, die Demokratie zur bloßen Fassade einer Oligarchie mittelmäßiger Verbandsfunktionäre zu machen; Klüngelei und Ressentiments gegen Bildung vermögen das.

Beide Entartungen eines demokratischen Landes wünsche ich mir nicht als Heimat. Deshalb will ich, dass wir wieder lernen, respektvoll zu streiten. Was heißt das? Ich bin für einen Geist der Toleranz, des ehrlichen Interesses und der Freude an der Auseinandersetzung. Dieser Geist ist es, der ein Klima schafft, in dem wir unsere Ansichten leichthin und offen äußern, unsere Meinung so klar und deutlich erklären, wie wir eben können. Dieser Standpunkt kann dann durch gute Diskussion zum Zwischenhalt auf dem Weg zu besserer Einsicht werden.

Die Intoleranz und das abschätzige Desinteresse gegenüber Haltungen und Ansichten anderer, die ich weit verbreitet sehe, schaffen hingegen ein Klima, in dem wir unsere Ansichten verklausuliert und verdruckst äußern, unsere Ansichten so weichkonturiert dartun, wie wir eben können, oder lieber gleich ganz schweigen.

Damit bestätigen wir den anderen, dass wir fürchten, sie könnten unseren Standpunkt mit ihren Erwiderungen zu unserer ganz persönlichen Endhaltestelle im sozialmoralischen Abseits machen: Da möchte man offen diskutieren, und plötzlich wird man als »Fremdenfeind«, »Russlandversteher«, »Homophober«, »Rechter«, »Coronist«, »Impfnazi« oder »Schlafschaf« abgestempelt.

Ferdinand Kirchhof stellt in der Neuen Juristischen Wochenschrift fest:

Moralisierende Diskussionstabus gefährden die von Art. 5 des Grundgesetzes intendierte Meinungsvielfalt in gleicher Weise wie staatliche Zensur und Aufsicht. […] Politische und gesellschaftliche Entscheidungen werden nicht mehr in der Gesamtheit der Gesellschaft nach dem freien Willen jedes einzelnen ihrer Mitglieder erörtert, sondern von den Interessen bestimmter Gruppen in der Gesellschaft gesteuert. Die Vielfalt und die Freiheit der Meinungsäußerungen in der Gesellschaft leiden darunter.4

So oder so ähnlich wie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts erlebt mittlerweile eine viel zu große Minderheit, vielleicht schon eine Mehrheit der Deutschen, unser Diskussionsklima.

Umfragen belegen dies: Laut dem Jahresbericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung meinten im Osten der Republik Anfang 2023 nur noch 43 % (2020: 50 %), man könne seine Meinung frei sagen, ohne in Schwierigkeiten zu geraten; im Westen sind es noch 58 % (2020: 63 %). Allensbach maß im Sommer 2021, dass dies in Deutschland insgesamt nur noch 45 % glauben; ein Wert, der in den 70er und 80er Jahren der alten Bundesrepublik noch um 80 % lag und dann von 2003 bis 2021 von 72 % auf 43 % absank.5

Das ist alarmierend. Äußerungsangst breiter Schichten gibt es in einer gesunden Demokratie nicht. Demokratie besteht ja gerade darin, den Willen der Bürger durch ergebnisoffene Diskussion unter Gleichen in Politik zu überführen. Auch der Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bezieht sich zum Neujahr 2023 auf Allensbach und macht sich Sorgen: »Der Anteil der Menschen in Deutschland, die sich gerne mit Andersdenkenden austauschen, geht seit Jahren zurück. Kürzlich ermittelte das Allensbach-Institut nur noch 37 Prozent.«6 Kaum vier von zehn Deutschen liegt noch daran, zu wissen, was Bürger anderer Überzeugung bewegt. Das läuft auf eine breite Boykottierung des demokratischen Diskurses hinaus.

Es ist jetzt eine dringliche Aufgabe für die Philosophie, die prinzipiellen Zusammenhänge aufzudecken, die dieses Diskurs-Elend verursachen. Nur was wir verstehen, was wir einmal bewusst durchdrungen und begrifflich geordnet haben, können wir auch im Alltag richtig diagnostizieren – und dann gegensteuern.

Sehen wir eine weit verbreitete Zögerlichkeit und Ängstlichkeit, seine Ansichten zu äußern, so müssen wir daraus schließen, dass faktisch keine Demokratie mehr praktiziert wird, mag sie auch formal noch bestehen. Die einst offene Gesellschaft hat sich bereits gefährlich geschlossen. Der soziale Raum, in dem man (wie Theodor W. Adorno es ausdrückt) »ohne Angst verschieden sein kann«, ist bereits stark verengt. Darum ist es so still.

Gelingt es uns nicht, zu einer angstfreien Diskussionskultur zurückzukehren, so könnten wir nicht weniger als unser bis 2020 recht liberales Repräsentativsystem verlieren und ganz und gar in einen korrupten Parteienkartellstaat mit repressivem Meinungsregime geraten.7 Wird nicht mehr freimütig und offen gesprochen, so werden die Mächtigen auch nicht mehr effektiv kontrolliert. Wir leben im Moralgefängnis und müssen einen Weg zurück in die Freiheit finden.

Dümmer und böser als sonst

Beginnen wir beim größten gemeinsamen Nenner aller Streitparteien unserer polarisierten Debatten: dem Stress. Eine »Flüchtlingswelle rollt« auf das Land zu, ein unbekanntes Virus »greift um sich«, ein Krieg »bricht aus« in Europa – jedes Mal eine andere, eindrucksvolle mediale Fanfare auf fast allen Kanälen.

Wir machen (zumindest an der Medienoberfläche) erstaunliche Erfahrungen, erleben deshalb ungewohnte Belastungen und müssen jedes Mal auf Neue den Eindruck gewinnen, dass jetzt Aufgaben vor uns liegen, auf die wir nicht vorbereitet sind. Für solche Situationen hat unser Organismus Stress als überlebensdienliches Programm entwickelt.

Stress ist eine schnelle, radikale Vereinfachung und Konzentration: Unser Körper und Geist bereitet sich blitzschnell auf Kämpfen, Fliehen oder Totstellen vor und stellt dafür alles nicht unmittelbar Notwendige zurück. An sich ist Stress nicht gesundheitsgefährdend, sondern nützlich; nur dauerhafter Stress ist schädlich.8 Und genau den haben wir in den letzten Jahren, besonders konzentriert in den Jahren der Corona-Maßnahmen, in Dauerschleife mit Unterbrechungen erlebt. Angst und Verunsicherung hielten Einzug in den Alltag.

Das bedeutete eine gravierende Beeinträchtigung – ganz egal, welche politischen Überzeugungen jemand während dieser Erfahrungen gehegt hat. Angst und Verunsicherung ziehen die psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen in Mitleidenschaft. Seymour Epstein erklärt die vier Pfeiler unserer psychischen Gesundheit wie folgt: Menschen brauchen für ihr Wohlbefinden zuallererst stabile Bindungen und Beziehungen (besonders, aber nicht nur im Kindesalter) und zweitens Autonomie.

Wir wollen aus eigenen Motiven heraus ungestört handeln und dabei aus einer breiten Palette von echten Möglichkeiten auswählen können. Drittens benötigen wir ein gewisses Maß an Sinnesbefriedigung, und schließllich viertens ein zumindest stabiles Selbstwertempfinden, dass sich aus Kommunikation in unserem Sozialverband speist.9

Auf allen vier Grundpfeilern unserer psychischen Gesundheit haben wir in den letzten Jahren mehr Last aushalten und balancieren müssen als zuvor. Dieser Stress war keine Bagatelle, er war in der langen Krisenreihung für viele existenziell. Betrachten wir hier nur einmal die Jahre der Virus-Krise: Die Angst, von einem unsichtbaren, schwebenden und ungemein gefährlichen Erreger belagert zu sein, betraf jeden, der sie nicht durch sachgerechte Information auf das richtige Maß mindern konnte.

Das gelang in den ersten Wochen der Aufgeregtheit im Frühjahr 2020 fast niemandem, weil die Informationslage in den großen Medien unübersichtlich war. Später kam die von den Corona-Maßnahmen verursachte Angst hinzu, die besonders gravierend für alle war, die vom öffentlichen Leben und oft auch von ihrem Beruf ausgeschlossen und dabei zu medizinischen Behandlungen mit neuartigen Präparaten genötigt wurden. Für die meisten war diese Nötigung durch Freiheitseinschränkungen gegeben, bei anderen direkt durch die Drohung mit Arbeitsplatzverlust.

Die Autonomie aller war massiv bedroht, weil plötzlich die einfachsten Alltagssituationen zum Gegenstand von tief eingreifenden Verordnungen wurden, zahlreiche Gebote und Verbote beachtet werden sollten, die es so noch nie gab und die quasi über Nacht und oft im Vokabular moralischer Letztverantwortung für Leben und Tod der Mitmenschen zur Pflicht der Solidarität erklärt wurden.

Die Sinnesbefriedigung war eingeschränkt, weil weniger sozialer Kontakt stattfand und viele, insbesondere gesellige Aktivitäten verboten waren. Der Sozialstatus aller, die z. B. als Einwohner von Altenheimen unter der Isolation zu leiden hatten, oder derer, die sich den »Maßnahmen« nicht fügen wollten und andere Auffassungen als die Regierung äußerten, war durch mediale Diffamierung und soziale Ausgrenzung zeitweise schwer beeinträchtigt.

Bei manchen wankten einer oder zwei, bei manchen auch alle vier Grundpfeiler des Wohlbefindens in einer von Stress und Unsicherheit geprägten Lebenssituation. In einer solchen Lage fällt es viel schwerer als sonst, genau nachzudenken und sein Handeln vorsichtig abzuwägen. Aber zurück zum unmittelbaren Umgang mit Stressempfinden.

Anstatt unsere ersten Gedanken zu einem Thema als bloße Gewohnheitsreaktionen aufzufassen und sie erst einmal in Ruhe zu prüfen, legen wir uns sehr schnell und spärlich begründet auf eine Deutung unserer Erfahrung fest – damit wir nicht durch Grübelei gefährlich lange von unseren natürlichen Stressreaktionen Kämpfen, Fliehen oder Totstellen abgehalten werden.

Ein herabgesetztes Reflexionsniveau führt damit zu Begriffsverwirrung, die uns mangels genauen Nachdenkens kaum bewusstwerden kann. Wir handeln also aufgrund verwirrter Begriffe und richten dabei notwendig Schaden an, weil sich unsere Einschätzungen von der tatsächlichen Lage in subjektiver Verzerrung zunehmend entfernen.

Die Fähigkeit zur Einfühlung in andere und zur Anteilnahme an ihrem Erleben, genannt Empathie, leidet ebenfalls unter Stress. Anstatt zu fragen, wie der andere die Situation erfährt, was wohl sein Informationsstand, seine Empfindungen und Interessen sein mögen, sind wir nun eher geneigt zu fragen, ob uns von ihm Ungemach droht und wie wir dem am besten entgehen könnten.

Herabgesetzte Empathie führt zu schlechterem sozialen Zusammenspiel, da wir die Bedürfnisse des anderen nicht mehr gut wahrnehmen – ohne uns diesen Tatbestand unter Stress aber so leicht klarmachen zu können. Wir handeln also aus einer weitgehend fühllosen Selbstfixierung heraus und richten dabei notwendig Schaden an, weil unsere Wahrnehmung der Mitmenschen und ihrer Motive grobkörniger und emotional flacher ist als gewöhnlich.

Stress verdirbt unsere Begriffe, macht sie grob und stumpf, und damit wird unser Verständnis der Wirklichkeit und unserer Mitmenschen verschleiert und verwirrt. Unsere Verstehens- und Verständigungsmittel verfallen rapide ausgerechnet im Augenblick der Krise. Das ist menschlich, es geschieht in jeder Ausnahmesituation – und es geschieht großflächig und durchdringend in der ganzen Gesellschaft, wenn die offizielle Politik eine allgemeine Bedrohung erklärt.

Konfuzius bemerkte in diesem Sinne: »Die Auflösung jeder Ordnung beginnt mit der Verwirrung der Begriffe.« Das Missverstehen unserer selbst und der Mitwelt, in das Stress jeden in gewissem Maße führt, gebiert schlechte Entscheidungen: Wir sagen und tun mehr Dummes und Böses, als unter gesunden Umständen von uns zu erwarten wäre. Damit geben wir unseren Mitmenschen vermehrt Grund, uns zu hassen. Diese stehen unter demselben Stress wie wir, zeigen sich deshalb genau wie wir gerade dümmer und böser als sonst und erregen eher als sonst auch unseren Hass.

Jede der vagen Großbedrohungen, von denen Politiker und Medien uns in den letzten Jahrzehnten erzählen – man denke an Schlagworte wie Lohnnebenkosten, Klimawandel, Terrorismus, Bankenkrise, Migration, Viren … –, halten genau diese Dynamik destruktiver Stressbelastung in Gang. Die Virusangst ist nur die letzte in einer langen Reihe von Leitängsten, mit denen die Bevölkerung belastet war und mit denen auch politisch operiert wurde.

In den Corona-Jahren erreichte die kollektive Stresserkrankung unserer Gesellschaft und unseres politischen Systems ihren vorläufigen Höhepunkt. Das zeigt sich auch in harten Zahlen zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen in Deutschland: Zwischen 2001 und 2021 hat sich die Zahl der durch sie verursachten Fehltage der Arbeitnehmer weit mehr als verdoppelt.10

Wir können uns demnach gewiss sein, dass unsere gewohnte Ordnung in den letzten Jahren in Auflösung übergegangen ist – sei es im Familien- und Freundeskreis, im Vereins- und Arbeitsleben, in der Religionsgemeinschaft oder in der politischen Öffentlichkeit. In allen diesen Sphären hat Dauerstress sein Zerstörungswerk gleichermaßen entfaltet, hat die sozialen Bande und das gegenseitige Vertrauen geschwächt. Die Corona-Krise war nur die letzte einer Reihe solcher ungesund geführter und gesellschaftlich schlecht verdauter Kontroversen.

Davon erzählt das peinliche Schweigen einst herzlicher Nachbarn, einst enger Freunde, einst liebevoller Partner oder Geschwister im ganzen Land. Es liegt jetzt an uns, wieder geduldiges Nachdenken und Mitgefühl zu entwickeln. Dazu müssen wir aber gedankliche Hausaufgaben machen und uns ein tieferes Verständnis der Ursachen unserer bedrückenden Erfahrungen erarbeiten. Erst wenn wir wissen, was genau in unseren Diskussionen schiefläuft, können wir uns dieser schlechten Dynamik entziehen und ihr entgegenarbeiten.

Verstehen, nicht verurteilen

Welchen Beitrag habe ich zu Spaltung und Entfremdung geleistet? Diese Frage ist irritierend, aber unvermeidlich, wenn wir bewusst Schritte zur Verständigung gehen möchten. Politiker und internationale Akteure hatten und haben in den angstpolitischen Krisen der letzten Jahrzehnte einen gewaltig großen, gelegentlich auch strafrechtlich relevanten Anteil am entgleisten Geschehen.11 Nur hilft uns diese berechtigte Feststellung im Alltag fast überhaupt nicht dabei, zu entscheiden, wie wir im direkten Umfeld etwas zur Heilung der Verhältnisse beitragen können.

Bei uns selbst aber können wir ansetzen. Was genau Angst und Stress bei einem Menschen anrichten, hängt davon ab, mit welcher Persönlichkeit und unter welchen Lebensumständen er diesen Belastungen begegnet. Jeder ist auf seine unnachahmliche Weise dümmer und böser als sonst, wenn er unter Stress gerät, je nach Prägung, aktueller Befindlichkeit und materiellen Reserven.