Ich, ein Sachse - Samuel Meffire - E-Book

Ich, ein Sachse E-Book

Samuel Meffire

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Beschreibung

Die unglaubliche, aber wahre Geschichte eines Aufstiegs und Falls – und einer schwierigen Wiederauferstehung Samuel Meffire wuchs als Afrodeutscher in der DDR auf und wurde allen Widrigkeiten zum Trotz der erste Schwarze Polizist Ostdeutschlands. In seinem Buch gewährt er einen intimen Einblick in seine Gefühlswelt, schonungslos offen, unterhaltsam und witzig. Er berichtet packend von seiner Tour de Force über mehrere Kontinente und erzählt im Rückblick auf sein bisheriges Leben zugleich einen oft übersehenen Teil deutsch-deutscher Geschichte.

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Ich, ein Sachse

Die Autoren

Samuel Njankouo Meffire wurde 1970 in Zwenkau bei Leipzig geboren. Was er an ungewöhnlichen Erfahrungen gemacht hat, reicht mindestens für zwei Leben. Heute ist er endlich angekommen. Mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern lebt er in Bonn und arbeitet mit gewaltauffälligen Jugendlichen und als Coach für MitarbeiterInnen im Öffentlichen Dienst zum Thema Gefahrenlagen. Berufsbegleitend studiert er Soziale Arbeit an einer Fernuniversität.

Lothar Kittstein, 1970 in Trier geboren, seit 2005 als überregional beachteter Theaterautor tätig. Seine Stücke wurden an vielen großen Deutschen Bühnen gespielt: Residenztheater München, Schauspiel Köln, Berliner Ensemble, Kammerspiele München, Theater Bonn, Schauspiel Frankfurt. Das Nationaltheater Weimar hat Kittstein für die Spielzeit 21/22 mit einem großen, zweiteiligen Theaterstück über Samuels Leben beauftragt. Lothar Kittstein ist außerdem als promovierter Historiker bestens mit der wechselhaften deutsch-deutschen Geschichte vertraut und beherrscht es, auch komplexe Zusammenhänge anschaulich und packend darzustellen.

Samuel Meffire und Lothar Kittstein

Ich, ein Sachse

Mein deutsch-deutsches Leben

Ullstein

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Ullstein extra ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: Christian Amouzou, AachenTitelfoto: © Krentz, AachenAutorenfoto: © Olaf BallnusE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-8437-2818-8

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Inhalt

Titelei

Die Autoren / Das Buch

Titelseite

Impressum

I.Die fremde Heimat

Bonn, Mitte Juli 2021

Kapitel 1

Bonn, Mitte Juli 2021

Kapitel 2

Bonn, Mitte Juli 2021

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

II.Kinder der Revolution

Bonn, Mitte Juli 2021

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

III.Aufstieg und Fall

Bonn, Mitte Juli 2021

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

IV.Der lange Weg in die Freiheit

Bonn, Mitte Juli 2021

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Bonn, Mitte Juli 2021

Kapitel 22

Kapitel 23

Bonn, Mitte Juli 2021

Anhang

Bildteil

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

I.Die fremde Heimat

I.Die fremde Heimat

    

Bonn, Mitte Juli 2021

»Papa?«

Der Ruf schallt über den kurzen Flur und biegt dann im Galopp um die Ecke. Gerade habe ich die Reste des Mittagessens beseitigt und es mir am Küchentisch gemütlich gemacht. Ich wollte eigentlich nur kurz verschnaufen, innehalten und mich meiner Nachrichtensucht hingeben. Aber daraus wird wohl nichts.

»Papa!«

Nur zehn Minuten. Spiegel-Online und ich. Nur klitzekleine zehn Minuten. Davon träumte ich, aber jetzt ruft mich Una, die jüngere meiner beiden Töchter. Und mein Traum zerplatzt. Unas Tonfall sagt mir, dass sie einen Wal gefangen hat. Sie hat etwas Großes, etwas Ungeheuerliches entdeckt. So ungeheuerlich für eine Fünfjährige, dass es postwendend verkündet werden muss. So schnell es nur geht, so laut es nur geht. Jedem, der es hören will.

Una, das ist mein wuselndes, forderndes, unendlich neugieriges Akrobatik-Wunderkind mit Korkenzieherlocken. Ich bestaune mein Nachgeborenes tagtäglich voller Glückseligkeit und liebevoller Bewunderung. Wie es duftet. Wie es sich bewegt.

»Papa, komm! Komm schnell!« Unas Gespür ist legendär. Nichts, wirklich gar nichts, bleibt ihr auf Dauer verborgen. Sie wühlt sich in die tiefsten Tiefen der Schubladen und erklettert die höchsten unserer Schränke. Sie ist eine Entdeckerin. Sie schafft es, mit meinen sorgsam gehüteten Textmarkern neu gestrichene Wände zu bekritzeln. Oder sich mit dem kussfesten Lippenstift ihrer Mutter zu verschönern, für den glaubhaften Horror einer Gesichtsbemalung, zu Halloween.

»Ich komme! Fass nichts an, bitte, ich komme!«

In der Mitte des Kinderzimmers thront, wie ein kleines Alienraumschiff, das Indoor-Trampolin. Daneben stehen ein Baumhausbett und ein Kletterbogen. Und auf der Fußbodenfläche wurden eine Million Sachen wild verstreut. Hier gibt es wirklich alles, was ein Kinderherz begehrt. Nur keine Una.

»Papa?« Die Stimme kommt aus meinem Arbeitszimmer. Das sollte so nicht sein. Mein Arbeitszimmer ist Sperrgebiet. Sie weiß, dass sie da nicht hineindarf. Zumindest nicht ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Im Arbeitszimmer lagern meine Sachen, mannshoch und chaotisch aufgetürmt: Bücherberge, Aktenordner und eine Armee selbst gebauter Trainingseisen. Das ist alles andere als kindersicher. Und im Arbeitszimmer lagern auch, fein säuberlich in Kisten verpackt, die Geister meiner Vergangenheit.

»Una! Was machst du da?!« Zu spät. Sie sitzt im Schneidersitz unter dem Schreibtisch, vor ihr eine geöffnete Kiste. In der Hand hält sie einen vergilbten zerknitterten Bild-Artikel.

Ich wollte diese Kiste nicht öffnen. Noch nicht. Ich habe sie zusammen mit fünf anderen ganz oben in das Regal gestellt, hinauf auf das höchste Brett, so weit weg wie nur eben möglich. Es ist eine beige Pappschachtel, voll mit toxischen Erinnerungen. Doch mein Leben wird jetzt von Disney+ verdaut, diesen ewigen Erzählern epischer Märchen. Yes, it’s unreal. Meine Vergangenheit taugt trefflich zu einem Horrorfilm, doch die machen daraus ein prachtvolles Drama, mit allem Drum und Dran. Bloß ohne Einhörner, Zauberer und singende Feen. Merde, verdammte. Die toxischen Kisten habe ich den Leuten von der Produktion versprochen und dafür aus dem Regal geholt. Und jetzt hat Una eine davon.

Ich habe eine Reihe von überaus fragwürdigen Dingen getan. Von unentschuldbaren Dingen. Und deren Ergebnisse waren … verheerend. So viele Irrtümer. So viele Verluste. So viel Schmerz. Über die die Zeit hinweggeht und so alles der Sinnlosigkeit anheimfallen lässt. Doch dann kamen die vom Film, und ich habe mit ihnen einen Deal gemacht für Geld. Und gegen das Vergessen. Zu diesem Deal gehört, dass ich mich an alles erinnere. Und da ich das nicht kann, habe ich die verdammten Kisten aus dem Regal geholt. Ich wollte sie öffnen. Irgendwann. Vielleicht bald. Nur jetzt noch nicht.

»Was steht da, Papa?«

Una zeigt auf die Schlagzeile, unter der mein Foto prangt. Mein jüngeres Ich schaut mich an. Mit ruhiger, kalter Grimmigkeit. Ja, das bin ich. Ich könnte versuchen zu leugnen, aber es wäre sinnlos. Im Angesicht des Artikels flutet mich sorgsam Verdrängtes. Steigt herauf wie eine kalte ölige Flüssigkeit. Bizarre Blitzlichter des Vergangenen.

»Nigger! Verdammter, dreckiger Nigger!« Sie brüllen und toben auf dem Flur. Noch einmal rammen sie die Tür. Putz rieselt weißlich und dünn aus der Spalte um den Rahmen. »Komm raus da! Du und deine Hure, ihr seid tot!«

Ein Knall. Der Tritt lässt die Tür des Nachtclubs auffliegen. »Auf den Boden! Los, los, auf den Boden!«, brüllt jemand. Ein Kommando. Eine Drohung. Ist das meine Stimme?

Der schraubstockartige Händedruck des Ministers. Ein langer, eindringlicher Blickkontakt. »Ich zähle auf dich, Sam. Denk daran, wofür du Polizist geworden bist. Denk daran, was hier auf dem Spiel steht!«

Die sterbende Frau auf dem Gehweg. »Ich bin Presse! Ich mache hier Fotos!« Der laute große Kerl mit der Kamera. Das Zischen vom Blitzlicht. »Verpiss dich!« Dunkel rauschende Wut. Ich habe es nicht unter Kontrolle.

Wummernde Bässe. Techno-Disco-Hölle. Eine Hand auf meinen Unterarm. »Der Felix hat gesagt, dass du der Sam bist. Du bist doch der Ex-Polizist?« Sie ist ganz nah. Die Wärme ihres Körpers flutet aus ihrem Kleid heraus. Wieso sieht dieses Mädchen so aus wie die Zwillingsschwester von Fee? Mein Herz sticht und holpert.

Der wimmernde alte Mann am Boden. Endlich. Ein beschissener Ringkampf mit diesem Riesen. »Wo ist das Geld? Wo habt ihr das verdammte Geld?« Eine Vase zerschellt auf den Granitfliesen im Flur. Scherben unter meinen Schuhen.

Stille im Arrestloch. Diese verfluchte bodenlose Stille. Bis auf die knisternden Neonröhren und das Brummen der Ventilation. Ein Sarg unter dem Keller von irgendeiner Behördenfestung. Lange schaffe ich das nicht. Ich möchte gegen die ockergelben Kacheln springen. Mit Anlauf, wieder und wieder. Bis alles zerplatzt. Bis alles herausquillt, all die verdammten Gefühle und Erinnerungen. Und alles im kleinen Ablauf in der Bodenecke versickert. Und dann sollen sie kommen und meine Reste wegspülen.

»Papa?«

Ein Stimmchen aus weiter Ferne. Ich versuche zu verstehen, wo ich bin. Und was ich hier tue. Es dauert einen Augenblick.

»Papa? Was steht da?«

Unas Gesicht, besorgt und ganz nah. Fuck, wie lange war ich weg? Sie hält mir die Zeitung vor die Nase. Ach ja, dieser Artikel! Diese elende Schlagzeile.

»›Staatsfeind‹, Löckchen.« Ich lächle, obwohl mir nicht danach zumute ist. »Da steht: ›Staatsfeind Nr. 1 schreibt Bücher‹.«

»Und was ist ein Staatsfeind?«

»Das ist jemand, der den Staat angreift, Schatz. Der den Staat kaputt machen will.«

»Was ist der Staat?«

»Das sind wir alle. Wir alle zusammen. Das, was allen gemeinsam gehört. Und die Regeln, die für alle gelten.«

»Das wolltest du kaputt machen?« Una schaut mich ungläubig an.

»Nein, Floh. Das wollte ich nicht. Das hätte ich auch nie geschafft.« Dabei ist es nicht mal so schwer, denke ich. Manchmal zerstören sich Gemeinschaften ganz von selbst. Sie implodieren einfach. Wenn es einmal anfängt, kann es unfassbar schnell gehen. Dann trauen sich die Wütenden hervor. Die Frustrierten. All jene, deren Leben sich ohnehin vergeblich anfühlte. Und zu ihnen gesellen sich die Soziopathen. Manchmal schwenken sie dabei braune Fahnen. Manchmal rote. Doch im Grunde ihres Herzens ist ihnen jede Ideologie völlig fremd. Es sind niedere Blutsäufer. Sie brauchen den Rausch am Leid der anderen. Ich habe das zweimal erlebt. Ich möchte es kein drittes Mal erleben.

»Warst du wirklich im Gefängnis?«

»Ja, Spatz.«

»Und wie lange?«

»Sieben Jahre.«

»Sieben Jahre?« Sie schaut mich entsetzt an. Dann rechnet sie. »Zwei Jahre länger, als ich auf der Welt bin!«

So ist es. Ein halbes Kinderleben. Ein ganzes Una-Leben.

»Aber du warst Polizist! Kommen Polizisten ins Gefängnis?«

»Wenn sie etwas Schlimmes gemacht haben, ja.«

Sie nickt. Das kann sie verstehen. Jetzt will sie wissen, was ich getan habe. Sie zögert. Spürt sie den Abgrund? Die Scham? Ja, immer noch Scham, selbst nachdem fast fünfundzwanzig Jahre vergangen sind. Scham. Nach all der Zeit. Una schaut zu Boden. Dort hat sie alte Schwarz-Weiß-Fotos ausgebreitet. Auf allen Bildern ist derselbe Mann zu sehen: ein Typ mit bulliger Statur, wie ein Ringer aus einer Hochschulmannschaft. Kurze Haare. Volle Lippen. Am Kinn trägt er einen sauber getrimmten Bart. »Wer ist das?«

Auf dem Bild, das Una in ihrer Hand hält, sitzt der Mann in einem Ausflugslokal. Sein linker Arm liegt lässig auf der Lehne einer Eckbank. Ihm gegenüber sitzt eine schlanke Frau mit Sonnenbrille, sie hat das Gesicht einer Katalogschönheit.

Es gibt noch mehr Fotos von den beiden. Wange an Wange. Arm in Arm. Innig vertraut miteinander.

»Mein Vater«, will ich sagen. Aber ich bekomme selbst diese zwei Worte nicht herausgewürgt. Ich räuspere mich. Einmal. Zweimal. Una sieht mich erwartungsvoll an. Das macht es nicht besser.

»Dein Papa?«

Ich nicke. Sie nimmt eins der Bilder, schaut es prüfend an. »Wie heißt er?«

»Meffire«, sage ich heiser. »Er hieß Samuel Meffire.«

Sie lacht. Es ist ein Lachen wie das Weihnachtsglöckchen meiner Großeltern. »Wie du? Darf man das? Genauso heißen?«

Ich lächele. »Glaub schon. Weißt du, in seiner Familie war das so üblich. Sie haben immer einen ihrer Söhne Samuel genannt, in jeder Generation. Menschen kommen und gehen. Der Name lebt weiter.«

Una nickt. Hält kurz inne. Wenn ich dieses Gespräch nicht schnell zu einem Ende bringe, sitze ich in der Falle.

»Samuel.« Sie wiegt das Wort bedachtsam auf ihrer Zunge, ist längst im Papa-Löcher-in-den-Bauch-fragen-Modus.

»Was bedeutet das? Bedeutet das was?«

»Es kommt aus der Bibel. Es heißt: der von Gott Erwünschte.«

Una betrachtet das Bild. »Er ist tot, oder?«

Auf einmal frage ich mich, ob man das den Bildern ansieht. Ob das an den ausgeblichenen Farben liegt, dem körnigen Schwarz-Weiß. Ob sie spürt, mit ihrem kindlichen Sensorium, dass der Mann dort längst zum Tode verurteilt ist.

Dass er mich, seinen zweiten Sohn, niemals sehen wird.

Ein weiteres Bild. Meine Kleine hat sich noch tiefer in die Kiste gegraben. Wieder mein Vater. Er sieht mich direkt an, so scheint es. Über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg. Über den Abgrund des Todes hinweg. Wie er dasitzt, etwas steif, fast offiziell, auf einer schiefen Holzbank. Das muss in Leipzig gewesen sein, da gab es einen Zoo, und irgendein Genosse hielt es wohl für eine witzige Idee, ihm, dem Afrikaner, für das Familienfoto ein echtes Löwenbaby auf den Schoß zu setzen. Oder hat man das damals mit allen so gemacht? Auf jeden Fall hockt da diese übergroße Miezekatze. Und rechts, neben meinem Vater, sitzt meine Mutter. Und links von ihm ist ein dünner Junge in kurzen Hosen, der schüchtern lächelt.

»Das bist du, Papa! Guck, das bist du!«

»Nein«, sage ich. »Das ist mein Bruder.«

»Du hast keinen Bruder!«, protestiert Una mit kindlich gerechter Empörung. Ja, stimmt. Hier gilt das Präteritum. Ich hatte einen Bruder. Ich habe keinen mehr. Das habe ich doch mal erzählt. Oder nicht? Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher. Und wenn nicht, worüber habe ich dann noch geschwiegen? Ich bin ein zugänglicher Vater. Ein entspannter, moderner Vater. Oder? Ich rede mit meinen Kindern fast über alles. Das tue ich doch. Verdammt …

»Wo ist dein Bruder?«

»Tot«, murmele ich möglichst leise. »Mein Bruder ist tot.«

Sie legt das Bild auf den Boden, vorsichtig, mit einer beinahe zärtlichen Geste. Sie möchte die Toten nicht stören. Alle meine Toten. Da liegen sie vor uns auf dem Dielenboden des Arbeitszimmers. Für einen Moment ist es still, nur der Lüfter des Computers surrt vor sich hin. Vor uns liegen die Vergangenen. Meine wunderschöne Mutter. Mein Bruder. Mein Vater.

»Feli sagt, dass die Männer ihn ermordet haben.«

»Wen?« Wer soll wen ermordet haben? Ich bin alarmiert, und mein Ton ist schärfer als gewollt. Una lässt sich davon nicht beirren.

»Deinen Papa! Stimmt das, was Feli sagt?« Feli ist Unas zehnjährige Schwester. Woher weiß sie davon? Hat sie irgendwo etwas aufgeschnappt? Hat sie irgendetwas mitgehört? Ein Gespräch? Irgendein Telefonat? Diese kleine Agentin … Ich investiere extrem viel Mühe, um meine Kinder von dieser Vergangenheit abzuschirmen. Diesem Giftmüll. Und den Dämonen. Meine Kinder sind hier und jetzt. Sie sind meine Gegenwart. Mein Glück.

Aber immer gelingt das mit dem Abschirmen nicht. Anscheinend ist das so. Una sieht ihre Chance als gekommen. Ihre großen blaugrünen Augen schimmern begierig. Es sind die Augen ihrer Mutter. Überaus geeignet, bei mir tranceartige Zustände auszulösen. Zustände des unfreiwilligen Wollens. Dieses Kind könnte in jeder Mentalisten-Show auftreten. Und tatsächlich haben wir heute Zeit. Es sind Sommerferien. Und meine Frau hat frei, sie muss nicht auf ihre Dienststelle und besucht irgendwo im Umland eine Freundin, sie wird erst spät zu Hause sein. Meine Frau hat mich zum »Schäfchenhüte-Dienst« abkommandiert. Heute sind es also nur die Schäfchen und ich. Und draußen regnet es seit Stunden. Es regnet wie aus Kübeln. Was bleibt an einem solchen Tag? Ich könnte maulen. Oder aber mich dem Unausweichlichen beugen. Ich habe die Schäfchen. Draußen tobt die nasse Hölle. Und die Mutter aller Dinge, die Kompaniechefin dieser Familie, ist on the road. Wir sitzen hier fest. Und so wird es ein Tag im Familienkokon, denn mit den Naturgewalten kann schlussendlich doch niemand konkurrieren.

»Komm«, sage ich zu Una. »Wir gehen in die Küche. Ich mach dir einen Kakao.«

»Und dann erzählst du mir alles?«

»Dann erzähl ich dir was.« Ich versuche es mit einer kleinen Einschränkung, die Una gewissenhaft überhört. Sie rennt voraus in die Küche und hechtet auf die purpurfarbene Couch. Sie weiß um das Hechtsprungverbot, doch ich lasse es durchgehen. Nichts darf den morgendlichen Frieden stören, schließlich bin ich mit den beiden kleinen Kobolden hier eingesperrt. Ich krame in den Schubladen und rühre einen Kakao zusammen. Morgens gibt es immer Kakao. Es muss immer gleich sein. Abweichungen beunruhigen mich. Sie sind die Vorboten von Störungen. Und hinter den Störungen lauert die Gefahr. Ich muss es wissen. Ich musste es lernen. Und genau deshalb liebe ich mein neues Leben. Grundlegend sortiert. Sauber. Und voll mit vertrauten Dingen.

»Wer hat deinen Papa umgebracht? Du warst doch Polizist, hast du sie verfolgt?«

Ich lache. »Der Reihe nach, Löckchen! Immer der Reihe nach.«

Und ich erzähle. Von Anfang an.

Kapitel 1

Vater

Mein Vater ist elf Jahre alt und hat keine Schuhe.

Keines der Kinder im Dorf hat Schuhe. Nur große Leute haben Schuhe, in dieser Zeit, in diesem gottverlassenen Winkel irgendwo im Nordwesten von Kamerun. Oft sind es geflickte Schuhe mit ausgebleichten Farben. Und die Alten im Dorf tragen Sandalen, damit ihre krummen, vernarbten Füße überhaupt in irgendeine Art Schuh passen.

Darum läuft mein Vater barfuß über den staubigen Feldweg, der von den Hütten bis zur Weggabelung im Wald führt. Von da schlängelt sich ein anderer Pfad zu einer anderen Gabelung und weiter und weiter, bis auf dem festgestampften Band aus Lehm nach Ewigkeiten die rotsandigen Straßen der Stadt Foumban erreicht sind. Da steht die Schule meines Vaters.

Manchmal hüpft Vater auf einem Bein, um sich von der brütenden, staubigen Hitze abzulenken. Vom Durst und von den schmerzenden Füßen. Manchmal hüpft mein Vater, aber meist schaut er zu Boden, denn es gilt den unzähligen spitzen, scharfkantigen Steinchen auszuweichen, die schmerzhaft in die Fußsohlen beißen.

Gegen die zehrende Länge des Wegs kennt mein Vater einen Trick: Er rechnet Aufgaben aus dem Mathematikunterricht, einfach so, im Kopf. Und er ist gut darin. Die Zahlen umschweben ihn wie die Noten einer Melodie, einer Musik, die nur er allein hören kann: Wenn sie fröhlich klingt, fast fordernd, wie das Lied des Trauerdrongo-Vogels hinterm Dorf, dann stimmt auch das Ergebnis. So rechnet mein Vater. Das macht ihm Spaß.

All seine Freunde sind längst als Viehhirten auf der Weide gelandet. Manchmal denkt er darüber nach, ob das nicht besser wäre, die Weide. Das Lernen in brütender Hitze ist anstrengend. Und wer im Unterricht das Falsche sagt oder schwätzt, bekommt häufig den Stock zu spüren. Schule ist kein Zuckerschlecken in diesem Land, in dieser Zeit, Anfang der Neunzehnfünfzigerjahre, in diesem entlegenen Winkel des französischen Weltreichs. Soll er seine Tage nicht lieber mit den anderen Jungs verbringen? Im Schatten der großen Akazie liegen, dicht bei den friedlich grasenden Rindern?

Aber irgendwo im Kopf meines Vaters flüstert diese Stimme: »Da ist noch eine andere Welt, mon petit. Hinter den Büschen und hinter dem Staub. Da gibt es noch viel mehr!«

Rauszukommen, davon träumen viele in Kamerun. Wer auf dem Dorf lebt, träumt von der Provinzstadt. Wer in der Provinzstadt lebt, träumt von Yaoundé, dem Regierungssitz. Und alle träumen vom fernen, unerreichbaren Märchenland namens Europa. Wo man Französisch spricht, die elegante, zungenverknotende Sprache der Kolonialherren, die die Weißen hergebracht haben und mit deren fremdartigen Lauten die Schulkinder auf ihren Bänken tapfer kämpfen; Tag für Tag. In Europa stehen riesige Türme aus Stahl und Glas. Und man isst von weißen Tellern wie aus Elfenbein, erzählt man sich. Europa scheint voller Wunder. Und es ist unendlich fern. Dennoch ruft es und lockt.

Mein Vater erzählt seiner Großmutter von der Zahlenmelodie in seinem Kopf. Sie nimmt ihn zur Seite, zu ihrer Hütte hinüber und steckt ihm ein großes Stück Backbanane in den Mund. Großmutter ist mittlerweile runzlig und zahnlos. Und sie starrt ihn an wie eine fünfhundertjährige zweibeinige Schildkröte.

»Das kommt vom Herrn«, sagt sie schließlich. »Die Stimme in deinem Kopf kommt von Jesus. Hör auf sie!«

»Aber was soll ich tun?«

»Der Herr hat einen Plan für jedes seiner Kinder«, flüstert die Großmutter im Halbdunkel der Hütte, in der es so angenehm nach der frittierten Banane riecht. »Er bewirkt das Wollen ebenso wie das Vollbringen. Das steht in den Briefen der Apostel. Lies das. Und versuche zuzuhören.«

»Und dann? Was passiert dann?«

Hören ist eine Sache, aber das Richtige tun ist eine ganz andere. Mein Vater ist bloß ein Junge. Was soll ich tun, wenn Gott mich ruft, fragt er sich.

»Dann tust du, was die Stimmen dir sagen. Dann tust du was Er will.«

Mein Vater saugt jedes dieser Worte auf. Er verbirgt sie, tief drinnen, wie einen heimlichen Schatz. Die Großmutter hat ihn herumgetragen, als er klein war. Sie hat ihn getröstet. Sie hat ihm Geschichten erzählt, mit leiser Reibeisenstimme. Auch von Jesus, vom sanften Christengott, in dessen Namen er getauft worden ist. Samuel, der Erwünschte. Viele im Dorf halten die Großmutter für verrückt, denn kein geistig gesunder Mensch betet freiwillig zum Gott der Weißen. Doch Samuel liebt sie. Bis zu den Sternen und wieder zurück. Er liebt sie mehr, als er die Mutter lieben kann, die im Morgengrauen auf die Felder geht und dort bis abends bleibt, im täglichen Kampf gegen den Hunger. Sein Vater ist längst weg, über alle Berge. Wollte sich Arbeit an der Küste suchen, in einer der Hafenstädte. Er versprach, mit viel Geld zurückzukommen. Bis heute hat ihn keiner mehr gesehen. Nur die Großmutter war immer da. Sie ist so beständig wie der Wald hinter den Hütten. Wie der Himmel über den Feldern. Ihr glaubt Samuel jedes Wort. Und so geht er weiter täglich über die Viehweiden, vorbei an seinen alten Freunden, bis zu jener Gabelung zwischen den Bäumen, wo der weite Weg zur Schule beginnt.

Was mein Vater dort nicht lernt: Der Christengott, zu dem die Großmutter betet, ist eigentlich Deutscher. Die Franzosen sind gar nicht die ersten fremden Herren in der Gegend. Vor vielen Jahrzehnten war Foumban die Hauptstadt eines kleinen Königreichs. Das hieß Bamoun und wurde regiert von König Njoya dem Klugen. Dessen Vater hatte sich dem deutschen Kaiser Wilhelm II. unterworfen. Und Njoya nahm sich vor, aus der geerbten Herrschaft der Fremden das Allerbeste zu machen. Als Zeichen der Treue schenkte er dem Kaiser zum Geburtstag seinen eigenen heiligen Thron, ein über und über mit bunt gefärbten Perlen besetztes Wunderwerk der Schnitzkunst. Njoya wurde durch den Kaiser als treu befunden. Und diese Treue machte sich bezahlt. Njoya durfte seinen Visionen anhängen: Er würde Bamoun in eine blühende Zukunft führen. Und der Schlüssel dazu war die Bildung. Jedes Kind in seinem Reich würde lesen und schreiben lernen. Der König erfand dafür sogar ein eigenes Alphabet. Das sollte der Impuls werden, für mehr Handel und eine effizientere Verwaltung. Dass preußische Missionare durchs ganze Land schweiften, ließ er gerne zu. Ein Gott mehr oder weniger, was machte das schon? Und so gelangten die hochgewachsenen, bleichgesichtigen Männer in ein Dorf bei Foumban, wo ein Mädchen lebte, das die Geschichten vom liebevollen einzigen Gott aufsaugte. Das war die Großmutter. Zumindest erzählte sie es so.

Irgendwie hatte Kaiser Wilhelm Streit mit seinem Gott, oder er hatte nicht ordentlich gebetet. Oder vielleicht ganz einfach seinen Teller nicht leer gegessen. Denn er verlor sein Reich und seine Herrschaft im Inferno des Großen Krieges. Das siegreiche Frankreich erbeutete den ganzen nördlichen Teil Kameruns und damit auch Bamoun. Die Franzosen fackelten nicht lange. Ein Vasallenkönigtum wie unter den Deutschen? Das kam überhaupt nicht infrage. Mit einem Federstrich beendeten die Franzosen diese Absonderlichkeit. Des Königs Alphabet wurde verboten. Und der Backsteinpalast, den Njoya nach norddeutschem Vorbild hatte errichten lassen, steht seitdem mitten in Foumban wie eine steinerne Postkarte aus vergangenen glanzvollen Zeiten.

Frankreich ist fest entschlossen, das wertvolle Land nicht so schmählich zu verlieren wie die Deutschen. Als das Mandat der Kolonialmacht 1960 endet, denkt Paris nicht daran, auf seinen Einfluss zu verzichten. Eine Marionettenregierung wird installiert, die das »unabhängige« Kamerun führen soll. Das sind die fetten Bosse aus den alten Familien, die für Geld alles tun würden. Als sich eine kommunistische Guerillabewegung gründet, die Armée de libération nationale du Kamerun, kennt Frankreich keine Gnade. Auf den Straßen der Städte liegen die abgeschnittenen Köpfe von Aktivisten. Niemand darf die blutigen Schaubilder begraben, denn es sind Warnzeichen. Und in den Dörfern verwesen die Toten langsam auf den Feldern, weil niemand es wagt, sie zu begraben. Allein der Verdacht »Kommunist« wird zu einem Todesurteil. Die Angst legt sich über das Land wie ein schwerer, alles erstickender Nebel.

Nur wenige wagen den Widerstand, darunter auch Gewerkschafter. Heimlich rekrutieren sie in den Städten. Sie suchen jene, die bereit sind, in den Ostblock zu gehen. Wer ist so mutig, sich hinter dem »Eisernen Vorhang« ausbilden zu lassen, im Reich der Kommunisten? Wer will in Warschau oder Prag studieren, in Moskau oder auch in Leipzig? Und wer wird den Verlockungen der Ferne widerstehen und danach zurückkehren und zu Hause für die Veränderung kämpfen? Wer hilft bei der Rebellion?

Geeignete Freiwillige für das Oststudium sind selten. Junge Leute wollen in die Welt hinaus, aber gewiss nicht in den Osten. Sie sind von der Sehnsucht nach anderen Orten getrieben. Nach England. Nach Frankreich. Dort, wo Milch und Honig fließen. In den Ostblock gehen? Das ist eher eine Vision des Schreckens. Dort soll es kaum genug zu essen geben, munkelt man. Und alle müssen in grauen Uniformen zur Arbeit marschieren, im Gleichschritt, die »Internationale« singend.

Wer sich von solchen Gerüchten nicht abschrecken lässt, darf seine Fahrt gen Osten niemandem verraten. Er wäre ein Feind Frankreichs und seines Lebens nicht mehr sicher. Die Reise muss deshalb als Trip nach Paris getarnt werden. Von dort aus schleust man die jungen Männer heimlich weiter, das ist die sozialistische Underground Railroad. Oft wissen nicht einmal ihre Familien, wo es wirklich hingeht.

Wer diesen Weg wählt, braucht verdammt viel Mut. Oder Idealismus.

Samuel Meffire hat beides. Mein Vater ist jetzt achtzehn Jahre alt, immer noch nicht besonders groß gewachsen, aber mit der kräftigen Statur eines Preisringers. In Foumban gibt es kein Lycée, die Stadt ist zu klein. Die Verwandtschaft hat ihre letzten Ersparnisse zusammengekratzt und meinen Vater für den Gymnasialabschluss in eine der großen Städte geschickt. Dort gerät er in den Dunstkreis der linken Gewerkschaften. Sozialismus! Das klingt wie ein Zauberwort für ihn. Endlich eine Alternative zu den jahrhundertealten Erstarrungen. Endlich eine Alternative zum Elend auf den Dörfern. Zum Hunger. Es ist auch eine Alternative zum Kapitalismus, wo am Ende doch immer dieselben gewinnen. Wo einige wenige fast alles haben. Und die vielen anderen fast nichts.

Mein Vater ist Christ. Überzeugt. Tiefgläubig. Das hat er von seiner Großmutter, sie hat mit ihm gebetet und in der Bibel gelesen, jeden Morgen und jeden Abend, so wie die Missionare sie es vor vielen Jahren gelehrt haben. Aber Jesus und Marx, das ist ja gar kein Widerspruch! Sprechen denn nicht beide von Erlösung? Wollte nicht gerade der Christenheiland eine wahrhaft gerechte Welt? Im Kopf meines Vaters verdichten sich Glaube und sozialistische Utopie zu einem einzigen, verheißungsvoll paradiesischen Bild. Kamerun könnte eines Tages das gelobte Land sein. Eines Tages. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, es sind viele Schritte. Meinen Vater führt dieser Weg in das östliche Deutschland. Das Reiseziel heißt Freiberg. Eine winzige Stadt in Sachsen, unweit der tschechischen Grenze. Dort wartet auf ihn ein Studienplatz der Ingenieurwissenschaften. Von Sachsen hat mein Vater noch nie gehört. Von Freiberg erst recht nicht. Über die DDR weiß er nur zwei Dinge: Erstens, dort herrscht Sozialismus. Und zweitens fällt im Winter dort Schnee. Eine frostige weiße Decke legt sich über das Land. Ob er das mit dem Schnee gut finden wird, weiß mein Vater noch nicht.

»Hör auf die Stimme des Herrn, Samuel!« Die Großmutter küsst ihn sanft auf die Stirn. Es ist sein letzter Besuch im Dorf, das letzte Wiedersehen.

»Sei brav und fleißig, hörst du?« Mein Vater nickt und fühlt sich für einen kurzen Augenblick noch einmal geborgen, im Stolz der Großmutter. Ein Studium in Europa! Samuel ist »der Erwünschte«, die Großmutter lächelt zahnlos, sie hat es ja immer gewusst.

An einem neblig nassen Herbsttag 1961 steigt mein Vater am Leipziger Hauptbahnhof aus einem klapprigen D-Zug der ostdeutschen Reichsbahn. Er zieht die Schultern hoch und fummelt am obersten Knopf seines Trenchcoats. Den hat er sich in Paris gekauft. Gebraucht. Und eindeutig zu dünn für diese Stadt. In Leipzig ist es kalt.

 

 

Mutter

Große Ferien, endlich! Meine Mutter hüpft die Stufen vor dem stuckverzierten Hauptportal der Schule hinunter. Christine ist vierzehn Jahre alt. Ein schmales dunkelblondes Mädchen von unauffälliger Schönheit. Unter der Oberfläche von Wachstumsschub und beginnender Pubertät ist sie immer noch ein Kind, verspielt und unverbogen von der Welt der Erwachsenen. Jetzt hüpft sie auf einem Bein, ihr langer Rock schwingt auf und ab.

Sie hat ihr Zeugnis in der Tasche, und sie ist zufrieden mit sich. Betragen »sehr gut«, Mitarbeit »sehr gut«, Ordnung »sehr gut«, Sauberkeit »sehr gut«. Das ist ihrem Vater wichtig. Otto, der versessen penible Bauingenieur, kann es nicht ausstehen, wenn Leute sich gehen lassen. Sein Kind schon gar nicht. Schlampigkeit ist, wenn man Häuser baut, bisweilen tödlich. Und darum weiß sie, dass es zumindest keinen Ärger geben wird, wenn der Vater ihr Zeugnis sieht. Die beste Fachnote ist das »sehr gut« in Gesang. Das ist überhaupt das Allerbeste an der Schule: der Musikunterricht. Und das Beste an ihr: dass sie singen kann, dass sie das Singen liebt. Dann vergisst sie die Welt um sich. Sonst stehen auf dem Zeugnis viele Zweien, aber bessere Noten sind in diesen Jahren schwer zu bekommen. Ein Einserschnitt bleibt für echte Genies reserviert, für die Überflieger. Aber das ist in Ordnung für meine Mutter. Sie ist zufrieden mit dem, was sie hat. Und warum sollte sie sich auch um die Zukunft sorgen? Die Lehrer in der Schule predigen, dass es immer nur aufwärtsgehen kann, wenn alle mitziehen und fleißig am Haus des Sozialismus bauen. Für jeden gibt es einen Platz darin. Für jeden gibt es Arbeit. Und irgendwann werden die Einkaufsregale so voll sein wie im Westen, und es wird dann auch genügend Wohnungen geben. Genug Autos. Trabis. Wartburgs. Schöne Urlaube an der Ostsee und im Harz, Urlaub für alle. So wird es sein. Das erzählen zumindest die Lehrer. Und meine Mutter hat keinen Grund, ihnen zu misstrauen. Sie glaubt daran.

Wieso auch nicht? Sie lebt mit ihren Eltern in einer ruhigen Straße, in einer lichtdurchfluteten Wohnung. Die Großmutter ist im Westen und schmuggelt jedes Mal, wenn sie zu Besuch kommt, Westgeld in der Unterhose. Mit listigem Grinsen zieht sie dann die Scheine unter ihrem Rock hervor und zwinkert ihrer Enkelin zu. Aber eigentlich hat die Familie den Schlüpferschmuggel gar nicht so nötig. Die Mutter deckt immer reichlich den Tisch. Otto verdient recht gut. Er ist für seine Tochter wie ein König aus einem Märchenbuch der Gebrüder Grimm. Er ist streng, aber gerecht. Er trinkt nicht. Er schlägt sie niemals. Und so etwas ist in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich. In der Umkleidekabine, beim Schulsport, schielt sie manchmal heimlich auf rote Striemen und blauschwarz verfärbte Flecken auf den Rücken anderer Mädchen. Otto, ihr Vater, ist ein Riese. Und da er die dickschaligen altdeutschen Walnüsse zu Weihnachten mit bloßen Händen knacken kann, ist meine Mutter sicher, dass der Mann auch riesenhaft stark sein muss. Ihr Vater aber erhebt weder Hand noch Stimme. Nicht gegen seine Frau, nicht gegen seine Tochter. Er ist ein strenger, häuserbauender König, und sie ist stolz auf ihn.

Doch der König hat auch düstere Tage. Dann wirkt er wie abwesend und spricht kaum. Er starrt dann über seinen Kaffee hinweg ins Nirgendwo und geht wortlos direkt vom Frühstückstisch in sein Arbeitszimmer. An solchen Tagen fürchtet sie sich ein wenig vor ihm. An solchen Tagen lässt man ihn besser in Ruhe. Dazu kommen noch jene Gelegenheiten, an denen er mosernd und mäkelnd durch die Wohnung stapft. Dann beklagt der Vater sich über den Mangel an Baustoffen, über unsinnige Vorschriften und »rote Socken«, was immer das sein mag. Einmal, in einem heftigen Anfall von Wut, stellt er knallend die Kaffeetasse auf den Küchentisch und murmelt etwas davon, dass das »damals« alles anders war.

Damals. Wahrscheinlich hat ihr Vater damit die Nazis gemeint und deren »Drittes Reich«. Und davon hat sie in der Schule natürlich gehört. In ihrem Geschichtsbuch sind Bilder von olivfarbenen Panzern und verwüsteten Landschaften. Von flaggenschwenkenden Jungen und Mädchen. Alle trugen auf den Bildern militärisch wirkende Uniformen. Irgendwie kommt das Christine bekannt vor. Aber die Lehrer sprechen über die Nazizeit, als wären diese Dinge in einem anderen Land geschehen, auf einem anderen Planeten. Ja, dort gab es furchtbar grausame Menschen und abscheuliche Verbrechen. Aber niemand, der in der DDR lebt, kann damit etwas zu tun gehabt haben. Die Mörder sind alle im Westen. Die Welt meiner Mutter ist in allerbester Ordnung, übersichtlich aufgeteilt und gut sortiert in »hier« und »drüben«.

Zwei Jahre später. Wieder Sommerferien. Wieder verlässt meine Mutter die Schule, aber jetzt hüpft sie nicht mehr. Das Mädchen in ihr ist verschwunden. Sie wird eine richtige Frau. Sie achtet neuerdings auf ihre Haltung. Sie weiß jetzt, dass sie hübsch ist. Und ein hübsches Mädchen sollte sich auch »hübsch« benehmen. Zu Hause, wenn sie sich unbeobachtet wähnt, übt sie heimlich vor dem Spiegel. Streicht ihr Haar zurück und prüft ihre Gesten auf die mögliche Wirkung. Ihr Betragen in der Schule ist auf »gut« gefallen. Gerade so ausreichend für die Ansprüche des Vaters. Nach wie vor singt sie traumhaft sicher, im Musikunterricht drehen sich die Köpfe zu ihr um.

Ansonsten könnte sie mit ihrem »guten« Durchschnitt gerade so eben Abitur machen. Dann studieren. Wenn die Behörden es erlauben. Dabei geht es nicht nur um ausreichend gute Zensuren, sondern auch um politische Zuverlässigkeit und um die richtige Herkunft. Meine Mutter ahnt längst, dass Otto sich nicht dafür ins Zeug legen wird, dass sie studieren kann. Einen Sohn hätte er bestimmt zu seinem Nachfolger am Reißbrett machen wollen. Aber ein Mädchen?

Sie drängt den Vater nicht. Heimlich hegt sie längst einen eigenen Traum: Sie will Schauspielerin werden. Sie liebt das Singen. Sie liebt die Bühne. Mit Gesten und Bewegungen die Zuschauer zu berühren. Gesehen werden. Deshalb will sie Schauspiel studieren. Sie hat gehört, dass dabei nur die Begabung zählt, nicht der Schulabschluss. Auftreten kann sie. Zieht sie nicht alle Blicke auf sich, wenn sie im Schulchor ihr Solo singt? Auch in der Laienspielgruppe der Schule erklärt man sie für begabt. Für ihre Bewerbung hat sie sich die anspruchsvollste Schauspielschule im Land herausgepickt. Das Studium wäre in Leipzig, aber das stört sie nicht, im Gegenteil. Sie ist bereit für den nächsten Schritt. In Leipzig war sie noch nie. Die Stadt ist nur eine reichliche Stunde mit dem Zug entfernt. So kann sie es unbemerkt zur Aufnahmeprüfung schaffen. Sie muss sich morgens nur ein einziges Mal heimlich aus dem Haus schleichen, und am Abend ist sie wieder daheim. So lautet der Plan.

Seit Monaten übt meine Mutter. Heimlich, zu Hause. Im leeren Mädchenklo der Schule. Die Auswahl an starken Frauenrollen ist begrenzt, so nimmt sie sich den Gretchen-Monolog aus dem Faust vor. Sie spricht vor dem Badezimmerspiegel, wiederholt ihre Stellen. Legt so viel Ausdruck hinein, wie es im Verborgenen flüsternd nur möglich ist.

Der Schulabschluss kommt wie das überfällige Ende eines langen Nieselregens. Unspektakulär, zwangsläufig. Sie arbeitet einige Sommermonate als Hilfskraft in einer Versicherung, um ein bisschen Geld zu verdienen. Sie klebt in einem stickig heißen Büro Beitragsmarken in Versichertenhefte. Das ist eintönig. Sie langweilt sich zu Tode. Bis zur Rente in so einem Büro hocken und Aktenstaub in ihre Lungen saugen? Auf keinen Fall. So fährt das brave, stille Mädchen heimlich nach Leipzig. Sie sitzt mit klopfendem Herzen im Zug und kann doch nicht anders. Sie muss es versuchen. Wider alle Erwartungen, gegen alle Wahrscheinlichkeit, wird sie angenommen. Das Einverständnis der Eltern vorausgesetzt. Meine Mutter ist erst siebzehn Jahre alt. Die Realität holt sie zu Hause sein.

»Was willst du werden? Schauspielerin?« Otto lacht ungläubig, fast höhnisch. »Was für Flausen sind das denn?«

Die Tränen steigen ihr in die Augen. Otto starrt sie an. Jetzt erst bemerkt er, dass es ihr Ernst ist. Auf einmal ist er außer sich vor Wut, er schreit: »Künstler? Das sind Arbeitsscheue! Asoziale! Perverse! Nicht, solange ich lebe!«

Er macht kehrt, geht in sein Arbeitszimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. Die Mutter sitzt stumm am Tisch und schaut aus dem Fenster, dann geht sie mit gesenktem Blick hinaus. Fängt im Wohnzimmer an, imaginären Staub von den Möbeln zu wischen. Von ihrer Mutter kommt keine Hilfe.

Im Winter sitzt Christine wieder im Versicherungsbüro. Klebt Marken in die Beitragshefte. Früher hat sie öfter vor sich hin gesummt, manchmal zu Hause gesungen, einfach so. Volkslieder oder Lieder aus der Schule. Schwungvolle sozialistische Märsche. Was ihr gerade einfiel. Der Vater hat das immer gerne gehört. Jetzt ist sie verstummt. In Berlin wird 1961 die Mauer gebaut. Und ihr Vater, der Baumeister im Baustoffmangelland DDR, hat auch eine Mauer gebaut. Um sein einziges Kind.

Drei Monate lang spricht sie kein Wort mit ihm. Drei Monate schwebt sie wie ein Geist durch die Wohnung ihrer Eltern. Sie fühlt sich verletzt. Verstümmelt. Sie fühlt sich verändert. Sie entdeckt in diesen Tagen eine unbekannte Härte an sich selbst. In ihr reift ein neuer Entschluss: Sie wird ihr Zuhause verlassen. Weg von dem Vater. Raus aus Dresden, egal, wie. Sie wird ihr eigenes Leben leben. Sie wird frei sein.

Warum studiert sie ausgerechnet Gaserzeugung? Ist es Ausdruck kühler Berechnung? Das Fach scheint zukunftsträchtig. Die junge DDR-Wirtschaft ist hungrig nach Energie. Braunkohlebagger fressen sich durch das Land. Ulbricht lässt in diesem Jahr eine groß angelegte Suche nach Erdöl starten. Vielleicht will sie dem Vater auch nur sagen: »Nach Leipzig gehe ich doch. Egal, was ich dort tue.« Denn in Leipzig ist auch die Ingenieurschule, an der sie studieren wird. Danach darf sie sich »Facharbeiter« nennen. Das ist so viel wert wie das Abitur. Dann kann sie an einer richtigen Uni studieren. Aber vorerst zählt nur eins: nicht im Versicherungsbüro enden! Nicht in Dresden enden, nicht bei den Eltern!

Meine Mutter ist neunzehn Jahre alt. Ihr kleines Zimmer im Leipziger Süden, Leninstraße 29, verfügt über ein winziges Bett, einen klapprigen Schrank und eine alte Weinkiste als Tisch. Ihr Stipendium reicht kaum zum Leben. Der Vater legt kommentarlos Geld auf den Küchentisch, wenn sie zum Wochenende wieder einmal daheim ist. Es ist seine Art, Zustimmung zu demonstrieren. Gastechnik, das ist etwas Ordentliches. Er glaubt, dass sie zur Besinnung gekommen ist. Endlich ist sie wieder sein gehorsames, braves Mädchen.

Wie sehr er sich täuscht! Eines Tages, irgendwann im Herbst, ist meine Mutter unterwegs nach Hause. Sie kennt in Leipzig kaum jemanden. Sie geht allein. Der Himmel ist wolkenverhangen, ein fahles Licht liegt auf dem trümmerübersäten Grundstück nahe der Leninstraße, an dem sie vorbeikommt. Von diesen »Geschenken« des Kriegs gibt es in Leipzig noch viele. Sie kennt das aus Dresden. Spuren der Brandbombenhölle. Die Mutter meiner Mutter entkam dem Inferno nur knapp, sie meidet bis heute den Altmarkt, wo tagelang die Leichenberge brannten. Aber für die Nachkriegskinder sind die Trümmer lediglich hässliche Gegenwart. Daran verschwendet man keinen Gedanken. Wozu auch? Der Krieg ist doch vorbei.

Auf dem Grundstück, an welchem meine Mutter vorbeieilt, schuftet ein Trupp junger Leute. Schaufeln und Hacken klappern auf den Steinen. Trümmerbeseitigung durch die FDJ, das hat sie auch mal mitgemacht. Das ist ein Knochenjob. Polternd landen Mauerreste in den Schubkarren. Mutter hält sich die Hand vor Mund und Nase. Die Luft ist voller Dreck und Staub. Man erkennt kaum noch die jugendlichen Gesichter unter der weißlichen Schmiere aus Kalk und Schweiß. Deshalb bemerkt sie erst gar nicht, dass ein paar dieser Gesichter eigentlich nicht weiß sind. Sondern schwarz.

Sie beschleunigt ihren Schritt.

 

 

Vater und Mutter

»Wer kommt morgen mit nach Leipzig?«

Draußen, auf dem graufarbenen Gang im Haus der Gaststudenten, ertönt wiederholt eine Trillerpfeife.

»Leipzig, wer kommt mit nach Leipzig?«

Mein Vater steckt seinen Kopf durch den Türspalt, er will wissen, was das Pfeifen zu bedeuten hat. Er ist bereits etliche Monate fern der Heimat. Er hat sich durch den Vorbereitungskurs gekämpft, es war wie ein Marathon im lehmigen Uferschlick des Dorfteiches. Er hat täglich bis in den Abend hinein Vokabeln gepaukt. Erfolg, so lautet sein Auftrag, und den nimmt er ernst. Kein Jahr nachdem er aus dem Zug gestiegen ist, hat er das Sprachniveau für sein Studium erreicht, ist auf den Campus nach Freiberg gezogen, ins Wohnheim. Das karge Zimmer dort erschien ihm wie ein Himmelreich. Der kleine barfüßige Junge aus dem Viehhirtendorf hat es geschafft.

Auf dem Flur steht ein Typ im Blauhemd. Mein Vater weiß, was die Blauhemden bedeuten: FDJler. Freie Deutsche Jugend, die Nachwuchsorganisation der Sozialisten. Das Blauhemd blickt die Galerie der Köpfe entlang, die aus den Türspalten herausragen. Den Köpfen folgen nunmehr auch noch die Hände. Viele melden sich. Ein Tag in Leipzig? Klingt wie eine willkommene Abwechslung, eine Chance, der ewigen Lernroutine zu entkommen. Und der Isolation auf dem Campus.

»Wir machen Trümmer weg! Zieht euch Arbeitskleidung an, verstanden?«

Auf den Gesichtern im Flur macht sich Ernüchterung breit. Es gibt kein Sahneeis oder Lagerfeuer. Es gibt nur Arbeit. Das Blauhemd sieht die Gesichter auf dem Flur und versucht, die Stimmung mit einem Appell zu heben.

»Ihr kommt sogar in die Zeitung! Ihr sendet eine Botschaft an die Jugend der Welt! Wir machen Fotos von euch!«

Für meinen Vater braucht es keine Appelle, man muss ihm die Sache gar nicht verkaufen. Für ihn ist es eine Frage der Ehre und des Anstands, dass er, der Gast, mit anpackt. Dass er hilft. Es ist ein Krieg im Gange, von dem das Schlachten zu Hause, in Kamerun, nur einen verschwindend kleinen Teil ausmacht. So viel hat mein Vater für sich bereits begriffen. Es ist eine neue Art von Weltkrieg. Es ist der an allen möglichen Fronten geführte Kampf der Systeme. Und da Vater an die Verheißungen des Sozialismus glaubt, möchte er seinen Beitrag leisten. Egal, ob im Vorlesungssaal oder bei einer Sonderschicht.

Und so marschiert er in einer kleinen Abordnung vom Campus. Die Gruppe nimmt Kurs auf Leipzig.

Nach einem Fußmarsch zum Bahnhof, einer zweistündigen Zugfahrt und mehreren Haltestellen mit der Straßenbahn drückt irgendjemand meinem Vater eine Spitzhacke in die Hand und zeigt auf einen absurd großen Haufen Steine:

»Aufräumen, ja? Alles gut aufräumen hier!«

Nach Stunden der Plackerei ist der Steinberg noch genauso hoch wie zuvor. Es ist wie bei Albert Einsteins Zeit-Theorie: Je schneller alle graben, desto langsamer vergehen die Sekunden und Augenblicke. Die Zeit ist zu zäh tropfendem Teer geworden. Der Rücken tut weh, die Hände sind wund. Die Steine scheinen aus dem Boden nachzuwachsen. Als der Fotograf eintrifft, werfen alle begeistert ihr Werkzeug von sich, es ist eine willkommene Pause.

Der Fotograf wählt meinen Vater aus. Er »arrangiert« ihn sorgfältig.

»Spitzhacke über die Schulter«, sagt er. »Schulter!«

Er macht es zur Sicherheit pantomimisch vor. Mein Vater gehorcht.

»Und lächeln. Lachen!«

Der Fotograf verzieht sein Gesicht zu einem überdeutlichen Grinsen, damit der Ortsfremde das auch alles richtig versteht. Mein Vater gehorcht.

Ein sattes mechanisches »Klick«. Das Objektiv der Kamera schnappt zu.

In diesem Augenblick sieht er meine Mutter.

Sie geht am Grundstück entlang. Sie durchschreitet die Staubwolke, die er mit verursacht hat. Mein Vater lässt seine Hacke fallen. Er klettert eilig den Schuttberg hinab, so eilig es eben geht. Ganz einfach ist es nicht, die Trümmerstücke liegen tückisch lose aufeinandergestapelt. Er klettert und rutscht und schafft es ohne Betriebsunfall bis nach unten. Das Mädchen ist schon beinahe vorüber am Grundstück. Er beeilt sich.

Was dann passiert, ist nicht mit Gewissheit zu rekonstruieren. Fällt meiner Mutter etwas aus ihrer Jackentasche zu Boden? Ein Tuch vielleicht? Ein Zettel? Sie weiß es später nicht mehr genau.

»Entschuldigung?«

Sie dreht sich um, erschrickt kurz. Sieht in ein verschwitztes, gespenstisch weiß verschmiertes Gesicht. Die Haut, die stellenweise unter dem Kalk zu sehen ist, wirkt nachtschwarz. Nicht braun, sondern schwarz.

»Sie verloren dieses hier, mein Fräulein?« Vielleicht etwas in dieser Art. Sprachkursdeutsch. Höflich. Superkorrekt.

Sie lacht.

»Ja, ich verlor dieses hier. Ich bin Ihnen sehr verbunden, mein Herr!«

Mein Vater gibt meiner Mutter das Tuch zurück. Ihre Hände berühren sich für einen winzigen Moment. Beide sind fremd in dieser Stadt. Sie ist aus Dresden, immer wohlbehütet, kein Jahr von den Eltern weg. Er ist um die halbe Welt gereist, kommt aus dem Bürgerkrieg. Beide sind so verschieden. Beide sind so allein. Und in ihrer Einsamkeit verbunden?

Mein Vater fasst sich ein Herz. Kramt hektisch im Kopf nach Vokabeln. »Mögen Sie am Sonntag die Sonne anschauen?«

Sie schaut etwas verwirrt. Und übersetzt im Kopf eine mögliche Bedeutung. Dann lacht sie. Sonntag die Sonne anschauen? Warum auch nicht?

»Ich heiße übrigens Christine«, sagt sie. »Sonntag?« Er nickt eifrig. Abgemacht.

Vielleicht war es so. So hollywood-romantisch. Meine Mutter wird später immer nur gut über meinen Vater sprechen. Es gibt in der DDR auch diese anderen Typen. Gaststudenten, getrieben von Bedeutungswahn, Produkte patriarchalischer Erziehung in halbfeudalen Gesellschaften. Typen, die in diversen Städten im Osten Kinder zeugten und sie dann wie bedeutungslosen Müll zurücklassen. Und diese Männer und ihre Bedürfnisse passen gut zu gewissen Frauen, die sich inmitten der grauen Alltäglichkeiten verloren sehen, die in leer tönenden Nachkriegsjahren auf etwas Außergewöhnliches hoffen, etwas Exotisches. Etwas, was die triste Gleichförmigkeit dieser Tage durchbrechen hilft, selbst wenn es nur ein flüchtiger Moment sein kann. Und eine kurze, ebenso flüchtige Freiheit.

Bei diesen beiden ist es anders. Sie fühlen sich verbunden, unerklärlich und alle Vernunft und alle Wahrscheinlichkeiten verdrängend. Mein Vater und meine Mutter sind mehr als zwei verschieden geschlechtliche Puzzleteile, mehr als zwei Tiere im Dschungelfieber. Sie erkennen sich. Sie machen einander vollständig. Zumindest vollständiger. Die Bilder von damals liefern den Beweis. Ein Fotograf in irgendeinem Studio hat eine Großaufnahme des Liebespaars gemacht: blasse Haut neben schwarzer Haut. Meine Mutter neben meinem Vater. Beide eng aneinandergeschmiegt. Sie schauen in die Ferne, ins Irgendwo ihrer Sehnsucht. Das Foto verewigt einen Blick wie aus einer Ufa-Romanze.

Und wie in jedem guten Filmdrama haben die Liebenden mächtige Feinde: Für die DDR-Behörden sind »gemischte Beziehungen« Störungen der Planerfüllung. Die »Neger« sollen auf jeden Fall wieder heim. Und dort ihre Mission erfüllen. Zum Wohle des Höheren. Und es sind und bleiben »Neger«. Die sind unmöglich zu integrieren. Das sagt man so nicht, denn das ist weder gewünschte sozialistische Denkart noch öffentlicher Sprachgebrauch. Doch in den Neunzehnsechzigern besteht fast die gesamte gesellschaftliche Elite der DDR aus Umgeformten. Aus Vorkriegsköpfen. In Generationen geprägt durch Kaiser und Führer. Und der Sehnsucht nach einer deutschen Formel. Nach einer vereinenden Identität. Und bei aller internationalistischen Solidarität: Sex mit Schwarzen? Diese Art der Völkerverständigung sprengt alle Rahmen. Mein Vater und meine Mutter werden überwacht. Seine Briefe an sie brauchen auffällig lang. Und umgekehrt. Und das, obwohl die DDR kein sehr großes Land ist. Beiden ist klar: Die Post wird irgendwo abgefangen und kontrolliert. Und was ist da sonst noch? Welche der Kommilitonen schreiben Berichte? Wem kann man noch vertrauen? Das Glück der beiden Liebenden ist keine Privatangelegenheit mehr.

Mein Großvater ist außer sich. Er fährt zu meiner Mutter nach Leipzig, das hat er noch nie getan. Im winzigen Studentenzimmer redet er auf sie ein, beschwört sie: »Weißt du, worauf du dich da einlässt?«

Sie schweigt trotzig.

»Die Leute werden tuscheln. Das tun sie an deiner Uni sicher jetzt schon. Und am Ende kriegst du noch ein Kind von dem. Dann bist du gebrandmarkt! Für immer! Wie verrückt kann man sich denn aufführen?«

Das Schweigen ist ihre Waffe. Sie senkt den Blick und sagt kein Wort. Sitzt einfach nur da. So bringt man einen übermächtigen Gegner auch aus der Fassung. Der Vater springt unvermittelt auf. Sie ist sicher, dass er sich nun auf sie stürzen wird. Aber stattdessen trifft seine Faust donnernd gegen die Schranktür. Einmal nur, aber es ist wie eine Bombenexplosion in dem kleinen Raum. Es dröhnt nach. Und dann ist da die Stille. Der Vater schweigt nun auch. Und sie merkt auf einmal, wie hilflos er ist. Sie spürt ihre Macht.

Am Ende zieht er unverrichteter Dinge ab. Er geht grußlos. Zehn Jahre lang wird er seine Tochter nicht mehr sehen. Zehn Jahre wird er auf seiner Seite des Abgrunds stehen. Zehn Jahre Schweigen. Zehn Jahre gnadenloser Stellungskrieg und unversöhnliche Härte, in eine weitere Generation vererbt.

Meine Mutter ist jetzt viel allein. Sie sieht ihren Liebsten manchmal wochenlang nicht. Er hockt weit oben, im Norden, an der Ostseeküste. Die wachsende DDR-Wirtschaft hat rasenden Hunger nach Gas und Erdöl. Mein Vater soll aus seinen Bohrlöchern kleine Wunder heraufbefördern. Dafür ist er im Norden. Mal stapft er auf Frühlingswiesen herum. Dann unter sengender Sommersonne. Und im peitschenden Herbstregen. In Kamerun gibt es keinen Winter. Die ungewohnten Wechsel der Jahreszeiten machen meinem Vater zu schaffen. Er schickt seiner Liebsten Fotos von sich selbst. Eins zeigt ihn im öl- und schlammverschmierten Overall vor einer scheinbar endlosen verschneiten Einöde. Die Wohnadresse lautet: »Bohranlage 133«.

Manchmal bekommt meine Mutter Besuch von ihrer Mutter. Heimlich. Sie bleibt ein, zwei Stunden. Das ist zu wenig. Und es ist besser als nichts. Der Vater darf von den Besuchen nichts wissen. Oder ahnt er es und schweigt? Zumindest das, worüber er dunkel orakelt hat, tritt ein.

»Ich bin guter Hoffnung.« Meine Mutter sagt es sehr leise und blickt dabei zu Boden.

Ihre Mutter versteht jedes Wort, aber sie fragt trotzdem nach. Ungläubig. »Du bist was?«

Ein Kind. Ein Kind von einem Schwarzen. Logischerweise wird das Kind ebenfalls schwarz. Oder bestenfalls hellbraun. Wer weiß das schon? Die Mutter blickt ihre Tochter lange an. Prüfend.

Meine Mutter will das Kind. Sie freut sich. Sie weint. Sie ist verzweifelt. Sie übergibt sich morgens. Sie sucht in den Läden nach Fisch. Nach sauren Gurken. Sie fürchtet, dass Samuel sie verlassen wird. Obwohl sie sich an den guten Tagen recht sicher ist, dass er sie liebt. Doch an schlechten Tagen wachsen ihre Zweifel ins Uferlose. Sie bricht ihr Studium ab. Im Herbst 1963 kommt mein Bruder Moïse zur Welt. Das ist das französische Wort für »Moses«.

Die Nachbarn tuscheln. Und auf der Straße starrt man meine Mutter an, zischt im Vorbeigehen irgendetwas, das manchmal klingt wie: »Negerhure!« Oder »Vergasen.«

Niemand redet offen, niemand sagt ihr etwas ins Gesicht. »Rassenhass« wird von der Staatsmacht nicht geduldet. Aber der unterschwellige Hass ist fast schlimmer. Meine Mutter ertappt sich dabei, wie sie an die Warnungen ihres Vaters denkt. Er darf nicht recht behalten. Sie wird nicht aufgeben. Sollen sie doch starren, auf der Straße. Und soll die alte Blockwarthexe von nebenan sie doch bespitzeln. Sie hat nichts Falsches getan.

Sie stürzt sich in die Arbeit. Was soll sie auch sonst tun? Elternzeit? Fehlanzeige. Dass Frauen im Sozialismus zu Hause hocken, ist nicht vorgesehen. Jeder wird gebraucht. Und für die Kinderbetreuung ist ja gesorgt, vom Kleinkindalter an. Zwei Monate nach der Geburt von Moïse unterschreibt meine Mutter einen Vertrag am Leipziger Gaswerk als »Hilfslaborantin«. Sie fängt noch einmal ganz von vorne an. Bringt Moïse frühmorgens zur Krippe. Geht zur Arbeit. Besucht Kurse, qualifiziert sich bald zur Laborantin. Eisern legt sie von ihrem kargen Lohn all das beiseite, was sie entbehren kann, denn sie will unbedingt wieder studieren. Diesmal Informatik. Sie will Teil der kybernetischen »Revolution« werden. Das ist das große neue Ding, im Osten wie im Westen: Gerechnet wird mit Lochkarten aus Papier. Und Computer sind noch nicht die handlichen Plastikklötzchen des neuen Jahrtausends, sondern gewaltige Maschinenkomplexe, die ganze Büroetagen füllen. Dennoch kommt es den meisten Zeitgenossen vor wie wahr gewordene Science-Fiction. Computer sind moderne Alchemie. Zauberei, in Drähte, Transistoren und Schalter geformt. Die Abschlussarbeit meiner Mutter trägt den Titel: »Vorschläge für den Einsatz der Lochkartentechnik bei der operativen Produktionsplanung und der Kontrolle des Standes der Vertragserfüllung«. Das klingt verdammt trocken, behandelt aber ein existenzielles Thema: An der Versorgung der Massen hängt die Zukunft der Republik. Des Sozialismus. Meine Mutter macht dabei keinerlei bahnbrechende Erfindungen. Sie stellt keine Rekorde auf. Sie ist nur ein winziges, gleichfarbenes Rädchen in einem großen Mechanismus. Aber sie ist dennoch Teil eines Aufbruchs und fühlt sich lebendig, gebraucht, wie niemals zuvor. Mein Vater ist jetzt öfter zu Hause. Und meine Eltern heiraten endlich. Kein ostdeutsches Traumpaar. Aber warum eigentlich? Schließlich leistet mein Vater seinen Beitrag bei den Bohrungen im Norden. Es ist ein Knochenjob. Und meine Mutter tut das ihre für die Kybernetik. Dazu haben meine Eltern ein quicklebendiges, fröhliches Kind. Ist diese kleine Familie nicht der lebende Beweis für jene bessere Welt, von der die Obrigkeit so vollmundig schwärmt? Eine Welt jenseits von Armut und Rassendünkel und anderem Bullshit. Doch all das scheint nicht zu zählen. Die Nachbarn tuscheln weiter. Die Überwachung geht weiter. Einmal sieht meine Mutter die alte Nachbarin mit einem fremden Mann auf der Parkbank am Friedhof. Der Mann hat ein Bürokratengesicht und einen dieser auffällig unauffälligen Anzüge. Das ist einer von den geheimen Wächtern des Ministeriums, da ist sich meine Mutter ganz sicher. Und jenseits davon: Kind wecken, Kinderkrippe, Arbeit, Kind wieder abholen, Kind ins Bett bringen, selbst ins Bett fallen. War das alles im Leben? Es ist zu viel. Es ist zu wenig. Meine Mutter weiß selbst nicht so recht, warum da immer dieses Gefühl ist, als würde irgendetwas fehlen.

Mein Vater ist wieder einmal daheim, auf Urlaub von der Bohrstelle. Meine Mutter kocht etwas. Mein Bruder schläft bereits. Reden meine Eltern nach dem Essen noch bis tief in die Nacht hinein? Haben sie da bereits Worte für das, was kommen muss? Gar einen ersten Plan? Meine Mutter weint an diesem Abend. Sie weiß nicht genau, warum. Mein Vater hält sie im Arm, muss Besserung versprechen und weiß doch nicht, wie. Irgendwann siegt die bleierne Müdigkeit über die beiden. Sie schlafen auf der Couch ein. Halb sitzend, halb verrenkt. Eng umschlungen. Für einige Stunden den täglichen Sorgen entkommen.

Der nächste Morgen. Am Frühstückstisch. Mein Bruder schläft noch.

»Warum gehen wir nicht nach Kamerun?«

Das Herz meiner Mutter rumpelt aufgewühlt in ihrer Brust. Endlich hat sie es ausgesprochen. Sie weiß, dass Samuel, ihr unerwarteter, unverhoffter Lieblingsmensch, der ehemals Fremde, dieser tiefgläubige Anhänger sozialistischer Utopien und biblischer Verheißungen, immer zurückwollte in seine Heimat. Aber sie haben nie darüber gesprochen. Und jetzt hat sie auf einmal Angst davor, dass ihr Liebster vielleicht doch für immer hierbleiben will.

»Du willst nach Kamerun?« Mein Vater wirkt nicht überrascht. Meine Mutter nickt.

»Du kommst mit? Mit Moïse? Alle wir drei, alle zusammen?«

Sie nickt und wiederholt sein noch immer leicht verschrobenes Deutsch, das sie so liebt: »Alle wir drei.«

So wird es abgemacht. Sie ist euphorisch. Vielleicht lässt sich in Afrika viel mehr bewegen als in der DDR, denkt sie. Gibt es in Kamerun überhaupt ein Großrechenzentrum? Und wenn nicht, dann könnte sie vielleicht beim Aufbau einer solchen Anlage helfen. Sie sieht es im Geiste bereits vor sich: Wie die Lochkartenstanzer Papierstreifen einziehen, sie hört ihr nähmaschinenartiges Tackern. Spürt das tiefbauchige Brummen der Lochbandleser und der Lüfter für die Klimatisierung der Transistorschränke. Sie werden den Stromverbrauch planen können. Die landwirtschaftliche Arbeit in den Regionen. Sie werden die Gesundheitsvorsorge koordinieren. Das Impfen. Die Medikamentenproduktion. Alles ist möglich, wenn man es nur berechnen kann! Ihr Herz wird leicht. Der Abschied scheint wie eine Befreiung.

Als meine Mutter im Herbst erneut schwanger wird, ist sie der festen Überzeugung, dass es sich nur um einen kleinen Aufschub handelt. Die Geburt bringt sie noch hinter sich im nächsten Sommer. Sobald sie wieder auf den Beinen ist, geht es los, denkt sie. Alles wird gut.

    

Bonn, Mitte Juli 2021

»Und dann ist er gestorben, oder?«

In der Küchentür steht Felicitas, die von uns allen nur Feli genannt wird. Sie ist gerade im Harry-Potter-Fieber und froh über jede ungestörte Minute mit ihrem Buch. Kleine Schwestern können wirklich nerven, wenn man zehn Jahre alt ist und in Ruhe lesen will. Allerdings hat Feli irgendwie mitbekommen, dass hier gerade etwas im Gange ist, das noch spannender zu sein scheint als bärtige Zauberer und das Böse.

»Komm rein, Feli«, sage ich. »Willst du einen Kakao?«

Wieso sage ich das? Das klingt, als hätte ich jetzt vor, den ganzen Tag über den Märchenonkel zu spielen. Habe ich aber nicht. Auf keinen Fall. Ich wollte kurz erklären, wer mein Vater war. Mehr nicht. Das ist doch so, oder?

»Papa erzählt mir sein ganzes Leben, Feli!«, verkündet Una mit gewichtiger Miene.

Ich muss über die kleine, mit Stolz hervorgebrachte Gemeinheit lächeln. Die beiden Mädchen lieben sich. Aber zugleich nimmt sich jede, was sie nur kriegen kann. Das ist ihr Job. Und das ist wohl auch das Leben. Ewiges Geschwisterschicksal, ebenso beispiellose Liebe wie Konkurrenz. »Der Kakao ist lecker«, sagt Una. Auch das ist so eine kleine »Schwesternfreundlichkeit«: Ich hab einen Kakao bekommen, du nicht.

Feli zuckt die Achseln, das heißt übersetzt so viel wie »mir doch egal«. Aber ich bilde mir tatsächlich ein, dass ich den allerbesten Kakao mache. In diesem und in allen anderen Universen. Mein Kakao ist ein Zungenschmeichler. Er wird mit Sojasahne gemacht. Und ghanaischen Bohnen. Und bräunlichem Vollzuckergekrümel. Mit einer Prise Salz und reichlich Zimt. Dazu cremig, mit der schnöden Hilfe von etwas Puddingpulver.

»Na, komm schon.« Ich winke Feli herein und stelle den Topf erneut auf die Platte. »Ich mache mehr.«

Feli bewegt sich zum Fenster. Setzen wird sie sich erst in fünf Minuten, schätze ich. Sie hat ihren Stolz. Sie steht kerzengerade an der großen Glasfront, die auf den Hinterhof zeigt. Sie steht dort und starrt in den Regen. Das ist kein normales Wetter, denke ich. Das passt nicht hierher, so was verbinde ich nicht mit Deutschland. Syrien. Afghanistan. Libyen. Der Kongo. Die ganze verdammte Welt spielt verrückt. Und nun auch noch das Wetter.

»Ich hab Fotos gefunden«, erklärt Una mit gewichtiger Miene. »Papa hat mir von seinem Vater erzählt, der ist tot.«

»Weiß ich doch längst«, sagt Feli. »Die haben Opa Samuel umgebracht.« Dazu schneidet sie eine Grimasse in Richtung Una.

»Aber nur ich hab die Fotos gefunden!« Una trommelt wütend mit ihren kleinen Fäusten auf dem Tisch herum.

»Ruhe, ihr Dumpfbacken«, sage ich streng. »Wer Kakao will, ist ruhig.«