Ich habe ihn getötet - Keigo Higashino - E-Book

Ich habe ihn getötet E-Book

Keigo Higashino

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Auf dem Weg zum Traualtar bricht der Drehbuchautor Makoto tot zusammen. Die Verdächtigen sind sein Manager, der Bruder der Braut und seine Lektorin. Jeder von ihnen behauptet: "Ich habe ihn getötet." Und Kommissar Kaga steht vor einem schier unlösbaren Rätsel: Ein Mord, drei geständige Verdächtige und kein Hinweis auf den Täter. Der Drehbuchautor Makoto ist ein skrupelloser Karrierist. Am Abend vor seiner Hochzeit mit der gefeierten Lyrikerin Miwako wird eine Tote im Garten seines Anwesens gefunden. Es ist seine Ex-Freundin, die er für Miwako verlassen hat. Aus Trauer über Makotos gebrochenes Heiratsversprechen hat sie sich vergiftet. Mit Hilfe seines Managers lässt Makoto die Leiche verschwinden. Doch am folgenden Tag bricht Makoto selbst vor dem Traualtar tot zusammen. Der Braut kommt ein fürchterlicher Verdacht: Der Täter muss Makotos Medikamente unbemerkt gegen das Gift ausgetauscht haben, das die Tote bei sich trug. Und dazu hatten nur Makotos engste Freunde Gelegenheit. Verzweifelt schaltet sie Kommissar Kaga ein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 346

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ICH HABE

IHN GETÖTET

KEIGO HIGASHINO

Kriminalroman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Klett-Cotta

Impressum

Mit einer Anleitung zur Detektivarbeit am Ende

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Watashi ga kare wo koroshita« im Verlag Kodansha, Tokio

© 2002 Keigo Higashino. All rights reserved.

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Schiesswohl

Datenkonvertierung: r&p digitale medien, Echterdingen

Printausgabe: 978-3-608-98306-7

E-Book: 978-3-608-10928-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

TAKAHIRO KANBAYASHI

1 

2 

3 

NAOYUKI SURUGA

1 

2 

3 

KAORI YUKIZASA

1 

2 

3 

TAKAHIRO KANBAYASHI

1 

2 

3 

NAOYUKI SURUGA

1 

2 

3 

KAORI YUKIZASA

1 

2 

3 

NAOYUKI SURUGA

1 

2 

TAKAHIRO KANBAYASHI

1 

2 

KAORI YUKIZASA

1 

2 

TAKAHIRO KANBAYASHI

1 

2 

3 

KAORI YUKIZASA

1 

2 

3 

NAOYUKI SURUGA

1 

2 

3 

TAKAHIRO KANBAYASHI

1 

2 

3 

4 

NAOYUKI SURUGA

1 

2 

3 

KAORI YUKIZASA

1 

2 

TAKAHIRO KANBAYASHI

NAOYUKI SURUGA

KAORI YUKIZASA

NAOYUKI SURUGA

KAORI YUKIZASA

TAKAHIRO KANBAYASHI

ANLEITUNG ZUR LÖSUNG

TAKAHIRO KANBAYASHI

DER BRUDER DER BRAUT

1

Nachdem ich den hellgrünen Regenmantel, der ganz am Rand hing, vom Bügel genommen hatte, war der Schrank leer. Auf Zehenspitzen inspizierte ich noch einmal das oberste Fach und drehte mich anschließend zu Miwako um, die den Regenmantel geschickt zusammenlegte und in dem Karton neben sich verstaute. Ihr Profil war zur Hälfte von ihrem langen glänzenden Haar verdeckt.

»War das jetzt alles an Kleidung?«, fragte ich.

»Ja, ich glaube, wir haben nichts vergessen«, erwiderte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

»Und selbst wenn, könntest du es ja sofort holen.«

»Genau.«

Miwako schloss den Deckel, schaute sich suchend um und griff nach einer Rolle Klebeband, die hinter dem Karton lag.

Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte ich mich um. In Miwakos etwa sechs Tatami großem Zimmer stand nur noch die alte Kommode, ein Erbstück unserer Mutter, aber auch die hatten wir bereits leer geräumt. Sie und der Einbauschrank hatten Miwakos gesamte Kleidung beherbergt. Aus den mehreren Dutzend Kleidungsstücken wählte sie je nach Laune, Wetter und Mode ihre Garderobe fürs Büro. Sie hatte es sich strengstens verboten, zwei Tage hintereinander das Gleiche zu tragen, andernfalls käme womöglich jemand auf die Idee, sie hätte die Nacht nicht zu Hause verbracht, sagte sie. Einem wie mir, der mitunter eine Woche lang denselben Anzug trug, erschien das ziemlich mühsam. Doch jeden Morgen freute ich mich, wenn sie – in welchem Outfit auch immer – aus ihrem Zimmer kam, ein Vergnügen, das mir von nun an versagt bleiben würde. Und das war nicht das Einzige, was ich aufgeben musste.

Als Miwako den Karton mit Klebeband versiegelt hatte, klopfte sie auf den Deckel. »Wir haben’s geschafft.«

»Uff«, sagte ich. »War ganz schön anstrengend. Wollen wir was essen?«

»Ist überhaupt noch was da?« Miwako überlegte, was noch im Kühlschrank sein könnte.

»Ramen – die könnte ich machen«, sagte ich.

»Lass nur, ich mache sie.« Miwako sprang auf.

»Nein, auf keinen Fall. Du hast heute genug geschafft.«

Ich legte ihr die Hand um die Hüfte und zog sie fest an mich. Dies hatte keine besondere Bedeutung. Zumindest keine von mir beabsichtigte. Aber Miwako dachte offenbar anders darüber. Ein verkrampftes Lächeln trat auf ihr Gesicht, und sie entwand sich mir mit einer Drehung, die einer Eistänzerin Ehre gemacht hätte.

»Nein, ich mache sie. Du lässt sie nur wieder zu lange kochen, Bruderherz.« Darauf entschwand sie in den Flur und lief die Treppe hinunter.

Mit einem Seufzer betrachtete ich meinen linken Arm, an dem ich noch etwas von Miwakos Wärme spürte. Dann hob ich den Karton vom fliederfarbenen Teppichboden auf. Er war leicht, da er nur Kleider enthielt. Noch einmal schaute ich mich im Zimmer um. Die billigen Regale, die wir im Internet gekauft hatten, und die Kommode von unserer Mutter waren noch da, aber der vertraute dunkelbraune Sekretär, an dem Miwako immer gesessen und mit Füller auf Manuskriptpapier geschrieben hatte, war verschwunden. Bei ihrer Arbeit im Büro benutzte sie einen Computer, aber ihre Gedichte verfasste sie stets handschriftlich.

Die weißen Gardinen bauschten sich, als eine Brise durch das kleine Fenster wehte, das auf einen Privatweg hinausging.

Ich stellte den Karton noch einmal ab, schloss das Fenster und dann die Tür.

Unser Haus stand auf einem Grundstück von etwas über fünfzig Quadratmetern. Neben dem Wohn- und Essbereich mit Küche und zwei japanischen Zimmern im Erdgeschoss hatten wir im ersten Stock noch drei westliche Zimmer. Unser Vater hatte das Haus vor seinem vierzigsten Lebensjahr gebaut. Statt einen Kredit aufzunehmen, hatte er nach dem Tod unseres Großvaters die Villa verkauft, die er von ihm geerbt hatte und in der wir bis dahin gelebt hatten. Der Verkauf war ihm schwergefallen, aber die steuerlichen Vorteile überwogen. Von dem Erlös hatte er dieses Haus gebaut und damit nach Ansicht unserer Verwandten den Grund und Boden, der seit Generationen in den Händen der Familie Kanbayashi gewesen war, auf einen Schlag verschleudert.

Jetzt saß ich am Esstisch im Erdgeschoss und verzehrte die Suppe mit chinesischen Nudeln und Miso, die meine Schwester zubereitet hatte. Miwako hatte ihr langes Haar mit einer Metallspange im Nacken zusammengebunden.

»Richtet ihr euch im Haus ein, wenn ihr von der Reise zurück seid?«, fragte ich zwischen zwei Schlürfern.

»Uns bleibt nichts anderes übrig. Vorher haben wir keine Zeit. Morgen sind wir mit den Vorbereitungen für die Hochzeit und die Reise beschäftigt.«

»Stimmt.« Ich schaute auf den Kalender an der Wand. Der 18. Mai war rot eingekringelt. Übermorgen. Als ich den roten Kreis gezogen hatte, war mir die Zeit bis dahin noch so lang erschienen.

Als ich mit dem Essen fertig war, legte ich meine Stäbchen ab und stützte das Kinn in die Hände.

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Denkst du daran, das Haus aufzugeben?«, fragte Miwako mit einem leichten Zögern.

»Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich es vermieten? Aber ich will auf keinen Fall weiter hier wohnen. Es ist zu groß für eine Person.«

»Du solltest auch heiraten, Bruderherz. Immerhin bist du älter als ich.« Miwako setzte ein Lächeln auf.

Sie klang sehr entschlossen, und weil ich das merkte, wich ich ihrem Blick aus.

»Denk mal darüber nach.«

»Hm …«

Wir schwiegen. Miwako legte ihre Stäbchen beiseite. Ihre Schüssel war noch nicht leer, aber anscheinend hatte sie keinen Appetit mehr.

Ich schaute durch die Glastür in den Garten. Der Rasen war ein wenig zu lang. Außerdem wucherte überall Unkraut. Wenn ich das Haus vermieten oder verkaufen wollte, musste ich vorher einiges in Ordnung bringen. Aber wenn ich es wieder hübsch herrichtete, würde es mir umso schwerer fallen, mich davon zu trennen.

Soweit ich wusste, war unsere Familie einst sehr vermögend gewesen, auch wenn ich nichts von diesem alten Glanz zu spüren bekommen hatte. Mein Vater hatte sich immer glücklich geschätzt, als Angestellter einer Wertpapierfirma einen durchschnittlichen Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Und auch das neue Haus, das er für sich und seine Familie gebaut hatte, war eher kleinbürgerlich. Mein Vater hatte geplant, dass in ihm ganz traditionell zwei Generationen zusammenleben würden. Die beiden Tatami-Zimmer im Erdgeschoss waren für meine Eltern gedacht, wenn sie alt würden, den ersten Stock sollte der Sohn oder die Tochter mit dem jeweiligen Ehepartner bewohnen. So hatte er es sich wohl erträumt. Ein durchaus vernünftiger Traum, wenn unser Leben nach Plan verlaufen wäre. Doch dann brach plötzlich ein Unglück, etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte, über uns herein.

Es geschah am Tag nach Miwakos Einschulung. Meine Eltern kehrten von dem Gedenkgottesdienst für einen Verwandten, weswegen sie nach Chiba gefahren waren, nicht mehr lebend zurück. Auf der Autobahn rammte ein Lastwagen den Käfer meines Vaters, der dadurch auf die Gegenfahrbahn geschleudert wurde. Meine Eltern waren sofort tot. Ihre Schädel wurden zertrümmert und ihre inneren Organe zerquetscht, weshalb vermutlich alles innerhalb einer Sekunde vorbei war.

Miwako und mich hatten sie an diesem Tag bei Bekannten in der Nachbarschaft gelassen. Der Mann, ein Kollege meines Vaters, machte mit uns und seinen eigenen Kindern einen Ausflug in den Toshimaen, einen Tokioter Vergnügungspark. Während wir dort Achterbahn und Karussell fuhren, wurde seine Frau von der Polizei über den schrecklichen Unfall informiert. Vermutlich war ihr übel bei dem Gedanken, uns Kindern die tragische Nachricht beibringen zu müssen. Ihr Gesicht war aschfahl, als sie uns bei unserer Rückkehr aus dem Vergnügungspark vom Unfall erzählte.

Später habe ich oft gedacht, was für ein Glück es war, dass der Kollege während unseres Ausflugs nie zu Hause anrief. So konnten meine kleine Schwester und ich uns ein letztes Mal sorglos und unbekümmert vergnügen.

Danach kamen wir zu Verwandten, jeder zu einer anderen Familie. Wahrscheinlich empfand man ein zusätzliches Kind als zumutbar, zwei hingegen waren dann doch zu viel.

Glücklicherweise hatten wir es bei beiden Familien gut. Meine ermöglichte mir sogar die Promotion. Unsere Ausbildung wurde vermutlich von der Lebensversicherung unserer Eltern bezahlt, aber ich wusste, dass Geld nicht alles ist, was man braucht, um ein Kind aufzuziehen.

In der Zeit, in der Miwako und ich getrennt aufwuchsen, mietete die Firma unseres Vaters das Haus und benutzte es als Firmenwohnung. Den Mietern wurde mitgeteilt, dass wir später wieder dort wohnen würden.

In dem Jahr, in dem ich mich entschied, an der Hochschule zu bleiben, kehrten Miwako und ich in das Haus zurück. Sie besuchte eine Frauenuniversität.

Fünfzehn Jahre hatten Miwako und ich getrennt voneinander verbracht. Bruder und Schwester getrennt aufwachsen zu lassen war der erste Fehler gewesen. Der zweite bestand darin, uns nach diesen fünfzehn Jahren unvermittelt gemeinsam in einem Haus unterzubringen.

Das Telefon klingelte. Miwako nahm rasch den Hörer des an der Wand installierten kabellosen Apparats ab.

»Kanbayashi«, meldete sie sich.

An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, wer da anrief. Die Anzahl der Leute, die freitags um die Mittagszeit anriefen, war ohnehin begrenzt. Die Wahrscheinlichkeit eines dringenden Anrufs von meiner Universität war gering, und Miwako hatte im vergangenen Monat bei der Versicherung gekündigt, bei der sie bis dahin gearbeitet hatte. Außerdem setzte sie bei Anrufen für die Dichterin Miwako Kanbayashi, die rücksichtslos auch an Feiertagen oder mittags kamen, ein bestimmtes Gesicht auf, das ich gut kannte. Aber nun hatte sie ja eine neue Telefonnummer. Die Leute vom Verlag und vom Fernsehen waren wahrscheinlich sogar ein wenig verärgert, weil sie sie gestern und heute nicht hatten erreichen können.

»Ja, alles fertig gepackt. Mein Bruder und ich essen gerade Nudeln«, sagte Miwako. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Ich stellte unsere Schüsseln ins Spülbecken und verdrückte mich. Wenn Miwako mit Makoto Hodaka sprach, wusste ich nie, wie ich mich verhalten sollte. Es war mir unangenehm, wenn sie mich in diesem Zustand der Verwirrung sah. Ich zog mich auf mein Zimmer zurück.

Makoto Hodaka – so hieß der Mann, den meine Schwester übermorgen heiraten würde.

Kurz darauf, ich saß untätig an meinem Schreibtisch, klopfte es an der Tür. Anscheinend war das Gespräch bereits beendet.

»Es war Makoto«, sagte Miwako ein wenig befangen.

»Ich weiß.«

»Er wollte fragen, ob ich heute schon zu ihm rüberkomme.«

»Aha.« Ich nickte. »Und was hast du geantwortet?«

»Dass es so bleibt wie geplant, weil ich ja noch einiges zu tun habe. Ist dir das recht?«

»Mit mir hat das doch nichts zu tun. Dir muss es passen. Willst du nicht möglichst schnell zu ihm ziehen?«

»Morgen Abend sollen wir doch in dem Hotel übernachten, da wäre es irgendwie komisch, wenn ich heute schon zu ihm ginge.«

»Ja, mag sein.«

»Ich geh noch was einkaufen.«

»In Ordnung. Pass auf dich auf.«

Einige Minuten nachdem Miwako die Treppe hinuntergegangen war, hörte ich, wie die Eingangstür zuschlug. Ich stellte mich ans Fenster und beobachtete, wie sie ihr Fahrrad den Weg entlangschob. Die Kapuze ihres weißen Anoraks blähte sich im Wind.

Die Hochzeitsfeier sollte übermorgen in einem großen Hotel in Akasaka stattfinden, und Miwako und ich hatten beschlossen, die morgige Nacht dort zu verbringen. Wir wohnten in Yokohama, und es bestand die Gefahr, dass wir wegen des dichten Verkehrs nicht rechtzeitig eintreffen würden. Am Vormittag wollten wir mit unserem Wagen zu Hodaka nach Hause fahren, um verschiedene Vorbereitungen zu treffen. Er wohnte im Stadtteil Nerima am Shakujii-Park.

Bei dieser Gelegenheit würden wir auch den Karton mitnehmen, den wir gerade gepackt hatten. Miwakos Möbel waren schon in der vergangenen Woche von einer Umzugsfirma transportiert worden, und sie hatte nur noch ein paar Kleinigkeiten hier.

Bei näherer Überlegung war Makoto Hodakas Vorschlag, Miwako schon heute bei sich übernachten zu lassen, gar nicht mal unvernünftig. So hätten sie die Zeit effektiver nutzen können. Außerdem war es wohl nur natürlich, dass ein Bräutigam mit seiner Braut zusammen sein wollte.

Dennoch konnte ich meine Abneigung gegen ihn nicht leugnen. Heute war die letzte Nacht, in der Miwako in diesem Haus schlafen würde. Es machte mich wütend, dass der Mann mir diese bedeutsame Nacht hatte rauben wollen.

2

An dem Abend aßen wir Sukiyaki, eines unserer Lieblingsgerichte. Obwohl wir beide eigentlich keinen Alkohol vertrugen, tranken wir ausnahmsweise jeder eine Halbliterdose Bier. Miwakos Gesicht war leicht gerötet. Wahrscheinlich hatte auch ich ziemlich rote Augen.

Nach dem Essen saßen wir noch eine Weile am Tisch und unterhielten uns über dies und das, meine Universität und die Versicherung, bei der sie nun aufgehört hatte. Die Themen Hochzeit und Liebe mieden wir. Mir war das natürlich bewusst und ihr sicherlich auch.

Zwei Tage vor einer Hochzeit nicht davon zu sprechen war jedoch allzu unnatürlich, und unsere Befangenheit drückte sich nach einer Weile in unbehaglichem Schweigen aus.

»Nun ist er da, der letzte Abend«, raffte ich mich auf zu sagen. Es war ein Gefühl, wie wenn man auf einen entzündeten Backenzahn drückt, um sich zu vergewissern, dass der Schmerz noch da ist.

Miwako lächelte schwach und nickte.

»Ja, es ist irgendwie komisch, dass ich nicht mehr in diesem Haus wohnen werde.«

»Du kannst jederzeit zurückkommen.«

»Ja, schon …« Sie senkte kurz den Blick, bevor sie fortfuhr. »Aber das wollen wir doch nicht hoffen.«

»Nein, natürlich nicht.« Ich umklammerte die leere Bierdose mit der rechten Hand. »Kinder?«

»Wie meinst du das?«

»Ob ihr Kinder wollt?«

»Ach so.« Miwako blickte nach unten und nickte. »Er sagt, er möchte welche.«

»Wie viele?«

»Zwei. Zuerst ein Mädchen, dann einen Jungen.«

»Aha.«

Ein blödes Thema. Ein Gespräch über Kinder weckte unweigerlich den Gedanken an Sex.

Ich fragte mich, ob Miwako bereits mit Makoto Hodaka geschlafen hatte. Aber wahrscheinlich war es keine gute Idee, sie danach zu fragen, und ich beschloss, nicht mehr daran zu denken. Das war jetzt auch schon egal. In Kürze wüde es ja sowieso dazu kommen.

»Was machen deine Gedichte?«, wechselte ich das Thema. Es interessierte mich wirklich.

»Wie meinst du das?«

»Schreibst du welche?«

»Ja, natürlich.« Miwako nickte nachdrücklich. »Makoto mochte ja auch zuerst nicht mich als Person, sondern meine Gedichte.«

»Danach habe ich nicht gefragt … Ich möchte nur, dass du dich in Acht nimmst.«

»Wovor?«

Ich kratzte mich an der Schläfe. »Eigentlich davor, dich so in die Anforderungen deines neuen Lebens zu verstricken, dass du dich selbst aus den Augen verlierst.«

Miwako nickte. Zwischen ihren Lippen blitzten die weißen Vorderzähne hervor.

»Ich werde aufpassen.«

»Am glücklichsten wirkst du, wenn du über ein Gedicht nachdenkst. Deshalb sage ich das.«

»Mag sein.«

Danach hielt ich eine Weile den Mund. Mir fiel kein unverfängliches Thema mehr ein.

»Miwako?«, sagte ich leise.

»Was denn?« Sie wandte sich mir zu.

Ich sah in ihre großen Augen. »Wirst du glücklich werden?«

Sie blickte mich ein wenig zögernd an. »Ja, natürlich werde ich das«, antwortete sie dann mit fester Stimme.

»Dann ist alles gut«, sagte ich.

Kurz nach elf Uhr zogen wir uns in unsere Zimmer zurück. Ich legte eine Mozart-CD auf und machte mich an einen Artikel über Quantenmechanik, mit dem ich allerdings überhaupt nicht vorankam. Aber nicht Mozart, sondern die leisen Geräusche, die aus dem Zimmer meiner jüngeren Schwester zu mir herüberdrangen, raubten mir die Konzentration.

Es war fast eins, also zog ich meinen Schlafanzug an und legte mich in mein breites Bett. Unter den gegebenen Umständen nicht gerade überraschend, war an Einschlafen nicht zu denken.

Wenig später hörte ich wieder leise Geräusche aus dem Nebenzimmer. Dann das Schlurfen von Pantoffeln. Miwako war noch wach.

Ich stand auf und öffnete leise die Tür. Es war dunkel im Flur, aber das Licht unter Miwakos Tür zeichnete einen schmalen Streifen auf den Fußboden.

Doch kaum hatte ich die Linie gesehen, war sie plötzlich verschwunden. Wieder hörte ich leise Geräusche.

Als ich in der Dunkelheit auf die Tür zu ihrem Zimmer starrte, erschien in meinem Kopf, gleichsam wie eine Röntgenaufnahme, ein Bild davon. Sogar ihr Nachthemd, das über einer Stuhllehne hing, konnte ich sehen.

Ich schüttelte den Kopf, denn mir fiel ein, dass ihr Zimmer inzwischen ganz anders aussah als das, das mir so vertraut gewesen war. Der Stuhl war zusammen mit Miwakos geliebtem Sekretär in ihr neues Zuhause gebracht worden. Außerdem schlief sie wahrscheinlich nicht in ihrem Nachthemd, sondern in einem T-Shirt.

Sachte klopfte ich zwei Mal, worauf sofort ein leises »Ja?« ertönte.

Wieder ging das Licht an und fiel unter der Tür hindurch, die nun geöffnet wurde. Wie erwartet trug Miwako ein T-Shirt, unter dem ihre schlanken, nackten Beine hervorschauten.

»Was gibt’s?« Sie schaute etwas verwundert zu mir auf.

»Ich kann nicht schlafen«, sagte ich. »Also dachte ich, wenn du auch noch nicht schläfst, könnten wir ein bisschen reden. Darf ich reinkommen?«

Miwako starrte, ohne etwas zu entgegnen, auf meine Brust. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie sich fragte, mit welcher Absicht ich geklopft hatte. Und dass sie keine Antwort hatte.

»Entschuldige«, sagte ich, als ich das Schweigen nicht länger ertragen konnte. »Ich wollte heute Nacht bei dir sein. Wahrscheinlich ist es das letzte Mal, dass wir zusammen sind. Morgen im Hotel haben wir getrennte Zimmer. Außerdem hat Makoto sich angekündigt.«

»Aber ich werde dich doch besuchen.«

»Ja, aber heute kann ich zum letzten Mal mit der Miwako zusammen sein, die niemandem gehört.«

Meine Schwester antwortete nicht. Ich machte einen Schritt nach vorn, doch sie schob mich sachte mit der rechten Hand zurück.

»Ich habe beschlossen, das alles hinter mir zu lassen.«

»Hinter dir zu lassen?«

Miwako nickte.

»Ich muss es vergessen, sonst könnte ich nie heiraten.«

Sie flüsterte, aber ihre Worte drangen wie die Stiche einer feinen langen Nadel in mein Herz. Neben dem Schmerz blieb ein eisiges Gefühl in mir zurück.

»Mag sein.« Ich senkte den Blick und seufzte. »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

»Tut mir leid.«

»Nein, das braucht es nicht. Ich bin doch der Spinner.«

Ich betrachtete Miwakos T-Shirt. Es war ein Bild von einer Katze darauf, die Golf spielte. Ich erinnerte mich, dass sie es gekauft hatte, als wir zusammen auf Hawaii gewesen waren.

»Gute Nacht«, sagte ich.

»Gute Nacht«, sagte sie und schloss mit einem traurigen Lächeln die Tür.

Mir war heiß. Unentwegt wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Ich hoffte, es würde bald Morgen werden, aber die Zeiger der Uhr krochen zermürbend langsam vorwärts. Ich verfiel in einen erbarmungswürdigen Zustand, der kaum zu überbieten war.

Ich dachte an jene Nacht. Die Nacht, die unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte, die Nacht, in der meine Welt aus den Fugen geraten war.

Es war im ersten Sommer, in dem wir wieder gemeinsam in diesem Haus wohnten.

Falls es überhaupt eine Entschuldigung gibt, so ist es die, dass wir fünfzehn Jahre getrennt voneinander zugebracht hatten, in denen in unseren Herzen die Finsternis uralter Brunnen herrschte, so heiter wir nach außen hin vielleicht wirkten.

Die Verwandten, die mich zu sich genommen hatten, waren gütige und warmherzige Menschen. Sie behandelten mich wie ihr eigenes Kind und achteten stets peinlich genau darauf, dass ich keine Komplexe entwickelte. Zum Dank für diese Zuneigung verhielt ich mich wie ein Mitglied der Familie, vermied es bewusst, mich zu förmlich zu benehmen, und zeigte mich bisweilen sogar verwöhnt. Kurz, ich spielte der Familie etwas vor. Ich wusste, dass ich kein Musterknabe sein durfte, und machte meinem Onkel durch kleine Aufmüpfigkeiten absichtlich hin und wieder Sorge. Erwachsenen bereitet ein Kind, das sie ab und zu maßregeln können, weil es etwas ausgefressen hat, mehr Freude als ein allzu braves.

Als ich Miwako davon erzählte, berichtete sie erstaunt, dass es bei ihr genauso gewesen sei, und vertraute mir ihre Erfahrungen an.

In ihrer ersten Zeit bei den Pflegeeltern war sie ein sehr stilles Mädchen gewesen, das nie mit anderen Kindern spielte, sondern immer für sich blieb und las. »Die Pflegeeltern waren der Meinung, ich hätte mich eben noch nicht von dem Schock erholt«, erinnerte Miwako sich mit einem Lachen.

Natürlich ging es der traurigen Kleinen mit der Zeit immer besser, und sie wurde munterer. Als sie aus der Grundschule kam, hatte sie sich zu einem fröhlichen Mädchen gemausert.

»Aber das war alles gespielt«, sagte sie. »Die Schweigsamkeit und auch die allmähliche Genesung, alles Theater. Ich verhielt mich so, wie es für die Erwachsenen am verständlichsten war. Warum, weiß ich selbst nicht so genau. Vielleicht glaubte ich, ihren Vorstellungen entgegenkommen zu müssen, um zu überleben.«

Wir entdeckten erstaunliche Ähnlichkeiten in unserem Denken und Verhalten. Der Kern unseres Wesens war die »Einsamkeit«. Und das, was wir wirklich suchten, war unsere »wahre Familie«.

Sobald wir wieder gemeinsam in unserem Vaterhaus wohnten, verbrachten wir so viel Zeit wie möglich miteinander, wahrscheinlich um das Verlorene aufzuholen. Wir wurden Gefangene unserer Familienbande. Sie schweißten uns aneinander, und wir kreisten besessen und unermüdlich, wie Katzen, die mit einem Ball spielen, um uns selbst. Offenbar erzeugte das Zusammensein mit Blutsverwandten ein ähnliches Glücksgefühl.

Eines Abends geschah es dann.

Mit dem Kuss, den ich Miwako gab, öffnete sich die Büchse der Pandora. Hätte ich sie auf die Wange oder die Stirn geküsst, wäre es vermutlich kein Problem gewesen, aber ich küsste sie auf die Lippen.

Gerade noch hatten wir die Köpfe zusammengesteckt und Erinnerungen an unsere Eltern ausgetauscht. Miwako hatte leise geweint. Beim Anblick ihrer Tränen konnte ich mich nicht zurückhalten, ich liebte sie doch so sehr.

Natürlich muss ich zugeben, dass ein Teil von mir in Miwako schon vorher nicht ausschließlich die jüngere Schwester sah, sondern eine junge Frau. Ich hatte mir diese Sicht untersagt, die Lage aber nicht als sonderlich riskant empfunden. Meine Schwester war in all den Jahren, in denen ich sie nicht gesehen hatte, zu einer Schönheit herangewachsen, und jeder wäre von ihr geblendet gewesen. Mit der Zeit würde sie für mich nicht mehr sein als meine jüngere Schwester, bildete ich mir ein.

Und vielleicht lag ich damit gar nicht so falsch. Doch leider wartete ich diese Zeit nicht ab, und der Teufel, der in meinem Herzen steckte, machte sich diese Lücke zunutze.

Ich weiß nicht, was Miwako damals bei diesem Kuss empfand. Ich könnte mir vorstellen, dass in ihrem Herzen eine ähnliche Lücke bestand. Denn anstatt zu erschrecken, spiegelte sich in ihrem Gesicht die Befriedigung, die man empfindet, wenn etwas Vorhergesehenes sich bewahrheitet.

Wir befanden uns in einem völlig von der Welt getrennten Raum. Die Zeit blieb stehen. Zumindest erschien es uns so. Ich presste Miwako an mich. Einen Moment lang war sie starr wie eine Puppe und rührte sich nicht, dann begann sie laut zu weinen. Allerdings schien sie nicht zu weinen, weil meine Umarmung ihr so zuwider war. Denn nun schlang auch sie die Arme um mich und rief schluchzend nach Vater und Mutter. Ihre Stimme klang genau wie vor fünfzehn Jahren. Vielleicht hatte sie nach all der Zeit endlich einen Platz gefunden, an dem sie sich aus ganzem Herzen ausweinen konnte.

Bis heute weiß ich nicht, warum ich sie damals entkleidete und warum sie sich nicht sträubte. Vermutlich weiß sie es ebenso wenig. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

Auf dem schmalen Bett schliefen wir miteinander. Als ich in Miwako eindrang, verzog sie vor Schmerz das Gesicht, erst am nächsten Tag erfuhr ich, dass sie noch Jungfrau gewesen war. Die Lippen auf ihre schmale Schulter gepresst, fing ich an, mich langsam zu bewegen.

Alles spielte sich ab wie in einem Traum. Zeit und Raum verschwammen, und mein Gehirn verweigerte jeglichen Gedanken.

Dennoch hat sich das Bild, wie wir in der Dunkelheit einen endlosen gewundenen Pfad hinuntergleiten, unauslöschlich in meine Seele gebrannt.

3

Makoto Hodaka war von Beruf Drehbuchautor. Und außerdem Schriftsteller. Allerdings hatte ich noch kein Buch von ihm gelesen und noch nie eine Serie oder einen Film nach einem seiner Drehbücher gesehen, obwohl er sich einiger Popularität erfreute. Mithin war es mir nicht möglich, aus seinem Werk auf seine persönlichen Ansichten und Vorstellungen zu schließen. Allerdings weiß ich ohnehin nicht, ob sich so etwas überhaupt am Werk eines Autors ablesen lässt.

Ich war Hodaka bisher zweimal begegnet. Das erste Mal in einem Café in der Stadt, als meine Schwester ihn mir vorstellte. Das kam nicht überraschend, denn sie hatte mir angekündigt, dass sie einen Mann kennengelernt habe. Das zweite Mal traf ich mich mit den beiden in einem Schnellrestaurant in der Nähe meiner Universität, als sie mir ihren Entschluss zu heiraten mitteilten.

Beide Male hatte ich nicht mehr als eine halbe Stunde mit Hodaka verbracht. Er telefonierte ständig mit dem Handy, verkündete dann, ihm sei etwas Dringendes dazwischengekommen und er müsse gehen. So hatte ich keine Gelegenheit gehabt, mir ein Bild von ihm zu machen, und wusste nicht, was für ein Mensch er war.

»Er meint es nicht so«, erklärte mir Miwako. »Zu mir ist er jedenfalls sehr nett.« Aber was hätte es auch für einen Sinn, jemanden zu heiraten, der nicht einmal zu seiner Freundin nett ist?

Man kann also sagen, dass ich den zukünftigen Mann meiner Schwester erst an diesem Tag richtig kennenlernen sollte.

Am Vormittag des 17. Mai fuhren wir mit unserem altmodischen Volvo vor Hodakas in einer ruhigen Wohngegend gelegenem Haus vor.

Beim Anblick der Villa drängte sich mir der Eindruck auf, dass Hodaka ein sehr selbstbewusster, wenn nicht selbstgefälliger Mann sein musste, so blendend weiß stach sie aus der Nachbarschaft heraus. Überdies war sie von einer außergewöhnlich hohen Mauer umgeben. Warum sonst sollte jemand ein dermaßen weißes Haus und eine so hohe Mauer haben? Andererseits hätte ich wahrscheinlich das Gleiche gedacht, wäre die Mauer niedriger und das Haus schwarz gewesen.

Während Miwako läutete, nahm ich die Sachen, die wir am Vortag noch gepackt hatten, aus dem Kofferraum.

»Hallo, ihr seid ja früh dran!« Die Eingangstür öffnete sich, und Hodaka erschien in einem weißen Pullover und einer schwarzen Hose.

»Die Straßen waren frei«, sagte Miwako.

»Da hattet ihr ja Glück.« Hodaka sah zu mir herüber und nickte mir zu. » War es anstrengend?«

»Nein, nicht besonders.«

»Komm, ich helfe dir.«

Hodakas schulterlanges Haar flog, als er leichtfüßig die Treppe vom Hauseingang hinuntergeeilt kam. Er wirkte nicht, als wäre er schon über Mitte dreißig. Mir fiel ein, dass er Tennis und Golf spielte.

»Ein guter Wagen«, sagte er, als er den Karton entgegennahm.

»Gebraucht«, erwiderte ich.

»Aha, dann ist er gut gepflegt worden.«

»Alles Aberglaube.«

»Aberglaube?«

»Genau.« Ich sah Hodaka in die Augen. Er schien mich nicht zu verstehen und kehrte mir mit einem unverbindlichen Nicken den Rücken zu.

Man pflegt einen Wagen, weil man fürchtet, er könnte einen im Notfall im Stich lassen, hatte ich sagen wollen.

Unser Vater hatte sich kaum um seinen Volkswagen gekümmert. Makoto Hodaka, du hast nicht die geringste Ahnung, was wir durchgemacht haben, dachte ich.

Im Erdgeschoss des Hauses war ein großes Wohnzimmer. Dort standen in einer Ecke zusammengedrängt einige von Miwakos Sachen, die in der letzten Woche hergebracht worden waren. Ihr Sekretär war nicht dabei.

Auf dem Sofa neben der Glastür zum Garten saß ein hagerer Mann in einem grauen Anzug. Er besaß nicht Hodakas gesundes Aussehen, obwohl er im gleichen Alter war. Er war mit einem Schriftstück beschäftigt, erhob sich aber bei unserem Eintreten sofort.

»Darf ich vorstellen: Herr Suruga, mein Manager«, sagte Makoto Hodaka und deutete auf den Mann. Dann an ihn gewandt: »Das ist Takahiro Kanbayashi, Miwakos älterer Bruder.«

»Freut mich. Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit Ihrer Schwester«, sagte der Mann und reichte mir eine Visitenkarte, auf der der Name Naoyuki Suruga stand.

»Danke.« Im Gegenzug überreichte ich ihm meine Visitenkarte.

Suruga schien sich für meinen Beruf zu interessieren. Als er ihn auf meiner Karte las, warf er mir einen erstaunten Blick zu.

»Sie sind Quantenphysiker … Ich bin beeindruckt.«

»Na ja …«

»Es gibt ja auch unabhängige Forschungslabors, aber eine Assistentenstelle an der Uni bietet ganz andere Möglichkeiten und mehr Sicherheit für die Zukunft.«

»Tja, ich weiß nicht recht …«

»Wie wäre es«, sagte Suruga mit einem Blick auf Hodaka, »wenn du dein nächstes Drehbuch in einem Physiklabor spielen lassen würdest?«

»Ich denke darüber nach.« Hodaka legte den Arm um Miwakos Schulter und lächelte sie an. »Aber auf eine billige Serie habe ich keine Lust. Viel lieber würde ich eine groß angelegte Science-Fiction-Story schreiben. Einen richtigen Film für die Leinwand.«

»Bevor wir von Filmen sprechen –«

»Ich weiß schon, was er sagen will. Ich soll erst mal einen Roman schreiben«, wandte Hodaka sich an mich und verzog genervt das Gesicht. »Es ist sein Job, mich an der Kandare zu halten.«

»Vielleicht kann ich jetzt ein bisschen lockerer lassen. Denn nun habe ich ja Miwakos Unterstützung.«

Auf Surugas Bemerkung schüttelte diese ein wenig verlegen den Kopf. »Sie überschätzen mich.«

»Doch, ich verspreche mir viel von Ihnen. Auch in dieser Hinsicht finde ich die Hochzeit sehr, sehr begrüßenswert«, erklärte Suruga in aufgeräumtem Ton. Dann sah er mich an und wurde plötzlich ernst. »Aber Sie als Bruder sind sicher auch ein wenig traurig.«

»Aber nein …« Ich schüttelte den Kopf.

Naoyuki Suruga bedachte mich mit einem langen forschenden Blick. Oder nein, ich weiß nicht, ob »lang« es trifft. Wahrscheinlich waren es nur ein paar Sekunden. Oder sogar nur der Bruchteil einer Sekunde. Jedenfalls kam es mir lange vor. Vor diesem Mann musst du dich in Acht nehmen, dachte ich. In gewisser Weise musste man vor ihm vielleicht stärker auf der Hut sein als vor Hodaka.

Der Bräutigam meiner Schwester lebte allein. Er war schon einmal verheiratet gewesen. Das Haus hatte er anscheinend für sich und seine Frau gebaut, aber inzwischen waren sie schon seit mehreren Jahren getrennt. Warum sie sich hatten scheiden lassen, wusste ich nicht. Miwako hatte mir nichts erzählt, und ich vermutete, dass sie es selbst nicht genau wusste.

Wenn eine sechsundzwanzigjährige Versicherungsangestellte und ein siebenunddreißigjähriger geschiedener Autor heiraten, muss der Zufall eine gewisse Rolle gespielt haben. Wäre Miwako eine gewöhnliche Bürokraft gewesen, hätten die beiden sich wohl nie kennengelernt.

Der Auslöser für ihre Bekanntschaft war ein Gedichtband, den Miwako zwei Jahre zuvor herausgegeben hatte.

Gedichte schrieb sie schon seit der neunten Klasse. In den Unterrichtspausen pflegte sie plötzliche Eingebungen in einem Heft zu notieren, bis sie zunehmend Geschmack daran fand. Als sie die Universität abschloss, hatten sich zu ihrer eigenen Überraschung zehn solcher Hefte angesammelt.

Jahrelang zeigte sie sie niemandem, nicht einmal mir, eines Tages jedoch las eine Freundin, die zu Besuch war, heimlich einige davon. Überdies stibitzte das Mädchen ohne Miwakos Wissen eines dieser Hefte und nahm es mit nach Hause. Sie tat dies ohne böse Absicht, sondern nur um es ihrer älteren Schwester zu zeigen, die bei einem Verlag arbeitete. Einen so großen Eindruck hatten Miwakos Gedichte auf die Freundin gemacht.

Und sie war nicht die Einzige, die beeindruckt war. Die Schwester war der Ansicht, sie sollten gleich in Buchform erscheinen. Das sagte ihr ihr Instinkt als Lektorin.

Bald darauf stattete uns Kaori Yukizasa, so hieß sie, einen Besuch ab, um sich alle Gedichte anzuschauen. Sie ließ sich viel Zeit bei der Lektüre und sprach gleich anschließend mit Miwako über eine Veröffentlichung. Als diese zögerte, erklärte Frau Yukizasa sogar, sie würde nicht eher gehen, bis sie eine positive Antwort erhielte.

Nach einigem Hin und Her erschien im Frühling des folgenden Jahres der erste Gedichtband von Miwako Kanbayashi. Doch wie befürchtet, verkaufte er sich anfangs überhaupt nicht. Ich recherchierte im Internet nach Kritiken in Zeitschriften und Zeitungen, aber auch einen Monat nach der Veröffentlichung gab es keine Reaktionen.

Doch im zweiten Monat kam es zu einer drastischen Wende. Kaori Yukizasa war es gelungen, eine Frauenzeitschrift für Miwakos Gedichte zu interessieren, und auf einmal fand der Band reißenden Absatz. Die Leserinnen waren zum größten Teil Büroangestellte. Kaori Yukizasa hatte bei ihrer Auswahl besonders solche Gedichte berücksichtigt, die sich mit den Befindlichkeiten junger Frauen, die in Büros arbeiteten, auseinandersetzten, und ihre Strategie war aufgegangen. Eine Auflage folgte auf die nächste, bis das Buch plötzlich ein Bestseller war.

Alle möglichen Medien rissen sich nun um Miwako, und mitunter trat sie sogar im Fernsehen auf. Unser Telefon stand nicht mehr still, sodass sie eine zweite Leitung legen ließ. Außerdem musste sie für ihre Steuererklärung im Frühjahr die Hilfe eines Steuerberaters in Anspruch nehmen, was nicht verhinderte, dass im April eine horrende Summe an Einkommensteuer fällig wurde. Zudem verlangte der Magistrat noch Gemeindesteuer in einer Höhe, dass wir fast umfielen.

Dennoch kündigte Miwako ihre Stelle bei der Versicherung nicht. Soweit ich sah, blieb sie einfach sie selbst. Offenbar war sie sogar bemüht, sich nicht zu verändern. »Ich will eigentlich nicht berühmt werden«, lautete nun jeder zweite Satz.

Makoto Hodaka hatte sie im Frühjahr des vergangenen Jahres kennengelernt. Sie erzählte mir keine Einzelheiten, aber anscheinend hatte Kaori Yukizasa, die ebenfalls seine Lektorin war, die beiden einander vorgestellt.

Seit wann sie sich auch privat trafen, hatte Miwako mir bislang nicht gesagt. Wahrscheinlich hatte sie auch jetzt nicht die Absicht, es zu tun. Klar war nur, dass sie sich letztes Weihnachten verlobt hatten, denn als Miwako von ihrem Rendezvous an Heiligabend zurückkam, zierte ein Ring mit einem großen Diamanten ihren Finger. Vielleicht hatte sie ihn sogar abziehen wollen, bevor sie das Haus betrat, und es vergessen. Denn als sie meinen Blick bemerkte, versteckte sie hastig ihre linke Hand.

»Als Höhepunkt des Empfangs wird Dr. Sanada sprechen. Er ist uns bei so vielem behilflich. Wir dürfen ihn nicht verstimmen, sonst kann es ungemütlich werden«, sagte Naoyuki Suruga, den Blick auf die Papiere in seinem Ordner gerichtet. Er saß lässig auf dem Sofa und schrieb rasch etwas mit Kugelschreiber in die Unterlagen.

»Verstimmen?«, sagte Hodaka.

»Das kann passieren. Der Mann ist außergewöhnlich penibel und ewig beleidigt, wenn er den Eindruck hat, dass man ihn wie jedermann behandelt.«

»Du meine Güte.« Hodaka seufzte und lächelte Miwako zu.

Bei den Vorbereitungen für Miwakos Hochzeitsfeier anwesend zu sein fühlte sich für mich ungefähr so an, als säße ich auf einem Nagelbrett. Am liebsten hätte ich die Flucht ergriffen. Aber es gab ein paar familiäre Angelegenheiten, über die nur ich Bescheid wusste und die offiziell geregelt werden mussten. Außerdem hätte ich auch keine Ausrede gehabt, mich zu verdrücken. Also saß ich wie versteinert auf dem Ledersofa und folgte wortlos den Gesprächen über die Hochzeit, durch die Miwako einem anderen Mann angehören würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als machtlos zuzusehen, wie schräg gegenüber von mir dieser Hodaka unablässig meine Schwester befingerte.

»Danach kommt die Rede des Bräutigams, und das reicht dann, oder?« Suruga deutete mit dem Kugelschreiber auf Hodaka.

»Ich soll eine Rede halten? Das ist doch langweilig.«

»Das lässt sich nicht vermeiden. Bei einer normalen Hochzeit würde den Eltern der Braut förmlich ein Blumenbouquet überreicht.«

»Hör schon auf.« Hodaka runzelte die Stirn. Er sah Miwako an und schnippte mit den Fingern. »Ich habe eine geniale Idee. Vor der Rede des Bräutigams lesen wir ein Gedicht der Braut vor.«

»Was?« Miwakos Augen weiteten sich. »Nein, auf keinen Fall.«

»Ein Gedicht, das zu einer Hochzeit passt vielleicht?«, fragte Suruga begeistert.

»Da könntest du doch was finden, oder? Eins oder zwei.« Hodaka sah Miwako an.

»Ja, schon … Aber das geht nicht, auf keinen Fall.« Sie schüttelte beharrlich den Kopf.

»Ich finde es aber trotzdem eine gute Idee«, sagte Hodaka und wandte sich seinem Manager zu, als wäre ihm etwas eingefallen. »Und wie wäre es, wenn wir einen Profi engagieren?«

»Was für einen Profi?«

»Einen professionellen Vorleser. Das wäre doch einmalig. Und Musik dazu.«

»Aber die Hochzeit ist morgen. Wie soll ich da jetzt noch jemanden finden?«, jammerte Suruga mit leidender Miene.

»Das ist dein Job, denn ich beauftrage dich damit.« Hodaka schlug die Beine übereinander und deutete auf Surugas Brust.

Seufzend schrieb dieser etwas in seine Unterlagen. »Ich versuche jemand Geeigneten aufzutreiben.«

In diesem Moment klingelte es an der Tür.

Miwako nahm den Hörer der Sprechanlage an der Wand ab. »Bitte, komm doch rein«, sagte sie, nachdem sie den Namen des Gegenübers gehört hatte, und legte auf.

»Es ist Kaori«, sagte sie zu Hodaka.

»Auftritt der Aufseherin.« Suruga grinste.

Miwako ging in den Flur und kehrte mit Kaori Yukizasa zurück. Die tüchtige Lektorin trug einen weißen, steif wirkenden Hosenanzug. Ihre Frisur saß perfekt, und sie hielt sich sehr gerade. Ihr Anblick erinnerte mich an die Hosenrollen im berühmten Takarazuka-Theater, in dem ausschließlich Frauen auftreten.

»Ich hoffe, ich störe nicht allzu sehr«, sagte sie zu uns Männern gewandt. »Morgen ist es ja schon so weit.«

»Wir sind gerade bei den letzten Vorbereitungen«, sagte Suruga. »Wir könnten sogar Ihren Rat gebrauchen.«

»Vorher hätte ich noch kurz etwas mit Miwako zu besprechen«, sagte Kaori Yukizasa.

»Ah, ja, mein Aufsatz. Ich hole ihn.« Miwako verließ das Wohnzimmer. Man hörte, wie sie die Treppe hinaufging.

»Typisch, am Tag vor ihrer Hochzeit arbeitet sie noch«, sagte Hodaka, der sitzen geblieben war.

»Das ist doch bewundernswert. Außerdem –«

»Natürlich. Ich bewundere sie ja auch.«

»Das freut mich.« Kaori Yukizasa machte eine kleine höfliche Verbeugung. Als sie den Kopf wieder hob, trafen sich unsere Blicke. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen. Wir begegneten uns erst zum zweiten Mal, aber sie sah mich öfter so an, ohne dass ich wusste, warum.

Sie wandte sich von mir ab und schaute zu den Fenstern. Plötzlich weiteten sich ihre schmalen Augen, und sie rang nach Atem.

Wir anderen drei folgten ihrem Blick zur Glastür, durch deren Spitzengardinen man den Rasen im Garten sah.

Dort stand eine Frau mit langem Haar und geisterhaft bleichem Gesicht und starrte uns an.

NAOYUKI SURUGA

DER MANAGER

1

Beim Anblick der Erscheinung im Garten stockte mir für einen Augenblick der Atem, und das Herz wollte mir schier aus der Brust springen.

Die Frau mit den geisterhaften Zügen und dem wehenden weißen Kleid war keine andere als Junko Namioka.

Ihr ausdruckloses Gesicht war uns allen zugewandt, aber natürlich galt ihr Blick nur einer Person – Hodaka.

Ich brauchte zwei Sekunden, um die Situation zu begreifen, und noch einmal zwei, um zu überlegen, wie ich reagieren sollte.

Hodaka sah erschrocken aus. Er schien wie erstarrt. Niemand sagte einen Ton. Kaori Yukizasa wusste wahrscheinlich nicht einmal, wer die Frau war. Und Takahiro Kanbayashi noch viel weniger. Zum Glück. Und ein noch größeres Glück war es, dass Miwako Kanbayashi gerade nicht im Raum war.

Ich stand auf und öffnete die Glastür. »Junko! Wo kommst du denn plötzlich her? Was ist los?«

Aber sie schaute mich nicht an. »Bist du heute früher mit der Arbeit fertig?«, fuhr ich fort.

Sie bewegte leicht die Lippen. Schien etwas zu flüstern. Was, konnte ich nicht verstehen.

Ich zog die Gartensandalen an, die draußen standen, und baute mich vor Junko auf, um ihr den Blick auf Hodaka zu versperren. Und natürlich auch, damit Takahiro Kanbayashi und Kaori Yukizasa den schlafwandlerischen Ausdruck auf Junkos Gesicht nicht bemerkten.

Schließlich sah Junko mich an. Ich war erleichtert, dass sie meine Anwesenheit endlich registrierte.

»Was ist denn los?«, fragte ich leise.

Röte schoss in Junkos bleiche Wangen, und auch ihre Augen röteten sich. Ich konnte beinahe hören, wie sie sich mit Tränen füllten.

»He, Suruga, alles in Ordnung?«, ertönte es hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Hodaka den Kopf aus der Tür steckte.

»Ja, alles in Ordnung«, antwortete ich, obwohl ich mich fragte, was da in Ordnung sein sollte.

»Suruga«, flüsterte Hodaka noch einmal. »Mach was. Ich will nicht, dass sie etwas mitbekommt.«

»Alles klar«, erwiderte ich, ohne ihn anzusehen. »Sie« war natürlich Miwako Kanbayashi. Die Glastür wurde hastig geschlossen. Wie Hodaka diese Situation wohl seinen beiden Gästen im Zimmer erklären würde?

»Komm, wir gehen ein Stück«, sagte ich und berührte Junko an der Schulter.

Sie schüttelte leicht den Kopf. Bei jedem Wimpernschlag quollen Tränen aus ihren tieftraurigen Augen. Sie wirkte schrecklich mitgenommen.

»Komm, wir gehen da rüber und reden. Hier hat es doch keinen Sinn, oder? Komm schon.«

Ich gab ihr einen etwas stärkeren Schubs, bei dem sie sich endlich in Bewegung setzte. Erst jetzt bemerkte ich die Papiertüte in ihrer Hand. Was sich darin befand, konnte ich nicht erkennen.

Ich führte sie an eine Stelle, wo man uns vom Wohnzimmer aus nicht sehen konnte. Dort war ein Golfnetz gespannt, und daneben stand ein kleiner Stuhl, der Hodaka vermutlich zum Ausruhen diente, wenn er Golf übte. Ich setzte Junko auf den Stuhl, neben dem einige Blumenkästen mit gelben und violetten Stiefmütterchen standen. Mir fiel ein, dass Hodaka erwähnt hatte, Miwako hätte sie gekauft.

»Also, Junko, weshalb bist du gekommen? Noch dazu ohne zu klingeln. Und starrst einfach so durch die Fenster. Das passt doch gar nicht zu dir.« Ich sprach wie mit einem kleinen Mädchen zu ihr.

»… die Frau?«, flüsterte sie nun, aber ich verstand sie noch immer nicht.

»Was hast du gesagt?« Ich brachte mein Ohr näher an ihren Mund.

»Wer ist die Frau?«

»Welche Frau? Von wem sprichst du?«

»Die Frau im Wohnzimmer. Die im weißen Hosenanzug mit den kurzen Haaren. Ist das die Frau, die Makoto heiratet?«

»Ach so.« Endlich begriff ich. Sie hatte also nicht nur Hodaka angestarrt.

»Nein«, sagte ich. »Sie ist Lektorin und kommt nur manchmal aus beruflichen Gründen.«

»Und wer ist dann Makotos Verlobte?«

»Wie meinst du das?«