Verdächtige Geliebte - Keigo Higashino - E-Book

Verdächtige Geliebte E-Book

Keigo Higashino

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Ishigami, der Mathelehrer, gegen Dr. Yukawa, den Physiker: Die beiden haben seit Langem eine Rechnung miteinander offen. Nun kämpfen sie gegeneinander: Ishigami, um die Wahrheit zu vertuschen, und Yukawa, um sie aufzudecken. Gelingt es ihm, der geliebten Mörderin und deren Tochter ein Alibi zu verschaffen, oder werden sie am Ende allesamt des Mordes und der Lüge überführt? Gewinner dieses Zweikampfes zweier Genies sind die Leser: Keigo Higashino dreht in seinem Bestseller die gängigen Krimi-Rollen raffiniert um und lässt uns mit der Täterin mitfiebern.

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Seitenzahl: 370

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Keigo Higashino

Verdächtige Geliebte

Roman

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de

Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Yōgisha X no kenshin«.

© 2005 by Bungeishunju Ltd, Tokio

Für die deutsche Ausgabe

© 2012 by J. G. Cott a’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stutt gart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Cover Design by Estudio

Ediciones B Th inkstock

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93966-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10313-7

Informationen zum Buch

Wer die Mörderin ist, steht von Anfang an fest: Yasuko hat ihren gewalttätigen Ex-Mann ermordet. Doch dann bietet ihr verliebter Nachbar an, ihr ein Alibi zu verschaffen. Womit das Mathe-Genie allerdings nicht rechnet, ist, dass die Polizei einen genauso brillanten Gegenspieler engagiert, um ihm auf die Schliche zu kommen. Ishigami, der Mathelehrer, gegen Dr. Yukawa, den Physiker: Die beiden haben seit Langem eine Rechnung miteinander offen. Nun kämpfen sie gegeneinander: Ishigami, um die Wahrheit zu vertuschen, und Yukawa, um sie aufzudecken. Gelingt es ihm, der geliebten Mörderin und deren Tochter ein Alibi zu verschaffen, oder werden sie am Ende allesamt des Mordes und der Lüge überführt? Gewinner dieses Zweikampfes zweier Genies sind die Leser: Keigo Higashino dreht in seinem Bestseller die gängigen Krimi-Rollen raffiniert um und lässt uns mit der Täterin mitfiebern. Jeder kennt die Mörderin, raffinierte Komposition gegen alle bekannten Krimi-Klischees, ein Wettkampf zweier Genies um die Aufdeckung der Wahrheit – Höchstspannung bis zur überraschenden Auflösung.

Umschlag

Impressum

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Informationen zum Autor

Kapitel 1

Wie jeden Morgen verließ Ishigami um 7 Uhr 35 das Haus. Es war bereits März, aber es wehte noch ein kalter Wind, und so zog er sich den Schal über das Kinn. Bevor er auf die Straße trat, warf er einen Blick auf die Fahrräder in dem Ständer vor dem Haus, aber das grüne war nicht dabei.

Ging man etwa 20 Meter nach Süden, gelangte man an die breite Shin-Ohashi-Straße. Links von dort, das heißt in östlicher Richtung, lag der Bezirk Edogawa. Wandte man sich nach Westen, kam man in Nihonbashi heraus. Kurz vor Nihonbashi traf die Straße auf den Fluss Sumida und überquerte ihn auf der Shin-Ohashi-Brücke.

Um auf dem kürzesten Weg zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen, musste Ishigami nach Süden gehen, wo er nach wenigen hundert Metern auf den Seicho-Garten stieß. Die private Oberschule, an der er Mathematik unterrichtete, lag direkt an diesem Park.

Ishigami ging bis zur Ampel und bog dann rechts in Richtung Shin-Ohashi-Brücke ein. Der Wind blies ihm entgegen und zerrte an seinem Mantel. Er vergrub die Hände in den Taschen und schritt etwas nach vorn gebeugt aus. Die dichten Wolken am Himmel spiegelten sich im Fluss und ließen ihn noch trüber erscheinen. Als Ishigami die Brücke überquerte, sah er unter sich ein Boot, das sich langsam flussaufwärts bewegte. Auf der anderen Seite führte eine schmale Treppe zum Ufer hinunter. Unten angekommen ging Ishigami unter der Brücke hindurch und den Weg am Sumida entlang.

Man hatte zu beiden Seiten des Flusses Fußwege angelegt. An der ein Stück flussabwärts gelegenen Kiyosu-Brücke waren häufig Familien und Pärchen anzutreffen, aber bis zur Shin-Ohashi-Brücke verirrten sich kaum Spaziergänger. Der Grund war offensichtlich: eine lange Reihe mit blauen Plastikbahnen abgedeckter Pappkartons, in denen Obdachlose lebten. Wahrscheinlich war der Platz besonders gut geeignet, weil die Stadtautobahn direkt darüber Schutz vor Wind und Regen bot. Der Umstand, dass sich am gegenüberliegenden Ufer nicht eine einzige dieser Behausungen befand, stützte diese Annahme. Es sei denn, die Bewohner hätten sich aus einer Art Gruppenzwang nur auf einer Seite niedergelassen.

Gleichgültig setzte Ishigami seinen Weg entlang der Behausungen fort. Die meisten waren nicht einmal so hoch, dass ein Mensch darin stehen konnte, einige reichten ihm nur bis zur Hüfte. Aber als einfacher Schlafplatz genügten sie wohl. Wäschehänger aus Plastik zeugten von häuslichem Leben.

Ein Mann stand an dem Geländer zum Fluss und putzte sich die Zähne. Ishigami hatte ihn schon öfter gesehen. Er war vermutlich über 60 und hatte sein graumeliertes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er erweckte nicht den Eindruck, als hätte er noch die Absicht zu arbeiten. Andernfalls wäre er auch um diese Zeit nicht mehr hier gewesen. Die Tagelöhnerjobs wurden in den frühen Morgenstunden vergeben. Zum Arbeitsamt ging er sicher auch nicht. Mit dieser Frisur wäre er ohnehin nicht vermittelbar. Außerdem war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in dem Alter noch genommen wurde, gleich null.

Ein weiterer Mann war neben seinem Unterschlupf damit beschäftigt, leere Getränkedosen zu zertreten. Ishigami hatte ihn immer wieder bei dieser Tätigkeit beobachtet und ihm deshalb den Spitznamen »Dosenmann« gegeben. Der Dosenmann musste um die 50 sein. Er war anständig gekleidet und besaß ein Fahrrad. Wahrscheinlich hielt er sich mit Dosensammeln fit. Dass er am äußersten Rand der Siedlung und etwas nach hinten versetzt wohnte, wies darauf hin, dass er eine besondere Stellung unter den Obdachlosen einnahm. Ishigami vermutete, dass der Dosenmann eine Art Nestor der Gruppe war. Kurz nach der Reihe der blauen Plastikplanen kam eine Bank, auf der ein Mann saß. Sein schmieriger, grauer Mantel musste einmal beige gewesen sein. Darunter trug er ein Jackett und ein Oberhemd. Die Krawatte, so vermutete Ishigami, hatte er in die Manteltasche gesteckt. Er nannte diesen Mann bei sich den Ingenieur, da er unlängst beobachtet hatte, wie er in einem Magazin über Industrietechnik las. Der Ingenieur trug sein Haar kurz, und offenbar rasierte er sich auch. Demnach hatte er die Hoffnung auf eine Anstellung noch nicht aufgegeben. Sicher würde er auch heute seinen erfolglosen Gang zum Arbeitsamt antreten. Ishigami hatte den Ingenieur vor etwa zehn Tagen das erste Mal gesehen. Er hatte sich noch nicht an seine neue Lage gewöhnt und zog deshalb eine unsichtbare Grenze zwischen dem Leben unter den blauen Plastikplanen und seinem eigenen.

Ishigami setzte seinen Weg am Fluss fort. Vor der Kiyosu-Brücke begegnete ihm eine ältere Frau mit ihren Hunden. Jeder ihrer drei Zwergdackel trug ein Halsband in einer anderen Farbe: der eine ein rotes, der zweite ein blaues und der dritte eins in Pink. Als die Frau Ishigami bemerkte, nickte sie ihm zu und lächelte. Er nickte zurück.

»Guten Morgen«, sagte er.

»Guten Morgen. Ganz schön kalt heute, nicht?«

»Sehr kalt.« Er zog eine Grimasse.

Im Vorbeigehen wünschte die Frau ihm alles Gute, und er nickte ihr wieder zu.

Er war ihr vor ein paar Tagen schon einmal begegnet. Damals hatte sie eine Supermarkttüte mit Sandwiches oder etwas Ähnlichem bei sich getragen. Wahrscheinlich ihr Frühstück. Daraus schloss er, dass sie allein lebte. Vermutlich nicht weit von hier, denn sie hatte Pantoffeln getragen, in denen man nicht Autofahren konnte. Wahrscheinlich hatte sie ihren Mann verloren und lebte irgendwo in der Nähe allein mit ihren drei Hunden in einer zu großen Wohnung. Bestimmt weigerte sie sich wegen der Hunde, in eine kleinere zu ziehen. Vielleicht war ihre jetzige schon abbezahlt, auf Grund der hohen Nebenkosten aber musste sie sparsam leben. In diesem Winter war sie nicht einmal beim Friseur gewesen. Offensichtlich hatte sie sich noch nie die Haare färben lassen.

An der Kiyosu-Brücke stieg Ishigami die Treppe hinauf. Um zur Schule zu kommen, hätte er die Brücke überqueren müssen, aber er schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Sein Ziel war der kleine Imbissladen mit dem Schild Bententei, der Bento – abgepackte Menüs zum Mitnehmen – verkaufte. Ishigami schob die Glastür auf.

»Nur immer herein! Guten Morgen«, tönte ihm die vertraute Begrüßung entgegen. Dennoch versetzte ihn der Klang dieser Stimme stets aufs neue in heitere Laune. Yasuko Hanaoka lächelte ihn an. Sie trug eine weiße Kappe.

Kein anderer Kunde war im Laden, was Ishigamis Stimmung weiter hob.

»Ich nehme einmal Spezial.«

»Einmal Spezial, kommt sofort«, erwiderte Yasuko Hanaoka fröhlich. Ihren Gesichtsausdruck konnte Ishigami nicht sehen, weil er vor lauter Verlegenheit in seinem Portemonnaie kramte. Sie waren Nachbarn, und eigentlich hätte es weitere Gesprächsthemen zwischen ihnen geben müssen als seine Bestellung, aber ihm fiel partout nichts ein.

»Kalt heute, nicht wahr?«, sagte er endlich beim Bezahlen, nuschelte aber so sehr, dass die Bemerkung in den Geräuschen unterging, die ein gerade eintretender Kunde beim Öffnen der Glastür verursachte. Yasuko wandte ihre Aufmerksamkeit dem Neuankömmling zu.

Sein Bento-Spezial in der Hand verließ Ishigami das Geschäft und ging nun direkt zur Kiyosu-Brücke. Grund für seinen Umweg war das Benten-tei gewesen.

Nach dem ersten Ansturm am Morgen betraten kaum noch Kunden den kleinen Laden. Allerdings liefen in der Küche bereits die Vorbereitungen für die Mittagszeit auf Hochtouren. Das Benten-tei hatte Verträge mit mehreren Firmen, und die Essen für die Angestellten mussten bis zwölf Uhr ausgeliefert sein. Deshalb half Yasuko, sofern es keine Kundschaft gab, auch in der Küche aus. Mit ihr arbeiteten vier Personen im Benten-tei . Geschäftsführer war Herr Yonazawa. Seine Frau Sayoko bereitete die Speisen zu. Für die Auslieferung zuständig war die Teilzeitkraft Kaneko, während Yasuko die laufende Kundschaft bediente.

Bevor sie diese Stelle angenommen hatte, war sie in einem Nachtklub in Kinshicho beschäftigt gewesen. Herr Yonazawa hatte regelmäßig dort verkehrt, und Sayoko war die Mamasan – die Chefin – gewesen. Dass die beiden verheiratet waren, hatte Yasuko erst, kurz bevor Sayoko dort aufgehört hatte, von dieser erfahren. Natürlich hatte es Gerede bei den Gästen gegeben. »Wie will sie sich denn von einer Nachtklubchefin in eine brave Bento-Köchin verwandeln?«, hieß es. »Aber wer versteht schon die Menschen?« Laut Sayoko war es jedoch ein langgehegter Traum des Ehepaars, einen eigenen Imbiss zu eröffnen. Angeblich hatte sie nur in der Bar gearbeitet, um diesen zu verwirklichen. Nach der Eröffnung des Benten-tei schaute Yasuko regelmäßig vorbei, um zu sehen, wie das Geschäft lief. Offenbar ging es nach einem Jahr so gut, dass die Yonazawas sie fragten, ob sie nicht Lust habe, bei ihnen zu arbeiten. Die Arbeit wachse ihnen allmählich über den Kopf.

»Und du kannst ja auch nicht für immer im Nachtklubgeschäft bleiben, Yasuko. Außerdem wird Misato jetzt langsam erwachsen«, mahnte Sayoko. »Nicht dass sie noch Komplexe bekommt, weil ihre Mutter als Bardame arbeitet. Und uns wärst du eine große Hilfe«, fügte sie eilig hinzu.

Misato war Yasukos einzige Tochter. Vor etwa fünf Jahren hatte Yasuko sich von ihrem Vater scheiden lassen, und seither lebten die beiden allein. Sayoko hätte ihr nicht zu sagen brauchen, dass es so nicht ewig weitergehen konnte. Einmal natürlich wegen Misato, aber Yasuko selbst wurde ja auch nicht jünger, und es stellte sich die Frage, wie lange sie noch im Klub arbeiten konnte. Letztlich brauchte sie nur einen Tag, um sich zu entscheiden. Im Nachtklub versuchte man nicht, sie zurückzuhalten, und wünschte ihr lediglich alles Gute. Anscheinend hatten sich auch andere schon Gedanken um die Zukunft der nicht mehr ganz jungen Bardame gemacht.

Als Misato im vergangenen Frühjahr in die Mittelstufe gekommen war, hatten sie den Schulwechsel genutzt und waren in ihre jetzige Wohnung gezogen. Ihr früheres Apartment lag zu weit vom Benten-tei entfernt. Anders als bisher ging Yasuko nun frühmorgens zur Arbeit. Sie stand um sechs Uhr auf und fuhr um halb sieben mit dem Fahrrad los. Ein grünes Fahrrad.

»War dieser Lehrer heute Morgen wieder hier?«, fragte Sayoko in einer Pause.

»Ja. Er kommt doch jeden Tag, oder?« Yasuko beobachtete, wie Sayoko und ihr Mann sich verschwörerisch angrinsten.

»Was ist denn jetzt wieder? Es ist wirklich schlimm mit euch!«

»Wir meinen es doch nicht böse. Wir sind nur neulich darauf gekommen, dass dieser Lehrer wahrscheinlich in dich verknallt ist.«

»Wie bitte?« Ihre Teeschale in der Hand, ließ Yasuko sich im Stuhl zurücksinken.

»Du hattest doch gestern frei. Und was war? Der Herr Lehrer ist nicht aufgetaucht. Findest du es nicht komisch, dass er ausgerechnet an deinem freien Tag wegbleibt, wo er doch sonst immer kommt?«

»Das war bestimmt ein Zufall.«

»Glauben wir nicht.« Sayoko sah ihren Mann an.

Yonazawa nickte lachend. »Sie sagt, das geht schon eine ganze Weile so. Wenn du freihast, kommt er nicht. Bisher habe ich es auch nicht geglaubt, aber gestern hat sie mich überzeugt.«

»Außer an Feiertagen habe ich doch ganz unregelmäßig frei. An keinem bestimmten Wochentag.«

»Um so verdächtiger. Er wohnt doch direkt neben dir. Wahrscheinlich beobachtet er, wann du zur Arbeit gehst, und kriegt raus, ob du freihast.«

»Aber ich habe ihn noch nie getroffen, wenn ich aus dem Haus gegangen bin.«

»Vielleicht beobachtet er dich von irgendwoher? Durchs Fenster vielleicht?«

»Ich glaube nicht, dass er mich vom Fenster aus sehen kann.«

»Ist doch auch egal. Wenn er Interesse hat, wird er schon irgendwann etwas sagen. Jedenfalls haben wir dir einen Stammkunden zu verdanken, Yasuko. Das macht die gute Ausbildung in Kinshicho«, sagte Yonazawa abschließend.

Yasuko lächelte sarkastisch und trank ihren Tee aus. Sie dachte an den Lehrer.

Er hieß Ishigami. Am Abend nach ihrem Einzug hatte sie beim ihm geläutet, um sich vorzustellen, und bei dieser Gelegenheit erfahren, dass er Lehrer war. Er war untersetzt und hatte ein großes, rundes Gesicht, wodurch seine Augen schmal wie Striche wirkten. Mit seinem kurzen, schütteren Haar sah er aus wie 50, obwohl er wahrscheinlich jünger war. Er schien nicht besonders auf sein Äußeres zu achten und war immer gleich angezogen. In diesem Winter trug er stets einen braunen Pullover und einen Mantel darüber. Dennoch schien er seine Sachen regelmäßig zu waschen, da sie bisweilen an einem Wäscheständer auf seinem kleinen Balkon hingen. Yasuko vermutete, dass er ledig war. Er wirkte nicht wie geschieden und auch nicht wie ein Witwer.

Sie überlegte, wodurch sie sein Interesse erregt haben könnte, aber ihr fiel nichts ein. Der Mann war wie ein feiner Riss in der Wand für sie. Sie wusste, dass er existierte, achtete aber nie besonders auf ihn. Es lohnte sich nicht, sich Gedanken über ihn zu machen. Sie grüßten sich, wenn sie sich begegneten. Einmal hatten sie sich sogar über die Hausverwaltung unterhalten. Dennoch wusste Yasuko so gut wie nichts über diesen Mann. Erst vor kurzem hatte sie erfahren, dass er Mathematik unterrichtete, als sie nämlich zufällig vor seiner Wohnungstür einen mit einer Schnur zusammengebundenen Stapel alter Mathematikbücher gesehen hatte. Yasuko hoffte nicht, dass er sie um ein Rendezvous bitten würde. Der Gedanke entlockte ihr ein bitteres Lächeln. Erfolglos versuchte sie, sich das biedere Gesicht des Mannes vorzustellen, wenn er sie fragte.

Yasuko war gerade dabei, die Papierrolle in der Kasse auszuwechseln, als die Tür aufgeschoben wurde und jemand hereinkam. »Guten Tag«, flötete sie mechanisch, ohne aufzuschauen. Dann erstarrte sie und riss entgeistert die Augen auf.

»Gut siehst du aus«, sagte der Mann, der nun vor ihr stand. Er lächelte, aber seine Augen blickten finster.

»Du? … Wie hast du mich gefunden?«

»So erstaunlich ist das nun auch wieder nicht. Wo meine Ex-Frau arbeitet, kann ich jederzeit herausfinden, wenn ich will.« Der Mann sah sich im Laden um wie ein noch unentschlossener Kunde. Er hatte beide Hände in den Taschen seiner dunkelblauen Windjacke vergraben.

»Und was willst du jetzt?«, fragte Yasuko in scharfem, aber gedämpftem Ton. Sie funkelte ihn an und betete innerlich, dass die Yonazawas in der Küche sie nicht hörten.

»Jetzt guck doch nicht so. Wir haben uns ewig nicht gesehen. Da könntest du mir wenigstens aus Höflichkeit ein Lächeln schenken.« Der Mann grinste bösartig.

Yasuko überlief es kalt. »Wenn du nichts zu sagen hast, kannst du gleich wieder abhauen.«

»Ehrlich gesagt bin ich aus einem bestimmten Grund hier. Ich will dich um einen Gefallen bitten. Meinst du, du könntest kurz mit rauskommen?«

»Rede keinen Quatsch. Siehst du nicht, dass ich arbeite?«, sagte Yasuko und bereute es im selben Moment. Jetzt dachte er, sie würde mit ihm reden, wenn sie nicht arbeiten müsste.

Der Mann leckte sich die Lippen. »Wann hast du Schluss?«

»Ich will nicht mit dir reden. Bitte, geh einfach, und lass mich in Ruhe.«

»Wie kalt du bist.«

»Was hast du erwartet?«

In der Hoffnung auf Kundschaft warf Yasuko einen Blick nach draußen, aber es war niemand in Sicht. Die Straße war leer. »Na gut, wenn du so kalt bist, dann versuche ich es eben bei jemand anderem«, sagte der Mann und kratzte sich am Kopf.

In Yasukos Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. »Was soll das heißen?«

»Ich meine, wenn meine Frau mir schon nicht hilft, dann vielleicht ihre Tochter. Sie geht doch ganz hier in der Nähe zur Schule, oder?«, fragte der Mann drohend.

»Lass sie ja in Ruhe!«

»Also gut, vielleicht kannst du mir doch helfen. Mir ist alles recht.«

Yasuko seufzte. Sie wollte ihn loswerden. »Ich arbeite bis sechs.«

»Von morgens früh bis sechs Uhr abends? Ihr habt ja lange Arbeitszeiten.«

»Das geht dich nichts an.«

»Na gut, dann komme ich um sechs.«

»Nein, nicht hierher. Du gehst draußen nach rechts, dann die Straße runter, bis du an eine große Kreuzung kommst. Dort an der Ecke ist ein großes Familienrestaurant. Wir treffen uns um halb sieben dort.«

»Alles klar. Und sieh zu, dass du kommst. Denn wenn nicht …«

»Ich komme. Und jetzt raus. Ein bisschen plötzlich.«

»Schon gut, schon gut, wirf mich nur auf die Straße.« Der Mann sah sich noch einmal im Laden um, ehe er hinausging und die Schiebetür etwas zu heftig hinter sich zuzog.

Yasuko legte sich die Hand auf die Stirn. Ein hartnäckiger Kopfschmerz hatte sich eingestellt. Übel war ihr auch. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit breitete sich langsam in ihr aus.

Acht Jahre waren seit ihrer Hochzeit mit Shinji Togashi vergangen. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie in einem Nachtklub in Akasaka arbeitete. Togashi war dort Stammgast gewesen.

Damals handelte er mit ausländischen Wagen und lebte auf großem Fuß. Yasuko war ein Teil seines luxuriösen Lebensstils. Er kaufte ihr teure Geschenke, führte sie in elegante Restaurants, und als er ihr einen Antrag machte, kam sie sich vor wie Julia Roberts in Pretty Woman. Es fiel ihr nicht leicht, bis in die Nacht hinein zu arbeiten, um nach ihrer gescheiterten ersten Ehe für ihre Tochter zu sorgen.

Anfangs waren sie glücklich. Togashi hatte ein geregeltes Einkommen, so dass Yasuko das Nachtklubmilieu hinter sich lassen konnte. Auch mit Misato verstand er sich gut, und ihre Tochter schien sich zu bemühen, in ihm den »Papa« zu sehen.

Doch plötzlich brach alles zusammen. Togashi wurde gefeuert, als sein Arbeitgeber herausfand, dass dieser seit Jahren Firmengelder unterschlagen hatte. Nur aus einem Grund zeigte er ihn nicht an: Er wollte die ganze Sache vertuschen, damit seine eigene Nachlässigkeit nicht ans Licht kam. Demnach war das ganze Geld, das Togashi in Akasaka ausgegeben hatte, ergaunert gewesen.

Von diesem Moment an wurde Togashi ein anderer Mensch. Oder vielleicht zeigte er jetzt nur sein wahres Gesicht. Er lungerte den ganzen Tag untätig herum und fing an zu spielen. Wenn Yasuko sich beschwerte, wurde er gewalttätig. Mit der Zeit trank er immer mehr, bis er ständig betrunken war und Streit suchte. Natürlich blieb Yasuko nichts anderes übrig, als wieder arbeiten zu gehen. Doch alles Geld, das sie verdiente, nahm Togashi ihr gewaltsam sofort wieder ab. Als sie versuchte, es vor ihm zu verstecken, tauchte er am Zahltag im Klub auf und verhinderte, dass sie es beiseiteschaffte.

Misatos Angst vor ihrem Stiefvater wuchs. Mitunter kam sie sogar in den Klub, in dem Yasuko arbeitete, um nicht mit ihm allein in der Wohnung zu sein.

Yasuko forderte die Scheidung, aber Togashi wollte nichts davon hören. Als sie ihn immer stärker bedrängte, schlug er sie. Schließlich wandte sie sich an einen Rechtsanwalt, den einer ihrer Gäste ihr empfohlen hatte. Ihm gelang es, den widerstrebenden Togashi zu überreden, die Scheidungspapiere zu unterschreiben. Offenbar sah er ein, dass er vor Gericht keine Chance hatte, und falls er nicht einwilligte, am Ende vielleicht noch Unterhalt zahlen musste.

Doch die Scheidung allein brachte keine Lösung des Problems. Auch danach tauchte Togashi immer wieder bei Yasuko und ihrer Tochter auf. Seine Angelegenheiten seien jetzt geregelt, behauptete er, und er widme sich ganz seiner Arbeit. Ob sie sich nicht vorstellen könne, es noch einmal mit ihm zu versuchen? Als Yasuko ihm aus dem Weg ging, verfolgte er Misato und lauerte ihr manchmal sogar vor der Schule auf. Als er buchstäblich auf Knien zu Yasuko gekrochen kam, hatte sie wider Willen Mitleid mit ihm, obwohl sie wusste, dass alles nur Theater war. Vielleicht verspürte sie auch noch einen Rest ihrer früheren Zuneigung. Jedenfalls gab sie ihm ein bisschen Geld und beging damit einen großen Fehler. Nachdem Togashi einmal Erfolg gehabt hatte, kam er immer öfter. Er verhielt sich zwar unverändert kriecherisch, dennoch wurden seine Forderungen immer unverschämter.

Irgendwann wechselte Yasuko den Arbeitsplatz und zog um. Obwohl es ihr leid tat, schickte sie Misato auf eine andere Schule. In dem Klub in Kinshicho war Togashi nicht mehr aufgetaucht. Vor einem Jahr war sie dann noch einmal umgezogen und hatte die Stelle im Benten-tei angenommen. Sie hatte fest geglaubt, ihren bösen Geist für immer losgeworden zu sein.

Auf keinen Fall wollte sie die Yonazawas mit ihren Problemen belasten. Auch Misato durfte nichts merken. Sie musste allein dafür sorgen, dass er sie nicht wieder belästigte. Yasuko warf einen entschlossenen Blick auf die Wanduhr.

Als es Zeit für ihre Verabredung wurde, machte sie sich auf den Weg zum Restaurant. Togashi saß an einem Fenster und rauchte. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Tasse Kaffee. Yasuko setzte sich und bestellte einen heißen Kakao. Normalerweise nahm sie ein Kaltgetränk, das man kostenlos wieder auffüllen durfte, aber heute hatte sie nicht die Absicht, lange zu bleiben.

»Also, was gibt’s?«, fragte sie und sah Togashi böse an.

Dieser schürzte die Lippen. »Du hast es ja ganz schön eilig.«

»Ich bin sehr beschäftigt. Wenn du also etwas zu sagen hast, raus damit.«

»Yasuko …« Togashi wollte nach ihrer Hand greifen, die auf dem Tisch lag. Sie zog sie rasch zurück. Er verzog den Mund. »Du bist schlecht gelaunt.«

»Natürlich. Hoffentlich hast du einen guten Grund, mich zu belästigen.«

»Sei doch nicht so feindselig. Ich weiß, ich sehe nicht so aus, aber ich meine es ernst.«

»Ernst mit was?«

Die Bedienung brachte ihren Kakao. Yasuko nahm einen Schluck, er war kochend heiß. Dennoch wollte sie ihn so schnell wie möglich austrinken und verschwinden.

»Du lebst noch allein, stimmt’s?«, fragte Togashi und starrte sie mit zusammengezogenen Brauen an.

»Was geht dich das an?«

»Es ist schwer für eine Frau, ihr Kind ganz allein großzuziehen. Du wirst immer mehr Geld brauchen. Was zahlen die dir überhaupt in dem Imbiss? Wie willst du denn damit Misatos Zukunft sichern? Schau, ich möchte, dass du es dir noch einmal überlegst. Über uns nachdenkst. Ich habe mich verändert. Ich bin nicht mehr der, der ich war.«

»Und was ist jetzt anders als vorher? Arbeitest du?«

»Ich werde arbeiten. Ich habe bereits eine Stelle gefunden.«

»Aber noch arbeitest du nicht, oder?«

»Ich sage doch, dass ich eine Stelle habe. Ich soll nächsten Monat anfangen. Es ist eine neue Firma, aber wenn alles erst mal ins Rollen kommt, dann könnt ihr euch zurücklehnen – du und Misato.«

»Nein, danke. Bei all dem Geld, das du dann verdienst, wirst du sicher keine Schwierigkeiten haben, jemand anderen zu finden. Uns lass bitte in Ruhe.«

»Yasuko, ich brauche dich.«

Togashi streckte wieder den Arm aus, versuchte, Yasuko an der Hand zu berühren, mit der sie den Kakao hielt.

»Fass mich nicht an!« Sie zuckte zurück und verschüttete etwas von dem Getränk auf Togashis Finger. »Aua!« Er riss seine Hand zurück. Seine Augen waren böse, als er sie jetzt ansah.

Yasuko starrte wütend zurück. »Du kannst nicht einfach hierherkommen und mir den gleichen Quatsch auftischen wie früher. Nach allem, was du uns angetan hast. Wie kannst du erwarten, dass ich dir glaube? Wie gesagt habe ich nicht das leiseste Bedürfnis, je wieder mit dir zusammen zu sein. Also gib’s auf! Hast du kapiert?«

Yasuko stand auf. Togashi musterte sie wortlos. Ohne seinen Blick zu beachten, legte sie das Geld für ihren Kakao auf den Tisch und wandte sich dem Ausgang zu.

Rasch holte sie ihr Fahrrad und trat heftig in die Pedale. Bei dem Gedanken, Togashi würde vielleicht schnaufend hinter ihr herlaufen, fuhr sie noch schneller die Kiyobashi-Straße entlang. Hastig überquerte sie die Kiyosu-Brücke und bog links ab.

Sie hatte alles gesagt, was es zu sagen gab, aber sie war sicher, dass sie Togashi nicht zum letzten Mal gesehen hatte. Er würde bald wieder im Benten-tei auftauchen. Er würde sie verfolgen, belästigen, ihr vielleicht Szenen machen. Vielleicht würde er sogar vor Misatos Schule auftauchen. Dieser Mann rechnete damit, dass Yasuko irgendwann nachgab. Und er ihr Geld aus der Tasche ziehen konnte.

Zu Hause angekommen machte Yasuko sich an die Vorbereitungen fürs Abendessen, das aus aufgewärmten Resten aus dem Imbiss bestand. Aber selbst diese einfache Tätigkeit fiel ihr schwer. Ständig ließ sie die Hände wieder sinken, denn es kamen ihr schreckliche Bilder in den Sinn. Misato würde bald kommen. Sie spielte Badminton in der Schule und unterhielt sich meist nach dem Training noch mit den anderen Mädchen. Normalerweise war sie gegen sieben Uhr zu Hause. Plötzlich klingelte es. Nichts Gutes ahnend ging Yasuko zur Tür. Misato konnte es nicht sein. Sie hatte einen Schlüssel.

»Ja?«, rief Yasuko, ohne die Tür zu öffnen. »Wer ist da?«

Es entstand eine kurze Pause. Dann: »Ich bin’s.«

Yasuko antwortete nicht. Ihr wurde schwarz vor Augen. Panik kroch in ihr hoch. Togashi war ihr wahrscheinlich eines Abends vom Benten-tei gefolgt.

Togashi klopfte gegen die Tür. »He!«

Sie schüttelte den Kopf und schloss auf, ohne jedoch die Sicherheitskette zu lösen. Die Tür öffnete sich etwa zehn Zentimeter, und Togashi drängte sein Gesicht in den Spalt. Er grinste. Seine Zähne waren gelb.

»Was willst du hier? Hau ab«, zischte Yasuko.

»Ich war noch nicht fertig. Du meine Güte, du bist noch genauso reizbar wie früher, stimmt’s?«

»Wir sind fertig miteinander. Ich will dich nie mehr sehen.«

»Du könntest dir wenigstens anhören, was ich zu sagen habe. Lass mich rein.«

»Ich denke nicht daran. Geh weg.«

»Wenn du mich nicht reinlässt, warte ich eben hier. Misato kommt sicher gleich. Wenn ich nicht mit dir reden kann, rede ich eben mit ihr.«

»Lass Misato aus dem Spiel!«

»Dann mach die Tür auf.«

»Ich rufe die Polizei.«

»Tu dir keinen Zwang an. Es ist ja nicht verboten, dass ein Mann seine geschiedene Frau besucht. Die Beamten sind sicher ganz auf meiner Seite. ›Sie könnten ihn ja wenigstens mal in die Wohnung lassen, gute Frau‹, werden sie sagen.«

Yasuko biss sich auf die Lippen. Togashi hatte wahrscheinlich recht. Sie hatte schon früher die Polizei geholt, aber geholfen hatte es ihr nie. Außerdem wollte sie kein Aufsehen erregen. Sie war ohne einen Bürgen hier eingezogen, ein Gerücht, und man würde sie auf die Straße setzen.

»Also gut, aber du musst gleich wieder gehen.«

»Ja, klar«, sagte Togashi mit triumphierender Miene.

Yasuko zog die Kette zurück und öffnete die Tür. Togashi zog die Schuhe aus und ließ dabei seinen Blick umherschweifen. Die Wohnung war klein, nur zwei Zimmer und eine Küche. Der Raum, der der Wohnungstür am nächsten lag, war ein traditionelles japanisches Zimmer von sechs Tatami, also etwa zehn Quadratmetern. Wenn man hindurchging, lag rechts die Küche und am Ende ein noch kleineres japanisches Zimmer von viereinhalb Tatami mit einem kleinen Balkon.

»Ein bisschen klein und nicht mehr ganz neu, aber nicht übel«, bemerkte Togashi, als er sich setzte und die Beine unter den Kotatsu – einen niedrigen Tisch mit einer elektrischen Heizquelle unter der Platte und einer dicken Decke darüber – streckte. »He, der Kotatsu ist ja gar nicht an«, murrte er und tastete nach der Schnur mit dem Schalter.

»Ich weiß, warum du hier bist.« Yasuko schaute stehend zu ihm hinunter. »Du kannst sagen, was du willst, am Ende geht es ja doch nur ums Geld.«

»Was soll das heißen?« Togashi runzelte die Stirn und zog ein Päckchen Seven Stars aus der Tasche. Nachdem er sich mit seinem Wegwerffeuerzeug eine angesteckt hatte, schaute er sich um. Als er merkte, dass kein Aschenbecher vorhanden war, erhob er sich, nahm eine leere Dose aus dem Mülleimer und stellte sie auf den Tisch. Er ließ sich nieder und schnippte die Asche hinein.

»Das soll heißen, dass du nur hier bist, um Geld aus mir herauszupressen.«

»Wenn du es so sehen willst, mir soll’s recht sein.«

»Du kriegst nicht einen Yen von mir.«

Er schnaubte. »Bist du sicher?«

»Verschwinde, und komm nicht wieder.«

Just in diesem Moment wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, und Misato kam nach Hause. Sie trug noch ihre Schuluniform. Sie zögerte einen Moment, als sie die fremden Schuhe im Flur sah. Als ihr klarwurde, wem sie gehörten, spiegelten sich Angst und Verzweiflung in ihren Zügen. Der Badminton-Schläger entglitt ihrer Hand und fiel klappernd zu Boden.

»Na, Misato? Lange nicht gesehen. Bist du aber gewachsen«, sagte Togashi in möglichst beiläufigem Ton.

Misato warf ihrer Mutter einen Blick zu, entledigte sich ihrer Turnschuhe und betrat wortlos den Raum. Sie ging schnurstracks in das hintere Zimmer und zog sorgfältig die Schiebetür hinter sich zu.

Togashi wartete kurz, bevor er weitersprach. »Ich weiß nicht, was du dir denkst, aber ich will doch nur, dass zwischen uns wieder alles gut wird. Ich verstehe nicht, was daran falsch sein soll.«

»Ich bin, wie gesagt, nicht interessiert. Du hast doch bestimmt nicht geglaubt, ich würde einwilligen? Das ist doch nur eine Ausrede, um uns zu belästigen.«

Damit hatte sie sicher den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber Togashi gab keine Antwort. Er nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Es lief gerade ein Zeichentrickfilm.

Yasuko seufzte und ging in die Küche. Sie nahm ihr Portemonnaie aus der Schublade neben der Spüle und zog zwei Zehntausend-Yen-Scheine heraus.

»Hier, nimm und geh«, sagte sie und legte das Geld auf den Kotatsu.

»Was ist das? Ich dachte, du wolltest mir kein Geld geben?«

»Das war’s. Mehr gibt es nicht.«

»Nun, ich brauche dein Geld nicht.«

»Du wirst nicht gehen, ohne dass du etwas bekommen hast. Wahrscheinlich hast du auf mehr gehofft, aber für uns ist es auch nicht leicht.«

Togashi betrachtete die Banknoten und sah dann Yasuko an. »Da kann man wohl nichts machen. Gut, ich gehe. Aber ich bin nicht wegen dem Geld gekommen. Wirklich nicht. Du hast es mir aufgedrängt.«

Er nahm die Scheine und stopfte sie sich in die Tasche. Anschließend drückte er seine Zigarettenkippe in der Dose aus und rutschte unter dem Kotatsu hervor. Er stand auf, ging aber statt zur Wohnungstür zum hinteren Zimmer und riss die Schiebetür auf. Yasuko hörte, wie Misato aufschrie.

»Was zum Teufel machst du da?«, schrie Yasuko ihn an.

»Ich darf doch wohl mal meiner Stieftochter guten Tag sagen, oder?«

»Sie ist nicht mehr deine Tochter oder irgendetwas, das mit dir zu tun hat.«

»Jetzt komm schon. Immer mit der Ruhe. Also bis bald, Misato«, sagte Togashi und spähte weiter in das Zimmer. Er stand so, dass Yasuko ihre Tochter nicht sehen konnte und daher nicht wusste, wie sie reagierte.

Endlich wandte Togashi sich zum Gehen. »Sie wird mal eine schöne Frau. Darauf freue ich mich schon.«

»Was redest du da für einen Quatsch?«

»Das ist kein Quatsch. In drei Jahren wird sie gutes Geld verdienen. Man wird sich um sie reißen.«

»Ich will, dass du jetzt gehst.«

»Ich geh ja schon. Für heute zumindest.«

»Und wage es nicht, wiederzukommen.«

»Das kann ich dir, glaube ich, nicht versprechen.«

»Treib es nicht zu weit!«

»Hör zu Yasuko«, sagte Togashi, ohne sich umzudrehen. »Mich wirst du nie los. Und weißt du warum? Weil du immer nachgibst. Jedes Mal.« Kichernd bückte er sich, um seine Schuhe anzuziehen.

Da geschah es. Yasuko hörte, wie sich hinter ihr etwas bewegte. Sie fuhr herum und sah, wie Misato, die noch ihre Schuluniform trug, an ihr vorbeischoss. Sie schwang einen Gegenstand über ihrem Kopf. Yasuko war wie erstarrt und brachte kein Wort hervor, während ihre Tochter Togashi den Gegenstand auf den Hinterkopf schlug. Es krachte, und Togashi fiel zu Boden.

Kapitel 2

Der Gegenstand fiel Misato aus der Hand. Es war eine von den Kupfervasen, die die Yonazawas bei der Eröffnung des Benten-tei als Werbegeschenke an die Kunden verteilt hatten.

»Misato!« Yasuko starrte ihre Tochter an.

Misato starrte ins Leere. Sie sah aus, als hätte ihre Seele sie verlassen, und rührte sich nicht. Plötzlich riss sie die Augen weit auf und blickte über Yasukos Schulter hinweg.

Yasuko wirbelte herum und sah, wie Togashi versuchte, auf die Füße zu kommen. Er verzog das Gesicht und presste sich eine Hand auf den Hinterkopf.

»Ihr verdammten Weiber …«, knurrte er hasserfüllt und richtete den Blick auf Misato. Schwankend wollte er sich auf sie stürzen.

Yasuko stellte sich schützend zwischen ihn und ihre Tochter. »Hör auf!«, rief sie.

»Aus dem Weg!« Togashi packte sie am Arm und schleuderte sie grob beiseite. Yasuko taumelte gegen die Wand und fiel zu Boden.

Misato wollte flüchten, aber Togashi warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie. Dann schwang er sich auf sie, verkrallte sich mit einer Hand in ihrem Haar und schlug ihr mit der anderen ins Gesicht. »Ich bring dich um, du kleine Hexe!«, brüllte er.

Er bringt sie um, dachte Yasuko. Er bringt sie wirklich um. Panisch sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf das Kabel, das sich unter dem Kotatsu hervorschlängelte. Sie griff danach und riss es aus der Steckdose. Das andere Ende war noch mit einer Seite des Kotatsu verbunden. Sie nahm es und stand auf, trat hinter Togashi, der auf ihrer Tochter saß und in blinder Wut immer wieder auf sie einschlug. Sie warf ihm das Kabel über den Kopf und zog mit aller Kraft zu. Togashi stieß einen röchelnden Laut aus und fiel auf den Rücken. Als ihm klarwurde, was da geschah, versuchte er, die Finger unter das Kabel zu zwängen, aber Yasuko zog immer fester zu. Dieser Mann war ein Fluch für sie und ihre Tochter. Wenn sie jetzt losließe, würde sie vielleicht nie mehr die Gelegenheit erhalten, sich von diesem bösen Geist zu befreien.

Doch Yasuko war ihrem geschiedenen Mann körperlich unterlegen. Das Kabel drohte ihren Händen zu entgleiten. Misato griff nun in den Kampf ein, indem sie versuchte, seine Finger von dem Kabel um seinen Hals wegzuziehen. Sie setzte sich mit gespreizten Beinen auf seine Brust und versuchte mit aller Gewalt, ihn festzuhalten.

»Schnell, Mama! Mach schnell!«, schrie sie.

Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Yasuko kniff die Augen zu und zog so fest, sie konnte. Ihr Herz hämmerte. Sie hörte ihr eigenes Blut rauschen, während sie die Schlinge fester und fester zog.

Sie wusste nicht, wie lange sie das getan hatte. Schließlich weckte Misatos leises Rufen sie aus ihrer Betäubung. »Mama, Mama!« Sie kam wieder zu sich.

Noch immer das Kabel umklammernd, öffnete Yasuko langsam die Augen. Togashi lag direkt vor ihr. Seine geöffneten, schieferfarbenen Augen starrten ins Leere. Sein Gesicht war bläulich und blutunterlaufen. Das Kabel hatte eine dunkle Linie auf der Haut an seinem Hals hinterlassen. Ein Speichelfaden hing von seinen Lippen. Auch seine Nase lief. Mit einem spitzen Schrei ließ Yasuko das Kabel fallen, und Togashis Kopf schlug mit einem dumpfen Laut auf den Tatami auf. Misato ließ sich sehr vorsichtig von seiner Brust zu Boden gleiten. Der Rock ihrer Schuluniform war völlig zerknittert. Sie lehnte sich an die Wand. Eine Weile schwiegen Mutter und Tochter, ihre Blicke auf den reglosen Mann gerichtet. Das Sirren der Neonlampe gellte in Yasukos Ohren.

»Was sollen wir jetzt nur machen?«, murmelte Yasuko dem Weinen nah. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere. »Ich habe ihn umgebracht.«

»Mama …«

Yasuko sah ihre Tochter an. Misato war kreidebleich, aber ihre Augen waren rot, und sie hatte Tränenspuren im Gesicht. Yasuko erinnerte sich nicht, wann sie geweint hatte.

Wieder betrachtete sie Togashi. Sie fühlte sich hin- und hergerissen, halb wünschte sie, er würde wieder zum Leben erwachen. Aber es sah definitiv nicht so aus, als wäre das möglich.

»Es ist alles seine Schuld.« Misato zog die Beine an und schlang die Arme um ihre Knie. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht darin.

»Was sollen wir nur tun …«, murmelte Yasuko wieder. Plötzlich klingelte es, sie zuckte zusammen und begann, am ganzen Körper zu zittern.

Misato schaute auf. Tränen rannen ihr über die Wangen. Ihre Blicke begegneten sich. Wer konnte das sein?

Es klopfte, und eine Männerstimme ertönte. »Frau Hanaoka?«

Sie hatte die Stimme schon einmal gehört, konnte sie jedoch nicht einordnen. Yasuko war wie versteinert und außerstande sich zu rühren. Sie und Misato starrten einander nur weiter an. Wieder klopfte es.

»Frau Hanaoka? Frau Hanaoka?«

Wer auch immer dort vor der Tür stand, wusste, dass sie zu Hause waren. Sie mussten reagieren. Aber wie konnten sie in dieser Situation die Tür öffnen?

»Geh ins kleine Zimmer. Mach die Tür zu, und komm auf keinen Fall raus«, befahl Yasuko ihrer Tochter im Flüsterton. Endlich kam ihr Gehirn wieder in Gang.

Es klopfte erneut.

Yasuko holte tief Luft. Nichts war geschehen. Es war ein ganz normaler Abend wie jeder andere.

»Ja, bitte?«, rief sie und begann die Rolle zu spielen, die sie spielen musste. Die Rolle einer Frau, die nicht gerade auf dem Wohnzimmerboden ihren geschiedenen Mann erwürgt hatte. »Wer ist da?«

»Ich bin’s. Ishigami von nebenan.«

Yasuko erschrak. Wer weiß, welchen Lärm sie gemacht hatten? Natürlich hatte ihr Nachbar allen Grund, argwöhnisch zu sein. Ishigami wollte wissen, was los war.

»Einen Moment, bitte«, rief Yasuko. Sie bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, wusste aber nicht, wie weit ihr das gelang.

Misato hatte sich in das hintere Zimmer begeben und die Tür zugezogen. Yasuko betrachtete Togashis Leichnam. Sie musste irgendetwas tun.

Durch das Reißen am Kabel hatte der Kotatsu sich verschoben. Sie verrückte ihn um noch ein paar Meter, bis seine dicke Decke die Leiche bedeckte. Er stand jetzt an einem für einen Kotatsu sehr ungewöhnlichen Platz, aber im Augenblick hatte sie keine andere Wahl.

Yasuko überprüfte kurz ihre Kleidung. Plötzlich sah sie, dass Togashis ausgetretene Schuhe noch herumlagen, und kickte sie unter die Schuhablage. Vorsichtig, damit sie kein Geräusch verursachte, legte sie die Türkette vor. Die Tür war unverschlossen. Sie klopfte sich mit der Hand auf die Brust, um ihr Herz zu beruhigen. Als sie schließlich öffnete, hatte sie Ishigamis rundes, großes Gesicht unmittelbar vor sich. Seine schmalen Augen starrten sie an. Es lag kein erkennbarer Ausdruck auf seinem Gesicht, was Yasuko ein unheimliches Gefühl vermittelte.

»Äh, ja, was kann ich für Sie tun?«, fragte Yasuko und rang sich ein Lächeln ab, spürte aber, wie ihre Stirnmuskeln zuckten.

»Was war das für ein Lärm?«, fragte Ishigami mit noch immer undurchsichtiger Miene. »Ist etwas passiert?«

»Nein, nein, gar nichts«, erwiderte sie mit heftigem Kopfschütteln. »Verzeihen Sie, wenn wir Sie gestört haben.«

»Wenn Sie sicher sind, dass alles Ordnung ist, bin ich beruhigt«, sagte Ishigami, während seine schmalen Augen das Zimmer hinter ihr sondierten.

Yasuko wurde heiß am ganzen Körper. Sie sagte das erste, was ihr einfiel. »Da war ein Insekt, eine Kakerlake.«

»Eine Kakerlake?«

»Ja, an der Wand und ich – meine Tochter und ich – haben versucht, sie zu erwischen. Ich fürchte, wir haben einen ganz schönen Lärm veranstaltet …«

»Tot?«

Yasukos Miene versteinerte. »Was?«

»Die Kakerlake? Haben Sie sie erledigt?«

»Ja, … ja, natürlich«, sagte Yasuko und nickte mehrmals. »Erledigt, genau. Alles in Ordnung. Durchaus.«

»Gut. Falls Sie mal Hilfe bei so etwas brauchen, können Sie mich jederzeit rufen.«

»Haben Sie vielen Dank. Es tut mir wirklich leid, dass wir so viel Lärm gemacht haben.« Yasuko neigte den Kopf und machte die Tür zu. Und schloss ab. Erst, als sie hörte, dass Ishigami in seine Wohnung zurückgegangen war, sank sie unwillkürlich mit einem tiefen Seufzer zu Boden.

Hinter ihr ertönte ein Geräusch. »Mama?«, sagte Misato.

Yasuko erhob sich schwerfällig. Sie warf einen Blick auf die sich wölbende Kotatsu-Decke, und tiefe Verzweiflung überkam sie. »Es ist nicht mehr zu ändern«, sagte sie endlich.

»Was werden wir tun?« Misato sah ihre Mutter fragend an.

»Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen.«

»Du willst dich stellen?«

»Es geht nicht anders, er ist tot, und Tote werden nicht wieder lebendig.«

»Aber was werden sie dann mit dir machen?«

»Ich weiß es nicht.« Yasuko strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihr wurde bewusst, dass sie wahrscheinlich völlig zerzaust aussah. Was der Mathematiklehrer von nebenan wohl gedacht hatte? Aber das war ja nun auch egal.

»Kommst du dann ins Gefängnis?«, fragte Misato.

»Ja, ich vermute es.« Yasuko lächelte resigniert. »Immerhin habe ich einen Menschen getötet.«

Misato schüttelte heftig den Kopf. »Aber das ist so ungerecht.«

»Warum denn?«

»Du konntest nichts dafür. Es war alles seine Schuld. Er war längst weg, Vergangenheit! Aber er musste ja immer wieder auftauchen und dich quälen und mich auch … Es ist nicht richtig, wenn du wegen dem ins Gefängnis musst.«

»Mord bleibt Mord. Alles andere sind nur die Umstände.«

Seltsamerweise spürte Yasuko, wie sie immer mehr ihre Fassung zurückerlangte, während sie Misato die Lage erklärte. Beinahe kaltblütig fragte sie sich, ob sie wirklich keine andere Wahl gehabt hatte. Sie hatte schon nicht gewollt, dass Misato als Tochter einer Bardame aufwuchs. Aber als Tochter einer Mörderin aufzuwachsen, war sicher viel schlimmer. Aber ein Ausweg fiel ihr nicht ein. Obwohl sich das Geschehene nicht leugnen ließ, konnte sie sich zumindest bemühen, dass sie beide in den Augen der Öffentlichkeit möglichst gut dastehen würden. Das schnurlose Telefon lag in einer Ecke des Zimmers. Yasuko ging darauf zu und hob es auf.

»Nein, Mama!« Misato schoss durch den Raum und wollte es ihrer Mutter aus der Hand nehmen.

»Lass los!«

»Nein, das darfst du nicht!«, schrie Misato und packte Yasuko am Handgelenk. Sie hatte einen kräftigen Griff, wahrscheinlich von dem vielen Badminton-Training nach der Schule.

»Lass mich bitte los.«

»Nein, Mama, das lasse ich nicht zu. Lieber stelle ich mich selbst.«

»Was redest du da für einen Unsinn?«

»Ich habe ihn niedergeschlagen. Du hast nur versucht, mich vor ihm zu retten. Und dann habe ich dir geholfen. Ich habe ihn genauso umgebracht wie du.« Misato warf ihrer Mutter einen trotzigen Blick zu. In diesem Moment lockerte Yasuko ihren Griff. Misato riss ihr das Telefon aus der Hand. Sie presste es an sich, rannte in eine Ecke des Zimmers und kehrte ihrer Mutter den Rücken zu.

Yasuko zermarterte sich das Gehirn. Würde die Polizei ihr glauben, wenn sie behauptete, sie habe Togashi allein getötet? Nein, sie würde gründliche Ermittlungen anstellen. Sie kannte das aus den Krimis im Fernsehen. Die Polizei brauchte Beweise, und die würde sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln erbringen. Man würde die Nachbarn befragen, ein Team von Rechtsmedizinern würde den Fall untersuchen, und dann – ihr wurde schwarz vor Augen. Auch wenn die Polizei sie noch so sehr in die Mangel nahm, würde sie nie preisgeben, was Misato getan hatte, dessen war sie sich ganz sicher. Doch was, wenn die Ermittlungen die Wahrheit dennoch an den Tag brachten? Dann wäre alles vorbei.

Sie überlegte, ob es nicht einen Weg gab, das Ganze so aussehen zu lassen, als hätte sie Togashi allein getötet, aber bald verwarf sie den Gedanken. Ihre dilettantischen Versuche würden sofort durchschaut.

Ich muss Misato schützen, dachte Yasuko. Unbedingt. Es musste schwer sein für die Kleine, bei einer solchen Mutter aufzuwachsen. Yasuko hätte mit Freuden ihr Leben geopfert, wenn sie Misato damit vor weiterem Unglück hätte bewahren können.

Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Ein sonderbares Geräusch schreckte Yasuko aus ihren Gedanken auf. Erst allmählich begriff sie, dass es das Telefon war. Misato nahm es und sah ihre Mutter mit geweiteten Augen an. Yasuko streckte stumm die Hand aus. Sich auf die Lippen beißend, reichte ihr Misato langsam den Hörer.

Yasuko holte tief Luft, drückte die Annahmetaste und hielt ihn ans Ohr. »Ja, bitte?«

»Äh, ja, ich bin’s Ishigami, von nebenan.«

Yasuko starrte einfältig auf das Telefon. Schon wieder dieser Lehrer. Was wollte er denn noch? »Ja? Was kann ich für Sie tun?«

»Ähem, ja, also, ich frage mich, was Sie tun werden?«

Wovon redete der Mann? »Verzeihung, aber wie meinen Sie das?«

»Ich meinte nur …«, Ishigami stockte, ehe er fortfuhr. »Ob Sie die Polizei benachrichtigen wollen? Wenn ja, ist alles klar, aber wenn nicht, könnte ich Ihnen vielleicht helfen.«

»Wie bitte?« Yasuko blieb der Mund offen. Woher wusste der Kerl …?

»Wie wäre es, wenn ich zu Ihnen rüberkäme?«, sagte Ishigami leise.

»Wie? Nein, ich glaube nicht – nein, das passt jetzt schlecht«, stotterte Yasuko, während ihr der kalte Schweiß ausbrach.

»Frau Hanaoka«, fuhr Ishigami fort, »es ist sehr schwer, eine menschliche Leiche verschwinden zu lassen. Eine Frau schafft das nicht alleine.«