Unschuldige Täter - Keigo Higashino - E-Book

Unschuldige Täter E-Book

Keigo Higashino

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Beschreibung

Die Leiche eines Mannes wird auf einem Felsen an der malerischen Küste von Harigaura entdeckt. Ein tragischer Unfall? Oder doch ein Mord? Denn seit Wochen tobt in der Stadt ein erbitterter Kampf um geplante Tiefseebohrungen vor der Küste. Ein Fall für Physikprofessor Yukawa alias "Kommissar Galileo". In der kleinen Ortschaft Harigaura findet eine Konferenz zur Erschließung von Bodenschätzen auf dem Meeresboden statt. Das Thema spaltet die Stadt. Die einen fürchten die Zerstörung der Natur und sind gegen das Vorhaben. Die anderen sehen darin die einzige Zukunftsmöglichkeit für die Stadt, die ihre Glanzzeit als Touristenmagnet längst eingebüßt hat. Auch Manabu Yukawa ist angereist, um als Experte zu sprechen. Dann wird plötzlich ein Mann tot aufgefunden. Kriminalkommissar Kusanagi nimmt gemeinsam mit Yukawa die Ermittlungen auf und stößt auf einen mysteriösen Fall, der sechzehn Jahre zurückliegt ... In dem von der Kritik gefeierten Kriminalroman deckt der geniale Physiker ein streng gehütetes Familiengeheimnis hinter den tragischen Ereignissen auf, die zu diesem Mord geführt haben. So überraschend und raffiniert, wie man es von Higashino gewohnt ist – der neue Fall von "Kommissar Galileo". "Der japanische Stieg Larsson." The Times

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Seitenzahl: 458

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Keigo Higashino

Unschuldige Täter

Kriminalroman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

TROPEN

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Manatsu no hoteishiki« im Verlag Bungeishunju Ltd., Japan

© 2011 by Keigo Higashino. All rights reserved.

German translation rights arranged with Bungeishunju Ltd., Japan through Japan UNI Agency, Inc., Japan

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung eines Fotos von © Dkart, Gettyimages

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50413-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11597-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Autoreninfo

Kapitel 1

Er wusste, wo er vom Shinkansen in den Regionalzug umsteigen musste, und rannte die Treppe hinauf. Als er auf dem Bahnsteig ankam, war der Zug schon eingefahren und die Türen standen offen. Aus den Waggons tönten lebhafte Stimmen.

Kyohei Esaki stieg durch die nächste Tür ein und blickte sich missmutig um. Seine Eltern hatten ihm versprochen, dass es nach den Obon-Feiertagen nicht mehr so voll sein würde, aber es gab kaum freie Plätze. Alle Vierersitze waren von mindestens drei Personen besetzt. In der Hoffnung, eine Sitzgruppe mit höchstens zwei Personen zu finden, ging Kyohei durch den Waggon.

Es waren viele Familien unterwegs. Die meisten Kinder waren in seinem Alter, also etwa in der fünften Klasse. Alle waren bester Laune und redeten laut durcheinander.

Kyohei fand das übertrieben. Was war so toll daran, zum Baden ans Meer zu fahren? Was war überhaupt so toll an dem blöden Meer? Im Schwimmbad machte es doch viel mehr Spaß. Am Meer gab es ja noch nicht mal Wasserrutschen.

Am Ende des Waggons fand er einen Platz. Auch hier saß zwar jemand, aber immerhin hatte er einen Zweiersitz für sich.

Kyohei ließ seinen Rucksack auf den leeren Platz neben sich fallen. Ihm gegenüber saß ein großer Mann mit randloser Brille. Er trug Hemd und Jackett, las in einer Zeitschrift und nahm keine Notiz von ihm. Auf dem Titelblatt waren unverständliche Muster und Wörter zu sehen, die er noch nie zuvor gelesen hatte. Aber wie ein Tourist wirkte der Mann nicht.

Auf der anderen Seite des Ganges saßen ein dicker älterer Mann mit weißem Haar und eine mondgesichtige Frau einander gegenüber, vermutlich ein Ehepaar. Die Frau goss grünen Tee aus einer Plastikflasche in einen Becher und reichte ihn dem Alten, der ihn mit mürrischer Miene austrank und brummig fragte, wie viel er denn eigentlich noch trinken solle. Beide waren normal gekleidet. Sicher waren sie auf dem Heimweg von einer kleinen Reise.

Es dauerte nicht lange, bis der Zug sich in Bewegung setzte. Kyohei nahm die Plastiktüte mit seinem Mittagessen aus dem Rucksack. Die in Alufolie gewickelten Onigiri waren noch warm. Dazu gab es frittiertes Hähnchen und Omelette aus einer Tupperdose. Beides Lieblingsgerichte von ihm.

Er trank aus seiner Wasserflasche und stopfte sich ein Onigiri in den Mund. Bald breitete sich vor dem Fenster das Meer aus. Es war ein schöner, nahezu wolkenloser Tag, kleine weiße Schaumkronen sprenkelten das glitzernde Wasser.

»Nur solange wir in Osaka zu tun haben«, hatte seine Mutter Yuri drei Tage zuvor verkündet. Es war das erste Mal, dass Kyohei allein zu Verwandten fahren sollte, die so weit weg wohnten.

»Meinst du, das geht? Harigaura ist nicht gerade ums Eck«, wandte sein Vater ein, der gerade ein Glas Whisky geleert hatte.

»So weit ist es nun auch wieder nicht. Kyohei ist doch schon in der fünften Klasse. Die kleine Hana von den Kobayashis ist ganz allein nach Australien geflogen«, widersprach ihm Yuri, während sie etwas in den Computer tippte. Wie jeden Abend rechnete sie im Wohnzimmer die Tageseinnahmen aus.

»Aber ihre Eltern haben sie zum Flughafen gebracht, und als sie ankam, haben ihre Verwandten sie abgeholt. Die übrige Zeit saß sie nur im Flugzeug, da braucht man sich keine Sorgen zu machen.«

»Wo ist der Unterschied? Er muss ja nur ein Mal umsteigen, und deine Schwester wohnt doch ganz nah am Bahnhof. Ich zeige es dir auf der Karte, du wirst sehen, es ist ganz einfach.« Der letzte Satz war an Kyohei gerichtet.

»Ja, gut«, erwiderte Kyohei, den Blick auf sein Videospiel geheftet. Widerstand war zwecklos, das wusste er. Solange seine Eltern auf Geschäftsreise in Osaka waren, musste er wohl oder übel in Harigaura ausharren – in diesem Nest. Als seine Großmutter noch gelebt hatte, hatten seine Eltern ihn immer zu ihr nach Hachioji geschickt, das war wenigstens in Tokio. Aber weil sie im vergangenen Jahr gestorben war, musste er jetzt zu Onkel und Tante.

Kyoheis Eltern führten eine Boutique. Sie waren ständig beschäftigt und häufig unterwegs, um Werbung für ihre selbstentworfenen Stücke zu machen. Manchmal nahmen sie Kyohei mit, aber wenn er Schule hatte, ging das nicht. Dann ließen sie ihn auch mal eine Nacht allein.

Doch nun eröffneten sie in Osaka ein neues Geschäft und würden wegen der Vorbereitungen mindestens eine Woche dort sein.

»Du hast recht, er ist alt genug dafür. Eine ganze Woche am Meer, das wird super, Kyohei. Da unten gibt es tolles Essen. Deine Tante wird dir jede Menge frischen Fisch vorsetzen«, beendete sein Vater mit whiskyschwerer Zunge die Diskussion. Über seinen Kopf hinweg hatten seine Eltern beschlossen, ihn abzuschieben. So wie immer.

In hohem Tempo fuhr der Zug die Küste entlang. Kyohei hatte seine Onigiri verschlungen und spielte mit seiner Konsole, als das Handy in seinem Rucksack klingelte. Er drückte auf Pause und holte es hervor.

Es war seine Mutter. Er verdrehte die Augen, dann hob er ab.

»Hallo?«

»Kyohei, wo bist du?«, fragte sie überflüssigerweise. Sie war es schließlich gewesen, die das Ticket besorgt hatte.

»Im Zug«, antwortete er leise. Wo sollte er sonst sein?

»Sehr gut. Also hat alles geklappt?«

»Klar«, sagte er genervt.

»Sei nett, wenn du ankommst. Und vergiss nicht, ihnen das Geschenk zu geben.«

»Mach ich. Ich leg jetzt auf.«

»Und mach deine Hausaufgaben. Jeden Tag ein bisschen. Sonst gibt es am Ende wieder eine Katastrophe.«

»Jaaha, ich weiß«, sagte er und legte auf, weil sie sowieso nur das wiederholte, was sie ihm schon am Bahnhof gesagt hatte. Warum machte sie das nur immer?

»He!«, sagte eine tiefe Stimme, nachdem er das Handy in den Rucksack gepackt hatte und gerade seine Konsole wieder zur Hand nehmen wollte. Kyohei ignorierte es, bestimmt war nicht er gemeint.

»He, du da«, ertönte es wieder, diesmal ziemlich gereizt.

Kyohei sah auf. Der weißhaarige Alte auf der anderen Sitzbank funkelte ihn drohend an.

»Telefonieren ist hier verboten«, sagte er streng.

Kyohei konnte es nicht fassen. Dass es noch Leute gab, die sich über so etwas aufregten. Er war wirklich in der tiefsten Provinz gelandet.

»Ich wurde angerufen«, verteidigte er sich.

Der alte Mann deutete mit seinen runzligen Händen auf den Rucksack. »Du musst das Handy ausschalten. Man darf hier nicht telefonieren. Da, guck!« An der Wand hing ein Schild: RUHEBEREICH. HANDYS BITTE AUSSCHALTEN.

»Äh …«

»Verboten! Kapiert?«, triumphierte der Alte.

Kyohei holte sein Handy aus dem Rucksack und hielt es dem Mann vor das Gesicht. »Das ist aber ein Handy für Kinder.«

Der Alte zog argwöhnisch die weißen Brauen zusammen. Offenbar wusste er nicht, was das war.

»Selbst wenn ich es ausschalte, geht es wieder an, sobald mich jemand anruft. Ganz ausschalten kann man es nur mit einer Geheimnummer, die kenn ich aber nicht. Ich kann also nichts machen.«

Der Alte kratzte sich am Kinn und überlegte.

»Dann musst du dich eben umsetzen. Das hier ist der Ruhebereich.«

»Jetzt lass doch das Kind in Frieden«, schaltete seine Frau sich ein und lächelte Kyohei zu. »Mach dir nichts draus.«

»Kommt nicht in Frage. Er muss lernen, die Regeln zu befolgen«, sagte der Alte mit lauter Stimme, sodass jetzt auch andere Fahrgäste aufmerksam wurden.

Kyohei seufzte. Was für ein nerviger alter Knacker. Als er aufstand und schon die Plastiktüte mit den Essensresten in seinen Rucksack packen wollte, um sich umzusetzen, drückte ihn plötzlich jemand an der Schulter zurück auf den Sitz.

Verdutzt beobachtete er, wie der Mann von gegenüber seine Zeitschrift zur Seite legte und seelenruhig die Alufolie aus Kyoheis Tüte hervorkramte, sie glättete, ihm das Handy aus der Hand nahm und es in die Folie einwickelte.

»Das müsste genügen«, sagte der Mann und reichte ihm das kleine Paket. »Du musst dich nicht umsetzen.«

Kyohei nahm es schweigend entgegen. Ob das wirklich funktionierte?

»Und was soll das jetzt bewirken?«, fragte der Alte unwirsch.

»Aluminium blockiert elektromagnetische Felder«, erklärte der Mann, der sich schon wieder in seine Zeitschrift vertieft hatte. »Jetzt ist es, als wäre das Handy ausgeschaltet. Zufrieden?«

Kyohei sah verblüfft zwischen den beiden Männern hin und her. Auch der Alte musterte den anderen Fahrgast erstaunt, räusperte sich aber verlegen, als er Kyoheis Blick bemerkte, und schloss die Augen. Seine Frau lächelte, sichtlich erleichtert über das Ende des Streits.

Kurz darauf wurde es unruhig im Zug, einige Leute erhoben sich, um ihr Gepäck aus den Ablagen zu nehmen, nachdem der Schaffner den nächsten Halt angekündigt hatte, einen beliebten Badeort.

Etwa die Hälfte der Fahrgäste stieg aus, und Kyohei erwog, den Platz zu wechseln. Doch dann stand der Mann ihm gegenüber auf, griff nach seiner Tasche und setzte sich auf einen Platz drei Reihen weiter.

Kyohei zögerte und warf einen Blick auf den nun laut schnarchenden Alten. An der Strecke reihte sich ein Seebad ans andere, und bei jedem Halt würde sich die Zahl der Fahrgäste weiter verringern. Doch bis zu seinem Ankunftsziel Harigaura war es noch ziemlich weit.

Der Alte schnarchte immer lauter. Seine Frau schien daran gewöhnt zu sein und sah aus dem Fenster, als wäre nichts. Kyohei hingegen konnte sich nicht mehr auf sein Spiel konzentrieren und beschloss, jetzt doch umzuziehen. Er nahm Rucksack und Plastiktüte und stand auf.

Als er, um sich möglichst weit von dem Alten zu entfernen, den Gang entlangging, kam er an dem Mann von vorhin vorbei. Er hatte seine Zeitschrift auf den übereinandergeschlagenen Beinen ausgebreitet. Kyohei schaute ihm unauffällig über die Schulter und sah, dass er mit einem Kreuzworträtsel beschäftigt war. Das meiste hatte er schon ausgefüllt, aber bei einer Frage schien er an seine Grenzen zu stoßen.

»Temperance«, sagte Kyohei leise.

Der Mann drehte sich erstaunt um. »Wie bitte?«

Kyohei deutete auf die freien Kästchen. »Fünf senkrecht. Wer liest Knochen? Temperance macht das.«

Der Mann senkte den Blick auf sein Rätsel und nickte. »Stimmt, das würde passen. Ist das ein Name? Nie gehört.«

»Temperance Brennan. Sie zieht alle möglichen Schlüsse aus den Knochen von Toten. Sie ist die Heldin aus Bones – Die Knochenjägerin. Das ist eine ausländische Fernsehserie.«

Der Mann runzelte die Stirn und warf aus irgendeinem Grund einen Blick auf das Titelblatt seiner Zeitschrift. »Sie ist also eine fiktive Figur? Wieso kommt so was im Kreuzworträtsel einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift vor? Das ist unfair«, murrte er.

Kyohei setzte sich dem Mann gegenüber, der nun ohne ein weiteres Wort mit seinem Kreuzworträtsel fortfuhr. Sein Kugelschreiber glitt rasch über das Papier, offenbar hatte er seine Blockade überwunden.

Er streckte die Hand nach der Plastikflasche mit grünem Tee neben sich aus. Erst als er sie anhob, schien er sich zu erinnern, dass sie leer war, und stellte sie wieder ab.

Kyohei hielt ihm seine noch halbvolle Wasserflasche hin. »Möchten Sie?« Nach einem verdutzten Blick schüttelte der Mann kurz den Kopf.

Etwas enttäuscht schickte Kyohei sich an, seine Flasche in den Rucksack zu packen. »Trotzdem vielen Dank«, sagte der Mann. Als Kyohei aufschaute, begegneten sich zum ersten Mal ihre Augen. Hastig senkte der Mann den Kopf.

Mittlerweile näherten sie sich Harigaura, und Kyohei zog seinen Straßenplan aus der kurzen Hose. Es war die Kopie einer Karte, auf der die Pension Grüner Felsen markiert war. Seine Verwandten hatten sie gestern gefaxt.

Kyohei war zwar vor zwei Jahren schon einmal mit seinen Eltern in Harigaura gewesen, allerdings waren sie nicht mit dem Zug, sondern mit dem Auto gefahren. Den Weg vom Bahnhof zur Pension kannte er also noch nicht.

»Übernachtest du dort ganz allein?«, fragte der Mann. Vermutlich fand er das ungewöhnlich für einen Grundschüler.

»Die Pension gehört meinem Onkel und meiner Tante«, sagte Kyohei.

Der Mann nickte. »Ach so. Und wie ist es da so?«

»Wie ist was?«

»Ich meine, ist die Pension neu und sauber, hat sie eine schöne Aussicht und eine gute Küche? Zeichnet sie sich durch irgendetwas Besonderes aus?«

Kyohei zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht mehr so genau, ich war bisher nur ein Mal dort. Aber das Haus ist total alt. Und weil es nicht direkt am Meer liegt, ist die Aussicht nicht so toll. Das Essen war, glaube ich, normal.«

»Verstehe. Darf ich mal sehen?«

Der Mann schrieb Telefonnummer und Adresse in eine Ecke seiner Zeitschrift und riss sie ab. »Wie heißt sie? Grüner Felsen?«, fragte er.

»Ja, genau. Vor der Pension gibt es einen großen Felsen, auf dem der Name steht.«

»Aha. Danke dir.« Der Mann gab ihm die Karte zurück.

Kyohei faltete sie und steckte sie wieder in seine Hosentasche. Als der Zug aus dem nächsten Tunnel fuhr, war ihm, als wäre das Meer um eine Nuance blauer geworden.

Kapitel 2

Narumi Kawahata hatte gerade ihre Turnschuhe angezogen, als die alte Wanduhr halb zwei schlug. Mit dem Fahrrad brauchte sie etwa fünfzehn Minuten bis zum Bürgerhaus, pünktlich zum letzten Treffen mit ihren Freunden.

»Mama, ich geh jetzt«, rief sie über die Empfangstheke, hinter der sich, abgetrennt durch einen langen Vorhang, die Küche befand.

Setsuko streckte den Kopf, der mit einem Tuch umwickelt war, durch den Vorhang. Offenbar war sie beim Kochen. »Wann kommst du wieder?«

Narumis Mutter war um die fünfzig und hatte für ihr Alter ein sehr glattes Gesicht. Ihre Tochter fand, sie könnte zehn Jahre jünger aussehen, wenn sie sich richtig schminken würde. Aber Setsuko hatte kein Interesse daran, sich zurechtzumachen, nur im Sommer konnte sie sich zu einer Sonnencreme und ein wenig Make-up durchringen.

»Keine Ahnung, ungefähr in zwei Stunden«, erwiderte Narumi. »Heute reist jemand an, oder? Weißt du schon, um wie viel Uhr?«

»Nein, nicht genau, aber zum Abendessen will er da sein.«

»Gut, bis dahin bin ich zurück.«

»Außerdem kommt heute Kyohei.«

»Ach so, ja. Allein, oder?«

»Sein Zug müsste gleich ankommen.«

»Alles klar. Ich schaue am Bahnhof vorbei und zeige ihm den Weg, damit er sich nicht verläuft.«

»Das wäre schön. Mein Bruder wäre bestimmt nicht erfreut, wenn sein Sohn verlorenginge.«

Narumi dachte, dass das in einem so winzigen Ort kaum möglich wäre, aber sie nickte. Draußen strahlte die Sonne gleißend, die polierte Obsidian-Tafel mit dem Namen der Pension, die neben dem Eingang stand, blitzte in ihrem Licht.

Narumi schlang ihre Umhängetasche um die Schulter, stieg auf ihr Rad und fuhr in Richtung Bahnhof. Die Gegend war hügelig, und die Pension Grüner Felsen lag auf einer Anhöhe, sodass es zum Bahnhof nur bergab ging.

Sie brauchte weniger als fünf Minuten. Der Zug schien gerade angekommen zu sein, denn es kamen bereits Leute die Treppe herunter. Es waren kaum zehn Personen.

Unter ihnen war ein Junge in einem roten T-Shirt und Khakishorts, der einen Rucksack bei sich trug. Sein etwas mürrischer Gesichtsausdruck kam ihr bekannt vor, dennoch zögerte Narumi kurz, bevor sie ihn ansprach. Was daran lag, dass er viel größer war als vor zwei Jahren und sich außerdem mit dem Mann neben ihm unterhielt. Ihre Mutter hatte doch gesagt, Kyohei komme allein.

Aber bei dem Jungen handelte es sich eindeutig um Kyohei, der Narumi kurz darauf ebenfalls bemerkte. Er sagte etwas zu dem Mann und lief dann eilig auf sie zu. »Hallo, Narumi, da bin ich.«

»Hallo, Kyohei. Du bist ja groß geworden!«

»Kann sein.«

»Du gehst ja auch schon in die fünfte Klasse.«

»Bist du extra gekommen, um mich abzuholen, Narumi-chan?« Der Junge blinzelte zu ihr auf. Dass ihr fast zwanzig Jahre jüngerer Cousin sie mit der Koseform chan ansprach, als wäre sie ein kleines Mädchen, fühlte sich ein wenig seltsam an. Aber das machte er wahrscheinlich nur, weil seine Eltern so von ihr sprachen.

»Ich wollte sichergehen, dass du gut angekommen bist. Ich muss auch gleich weiter, aber den Weg zur Pension zeige ich dir noch.«

Der Junge winkte ab. »Nicht nötig. Ich habe ja die Karte, außerdem war ich doch schon mal hier. Es geht einfach die Straße rauf, oder?« Er deutete auf den Hang vor ihnen.

»Genau. Vor dem Haus liegt ein großer Fels mit dem Namen drauf.«

»Ja, ich weiß.«

»Sag mal, Kyohei. Kennst du eigentlich den Mann, mit dem du eben gesprochen hast?« Narumi blickte in Richtung des Mannes, der ein Stückchen entfernt von ihnen in sein Handy sprach.

»Nein, er war nur mit mir im Zug.«

»Aha. Du hast also mit einem Fremden geredet?« Der Mann wirkte nicht sonderlich verdächtig, dennoch sollten Kinder sich nicht von Fremden ansprechen lassen.

»So ein komischer Opa hat mit mir gemeckert, und er hat mir geholfen.«

»Verstehe.« Narumi fragte sich, weshalb der alte Mann wohl mit Kyohei geschimpft hatte. Aber egal, jetzt war er jedenfalls in Sicherheit.

»Also, ich geh dann mal«, sagte Kyohei.

»Pass auf dich auf. Wir sehen uns später.«

Kyohei nickte und machte sich auf den Weg den Hang hinauf. Narumi sah ihm kurz nach, bevor sie sich auf ihr Rad schwang. Derweil ging der fremde Mann hinüber zum Taxistand. Pech für dich, dachte Narumi. Taxis gab es am Bahnhof nur, wenn ein Zug eintraf, und auch dann nur zwei oder drei. Wenn alle unterwegs waren, musste man mindestens dreißig Minuten warten, bis wieder eins kam.

Beschwingt radelte Narumi an der Eisenbahnlinie die Küste entlang. Es störte sie nicht, dass der salzige Wind ihr das Haar zerzauste. Seit etwa zehn Jahren trug sie es kurz. Und wenn ihr danach war, ging sie nach dem Baden im Meer auch mal, ohne zu duschen, in eine Kneipe, um ein Bier zu trinken. Eigentlich stand es ihr also nicht zu, die Nase über ihre Mutter zu rümpfen, weil die sich nicht schminkte.

Irgendwann führte der Weg vom Meer fort und einen leichten Hang hinauf. Dort gab es ein Einkaufszentrum und eine Bank, was der Umgebung ein etwas städtischeres Flair verlieh. Unweit lag ein graues Gebäude, das Bürgerhaus, in dem heute eine wichtige Anhörung stattfinden sollte.

Nachdem Narumi ihr Fahrrad abgestellt hatte, sah sie sich um. Auf dem Parkplatz stand ein Reisebus. Sie trat näher heran und las die Aufschrift: DESMEC – die offizielle Abkürzung für Deep Sea Metals Corporation.

Der Bus war leer, also waren die Insassen bereits im Bürgerhaus. Narumi steuerte auf den Eingang zu, wo ein städtischer Beamter die Ankömmlinge kontrollierte. Sie zeigte ihm ihren Teilnehmerausweis und betrat das Foyer, in dem sich bereits eine größere Anzahl von Menschen versammelt hatte. Als sie sich umschaute, rief jemand ihren Namen.

Es war Motoya Sawamura, der jetzt mit großen Schritten auf sie zukam. Er hatte bis vor kurzem eine Stelle in Tokio gehabt, war aber im Frühjahr in seinen Heimatort Harigaura zurückgekehrt, um im Elektrogeschäft seiner Familie auszuhelfen. Nebenher arbeitete er als freier Journalist. Sein Gesicht und die Arme, die aus seinem Hemd hervorschauten, waren sonnengebräunt.

»Du kommst spät. War was?«, fragte er.

»Tut mir leid. Wo sind die anderen?«

»Alle schon da. Dort drüben.«

Narumi folgte Sawamura in einen der vom Foyer abgehenden Räume, in dem bereits einige vertraute Gesichter warteten. Etwa die Hälfte der Leute war in Narumis Alter, der Rest in den Vierzigern oder Fünfzigern. Sie gehörten verschiedenen Berufsgruppen an, stammten aber alle aus Harigaura. Einige von den Jüngeren kannte sie von früher, aber die meisten hatte sie erst in der Bürgerinitiative kennengelernt.

Sawamura holte Luft und blickte in die Runde.

»In dem Material, das ich verteilt habe, steht alles, was wir herausgefunden haben. Vermutlich wird ihnen das nicht passen. Bitte denkt noch einmal über entsprechende Argumente nach. Wirklich zur Sache geht es dann aber erst morgen. Heute hören wir uns erst mal an, was die von DESMEC zu sagen haben. Am Abend halten wir dann noch einmal Kriegsrat. Habt ihr Fragen?«

»In deinem Material steht nichts über die finanzielle Seite«, sagte ein Mann, der Sozialkunde an der Mittelschule unterrichtete. »Die heben bestimmt erst mal die immensen wirtschaftlichen Vorteile hervor, die das Projekt für die Gemeinde haben würde.«

Sawamura lächelte. »Aber die Argumentation ist doch so löchrig, darauf kann man überhaupt nichts geben. Und die Geschichte ändert sich alle fünf Minuten, je nachdem, wer redet. Klar wird DESMEC wieder die finanziellen Vorteile auf den Tisch bringen, aber das glaubt denen doch sowieso niemand.«

»Außerdem«, schaltete Narumi sich ein, »geht es hier nicht um Geld, sondern um den Schutz unseres Meeres. Ist der Meeresboden einmal zerstört, helfen auch keine zig Millionen Yen mehr.«

Ihr Ton war so bestimmend, dass der Sozialkundelehrer nur noch hilflos die Achseln zucken konnte.

Es klopfte, die Tür ging auf, und ein jüngerer Beamter von der Stadt streckte den Kopf in den Raum. »Es wird Zeit. Kommen Sie bitte in den Vortragssaal.«

»Gehen wir«, sagte Sawamura mit kämpferischer Stimme, und alle folgten seinem Befehl.

Die Sitze im Saal waren tribünenartig angeordnet. Etwa vier- bis fünfhundert Personen konnten dort Platz finden. Man hatte ihn für größere Veranstaltungen vorgesehen, aber soweit Narumi sich erinnern konnte, hatte es bisher keinen einzigen prominenten Redner nach Harigaura verschlagen.

Sie setzten sich ganz nach vorn. Narumi legte ihr Material vor sich auf das Pult, bereit, sich Notizen zu machen. Neben ihr saß Sawamura und überprüfte sein Aufnahmegerät.

Allmählich füllte sich der Saal. Auch der Bürgermeister und mehrere Beamte aus dem Rathaus waren gekommen. Außer Einwohnern von Harigaura saßen auch eine ganze Menge Leute aus benachbarten Ortschaften im Publikum. Die Angelegenheit zog weite Kreise, dennoch wusste kaum jemand Genaueres.

Als Narumi ihren Blick über die Teilnehmer schweifen ließ, begegneten ihre Augen denen eines über sechzigjährigen Mannes mit ergrautem Mittelscheitel. Er trug ein weißes Hemd mit Reverskragen. Er nickte ihr kurz zu und lächelte. Sie nickte zurück und fragte sich, wer das wohl sein mochte.

Auf der Bühne standen ein schmaler Konferenztisch mit Namensschildern und einige Klappstühle. Die meisten Diskutanten waren von DESMEC, aber auch ein unabhängiger Meeresforscher und ein Physiker sollten zu Wort kommen. Hinter der Bühne hing eine große Leinwand.

Die Tür zum Saal öffnete sich, und eine Reihe Männer in Anzügen mit undurchdringlichen Gesichtern trat ein. Ein städtischer Beamter geleitete sie stumm zu ihren Plätzen auf der Bühne.

Der Moderator, ein etwa dreißigjähriger Mann mit Brille, ergriff das Mikrofon. »Es wird Zeit, fangen wir an. Es fehlt zwar noch jemand, aber er wird sicher gleich kommen …«, sagte er, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein Mann, das Jackett über dem Arm, im Eilschritt die Bühne erklomm. Überrascht erkannte Narumi in ihm den Fremden vom Bahnhof, mit dem Kyohei gesprochen hatte.

Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Wahrscheinlich hatte er kein Taxi gefunden und war den ganzen Weg zu Fuß gegangen.

Der Mann setzte sich hinter das Namensschild mit der Aufschrift PROF. DR. MANABU YUKAWA – AUSSERORDENTLICHER PROFESSOR AM FACHBEREICH PHYSIK DER KAISERLICHEN UNIVERSITÄT.

»Da wir nun vollzählig sind, lassen Sie uns beginnen«, setzte der Moderator wieder an. »Ich möchte Sie herzlich zu unserer Anhörung über die Erschließung von Rohstoffen auf dem Meeresboden vor der Küste von Harigaura begrüßen. Mein Name ist Kuwano, ich leite die Presseabteilung der Firma DESMEC. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse an unserem Projekt. Im Folgenden werden unsere Techniker und Ingenieure Ihnen einen Überblick zum Thema Meeresbergbau geben.«

Ein Mann, seinem Namensschild zufolge Leiter der technischen Abteilung der Firma, erhob sich, während im Raum das Licht ausging. Auf der Leinwand erschien in großen Lettern der Titel ERSCHLIESSUNG VON ROHSTOFFEN IN DER TIEFSEE.

Narumi setzte sich kerzengerade auf, um ja kein Wort zu verpassen. Es war ihre Aufgabe, das Meer zu schützen. Denn eines war klar, die Ausbeutung der Rohstoffe in seiner Tiefe würde seine natürlichen Schätze unwiederbringlich zerstören.

In diesem Sommer hatte ein Bericht der Kommission für die Erschließung natürlicher Energiequellen des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie in Harigaura und den umliegenden Gemeinden für Aufsehen gesorgt. Die Region einige Kilometer südlich, so hieß es, sei besonders geeignet für die Prüfung der wirtschaftlichen Rentabilität einer Erschließung hydrothermaler Erzlagerstätten.

Die Erze fanden sich in Gesteinsbrocken, die sich auf dem Meeresgrund um die dortigen heißen Quellen abgelagert hatten. Zu ihnen gehörten Kupfer, Blei, Zink, Gold und Silber sowie ergiebige Vorkommen an seltenen Halbleitern, wie Germanium und Gallium. Könnte man diese Metalle abbauen, würde Japan schlagartig von einem der rohstoffärmsten Länder der Welt zu einem der reichsten. Wenig überraschend war die Regierung deshalb mehr als offen dafür, eine Menge Kapital in die Entwicklung der notwendigen Technologie unter der Führung der Firma DESMEC zu investieren.

Dass sich diese Lagerstätten in einer vergleichsweise geringen Tiefe von achthundert Metern befanden, machte sie besonders attraktiv, da dies natürlich einen leichteren und damit kostengünstigeren Abbau ermöglichen würde. Die Nähe zur Küste erhöhte die Rentabilität zusätzlich.

Als das Vorhaben bekannt wurde, brach in Harigaura und den umliegenden Ortschaften große Aufregung aus, nicht etwa jedoch aus Zorn über den damit womöglich verbundenen zerstörerischen Einfluss auf die Ökologie des Meeresbodens. Vielmehr erhoffte sich die Mehrheit der Bewohner davon einen wirtschaftlichen Aufschwung für die Region.

Kapitel 3

Kyohei hatte nicht mehr gewusst, dass die Straße zur Pension so steil war. Ermattet blieb er stehen und schaute sich um. Bei seinem letzten Besuch war er oft unten am Strand gewesen, aber damals hatte sein Vater ihn immer gefahren. Es war das erste Mal, dass er den Weg zu Fuß zurücklegte.

Die Umgebung schien sich in den vergangenen zwei Jahren nicht verändert zu haben. Unten am Hang lag ein großes Gebäude. Das Dach und die Mauern waren grau und dreckig, und von dem großen Schild, auf dem der Name stand, war die Farbe abgeblättert. Als sie beim letzten Mal daran vorbeigefahren waren, hatte Kei’ichi das Wort »Ruine« benutzt und seinem Sohn auch gleich das komplizierte Zeichen dafür erklärt. Früher sei das Gebäude ein prächtiges Hotel gewesen, aber inzwischen übernachte dort niemand mehr.

»Warum nicht?«, hatte Kyohei gefragt.

»Wahrscheinlich, weil es seinen Preis nicht mehr wert war.«

»Sie hätten es doch billiger machen können.«

»Schon, aber mittlerweile gibt es attraktivere Reiseziele«, hatte sein Vater nach kurzer Überlegung gesagt.

»Welche denn?«

»Disneyland oder Hawaii zum Beispiel.«

Kyohei war noch nie auf Hawaii gewesen, aber Disneyland war auf jeden Fall Spitze. Keiner seiner Freunde kannte Harigaura, und keiner hatte ihn um seine Reise beneidet, als er davon erzählte. In solch trübe Gedanken versunken stapfte Kyohei den Hang hinauf. Warum baute überhaupt jemand in so einem Kaff ein luxuriöses Hotel? Ob früher wirklich so viele Touristen hierhergekommen waren?

Endlich tauchte die Pension vor ihm auf. Sie war höchstens ein Viertel so groß wie die Ruine, aber mindestens ebenso alt. Seit Kyoheis Onkel Shigehiro sie vor fünfzehn Jahren von seinem Vater übernommen hatte, war nichts renoviert worden. »Die könnten eigentlich zumachen, in der Bude steigen doch sowieso keine Gäste ab«, pflegte Kei’ichi zu sagen.

Kyohei schob die Tür auf und trat ein. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, und es war angenehm kühl. »Hallo?«

Der Vorhang hinter der Theke bewegte sich, und seine Tante Setsuko kam hervor. »Wie schön, Kyohei, da bist du ja. Nein, was bist du groß geworden!«, sagte sie, genau wie vorhin Narumi. Offenbar dachten sie, ein Kind freue sich, wenn man ihm sagte, es sei groß geworden.

Kyohei verbeugte sich. »Vielen Dank, dass ich herkommen durfte, Tante Setsuko.«

Setsuko lächelte verlegen. »Was redest du da? Wir sind doch keine Fremden. Komm erst mal rein.«

Kyohei zog die Schuhe aus und schlüpfte in ein Paar von den Schlappen, die für die Gäste bereitstanden. Die Pension war nicht groß, hatte aber ein richtiges Foyer, in dem sogar ein Rattansofa stand.

»Es ist heiß draußen, was? Ich hole dir erst mal was Kaltes zu trinken. Möchtest du Saft oder Tee? Wir haben auch Cola.«

»Dann Cola.«

»Kommt sofort.« Setsuko hob zwei Finger zum Victory-Zeichen und verschwand hinter der Theke.

Kyohei nahm seinen Rucksack ab und ließ sich auf dem Sofa nieder. Ziellos schaute er sich um. Ein Gemälde, das vermutlich des Meer vor Harigaura darstellte, zierte die Wand. Daneben hing eine illustrierte Karte mit den regionalen Sehenswürdigkeiten. Allerdings war sie derart verblichen, dass darauf kaum noch etwas zu erkennen war. Die alte Wanduhr stand auf zwei Uhr nachmittags.

»Oho!«, ertönte die raue Stimme seines Onkels Shigehiro, der jetzt den Gang entlanggehumpelt kam. »Kyohei, mein Junge! Da bist du ja!«

Auch der Onkel hatte sich in den letzten beiden Jahren kaum verändert, er war noch immer rundlich wie Bodhidharma. Nur sein Haar war inzwischen so schütter, dass man fast von einer Glatze sprechen konnte. Und er ging am Stock. Kyohei erinnerte sich, dass sein Vater gesagt hatte, Shigehiros Knie könnten sein Gewicht nicht mehr tragen.

Kyohei stand auf, um ihn zu begrüßen.

»Bleib sitzen. Dein Onkel setzt sich zu dir.« Shigehiro ließ sich lachend auf einen Rattansessel fallen. Jetzt sah er aus wie Ebisu, der Glücksgott. »Und? Wie geht es deinen Eltern?«

»Gut«, antwortete Kyohei. »Sie haben nur viel zu tun.«

»Ist doch prima, wenn die Geschäfte laufen.«

Setsuko kam mit einem Tablett, auf dem eine Teekanne und drei Gläser standen. In einem davon war Cola.

»Ich will auch Cola«, sagte Shigehiro.

»Kommt nicht in Frage, du musst auf deinen Zucker achten.« Setsuko schenkte ihm Gerstentee aus der Kanne ein.

Kyohei war so durstig, dass ihm die Cola doppelt köstlich erschien.

Setsuko war die ältere Schwester seines Vaters, sie hatten jedoch verschiedene Mütter. Kyohei hatte gehört, Setsukos Mutter sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als sie noch klein war. Danach hatte der Vater wieder geheiratet, und Kei’ichi war geboren worden. So kam es, dass Setsuko neun Jahre älter war als Kyoheis Vater.

»Ich habe Narumi am Bahnhof getroffen. Sie sagte, sie hat noch etwas vor.«

»Was denn?«, fragte Shigehiro, offenbar ahnungslos.

»Du weißt schon. Diese Sache, wo sie Gold und Silber aus dem Meer holen wollen.«

»Ach, dieser Quatsch wieder.« Shigehiro schien nicht sonderlich beeindruckt. »Als gäbe es so was. Das sind doch Hirngespinste.«

»Wer weiß?« Setsuko wiegte den Kopf. »Narumi macht sich wirklich Sorgen, dass das Meer völlig verschmutzt wird, wenn sie damit anfangen.«

»Damit hat sie ja auch recht«, erklärte Shigehiro mit ernster Miene und trank von seinem Gerstentee.

»Ach, da fällt mir ein …« Kyohei öffnete seinen Rucksack und holte ein Päckchen hervor. »Fast hätte ich es vergessen. Mama hat mir ein Geschenk für euch mitgegeben.«

»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, wehrte Setsuko lächelnd ab und machte sich sofort daran, es auszupacken. »Oh, das ist ja Rindfleisch nach Tsukudani-Art aus diesem berühmten Spezialitätengeschäft. Ich muss mich unbedingt gleich bei ihr bedanken.«

Kyohei trank seine Cola aus, und seine Tante Setsuko fragte ihn, ob er gern noch mehr hätte. Als er bejahte, nahm sie sein leeres Glas entgegen. Seine Mutter hätte sofort gesagt, er solle es sich selbst holen.

Vielleicht war es also doch gar nicht so schlecht, den Rest der Sommerferien hier zu verbringen.

Kapitel 4

Ein Vertreter der Erschließungsfirma DESMEC erhob sich, um die künftigen Pläne zu erläutern. Zunächst würde man den Meeresboden untersuchen, um die Ergiebigkeit der verschiedenen Lagerstätten sowie ihren Metallgehalt zu überprüfen. Parallel dazu würde geforscht, um die Technologie für den Abbau zu verbessern. In diesem Bereich seien hohe Investitionen vorgesehen. In spätestens zehn Jahren wolle man auf einem technischen Stand sein, der einen gewinnbringenden Abbau ermögliche.

Narumi war erleichtert. Wenigstens schwadronierte er nicht schönfärberisch von einer neuen Industrialisierung, die den umliegenden Gemeinden Fortschritt und Wohlstand bringen würde. Tatsächlich wies er sogar auf die vielen noch offenen Fragen hin, was auf eine gewisse Sorgfalt und Vorsicht schließen ließ.

Trotzdem, der Slogan von den »Rohstoffen aus dem Meer« klang noch immer zu schön, um wahr zu sein. Den Bewohnern der Region, die schon lange von einem Strukturwandel träumten, musste es vorkommen, als tauche wie aus dem Nichts die langersehnte Rettung auf. Denn Harigaura befand sich aufgrund des stetig nachlassenden Tourismus, der einst die größte Einnahmequelle des Ortes war, seit Jahren im Niedergang.

Dennoch wäre es viel zu riskant, einer unbekannten Technologie unbesehen Tür und Tor zu öffnen. Harigauras Schicksal stand und fiel mit dem Meer. Man durfte seine Schönheit auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Das Meer zu opfern, um die Stadt zu retten, wäre ein Widerspruch in sich.

Doch Narumi wusste, dass sie allein nichts ausrichten konnte. Deshalb hatte sie einen Blog ins Leben gerufen, in dem sie für den Schutz des Meeres vor Harigaura eintrat, woraufhin sie eine Mail von Sawamura erhielt, der sich als freier Journalist schwerpunktmäßig mit dem Thema Umweltschutz beschäftigte. Mit einigen Gleichgesinnten hatte er eine Bürgerinitiative gegründet und fragte Narumi in der Mail, ob sie sich nicht anschließen wolle. Was sie sofort tat, denn schließlich hatte sie den Schutz des Meeres zu ihrem Lebensinhalt gemacht.

Tagelang recherchierten sie und tauschten Informationen aus. Sawamura kündigte seine Wohnung in Tokio und zog wieder zu seinen Eltern, um vor Ort zu sein. Er war so gut vernetzt, dass sich eine Menge Leute ihrer Sache anschloss. Die Warnung vor einer Zerstörung des maritimen Ökosystems rief vor allem einheimische Fischer auf den Plan. Immer mehr von ihnen nahmen an den Versammlungen der Bürgerinitiative teil.

So kam endlich auch Bewegung in die zuständigen Regierungsstellen. Das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie wies die mit dem Rohstoffabbau in der Tiefsee befassten Firmen an, eine Anhörung für die betroffenen Gemeinden abzuhalten.

Und diese Anhörung fand nun statt. Sie war eine ausgezeichnete Gelegenheit für die Bürgerinitiative, ihren Standpunkt darzulegen, und ganz in Narumis Sinn, die fest entschlossen war, vehement für ihre Ziele einzutreten.

Die Ingenieure von DESMEC hatten noch immer das Wort. Es wurde ausführlich erklärt, welche Maßnahmen zum Schutz der Umwelt geplant seien. Aber so wie Narumi das sah, waren diese nicht sehr überzeugend.

Nach den etwa zweistündigen Ausführungen der Firma durften nun endlich Fragen gestellt werden.

Sawamura hob sofort die Hand und nahm das Mikrofon entgegen. »Wie der Begriff schon sagt, bilden sich sogenannte hydrothermale Erzlagerstätten um heiße Quellen auf dem Meeresboden. Diese Quellen verfügen über besonders empfindliche Ökosysteme mit zahlreichen Lebewesen, die sich nirgendwo sonst finden lassen und auch nirgendwo anders leben können. Sie sprachen davon, die möglichen Auswirkungen des Abbaus im Vorfeld zu klären und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Doch die Flora und Fauna um diese unterseeischen heißen Quellen wird zwangsläufig sterben. In der Tiefsee leben Organismen, die Jahre brauchen, um eine Größe von gerade mal zehn Zentimetern zu erreichen. Vernichten kann man sie jedoch in einem einzigen Augenblick. Ich würde also gern von Ihnen hören, wie Sie diese Lebewesen schützen wollen?«

Der Projektleiter erhob sich. »Ich stimme Ihnen zu. Es wird unvermeidlich sein, dass ein Teil der dort unten lebenden Spezies Schaden erleidet. Deshalb schlagen wir vor, eine genetische Datenbank anzulegen, um ihren Erhalt zu sichern. Das heißt, wir werden die Gene der um die hydrothermalen Lagerstätten lebenden Organismen analysieren und prüfen, ob sie auch anderswo auf dem Meeresgrund existieren. Entdecken wir dabei eine rein endemische Art, werden wir alles tun, um diese vor dem Aussterben zu bewahren. Wie genau das zu geschehen hat, wird von der fraglichen Spezies abhängen.«

Sawamura sprach erneut ins Mikrofon. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie es in Ordnung finden, dort beheimatete Lebewesen zu vernichten, solange es sie noch irgendwo anders gibt?«

Der Projektleiter runzelte verdrossen die Stirn. »Im Grunde, ja.«

»Aber können Sie tatsächlich die genetischen Daten jeder einzelnen dort lebenden Spezies ermitteln? Wir wissen nicht gerade viel über die Habitate in der Tiefsee. Wie wollen Sie herausfinden, welche Arten es dort genau gibt? Haben Sie überhaupt die Möglichkeit dazu? Wie stellen Sie sich das vor?«

»Wir werden alles tun, was nötig ist«, sagte der Projektleiter.

»Das funktioniert nicht«, ließ sich eine andere Stimme vom Podium vernehmen. Die übrigen Männer schauten sich um.

»So geht das nicht«, erklärte der Physiker Yukawa entschieden. »Nicht einmal Spezialisten auf dem Gebiet der Tiefseeforschung sind vollständig mit der Artenvielfalt auf dem Meeresboden vertraut. Sie sollten schon ehrlich zugeben, dass so etwas unmöglich ist.«

Der Projektleiter schwieg betreten. Der Moderator streckte die Hand nach seinem Mikrofon aus, aber Yukawa war schneller. »Bei dem Abbau von Rohstoffen auf dem Meeresboden sind ökologische Schäden unvermeidlich. Das ist nicht anders als an Land. Wir Menschen müssen uns daher entscheiden, was unsere Prioritäten sind.« Yukawa legte das Mikrofon beiseite und schloss die Augen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, doch das schien ihn nicht zu kümmern.

Es war nach halb fünf, als Narumi mit Sawamura das Bürgerhaus verließ.

»Das lief ja fast wie erwartet. Immerhin haben sie sich nicht ganz so aufgeblasen, wie wir befürchtet haben«, sagte Sawamura.

»Ich fand auch, das klang alles verhältnismäßig objektiv. Als wollte DESMEC erst einmal vorfühlen. Sonst hätten sie sicher nicht von den geplanten Umweltschutzmaßnahmen gesprochen.«

»Da mach dir mal nicht allzu viele Hoffnungen. Wenn es erst mal ums Geschäft geht, legen sie los, ohne Rücksicht auf Verluste. Umweltschutz ist da zweitrangig. Das war noch immer so. Denk nur an die Atomkraft. Wir dürfen uns auf keinen Fall einwickeln lassen.«

Narumi nickte. Er hatte recht. Kurzzeitig hatte ihr die Anhörung irgendwie das Gefühl gegeben, etwas erreicht zu haben, aber ihr Kampf fing jetzt erst richtig an.

»Aber dass die sogar Leute ankarren wie diesen Professor, der ihnen offen widerspricht und sagt, sie sollen bei der Wahrheit bleiben, das hat mich schon beeindruckt.«

Sawamura verzog verächtlich den Mund. »Der ist doch nur ein Alibi.«

»Findest du? Auf mich hat er nicht wie eine Marionette gewirkt. Ein Politiker würde jedenfalls nie so reden.«

»Mag sein«, pflichtete Sawamura ihr missmutig bei. Offenbar widerstrebte es ihm, die Gegenseite zu loben.

Kurz darauf trennten sich ihre Wege.

»Also dann bis heute Abend«, sagte Sawamura zu seinen Freunden. Sie wollten sich nach dem Abendessen noch einmal treffen, um sich auf die Sitzung am nächsten Tag vorzubereiten.

Narumi stieg auf ihr Rad, winkte den anderen zu und trat in die Pedale.

Ab dem Bahnhof ging sie zu Fuß. Es war bequemer, das Rad den Hang hinauf zu schieben.

Unterwegs wurde sie von einem Taxi überholt, das oben vor der Pension anhielt. Vermutlich der Gast, der für die Nacht reserviert hatte.

In letzter Zeit hatten sie häufiger nur eine einzige Reservierung, und selbst im Sommer hatte sich die Zahl der Gäste nicht vermehrt. Im Grunde wurden es von Jahr zu Jahr weniger. Und das betraf nicht nur den Grünen Felsen. In ganz Harigaura lag der Tourismus darnieder, immer mehr Hotels und Pensionen mussten schließen. Narumi wusste, dass es auch bei ihnen nur noch eine Frage der Zeit war. Schon jetzt konnten sie es sich kaum leisten, außerhalb der Hochsaison zusätzliches Personal anzuheuern. Setsuko und Shigehiro, der unter schlimmen Kniebeschwerden litt, konnten die Pension eigentlich nur noch halten, eben weil sie so wenig Gäste hatten.

Das Taxi kam Narumi wieder entgegen. Sie kannte den Fahrer, der ihr im Vorüberfahren zunickte, wie es das nur in kleinen Ortschaften gab.

Als sie in der Pension ankam, war ein Mann gerade dabei, sich ins Gästebuch einzutragen. Ihre Mutter Setsuko kümmerte sich um ihn. Als er sich umdrehte, sah Narumi zu ihrer Überraschung, dass es der ältere Herr mit dem Reverskragen von der Anhörung war. Sein herzliches Lächeln vermittelte ihr den Eindruck, dass er sie erwartet hatte.

»Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.« Setsuko trat mit dem Schlüssel in der Hand hinter der Theke hervor. Der Mann folgte ihr schweigend, in der Hand seine kleine Reisetasche.

Als die beiden verschwunden waren, ging Narumi hinter die Theke und las seinen Eintrag im Gästebuch. Er hieß Masatsugu Tsukahara. Der Name war ihr völlig unbekannt.

Sie brauchte sich wohl keine Gedanken zu machen. Bestimmt hatte er ihr nur aus Höflichkeit zugelächelt.

Als Adresse hatte er Saitama angegeben, was sie dann doch ein wenig verwunderte. Warum sollte jemand aus Saitama an dieser Anhörung teilnehmen?

»Hallo, Narumi-chan. Da bist du ja wieder.« Narumi blickte auf. In der offenen Tür neben ihr stand Kyohei.

»Oh, hallo. Warst du im Keller?«

»Ja, mit Onkel Shigehiro.«

Sie hörte den Stock ihres Vaters auf der Treppe zum Heizungskeller. Gleich darauf erschien er in der Tür. Das Treppensteigen fiel ihm sichtlich schwer. Wenn herauskäme, dass er es war, der den Boiler wartete, gäbe es wahrscheinlich Ärger mit der Feuerwehr.

»Ah, Narumi. Wie war die Anhörung?«, fragte Shigehiro.

»Nicht uninteressant. Morgen gibt es noch eine Diskussion. Da muss ich leider noch mal weg.«

»Mach nur, was du für richtig hältst, Kind.«

»Du bist in einer Umweltschutzgruppe, stimmt’s? Das finde ich super«, sagte Kyohei beeindruckt.

»So besonders ist das auch wieder nicht.«

»Und ob! Ihr rammt doch mit euren Schiffen die Walfänger, oder?«

Narumi lachte verblüfft. »Nein, Quatsch. Wir wollen verhindern, dass das Meer verschmutzt wird. Wenn die auf dem Meeresgrund Rohstoffe abbauen, schadet das nicht nur der Fischerei.«

»Ach so.« Kyohei wirkte enttäuscht. Er hatte wohl gehofft, seine Cousine mache Jagd auf Walfänger.

Setsuko kam zurück. »Der Gast von eben möchte um sieben Uhr zu Abend essen.«

Narumi sah auf die Uhr. Es war kurz vor fünf.

»Außerdem hat sich noch jemand angemeldet«, sagte Setsuko. »Als du weg warst. Ein einzelner Mann.«

Als Narumi gerade dachte, wie selten so etwas in letzter Zeit vorkam, wurde die Eingangstür aufgeschoben. »Guten Tag«, ertönte eine ihr bekannte Männerstimme. Erstaunt fuhr sie herum. Der Physikprofessor von der Anhörung stand in der Tür.

Kapitel 5

Die Pension Grüner Felsen verfügte im Erdgeschoss über ein paar separate Speisezimmer, die den Gästen beim Essen mehr Privatsphäre ermöglichten. Kyohei sollte eigentlich mit der Familie in dem kleinen Raum neben der Küche essen, aber als es sechs Uhr wurde, lungerte er vor einem der anderen Zimmer herum, weil er gehört hatte, dass dort dieser Professor Yukawa essen würde.

Die Tür war offen, und ein Servierwagen stand draußen im Flur. Anscheinend brachte Tante Setsuko ihm gerade sein Essen.

Kyohei spähte vorsichtig hinein. Der Raum hatte Platz für zehn Personen, aber Yukawa war allein. Er sah zu, wie Setsuko mehrere kleine Schalen vor ihm aufreihte.

»Ein paar Lokale wird es hier doch geben, die noch spätabends geöffnet haben?«, fragte Yukawa. Kyohei verstand nicht, worum es ging.

»Sie dürfen nicht vergessen, dass wir auf dem Land sind. Spät bedeutet hier ungefähr bis zehn oder halb elf. Aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein Lokal zeigen.«

»Das wäre sehr nett. Gehen Sie häufiger mal etwas trinken?«

»Nein, überhaupt nicht. Eigentlich fast nie«, erwiderte Setsuko.

Plötzlich sah Yukawa in Kyoheis Richtung. Als ihre Blicke sich begegneten, zuckte der Junge zusammen und verzog sich um die Ecke.

»Ist etwas?«, fragte Setsuko, die Kyohei nicht bemerkt hatte.

»Nein, gar nichts«, sagte Yukawa, während der Junge sich so leise wie möglich davonstahl.

Bald darauf saß Kyohei mit der Familie beim Abendessen. Da ihr Neffe nach so langer Zeit einmal wieder zu Besuch war, hatte Setsuko alle möglichen Fischgerichte aufgetischt.

»Iss nur ordentlich. Es wäre schlimm, wenn wir dich abgemagert zu deinen Eltern zurückschicken müssten.« Sein Onkel, dessen Bauch rund war wie eine Wassermelone, schob ihm den Teller mit Sashimi rüber.

»Außerdem hast du uns einen Gast vermittelt. Ich war ganz überrascht«, sagte Setsuko. Anscheinend hatte Yukawa ihr erzählt, dass er Kyohei begegnet war.

»Ich habe ihm nur die Karte gezeigt. Dann hat er sich die Nummer und so aufgeschrieben.«

»Das hast du gut gemacht. Bestimmt dachte er, eine Pension, in der man ein Kind allein übernachten lässt, kann man unbesorgt aufsuchen.«

Kyohei zuckte skeptisch mit den Schultern. Er konnte sich das kaum vorstellen.

Narumi zufolge war Yukawa Physikprofessor und wegen der Anhörung in Harigaura. Kyohei musste daran denken, wie er sein Handy in die Alufolie gewickelt hatte.

Gegen sieben stand Narumi auf. Sie hatte ein Treffen mit ihrer Umweltschutzgruppe. Kyohei beschloss, auf sein Zimmer zu gehen, um fernzusehen.

Als er vor dem Aufzug stand, ging die Tür auf und ein älterer Mann mit kurzem Haar stieg aus. Anscheinend war er gerade im Bad gewesen, denn er trug einen Yukata und sein Gesicht war rosig und glänzend. Nach einem neugierigen Blick auf den Jungen ging er in Richtung der Speiseräume davon.

Kyohei fuhr in den ersten Stock. Sein Zimmer war so groß, dass vier Personen darin übernachten konnten. Seine Tante hatte ihn besorgt gefragt, ob er sich in dem Zimmer nicht einsam fühlen würde. Aber er war ja kein kleines Kind mehr. So etwas machte ihm nicht das Geringste aus. Nachdem er eine Weile untätig auf den Tatami gelegen hatte, griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.

Etwa eine Stunde später zog er den Vorhang zurück, um aus dem Fenster zu sehen. Eigentlich hatte man von hier einen Blick aufs Meer, aber jetzt war es zu dunkel. In dem Moment hörte er, wie die Eingangstür aufgeschoben wurde und jemand nach draußen trat. Es waren Yukawa und Setsuko. Wohin sie um diese Zeit wohl noch gehen wollten? Von Shigehiro war nichts zu sehen.

Plötzlich klingelte das Zimmertelefon. Überrascht hob er ab. »Hallo?«

»Hier ist dein Onkel. Schläfst du schon, mein Junge?«, fragte Shigehiro.

»Nein. Ich habe ferngesehen.«

»Hättest du vielleicht Lust auf ein kleines Feuerwerk? Ich habe noch ein paar Raketen übrig.«

»Ja, klar!«

»Dann komm mal runter.«

»Bin gleich da.«

Als Kyohei im Erdgeschoss ankam, wartete sein Onkel schon im Vorraum, zu seinen Füßen ein Eimer und ein Karton.

»Alle sind weg, das ist die Gelegenheit«, sagte Shigehiro.

Kyohei spähte in den Karton. Es lagen nicht nur Raketen darin, sondern auch Kracher und alles Mögliche andere.

»Los geht’s. Kannst du den Karton tragen?« In der einen Hand den Eimer, in der anderen den Stock, humpelte Shigehiro vorwärts. Kyohei schnappte sich den Karton und folgte ihm.

Kapitel 6

Es war kurz vor neun, als Narumi mit Sawamura und den anderen ihren Treffpunkt verließ.

»Wie sieht’s aus? Wollen wir noch was trinken gehen?«, schlug Sawamura vor.

»Klar«, sagte jemand, und eine junge Frau schloss sich an.

»Was ist mit dir?«, wandte Sawamura sich an Narumi.

»Ja, aber nur kurz«, antwortete sie.

Sie verabschiedeten sich am Bahnhof von den anderen, die nach Hause wollten, und machten sich auf den Weg in ihre Stammkneipe am Hafen, die etwas länger geöffnet hatte.

Dort angekommen, sah Narumi ihre Mutter an der Mole stehen und rief ihren Namen.

Als Setsuko sich zu ihr umdrehte, sah sie aus, als müsse sie erst zu sich kommen. Unergründlich lächelnd überquerte sie die Straße.

»Guten Abend«, begrüßte sie Sawamura und die anderen, ehe sie sich an Narumi wandte. »Ist euer Treffen schon zu Ende?«

»Ja. Aber was machst du denn hier draußen?«

Setsuko deutete mit dem Kinn auf das Lokal. »Ich habe einen Gast begleitet. Herr Yukawa wollte noch etwas trinken.«

»Und du hast auch etwas getrunken, ja?«

»Nur ein klein wenig.« Setsuko hob Daumen und Zeigefinger.

»Schon wieder? Jedes Mal, wenn du einen Gast hierherbringst, machst du das.«

Seit es ihrem Vater körperlich schlechter ging, trank er keinen Alkohol mehr, aber Setsuko genehmigte sich gern hin und wieder einen Schluck. Auch wenn sie nicht ausging, trank sie meist einen Whisky vor dem Schlafengehen.

»Schon möglich. Aber du solltest nicht zu viel trinken, Narumi.«

»Das musst du gerade sagen, Mama.«

»Dann mache ich mich mal auf den Heimweg. Gute Nacht allerseits.« Setsuko nickte Sawamura und den anderen zu.

»Warten Sie. Ich fahre Sie«, sagte Sawamura nach einem Blick auf Narumi. »Ich bin mit unserem Kleinlaster hier. Er steht am Bahnhof. Ich fahre deine Mutter nach Hause und stelle ihn dann bei mir ab.«

»Machen Sie sich bitte keine Umstände.« Setsuko winkte ab.

»Das sind keine Umstände. Außerdem ist es da oben ziemlich dunkel, und steil ist es auch. Mit dem Auto sind es doch nur zwei Minuten.«

»Macht es Ihnen wirklich nichts aus? Das ist sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.«

»Nichts zu danken«, sagte Sawamura. »Bin gleich wieder da, Narumi.«

Nachdem Sawamura und Setsuko abgefahren waren, ging sie mit den anderen beiden in die Kneipe. Als sie sich umschaute, entdeckte sie Yukawa, der an einem Tisch in der Ecke saß, eine Zeitschrift las und einen regionalen Shochu mit Eis trank.

»Das ist doch der Professor von heute Nachmittag?«, flüsterte die Studentin.

»Stimmt, das ist er«, sagte ihr Begleiter.

Narumi erzählte den beiden, dass Yukawa Gast in ihrer Pension sei. Anschließend setzten sie sich an einen Tisch ein Stückchen entfernt von dem Professor, der weiter seine Zeitschrift las.

Nach etwa einer halben Stunde, in der sie Bier getrunken und sich unterhalten hatten, stand Narumi auf und ging zu ihm hinüber. »Guten Abend. Darf ich Sie kurz stören?«

Yukawa sah von der Zeitschrift auf und blinzelte. »Ja, bitte.« Er wirkte nicht im Geringsten überrascht. Offenbar hatte er die drei jungen Leute längst bemerkt.

»Sie sind mit meiner Mutter hierhergekommen?«

»Ja. Wir haben uns ein wenig unterhalten. Ich hoffe, das war in Ordnung?«

»Ja, selbstverständlich. Dürfte ich mich kurz zu Ihnen setzen?« Sie deutete auf den Stuhl ihm gegenüber.

»Natürlich. Aber sind Sie nicht mit Freunden hier?«

»Das ist schon in Ordnung.« Narumi warf einen Blick zu den beiden anderen hinüber, die in ein angeregtes Gespräch vertieft waren. »Ich glaube, sie kommen sehr gut ohne mich zurecht«, flüsterte sie vielsagend.

»Ich verstehe.«

Narumi rief den Wirt und bestellte sich ebenfalls einen Shochu mit Eis.

»Ihre Mutter erzählte mir, dass Sie bei der Anhörung waren.«

»Ja. Erinnern Sie sich an den Mann, der nach dem Erhalt der Organismen in der Tiefsee gefragt hat? Wir sind in einer Gruppe.«

»Ach ja«, antwortete Yukawa. »Dann richten Sie ihm bitte meine Entschuldigung aus. Tut mir leid, dass ich mich eingemischt habe.«

»Das können Sie ihm selbst sagen. Er wird gleich hier sein. Außerdem brauchen Sie sich gar nicht zu entschuldigen. Ihr Beitrag klang sehr ehrlich.«

»Vielleicht zu ehrlich. Ich kann einfach den Mund nicht halten, wenn ich solches Geschwafel höre.«

Der Wirt brachte Narumis Shochu. Yukawa erhob ganz selbstverständlich sein Glas, und sie stießen miteinander an.

»Ihrer Mutter zufolge sind Sie eine leidenschaftliche Aktivistin.«

»Ich tue nur, was ich tun muss.«

»Das heißt, Sie sind der Ansicht, man müsse etwas gegen die Unterwasserbohrungen unternehmen?«

»Ich bin nicht gegen den Fortschritt an sich, aber ich möchte die Natur schützen. Besonders das Meer.«

Yukawa ließ die Eiswürfel in seinem Glas klirren und nahm einen langsamen Schluck von seinem Schnaps, wie um Zeit zu gewinnen, Narumis Worte zu überdenken.

»Wie meinen Sie das? Ist das Meer denn so schwach, dass es von uns Menschen beschützt werden muss?«

»Wir Menschen haben es geschwächt. Im Namen von Wissenschaft und Fortschritt.«

Yukawa stellte sein Glas ab. »Wir dürfen es nicht aufgeben, meinen Sie das?«

»Sie wissen ja sicher, dass das Meer der Ursprung allen Lebens ist. Seit Jahrmillionen bringt es die verschiedensten Lebensformen hervor. Aber wussten Sie auch, dass sich allein in den letzten dreißig Jahren die Artenvielfalt im Meer um dreißig Prozent verringert hat? Das beste Beispiel sind die Korallenriffe.« Sie sprach jetzt flüssig wie bei einem Vortrag, denn sie hatte das Gleiche schon häufig erzählt.

»Und das ist die Schuld der Wissenschaft?«

»Waren es nicht Wissenschaftler, die die Atombombentests im Pazifik durchgeführt haben?«

Yukawa hob sein Glas. Doch bevor er von seinem Shochu trank, blickte er auf. »Sie haben wohl bereits entschieden, dass es sich bei der Erschließung der Tiefsee ebenfalls um einen Irrweg von uns Wissenschaftlern handelt. Mit anderen Worten, Sie glauben, die rücksichtslose Zerstörung des Meeresbodens sei uns egal.«

»Nein, ich glaube schon, dass Umweltschutz auch für Wissenschaftler eine Rolle spielt. Aber woher wollen wir wissen, was wir da lostreten? Die Wissenschaft hat auch nicht vorhergesagt, dass der Gebrauch von Erdöl zu einer Klimaerwärmung führen würde.«

»Deshalb brauchen wir die Forschung. DESMEC will ja nicht sofort mit einer kommerziellen Ausbeutung des Meeresbodens anfangen. Wie Sie gerade sagten, weiß niemand, welche Folgen das haben könnte. Deshalb will man so viel wie möglich im Voraus klären.«

»Aber das kann nicht erschöpfend sein. Das haben Sie doch heute bei der Anhörung selbst gesagt.«

»Ich glaube, ich sagte, es sei eine Frage der Prioritäten. Würde kein Bedarf an seltenen Metallen bestehen, wäre es sinnlos, den Meeresboden dafür aufzureißen.«

Das berührte einen wichtigen Aspekt der Diskussion. Wie nötig war eine Erschließung der Tiefsee? Diese Frage sollte im Mittelpunkt der morgigen Debatte stehen.

»Das werden wir ja dann sehen«, sagte Narumi. »Darüber werden wir morgen im Bürgerhaus sprechen.«

Yukawa lächelte. »Sie lassen sich nicht so leicht unterkriegen. Soll mir recht sein.« Er bestellte sich noch einen Schnaps und richtete seinen Blick wieder auf Narumi. »Aber eins sollten Sie wissen. Ich gehöre nicht zu den Befürwortern der Erschließung.«

»Wirklich nicht?« Narumi musterte den Wissenschaftler überrascht. »Aber warum waren Sie dann auf dem Podium?«

»DESMEC hat mich darum gebeten. Falls Fragen zu den elektromagnetischen Messungen aufkommen.«

»Welche elektromagnetischen Messungen?« Der Begriff war Narumi neu.

»Man misst die elektromagnetischen Felder auf dem Meeresboden und analysiert sie. So kann man die Zusammensetzung von Ablagerungen bis etwa hundert Meter unter dem Meeresboden bestimmen. Das heißt, man kann herausfinden, wie die Metalllager verteilt sind, ohne zu bohren.«

»Sie wollen sagen, das sei eine umweltfreundliche Methode?«

»Das ist natürlich der größte Vorteil dabei.«

Der Wirt brachte ihm seinen Schnaps. Yukawa warf einen Blick auf die Speisekarte und bestellte Shiokara, ein salzig-scharfes Gericht aus fermentierten Meeresfrüchten.

»Aber die Forschung auf diesem Gebiet macht Sie doch eigentlich zu einem Befürworter.«

»Warum denn? Nur weil ich DESMEC eine neue Methode für die elektromagnetischen Messungen vorgeschlagen habe? Das mache ich nur, weil es mir finanziell und vom Standpunkt des Umweltschutzes am logischsten erscheint. Für den Fall, dass das Projekt tatsächlich umgesetzt wird. Wenn nicht, auch egal.«

»Aber dann wäre Ihre Forschung doch umsonst gewesen.«

»Forschung ist nie umsonst.«

Sein Shiokara wurde gebracht. »Mmh, das sieht ja gut aus.« Yukawa kniff die Augen hinter seiner Brille zusammen.

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Sawamura betrat den Gastraum. Nach einem Blick in die Runde wirkte er verunsichert, vermutlich weil Narumi an einem anderen Tisch saß und zudem zusammen mit dem Physikprofessor. Er kam zu ihnen herüber. »Warum sitzt du denn hier?«

»Du erinnerst dich sicher an Professor Yukawa von der Kaiserlichen Universität? Ich glaube, ich hatte dir noch nicht erzählt, dass er bei uns in der Pension übernachtet.«

»Ach, deshalb hat deine Mutter davon gesprochen, dass sie Herrn Yukawa herbegleitet hat.«

»Setzen Sie sich doch zu uns.« Yukawa bot ihm den Stuhl neben Narumi an.

»Danke.« Sawamura setzte sich und bestellte ein Bier.

»Du hast aber lange gebraucht«, sagte Narumi.

»Ja, bei euch war ganz schön was los.«

»Wie, was war denn los?« Narumi runzelte die Stirn. Bei ihnen war doch nie etwas los.

»Vielleicht klang das etwas übertrieben. Einer von euren Gästen ist ausgegangen und nicht zur angekündigten Zeit zurückgekommen. Dein Vater machte sich Sorgen, also haben wir mit dem Auto nach ihm gesucht.«

»Herr Tsukahara?«

»Ja, genau der.«

»Und, habt ihr ihn gefunden?«