Unter der Mitternachtssonne - Keigo Higashino - E-Book

Unter der Mitternachtssonne E-Book

Keigo Higashino

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Beschreibung

Ein zwanzig Jahre alter Mord. Eine Verkettung unlösbarer Rätsel. Ein Detektiv, der entschlossen ist, das dunkle Geheimnis zu entschlüsseln. Osaka, 1973: Der Pfandleiher Kirihara wird ermordet in einem verlassenen Gebäude aufgefunden. Der unerschütterliche Detektiv Sasagaki nimmt sich des Falls an, der von nun an sein Leben bestimmt. Schnell findet er heraus: Ryo, der wortkarge Sohn des Opfers, und Yukiho, die hübsche Tochter der Hauptverdächtigen, sind in das Rätsel um den Toten verwickelt. Beinahe zwanzig Jahre lang versucht Sasagaki mit zunehmender Verzweiflung, den Mord aufzuklären, in dessen Netz sich Täter, Opfer und Polizei verfangen haben. Bis über alle Grenzen hinaus, bis hin zur Obsession.

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Seitenzahl: 833

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Keigo Higashino

Unter der Mitternachtssonne

Thriller

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Byakuyakō« im Verlag Shueisha Inc., Tokio

© 1999 by Keigo Higashino

German translation rights arranged by Shueisha Inc., Tokyo through Tuttle-Mori Agency, Inc., Tokyo

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero Media GmbH, München

unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Millennium/Lawry Lawrence

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50348-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11043-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Kapitel 1

1

Junzo Sasagaki verließ den Bahnhof Fuse und ging entlang der Schienen nach Westen. Es war bereits Oktober, aber noch immer sehr schwül. Dennoch war der Boden so trocken, dass ein vorüberfahrender Lastwagen gewaltige Staubwolken aufwirbelte. Sasagaki verzog das Gesicht und rieb sich die Augen, während er mit schweren Schritten weitertrottete. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Tag zu Hause zu verbringen und sich bei der Lektüre des neuen Krimis von Seicho Matsumoto zu entspannen, den er sich eigens für einen freien Tag aufgespart hatte.

Zu seiner Rechten kam der Masumi-Park in Sicht, der größte seiner Art in dieser Gegend. Er war so ausgedehnt, dass mehrere Sportplätze darin Platz fanden. Außerdem gab es dort alle möglichen Spielgeräte, ein Klettergerüst, Schaukeln und eine Rutschbahn.

Jenseits des Parks befand sich ein sechsstöckiges Gebäude. Von außen wirkte es nicht besonders ungewöhnlich, aber Sasagaki wusste, dass man es so gut wie entkernt hatte. Vor seiner Beförderung zur Stadtpolizei hatte er Dienst auf einem Bezirksrevier hier im westlichen Teil von Osaka getan.

Vor dem Gebäude sammelte sich eine rasch wachsende Schar von Schaulustigen, die von mehreren Streifenwagen umgeben war.

Statt direkt auf das Gebäude zuzugehen, bog Sasagaki in eine Gasse rechts vor dem Park ein. Im fünften Haus befand sich ein winziger Laden, dessen Front kaum zwei Meter breit war. Ein Schild warb für gegrillten Tintenfisch. Hinter dem Grill saß eine rundliche, etwa fünfzigjährige Frau und las Zeitung. Sasagaki warf einen Blick auf die Regale mit Süßigkeiten in ihrem Rücken. Der kleine Laden war bei Schulkindern sehr beliebt, aber heute waren keine zu sehen.

»Eine Portion, bitte«, sagte Sasagaki.

»Kommt sofort.« Die Frau faltete die Zeitung zusammen, stand auf und legte sie auf den Stuhl.

Sasagaki rauchte Zigaretten der Marke Peace. Nachdem er sich eine angezündet hatte, warf er einen Blick auf die Zeitung.

GESUNDHEITSMINISTERIUM VERÖFFENTLICHT ERGEBNISSE ÜBER QUECKSILBERGEHALT IN MEERESFRÜCHTEN, lautete die Schlagzeile. Darunter stand etwas kleiner: SELBST GROSSE MENGEN LIEGEN UNTER DEN EMPFOHLENEN RICHTWERTEN.

Im vorangegangenen März hatte ein Richter in Kumamoto ein Urteil im Prozess um die Minamata-Krankheit gefällt, das auf einen Schlag drei weiteren Umweltprozessen den Weg geebnet hatte. Einen wegen der Minamata-Krankheit in Niigata, einen wegen der extremen Verschmutzung im Industriegebiet Yotsukaichi und einen gegen die Verursacher der Itai-Itai-Krankheit. In allen drei Verfahren war der Anklage stattgegeben worden. Umweltverschmutzung war nun das große Thema. Denn es war nur allzu verständlich, dass sich in einem Land, in dem große Mengen Fisch verzehrt wurden, die Angst, dass Quecksilber und PCB in die Nahrungskette geraten könnten, in Windeseile verbreitete.

Hoffentlich ist der Tintenfisch in Ordnung, dachte Sasagaki, den Blick auf die Zeitung gerichtet.

Der Grill bestand aus zwei Stahlplatten, zwischen denen der Tintenfisch in einer Panade aus Mehl und Ei gegart wurde. Der köstliche Duft ließ seinen Magen knurren.

Die Frau klappte den Grill auf und ein länglicher, plattgedrückter Tintenfisch kam zum Vorschein, den sie mit einem Hauch Sauce bestrich, bevor sie ihn in zwei Hälften schnitt und ihm, in braunes Papier gewickelt, reichte.

Sasagaki warf einen Blick auf das kleine Schild: TINTENFISCH: 40 YEN. Er kramte ein paar Münzen hervor.

Die Frau bedankte sich freundlich und nahm wieder ihre Zeitung zur Hand.

Sasagaki wollte gerade gehen, als eine Kundin mittleren Alters vor dem Laden stehen blieb und die Inhaberin begrüßte. Sie trug einen Einkaufskorb bei sich. Wahrscheinlich war sie eine Hausfrau aus der Nachbarschaft.

»Da drüben muss was passiert sein.« Die Nachbarin deutete in Richtung des Gebäudes.

»Ja, bestimmt. Die ganze Zeit schon fährt ein Streifenwagen nach dem anderen vor. Vielleicht hat eins der Kinder sich verletzt?«, sagte die Tintenfischverkäuferin.

»Ein Kind?« Sasagaki drehte sich zu ihr um. »Was haben Kinder denn in dem Gebäude zu suchen?«

»Die spielen da drin. Da kann leicht mal was passieren.«

»Ach? Und was spielen sie?«

»Was weiß ich. Jedenfalls sollte dagegen endlich mal jemand was unternehmen. So gefährlich, wie das ist.«

Nachdem Sasagaki seinen Tintenfisch gegessen hatte, machte er sich auf den Weg zu dem Gebäude. Falls die Frauen ihm nachschauten, hielten sie ihn sicher für einen Gaffer, der nichts Besseres zu tun hatte.

Sasagaki duckte sich unter dem Absperrband hindurch, das einige Uniformierte gespannt hatten, um die Menge fernzuhalten. Als einer der Beamten ihm einen warnenden Blick zuwarf, deutete er auf seine Brusttasche, in der sein Ausweis steckte. Der Beamte verstand.

Das Gebäude hatte eine Art Eingangshalle, ursprünglich sicher mit einer großen Glastür versehen, die mittlerweile jedoch durch Pressspanplatten und Holzlatten ersetzt war. Eine Latte fehlte, und durch diese Lücke konnte man hinein.

Sasagaki begrüßte den wachhabenden Beamten und betrat das Gebäude. Wie erwartet, war es innen ziemlich dunkel. In der Luft lag ein Geruch nach Schimmel und Staub. Er blieb stehen, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Von irgendwoher waren Stimmen zu hören.

Gleich darauf erkannte er eine Reihe von Aufzügen, vor denen sich Bauschutt und Elektrokabel türmten.

Vor ihm war eine Wand, in der sich ein viereckiges Loch auftat, wahrscheinlich ein Durchgang. Die Öffnung war zu dunkel, um etwas sehen zu können, aber vermutlich führte sie zur Garage.

Zu seiner Linken erkannte er eine Sperrholztür, auf die jemand mit Kreide Betreten verboten gekritzelt hatte. Vielleicht ein Bauarbeiter. Die Tür ging auf, und die vertrauten Gesichter zweier Kommissare aus seinem Dezernat blickten ihm entgegen. Als sie Sasagaki erkannten, blieben sie stehen.

»Hattest du heute nicht eigentlich frei?«, fragte der eine, der ungefähr zwei Jahre älter war als Sasagaki. Der andere war jünger und noch nicht einmal ein Jahr bei der Mordkommission.

»Schon heute Morgen schwante mir nichts Gutes«, sagte Sasagaki. »Was hat der Alte für eine Laune?«

Der Ältere verzog das Gesicht und winkte ab. Der jüngere Beamte grinste.

»Habe ich mir gedacht. Kaum will man sich mal ein bisschen zurücklehnen. Was ist da drin überhaupt los?«

»Dr. Matsuno ist gerade gekommen.«

»Aha.«

»Und wir schauen uns jetzt mal ein bisschen um.«

»In Ordnung.« Sasagaki sah den beiden nach.

Dann streifte er sich Handschuhe über und öffnete langsam die Tür zu dem ungefähr zwanzig Quadratmeter großen Raum. Durch ein Fenster fiel Sonnenlicht herein, deshalb war es nicht so dunkel wie vor den Aufzügen.

Mehrere Kommissare standen dort zusammen. Einige der Gesichter waren ihm fremd, wahrscheinlich Beamte vom örtlichen Revier. Die anderen aber kannte er gut, allzu gut, wenn er ehrlich war. Der Erste, der ihm entgegenblickte, war Dezernatsleiter Nagatsuka. Er trug einen Bürstenschnitt und eine Brille mit Goldrand, deren Gläser zur Hälfte violett getönt waren. Die Falte zwischen seinen Brauen verschwand nie, nicht einmal, wenn er lächelte.

Ohne ihn zu begrüßen oder eine Bemerkung über seine verspätete Ankunft zu machen, bedeutete Nagatsuka ihm mit einer Kinnbewegung, näher zu kommen.

In dem Raum gab es so gut wie keine Möbel, aber an einer Wand stand ein schwarzes Ledersofa für drei Personen, ein Dreisitzer.

Auf dem Sofa lag die Leiche. Ein Mann.

Dr. Matsuno, seit über zwanzig Jahren Rechtsmediziner in Osaka, war gerade dabei, den Leichnam zu untersuchen.

Sasagaki reckte den Hals und warf einen Blick auf die Leiche.

Der Mann schien zwischen vierzig und fünfzig und etwa einen Meter siebzig groß. Für seine Körpergröße wirkte er ein bisschen übergewichtig. Er trug ein braunes Jackett, aber keine Krawatte. Insgesamt machte seine Garderobe keinen billigen Eindruck. Auf seiner Brust befand sich ein zehn Zentimeter langer Blutfleck. Außerdem hatte er wohl noch mehrere andere Wunden, aus denen jedoch nur wenig Blut ausgetreten war.

Soweit Sasagaki es beurteilen konnte, hatte er sich nicht gewehrt. Seine Kleidung war nicht durcheinander, die glatt nach hinten gebundenen Haare kaum zerzaust.

Der zierliche Dr. Matsuno stand auf und wandte sich den Ermittlern zu.

»Er wurde ermordet. Kein Zweifel«, sagte er entschieden. »Er hat fünf Stiche abbekommen. Zwei in die Brust, drei in die Schulter. Tödlich war wohl der Stich ein paar Zentimeter links vom Brustbein. Ich vermute, die Waffe ging zwischen den Rippen hindurch und mitten ins Herz.«

»War er sofort tot?«, fragte Nagatsuka.

»Vermutlich in weniger als einer Minute. Das Blut einer Arterie hat auf das Herz gedrückt, und es kam zu einer Perikardtamponade, schätze ich.«

»Wird der Mörder Blut auf seiner Kleidung haben?«

»Nein oder zumindest nur wenig.«

»Die Waffe?«

Der Doktor schürzte die Lippen und wiegte den Kopf.

»Eine schmale, scharfe Klinge. Ein wenig schmaler als ein gewöhnliches Obstmesser. Jedenfalls kein Hack- oder Feldmesser.«

Aus diesen Äußerungen schloss Sasagaki, dass man die Waffe noch nicht gefunden hatte.

»Können Sie schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«, fragte er.

»Die Leichenstarre hat bereits den ganzen Körper ergriffen. Ich schätze, er ist zwischen siebzehn und vierundzwanzig Stunden tot. Nach der Obduktion kann ich das genauer eingrenzen.«

Sasagaki sah auf seine Uhr: 14.40 Uhr. Grob geschätzt war das Opfer also gestern zwischen 15 und 22 Uhr ermordet worden.

»Dann machen Sie mal hin mit der Obduktion«, sagte Nagatsuka. Seiner Meinung nach reichte es jetzt mit dem Gerede.

In diesem Moment betrat Kommissar Koga den Raum. Er gehörte zu den jüngeren Beamten. »Die Frau des Opfers wäre jetzt da.«

»Na endlich. Sie soll ihn erst mal identifizieren. Hol sie rein«, befahl Nagatsuka.

Koga nickte und verließ den Raum.

»Die Identität des Opfers ist bekannt?«, fragte Sasagaki einen der jüngeren Kommissare leise.

Dieser nickte. »Er hatte einen Führerschein und Visitenkarten bei sich. Er betreibt ein Pfandhaus ganz hier in der Nähe.«

»Pfandleiher? Wurde ihm etwas gestohlen?«

»Das wissen wir noch nicht, aber seine Brieftasche wurde nicht gefunden.«

Die Tür ging auf, und Koga kam zurück. »Bitte, kommen Sie«, sagte er nach hinten gewandt. Die Kommissare entfernten sich einige Schritte von der Leiche.

Das Erste, das Sasagaki ins Auge fiel, war ein leuchtendes Orange. Die Frau trug ein schwarz-orange kariertes Kleid, außerdem Schuhe mit ungefähr zehn Zentimeter hohen Absätzen. Ihr langes, gepflegtes Haar wirkte, als wäre sie gerade vom Friseur gekommen.

Sie richtete ihre großen, stark geschminkten Augen auf das Sofa an der Wand. Gleich darauf schlug sie beide Hände vor den Mund und stieß ein ersticktes Schluchzen aus. Mehrere Sekunden stand sie wie erstarrt da. Die Ermittler, die wussten, dass in solchen Fällen Reden nichts brachte, schwiegen und beobachteten sie.

Die Frau schritt nun zögernd auf die Leiche zu. Vor dem Sofa blieb sie stehen und schaute auf den Toten hinab. Sasagaki merkte, dass ihr Kinn zitterte.

»Ist das Ihr Mann?«, fragte Nagatsuka.

Ohne zu antworten, legte die Frau die Hände auf die Wangen und bedeckte mit ihnen schließlich ihr ganzes Gesicht. Ihre Knie gaben nach, und sie sank zu Boden. Netter Auftritt, dachte Sasagaki.

2

Das Opfer hieß Yosuke Kirihara. Ihm gehörte das Pfandhaus Kirihara. Sein Geschäft, in dem er auch wohnte, lag ungefähr einen Kilometer vom Tatort entfernt.

Sobald seine Witwe Yaeko ihn identifiziert hatte, trug man ihn hinaus. Als Sasagaki seinen Kollegen half, die Leiche auf die Bahre zu legen, fiel ihm etwas auf.

»Unser Opfer hat wahrscheinlich kurz vor seinem Tod noch etwas gegessen«, murmelte er.

»Wieso?«, fragte Kommissar Koga, der neben ihm stand.

»Schau mal genau hin.« Sasagaki deutete auf den Gürtel des Opfers. »Er hat den Gürtel zwei Löcher weiter getragen als gewöhnlich.«

»Tatsächlich!«

Yosuke Kirihara trug einen braunen Gürtel der Firma Valentino. Offensichtlich benutzte er in der Regel das fünfte Loch, das eindeutige Spuren von Abnutzung aufwies. Dennoch steckte der Dorn des Gürtels im dritten Loch.

Sasagaki ließ einen jungen Beamten von der Spurensicherung ein Foto von der Gürtelschnalle machen.

Nach dem Abtransport der Leiche machten sich die Ermittler, die den Tatort untersucht hatten, auf den Weg, um Zeugen zu befragen. Außer den Beamten von der Spurensicherung blieben nur Sasagaki und Nagatsuka zurück.

Dezernatsleiter Nagatsuka stand mitten im Raum und schaute sich noch einmal um. Er hatte seine übliche nachdenkliche Pose eingenommen – die linke Hand an der Hüfte, die rechte am Kinn.

»Was meinst du, Sasa?«, fragte er. »Was ist unser Mörder für ein Typ?«

»Keine Ahnung.« Auch Sasagaki ließ seinen Blick schweifen. »Ich kann dir nur sagen, was ich sehe. Seine Kleider und seine Haare sind nicht in Unordnung, es gibt keine Kampfspuren, er wurde von vorn erstochen. Das war’s.«

Nagatsuka nickte. Auch er schien keine Theorie zu haben.

»Die Frage ist, was Opfer und Täter hier verloren hatten«, sagte er. Sasagaki nahm den Raum noch einmal gründlich in Augenschein. Er hatte während der Bauarbeiten vermutlich als Büro gedient. Auch das schwarze Sofa, auf dem die Leiche gelegen hatte, war vermutlich ein Überbleibsel aus dieser Zeit. Außerdem gab es einen Schreibtisch aus Metall, zwei Rohrstühle und einen Klapptisch, der verlassen an der Wand lehnte. Die Metallteile waren rostig, und alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Die Arbeiten waren bereits vor zweieinhalb Jahren eingestellt worden.

Sasagakis Blick blieb an einer Stelle neben dem Sofa hängen, wo sich direkt unterhalb der Decke eine Art viereckiger Schacht befand. Eigentlich gehörte ein Gitter davor, aber natürlich gab es keines.

Ohne diesen offenen Schacht wäre der Leichnam wahrscheinlich erst viel später entdeckt worden. Denn die Person, die ihn gefunden hatte, war durch den Schacht in den Raum gekrochen.

Den Beamten vom örtlichen Revier zufolge handelte es sich um einen Grundschüler. Es war Samstag, und am Nachmittag hatten die Kinder schulfrei. Fünf Jungen hatten sich in dem Gebäude herumgetrieben und Labyrinth gespielt. Auf allen Vieren durch die komplizierten Windungen der Schächte zu kriechen war natürlich aufregender und abenteuerlicher als Versteck- oder Ballspielen.

Einer der Bengel war offenbar irgendwo falsch abgebogen und, von den anderen getrennt, in seiner Panik blindlings weitergekrochen, bis er schließlich in dem leeren Büro gelandet war. Zuerst hatte er geglaubt, der Mann auf dem Sofa schliefe nur. Also hatte er sich so geräuschlos wie möglich aus dem Schacht in den Raum hinuntergelassen. Doch als er bemerkte, dass der Mann sich überhaupt nicht rührte, hatte der Junge sich näher herangeschlichen und das Blut gesehen.

Gegen 13 Uhr war er nach Hause gerannt, um von seiner Entdeckung zu berichten. Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis er seine Mutter überzeugt hatte. Ihr Anruf war um 13.33 Uhr bei der Polizei eingegangen.

»Er war also Pfandleiher«, sagte Nagatsuka unvermittelt. »Meinst du, er hat sich hier beruflich mit jemandem getroffen?«

»Vielleicht wollte dieser Jemand nicht gesehen werden. Oder er selbst wollte nicht mit diesem Jemand gesehen werden.«

»Möglich, aber warum ausgerechnet hier? So ein heimliches Treffen hätte doch überall stattfinden können. Und wenn er tatsächlich fürchtete, beobachtet zu werden, warum hat er dann keinen Treffpunkt in größerer Entfernung zu seinem Laden gewählt?«

»Stimmt auch wieder.« Sasagaki rieb sich das stopplige Kinn. Er war am Morgen aus dem Haus gelaufen, ohne sich zu rasieren.

»Die Frau ist übrigens eine echte Granate«, wechselte Nagatsuka das Thema. »Anfang dreißig, schätze ich. Er war zweiundfünfzig. Ganz schöner Altersunterschied.«

»Sie ist auch nicht gerade der Typ biedere Hausfrau«, erwiderte Sasagaki.

»Hm«, machte Nagatsuka und nickte. »Ja, sie kommt in voller Montur, wo doch der Tatort gar nicht weit von ihrem Haus entfernt ist. Und dann auch noch diese Krokodilstränen, als sie die Leiche gesehen hat.«

»Du meinst, die Tränen waren genauso falsch wie ihre Wimpern?«

»So weit würde ich vielleicht nicht gehen.« Nagatsuka grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Wahrscheinlich sind sie jetzt mit der Befragung fertig. Würdest du sie nach Hause bringen, Sasa?«

»Mache ich.« Sasagaki nickte und ging zur Tür.

Die Schaulustigen vor dem Gebäude waren einem Pulk von Zeitungsreportern gewichen. Sogar ein Fernsehsender war vor Ort.

Sasagaki ließ seinen Blick über die parkenden Streifenwagen schweifen und entdeckte Yaeko Kirihara auf der Rückbank des zweiten Wagens von vorne. Kobayashi saß neben ihr und Koga auf dem Beifahrersitz. Sasagaki ging zu dem Wagen und klopfte ans hintere Fenster. Kobayashi öffnete die Tür und stieg aus.

»Wie sieht’s aus?«

»Wir haben das meiste abgehakt. Aber offen gesagt, ist sie noch ziemlich durcheinander«, sagte Kobayashi hinter vorgehaltener Hand.

»Habt ihr sie gefragt, ob von seinen Sachen etwas fehlt?«

»Ja, seine Brieftasche. Außerdem ein Feuerzeug.«

»Ein Feuerzeug?«

»Ja, ein teures von Dunhill.«

»Aha. Wann hat sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Er hat gestern zwischen 14 und 15 Uhr das Haus verlassen, ohne zu sagen, wohin er wollte. Als er am nächsten Morgen noch nicht zurück war, hat sie sich Sorgen gemacht. Sie wollte gerade die Polizei rufen, als unser Anruf kam.«

»War ihr Mann mit jemandem verabredet?«

»Davon weiß sie nichts. Sie kann sich auch nicht erinnern, ob jemand angerufen hat, bevor er das Haus verließ.«

»Sonst irgendwas Ungewöhnliches?«

»Nein, alles normal.«

Sasagaki rieb sich mit dem Zeigefinger die Wange. Also gab es nicht den geringsten Anhaltspunkt.

»Sicher hat sie auch keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«

Kobayashi schüttelte den Kopf.

»Weiß sie etwas über das Gebäude? Habt ihr sie gefragt?«

»Haben wir. Sie wusste von seiner Existenz, aber nichts Genaueres. Sie hat es heute zum ersten Mal betreten, und ihr Mann hat es auch nie erwähnt.«

Sasagaki musste grinsen. »Nichts und nie. Das haben wir also schon mal klargestellt.«

»Tut mir leid.«

»Da kannst du doch nichts dafür.« Sasagaki klopfte dem Jüngeren mit dem Handrücken auf die Brust. »Ich bringe Frau Kirihara jetzt nach Hause. Kann ich Koga als Fahrer haben?«

»Ja, natürlich.«

Sasagaki stieg ein und wies Koga an, sie zum Haus der Kiriharas zu bringen.

»Fahr vorher noch ein bisschen um die Ecken. Ich will nicht, dass die Presse gleich das Haus des Opfers umzingelt.«

»Wird gemacht«, antwortete Koga.

Sasagaki wandte sich Yaeko zu, die neben ihm saß, und stellte sich vor. Sie nickte nur. Anscheinend hatte sie kein Interesse, sich den Namen eines Polizisten zu merken.

»Ist jemand bei Ihnen, wenn Sie nach Hause kommen?«

»Nur jemand, der im Laden arbeitet. Aber mein Sohn kommt bald aus der Schule«, antwortete sie mit gesenktem Blick.

»Wie alt ist Ihr Sohn?«

»Er ist in der fünften Klasse.«

Also musste der Junge zehn oder elf sein, rechnete Sasagaki im Kopf nach. Er musterte Yaeko. Sie trug eine Menge Make-up, aber ihre Haut war grobporig, und sie hatte kleine Falten um die Augen. Es war absolut möglich, dass sie ein Kind in dem Alter hatte.

»Ihr Mann ist also gestern aus dem Haus gegangen, ohne Ihnen zu sagen wohin. Kam das öfter vor?«

»Ja, manchmal ging er etwas trinken. Das vermutete ich gestern auch und habe mir deshalb nicht viel dabei gedacht.«

»Kam es vor, dass er die ganze Nacht wegblieb?«

»Ja, manchmal.«

»Und hat er in solchen Fällen nicht angerufen?«

»Selten. Ich habe ihn immer wieder darum gebeten, aber er hat meistens nur abgewunken. Und irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Aber dass er jetzt ermordet wurde …« Yaeko schlug die Hand vor den Mund.

Nachdem sie eine Zeit lang herumgefahren waren, hielten sie an einem Telefonmast mit dem Schild OE-SANCHOME. Die Straße war schmal, mit alten einstöckigen Holzhäusern zu beiden Seiten.

»Da vorne ist es.« Koga zeigte durch die Windschutzscheibe. Etwa zwanzig Meter vor ihnen erkannte Sasagaki ein Schild mit der Aufschrift PFANDHAUS KIRIHARA. Die Medien hatten den Wohnsitz des Opfers offenbar noch nicht herausgefunden, denn vor dem Geschäft war kein Mensch zu sehen.

»Ich begleite Frau Kirihara hinein, du kannst zurückfahren«, wies Sasagaki seinen Kollegen an.

Der Rollladen des Pfandhauses war bis zur Höhe von Sasagakis Kinn heruntergelassen. Yaeko folgend, duckte er sich darunter hindurch. Der Flur war zu beiden Seiten von Schaukästen gesäumt. Auf einer Milchglastür vor ihnen stand in goldener Pinselschrift der Name KIRIHARA. Yaeko öffnete die Tür, und sie betraten den Laden.

»Ah, da sind Sie ja«, ließ sich eine Stimme hinter der Theke vernehmen. Sie gehörte einem schlanken, etwa vierzigjährigen Mann mit spitzem Kinn und schwarzem, exakt in der Mitte gescheiteltem Haar.

Yaeko seufzte und ließ sich auf einen für die Kundschaft gedachten Stuhl fallen.

»Und, was ist passiert?« Der Mann sah von einem zum anderen.

Yaeko fasste sich an die Stirn. »Er war es.«

»Was?« Das Gesicht des Mannes verdüsterte sich. Zwischen seinen Brauen erschien eine Falte. »Er ist also wirklich ermordet worden?«

»Ja«, flüsterte sie.

»Das ist doch nicht zu glauben!« Der Mann legte die Hand auf den Mund und blickte zur Seite, wie um nachzudenken. Er zwinkerte nervös.

»Mein Name ist Sasagaki. Ich bin von der Mordkommission Osaka. Es tut mir sehr leid.« Sasagaki zeigte seinen Ausweis. »Arbeiten Sie hier?«

»Ja, ich heiße Matsuura.« Der Mann öffnete eine Schublade und präsentierte ihm eine Visitenkarte.

Mit einer leichten Verbeugung nahm Sasagaki sie entgegen. Dabei fiel ihm auf, dass der Mann am kleinen Finger seiner rechten Hand einen Platinring trug. Ziemlich auffällig für einen Mann, dachte Sasagaki.

Mit vollem Namen hieß er Isamu Matsuura und war Geschäftsführer des Pfandhauses.

»Arbeiten Sie schon länger hier?«, fragte Sasagaki.

»Ja, seit fünf Jahren.«

Sasagaki fand das nicht sonderlich lang. Er hätte den Mann gern gefragt, wo er vorher gearbeitet und wie er die Stelle bekommen habe, wollte es aber für heute dabei belassen. Schließlich würde er noch öfter herkommen.

»Herr Kirihara ist also gestern gegen Mittag fortgegangen?«

»Ja, es muss so gegen 14.30 Uhr gewesen sein.«

»Und er hat nicht gesagt, was er vorhatte?«

»Nein, der Chef war ein Einzelgänger, er sprach kaum über seine Termine mit uns.«

»War irgendetwas anders als sonst? War er anders angezogen, oder hatte er etwas Ungewöhnliches bei sich?«

»Ich habe jedenfalls nichts bemerkt.« Matsuura zuckte mit den Schultern und kratzte sich mit der linken Hand im Nacken. »Allerdings schien er es eilig zu haben.«

»Ach?«

»Ja, ich glaube, er schaute mehrmals auf die Uhr. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein.«

Sasagaki sah sich so beiläufig wie möglich um. Hinter Matsuura befand sich eine geschlossene Schiebetür, hinter der wahrscheinlich das Wohnzimmer lag. Links neben der Theke konnte man sich die Schuhe ausziehen, bevor man die Wohnung betrat. Auf der linken Seite war eine weitere Tür, die aussah, als führe sie in einen großen Wandschrank, auch wenn die Lage dafür etwas seltsam war.

»Wie lange hatten Sie denn gestern geöffnet?«

Matsuura blickte zur Wanduhr. »Normalerweise schließen wir um sechs. Aber gestern hatten wir fast bis um sieben geöffnet.«

»Waren Sie allein im Laden?«

»Ja, wenn der Chef nicht da ist, ist das meistens so.«

»Und nachdem Sie abgeschlossen hatten?«

»Bin ich gleich nach Hause gefahren.«

»Wo wohnen Sie?«

»In Teradacho.«

»Das ist ziemlich weit. Kommen Sie mit dem Auto?«

»Nein, mit der Bahn.«

Die Zeit zum Umsteigen eingerechnet, brauchte Matsuura ungefähr eine halbe Stunde bis Teradacho. Wenn er um 19 Uhr aufgebrochen war, musste er spätestens gegen acht zu Hause gewesen sein.

»Haben Sie Familie, Herr Matsuura?«

»Nein, ich bin seit sechs Jahren geschieden und lebe jetzt allein in einer Mietwohnung.«

»Dann haben Sie wohl auch den gestrigen Abend allein zu Hause verbracht?«

»Genau.«

Kein Alibi, notierte Sasagaki, ohne eine Miene zu verziehen.

»Und Sie, Frau Kirihara, sind wohl nicht oft hier?«, wandte Sasagaki sich an Yaeko, die, eine Hand auf die Stirn gepresst, auf ihrem Stuhl saß.

»Ich habe keine Ahnung vom Geschäft«, erwiderte sie mit dünner Stimme.

»Sind Sie gestern unterwegs gewesen?«

»Nein, ich war den ganzen Tag zu Hause.«

»Sie haben keinen Schritt vor die Tür gemacht? Nicht einmal zum Einkaufen?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und erhob sich sichtlich erschöpft. »Entschuldigen Sie, aber könnte ich mich vielleicht etwas hinlegen? Ich kann nicht mehr sitzen.«

»Selbstverständlich, legen Sie sich nur hin.«

Yaeko konnte sich kaum auf den Beinen halten, als sie ihre Schuhe auszog. Dann öffnete sie die Tür zu seiner Linken. Dahinter kam eine Treppe zum Vorschein.

Aha, dachte Sasagaki. Jetzt wusste er Bescheid.

Sie schloss die Tür hinter sich, und er hörte, wie sie die Treppe hinaufstieg. Als ihre Schritte verklungen waren, trat Sasagaki näher an Matsuura heran.

»Sie haben heute Morgen erfahren, dass Herr Kirihara nicht nach Hause gekommen ist, nicht wahr?«

»Ja. Seine Frau und ich haben uns Sorgen gemacht. Und dann kam der Anruf von der Polizei …«

»Das muss ein Schock gewesen sein.«

»Natürlich«, sagte Matsuura. »Ich kann es noch immer nicht glauben. Die ganze Zeit denke ich, dieser Mord muss ein Irrtum sein.«

»Sie haben keine Theorie, was vorgefallen sein könnte?«

»Nein, keine.«

»In Ihrer Branche hat man doch sicher sehr verschiedene Kunden. Vielleicht war es ja jemand, der finanzielle Probleme mit Ihrem Chef hatte?«

»Ja, wir haben schon ein paar zwielichtige und auch merkwürdige Kunden. Wir leihen den Leuten Geld, und sie geben uns die Schuld für ihre Probleme. Aber dass einer den Chef ermorden würde … Nein.« Matsuura erwiderte Sasagakis Blick und schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Sicherlich möchten Sie auch nicht schlecht über Ihre Kundschaft reden. Das ehrt Sie, aber wir müssen bei unseren Ermittlungen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Es würde mir sehr helfen, wenn Sie mir eine Namensliste Ihrer letzten Kunden geben könnten.«

»Eine Namensliste?« Matsuura runzelte die Stirn.

»Sie haben doch sicher eine. Sonst wüssten Sie ja nicht, wem Sie Geld geliehen haben. Sie führen doch Buch.«

»Ja, wir haben ein Register.«

»Das müssen wir leider mitnehmen«, sagte Sasagaki mit einer entschiedenen Handbewegung. »Auf dem Revier machen wir eine Kopie davon, dann bringe ich es Ihnen sofort zurück. Selbstverständlich wird nichts an Dritte weitergegeben.«

»Ich weiß nicht, ob ich eigenmächtig …«

»Ich warte gern, wenn Sie die Erlaubnis von Frau Kirihara einholen möchten.«

Matsuura überlegte eine Weile, aber schließlich nickte er. »In Ordnung. Ich gebe es Ihnen, aber passen Sie bitte gut darauf auf.«

»Vielen Dank. Sie brauchen also ihre Zustimmung nicht?«

»Nein, das geht schon. Ich sage es Frau Kirihara später. Der Chef kann ja nichts mehr dagegen haben.«

Matsuura drehte seinen Stuhl um neunzig Grad und öffnete die Tür eines Schränkchens gleich neben ihm, in dem eine Reihe dicker Ordner stand.

Sasagaki beugte sich vor. In dem Moment sah er aus dem Augenwinkel, dass die Tür zur Treppe aufging. Erstaunt drehte er seinen Kopf und erblickte einen etwa zehnjährigen mageren Jungen in Jeans und Sweatshirt.

Sasagaki war überrascht, dass er den Jungen nicht die Treppe herunterkommen gehört hatte. Als sein Blick dem des Jungen begegnete, erschrak er beinahe über dessen Düsterkeit.

»Bist du Herrn Kiriharas Sohn?«

Der Junge antwortete nicht. Stattdessen drehte Matsuura sich um. »Ja, das ist Ryo.« Noch immer schweigend, zog der Junge seine Turnschuhe an. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos.

»Wo willst du denn hin? Du solltest lieber hierbleiben.«

Ohne Matsuura eines Blickes zu würdigen, verließ der Junge den Laden.

»Der arme Junge hat bestimmt einen Schock«, sagte Sasagaki.

»Das mag sein, aber er ist sowieso ein bisschen seltsam.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das ist schwer zu erklären.« Matsuura nahm einen Ordner aus dem Schrank und reichte ihn Sasagaki. »Hier ist die Liste unserer letzten Kunden.«

»Dann nehme ich die mal mit.« Sasagaki griff nach dem Ordner und blätterte darin. Alle möglichen Namen waren darin verzeichnet. Doch während er die Liste überflog, musste er an den düsteren Blick des Jungen denken.

3

Am folgenden Nachmittag lag der Obduktionsbericht vor. Todeszeitpunkt und Todesursache entsprachen Dr. Matsunos Vermutungen.

Als Sasagaki die Beschreibung des Mageninhalts las, stutzte er.

Es waren die noch nicht verdauten Reste der Mahlzeit aus Buchweizennudeln, Zwiebeln und Hering, die das Opfer zwei bis zweieinhalb Stunden vor seinem Tod zu sich genommen hatte.

»Was sollen wir jetzt von dem Gürtel halten?«, fragte Sasagaki Nagatsuka, der mit verschränkten Armen vor ihm saß.

»Was für ein Gürtel?«

»Er hatte den Gürtel um zwei Löcher gelockert. Das tut man normalerweise, wenn man eine große Mahlzeit zu sich nimmt. Warum hatte er ihn zwei Stunden später noch nicht wieder enger geschnallt?«

»Vielleicht hat er es vergessen. Da ist doch nichts dabei.«

»Aber wir haben die Hose des Opfers untersucht und herausgefunden, dass sie am Bund zu weit für ihn war. Sie wäre ihm also beim Gehen heruntergerutscht.«

»Verstehe.« Nagatsuka nickte unverbindlich. Nachdenklich betrachtete er den Obduktionsbericht, der vor ihm auf dem Konferenztisch lag. »Und, Sasa? Was glaubst du, warum er das falsche Loch genommen hat?«

Sasagaki schaute sich im Raum um und lehnte sich zu ihm.

»Offenbar tat er hier etwas, das ihn veranlasste, seinen Gürtel zu öffnen. Und als er ihn wieder zumachte, hat er zwei Löcher verfehlt. Er oder der Mörder.«

»Aber warum sollte er seinen Gürtel öffnen?« Nagatsuka sah Sasagaki skeptisch an.

»Warum wohl? Um die Hose herunterzulassen.« Sasagaki grinste.

Nagatsuka lehnte sich zurück. Der Stuhl quietschte.

»Glaubst du wirklich, ein erwachsener Mann käme eigens in dieses Dreckloch, um ein Paar Brüste zu kneten?«

»Ja, ein bisschen seltsam ist das schon.«

Nagatsuka wedelte mit der Hand, als würde er eine Fliege verscheuchen.

»Dennoch eine interessante Idee, aber wir sollten uns erst einmal Beweise besorgen, ehe die Fantasie mit uns durchgeht. Wir müssen herausbekommen, wo das Opfer war, bevor es hierherkam. Am besten, wir nehmen uns als Erstes mal die Nudellokale in der Gegend vor.«

Dagegen gab es nichts einzuwenden. Immerhin war Nagatsuka der verantwortliche Ermittler. Sasagaki nickte folgsam und machte sich auf den Weg.

Es dauerte nicht lange, bis sie das Lokal fanden, in dem Yosuke Kirihara vor seinem Tod gegessen hatte. Yaeko zufolge bevorzugte er einen Imbiss namens Saganoya in der Einkaufsstraße am Bahnhof, und einer der Ermittler machte einen Zeugen ausfindig, der Kirihara am Freitagnachmittag gegen vier dort gesehen hatte.

Er hatte die Soba mit Hering gegessen. Anhand des Verdauungszustands der Mahlzeit in seinem Magen ließ sich der Todeszeitpunkt auf Freitag zwischen 18 und 19 Uhr eingrenzen. Bei der Überprüfung der Alibis musste man sich also auf den Zeitraum zwischen 17 und 20 Uhr konzentrieren.

Laut Yaeko und Matsuura hatte Kirihara das Haus jedoch bereits um halb drei verlassen. Wo also war er in der Stunde, bevor er im Saganoya eintraf? Vom Pfandhaus bis zum Imbiss brauchte man höchstens zehn Minuten, auch wenn man sehr langsam ging.

Diese Frage klärte sich am Montag. Eine Angestellte der Sankyo-Bank rief auf dem Revier an und berichtete, Kirihara sei am Freitag kurz vor Geschäftsschluss dort gewesen.

Sofort machten Sasagaki und Koga sich auf den Weg zu der betreffenden Filiale, die sich am Südausgang des Bahnhofs befand.

Eine junge Schalterbeamtin hatte die Polizei benachrichtigt. Eine Kurzhaarfrisur, die ihr sehr gut stand, umrahmte ihr hübsches Gesicht. Sie führte Koga und Sasagaki in einen für Kundengespräche gedachten, abgeschlossenen Bereich.

»Nachdem ich den Namen Kirihara gestern in der Zeitung las, habe ich die ganze Zeit überlegt, ob es sich dabei nicht um unseren Kunden handeln könnte. Heute Morgen habe ich noch mal nachgeschaut, den Chef gefragt und dann bei Ihnen angerufen«, sagte sie, sehr aufrecht auf ihrem Stuhl sitzend.

»Um wie viel Uhr war Herr Kirihara bei Ihnen?«

»Kurz vor drei.«

»Und was wollte er?«

Die junge Angestellte zögerte ein wenig. Wahrscheinlich war sie unsicher, wie vertraulich die Informationen über ihren Kunden waren, die sie im Begriff war, preiszugeben. Aber schließlich rang sie sich doch zu einer Antwort durch.

»Er hat ein Festgeldkonto aufgelöst und das Geld in bar abgehoben.«

»Um welche Summe handelte es sich?«

Wieder zögerte sie. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und warf einen Blick auf ihren Vorgesetzten, der in einiger Entfernung zu ihr stand.

»Genau eine Million Yen«, sagte sie leise.

»Oho«, sagte Sasagaki und schürzte die Lippen. Das war keine Summe, mit der man normalerweise einfach so herumlief.

»Hat Herr Kirihara gesagt, was er damit vorhatte?«

»Nein, davon hat er nichts gesagt.«

»Wie hat er das Geld aufbewahrt?«

»Ich weiß nur, dass ich es ihm in einem Umschlag gegeben habe.« Sie zuckte die Achseln.

»Hat Herr Kirihara schon früher einmal so plötzlich ein Festgeldkonto aufgelöst und eine Million Yen abgehoben?«

»Soweit ich weiß, war es das erste Mal. Ich bin aber auch erst seit Ende letzten Jahres für das Festgeldkonto von Herrn Kirihara zuständig.«

»Wie wirkte er auf sie, als sie ihm das Geld gaben? Schien er es zu bedauern, oder freute er sich?«

Sie zuckte wieder mit den Achseln. »Niedergeschlagen sah er nicht aus. Er sagte, er wolle das Geld in Kürze wieder anlegen.«

»In Kürze, aha.«

Nachdem Sasagaki und Koga im Präsidium Bericht erstattet hatten, machten sie sich auf den Weg zum Pfandhaus, um Yaeko und Matsuura zu fragen, ob sie etwas von dem Geld wussten. Aber als das Haus in Sicht kam, blieben sie stehen, denn eine große Zahl Trauergäste hatte sich davor versammelt.

»Stimmt, heute ist ja die Beisetzung«, sagte Sasagaki. »Das hatte ich ganz vergessen.«

Die Kommissare warteten in angemessener Entfernung, während der Sarg aus dem Haus getragen wurde und der Leichenwagen vorfuhr.

Die Ladentür ging auf, und Yaeko erschien. Sie war blasser als bei Sasagakis erster Begegnung mit ihr und wirkte kleiner. Zugleich erschien sie ihm aber betörender. Womöglich lag das an der geheimnisvollen Anziehungskraft, die angeblich von Witwen ausgeht.

Yaeko war eindeutig daran gewöhnt, Kimonos zu tragen. Sie bewegte sich auf eine kalkuliert anmutige, sehr attraktive Weise.

Sollte sie es darauf angelegt haben, die schöne junge Witwe zu spielen, gelingt ihr das ausgezeichnet, dachte Sasagaki ein wenig argwöhnisch. Ihre Ermittlungen hatten zudem ergeben, dass sie früher als Bardame im Rotlichtviertel Kitashinchi gearbeitet hatte.

Hinter ihr trug der Sohn eine gerahmte Fotografie seines Vaters vor sich her. Sasagaki erinnerte sich, dass er Ryo hieß. Bis jetzt hatte er noch nicht mit ihm gesprochen.

Auch heute war das Gesicht des Jungen völlig ausdruckslos. In seinen dunklen tiefliegenden Augen war nicht die Spur eines Gefühls zu erkennen. Sein Blick folgte zwar den Schritten der Mutter, wirkte jedoch starr und künstlich.

Die Kommissare kehrten erst gegen Abend wieder zum Haus der Kiriharas zurück. Wie beim ersten Mal stand der Rollladen halb offen. Die Eingangstür dahinter war jedoch abgeschlossen, also drückte Sasagaki den Klingelknopf. Aus dem Inneren ertönte ein Läuten.

»Vielleicht ist niemand da«, sagte Koga.

»Dann wäre der Rollladen bestimmt ganz heruntergelassen.«

Kurz darauf hörten sie, wie jemand die Tür aufschloss. Sie öffnete sich etwa zwanzig Zentimeter, und Matsuura steckte das Gesicht durch den Spalt.

»Ah, die Herren Kommissare.« Matsuura schien erstaunt.

»Wir hätten noch einige Fragen. Passt es Ihnen gerade?«

»Moment bitte. Ich frage Frau Kirihara«, sagte Matsuura und schloss die Tür.

Sasagaki und Koga wechselten einen Blick. Koga zuckte mit den Schultern.

Die Tür ging wieder auf. »Ja, es passt. Kommen Sie bitte herein.«

Die Kommissare betraten das Haus. Es roch nach Räucherstäbchen.

»Wie war denn die Beisetzung?«, fragte Sasagaki, der Matsuura unter den Trauergästen gesehen hatte.

»Es hat alles geklappt, aber es war etwas anstrengend.« Matsuura strich sich über das Haar. Er war noch im schwarzen Anzug, hatte aber die Krawatte abgenommen und die oberen Hemdknöpfe geöffnet.

Die Tür hinter der Theke wurde aufgeschoben, und Yaeko betrat den Laden. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein dunkelblaues Kleid. Ihr Haar war offen.

»Es tut mir leid, dass wir Sie noch einmal stören müssen. Sie sind sicher erschöpft.« Sasagaki verbeugte sich.

Yaeko schüttelte den Kopf. »Das macht nichts. Haben Sie etwas herausgefunden?«

»Wir sind noch immer dabei, Informationen zu sammeln. Dabei sind wir auf etwas gestoßen, zu dem wir Sie befragen müssten.« Sasagaki zeigte auf die Tür hinter ihr. »Doch zuvor würde ich gern ein Räucherstäbchen anzünden und dem Verstorbenen meine Ehre erweisen.«

Yaeko wirkte einen Moment lang verblüfft. Sie warf Matsuura einen Blick zu und schaute dann wieder Sasagaki an.

»Ja, natürlich, bitte sehr.«

»Danke, es dauert nicht lange.«

Sasagaki zog die Schuhe aus und stieg die Stufen hinter der Theke hinauf. Sein Blick huschte zu der Tür, hinter der sich die Treppe zum ersten Stock befand. Sie hatte einen Riegel mit einem kleinen Schloss, sodass sie nicht von innen geöffnet werden konnte.

»Es ist vielleicht eine seltsame Frage, aber wozu dient dieses Schloss?«

»Es soll mögliche Einbrecher davon abhalten, nachts vom ersten Stock in den Laden zu gelangen«, antwortete Yaeko.

»Kommt das denn vor?«

»Die Häuser hier stehen so dicht beisammen, dass es für Einbrecher ein Leichtes ist, über die Dächer in den ersten Stock einzusteigen. Bei einem Uhrmacher in der Nähe ist das vor Kurzem passiert. Also hat mein Mann das Schloss angebracht.«

»Und warum wäre das so schlimm?«

»Weil hier unten der Safe ist«, antwortete Matsuura von hinten. »In dem bewahren wir alles auf, was die Kunden uns geben.«

»Das heißt, nachts ist niemand oben?«

»Genau. Mein Sohn schläft bei uns im Erdgeschoss.«

»Ich verstehe.« Sasagaki nickte und kratzte sich am Kinn. »Aber warum ist die Tür jetzt verriegelt? Bleibt sie auch tagsüber zu?«

»Nein, nein«, sagte Yaeko und schloss auf. »Das habe ich nur aus Gewohnheit getan.«

»Ach so.«

Das heißt, es ist niemand oben, dachte Sasagaki.

Er öffnete die Schiebetür und stand in einem japanischen Tatami-Zimmer. Dahinter schien es noch einen weiteren Raum zu geben, aber die Schiebetür dazu war geschlossen. Wahrscheinlich war es das Schlafzimmer der Eheleute. Yaeko zufolge schlief Ryo bei den Eltern. Sasagaki konnte sich also vorstellen, dass dort nicht allzu viel eheliches Leben stattfand.

Der Hausaltar befand sich an der Westseite. Auf ihm stand ein kleines gerahmtes Foto von Yosuke Kirihara im Anzug, auf dem er lächelte und noch etwas jünger zu sein schien. Sasagaki zündete ein Räucherstäbchen an und verharrte zehn Sekunden mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen vor dem Altar.

Yaeko brachte Tee. Kniend verbeugte sich Sasagaki und nahm die Teeschale entgegen. Koga tat es ihm nach.

Sasagaki fragte Yaeko, ob sie sich an irgendetwas Ungewöhnliches erinnere, das mit dem Fall in Zusammenhang stehen könnte. Sie schüttelte sofort den Kopf. Auch Matsuura, der im Ladenraum saß, hatte nichts beizusteuern.

Unvermittelt erzählte Sasagaki von der Million Yen, die Kirihara abgehoben hatte. Yaeko und Matsuura machten erstaunte Gesichter.

»Eine Million Yen! Davon hat mein Mann mir nichts erzählt.«

»Ich hatte auch keine Ahnung«, sagte Matsuura. »Der Chef hat ja immer alles allein entschieden, aber bei einer so großen Summe hätte er schon mal ein Wort sagen können.«

»Hat Ihr Mann Geld für Vergnügungen ausgegeben? Hat er gespielt?«

»Nein, er hat nicht einmal gewettet. Ein Hobby hatte er auch nicht.«

»Im Grunde war das Geschäft sein Hobby«, ergänzte Matsuura.

»Und«, Sasagaki zögerte, »wie war’s mit dem anderen?«

»Mit welchem anderen?« Yaeko runzelte die Stirn.

»Ich meine, hatte er Frauengeschichten?«

»Ach so, ich verstehe.« Sie nickte. Es wirkte nicht, als hätte er einen Nerv getroffen. »Ich glaube nicht, dass er noch eine andere Frau hatte. Er war nicht der Typ dafür«, sagte sie entschieden.

»Sie haben Ihrem Mann also vertraut?«

»Ob ich es Vertrauen nennen würde …« Yaeko senkte den Blick.

Nach ein paar weiteren Fragen erhoben sich die Kommissare. Viel hatten sie nicht herausgefunden.

Als sie sich die Schuhe anzogen, fiel Sasagaki ein Paar abgewetzte Turnschuhe neben der Tür auf. Die gehörten bestimmt Ryo. Er musste also doch im ersten Stock sein.

Sasagaki schaute auf die Tür mit dem Schloss. Was machte der Junge allein dort oben?

4

Im Zuge der Ermittlungen klärte sich mehr und mehr, an welchen Orten Yosuke Kirihara gewesen war.

Er war um 14.30 Uhr von zu Hause aufgebrochen, dann zunächst zur Sankyo-Bank gegangen, um das Geld abzuheben, und hatte anschließend im Imbiss Saganoya Soba mit Hering gegessen. Kurz nach vier hatte er das Lokal wieder verlassen.

Die Frage war nun, was er als Nächstes unternommen hatte. Ein Kellner vom Saganoya erinnerte sich, dass Kirihara vom Bahnhof weggegangen war. Er war also aller Wahrscheinlichkeit nach nirgendwohin gefahren. Am Bahnhof war er nur gewesen, um das Geld abzuheben.

Die Polizei konzentrierte ihre Nachforschungen auf die Umgebung des Bahnhofs Fuse und des Tatorts und entdeckte dabei eine weitere Spur.

Kirihara war in der Bahnhofsfiliale einer Konditoreikette namens Harmony gewesen, wo er nach »dem Pudding mit Früchten« gefragt hatte. Gemeint hatte er vermutlich den »Pudding à la mode«, eine Spezialität der Kette, die aber ausverkauft gewesen war. Kirihara hatte sich daraufhin nach einem Geschäft erkundigt, in dem es vielleicht noch welchen zu kaufen gab.

Eine Angestellte hatte ihm auf einer Karte den Weg zu einer anderen Filiale von Harmony gezeigt, worauf der Kunde sich gefreut habe. Sie liege direkt auf seinem Weg. Hätte ich nur gleich gefragt, soll er gesagt haben. Die Angestellte erklärte den Beamten, die andere Harmony-Filiale sei in Oe-nishi-rokuchome. Ein Besuch dort bestätigte, dass Kirihara am späten Freitagnachmittag dort gewesen war und vier Pudding à la mode gekauft hatte. Wohin er anschließend wollte, wusste man nicht.

Es war allerdings kaum vorstellbar, dass er vier Desserts gekauft hatte, um sich mit einem Mann zu treffen. Also vermuteten die Ermittler, dass er zu einer Frau unterwegs gewesen war.

Parallel dazu fand sich in den Büchern des Pfandhauses der Name einer gewissen Fumiyo Nishimoto, die in Oe-nishi-rokuchome wohnte. Also machten Sasagaki und Koga sich auf den Weg, um dieser Dame einen Besuch abzustatten.

Das Mietshaus, in dem sie wohnte, hieß Yoshida Heights und lag in einem Gewirr aus heruntergekommenen Häusern mit Wellblechdächern. Die schmutzigen grauen Mauern waren von schwarzen Flecken und Rissen übersät, die man mit Beton verspachtelt hatte.

Fumiyo Nishimotos Wohnung hatte die Nummer 103. Die umliegenden Häuser standen so dicht beieinander, dass kaum ein Lichtstrahl ins Erdgeschoss fiel. Der Eindruck von Düsterkeit wurde noch verstärkt durch den halbdunklen, nach Moder riechenden Hausgang, der zudem voller rostiger Fahrräder stand.

Auf dem Weg zur Nummer 103 musste Sasagaki sich an Waschmaschinen vorbeidrängen, die die Bewohner aus Platzmangel im Flur aufgestellt hatten. An der dritten Tür klebte ein Zettel, auf den jemand mit Filzstift den Namen Nishimoto geschrieben hatte. Sasagaki klopfte.

»Ja?«, rief eine Mädchenstimme, aber die Tür wurde nicht geöffnet. »Wer ist da?«

Anscheinend war die Kleine allein zu Hause.

»Ist deine Mutter da?«, fragte Sasagaki durch die Tür.

Statt eine Antwort zu geben, wiederholte sie die Frage: »Wer ist da?« Sasagaki grinste seinen Kollegen an. Offenbar hatte man dem Mädchen eingeschärft, auf keinen Fall einem Fremden die Tür zu öffnen.

Sasagaki sprach gerade so laut, dass das Mädchen ihn hören konnte, aber die Nachbarn möglichst nichts mitbekamen.

»Wir sind von der Polizei und möchten deine Mutter etwas fragen.«

Das Mädchen schwieg. Vor Schreck, wie Sasagaki vermutete. Ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie in der sechsten oder siebten Klasse. In diesem Alter war es natürlich beängstigend, wenn plötzlich die Polizei vor der Tür stand.

Sie hörten, wie der Schlüssel herumgedreht wurde. Die Tür ging auf, ohne dass die Kette gelöst wurde. In dem etwa zehn Zentimeter breiten Spalt erschien das Gesicht eines Mädchens mit großen Augen. Ihre Haut war sehr hell und glatt wie Porzellan.

»Meine Mutter ist noch nicht zurück«, sagte das Mädchen in einem Ton, den man resolut nennen konnte.

»Ist sie einkaufen?«

»Nein, bei der Arbeit.«

»Wann kommt sie denn zurück?« Sasagaki sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach fünf.

»Sie kommt bestimmt gleich.«

»Gut, dann warten wir hier.«

Das Mädchen nickte und schloss die Tür. Sasagaki steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts und holte ein Päckchen Zigaretten heraus. »Sehr vernünftig, die Kleine«, sagte er leise zu Koga.

»Finde ich auch«, sagte dieser. »Außerdem …«

In dem Moment ging die Tür wieder auf. Diesmal ohne Kette. »Können Sie mir dieses Dings zeigen?«, fragte das Mädchen.

»Was für ein Dings?«

»Ihren Ausweis.«

»Ach so.« Erst jetzt verstand Sasagaki, was sie meinte. Er musste unwillkürlich lächeln. »Ja, natürlich.« Er zog seinen Polizeiausweis hervor und hielt ihn so, dass sie das Foto sehen konnte.

Nachdem sie sein Gesicht mit dem Foto verglichen hatte, öffnete sie die Tür ganz. »Bitte, kommen Sie herein«, sagte sie.

Sasagaki war ein wenig erstaunt.

»Wir können auch hier draußen auf deine Mutter warten.«

Die Kleine schüttelte den Kopf.

»Dann sehen die Nachbarn Sie.«

Sasagaki wechselte erneut einen Blick mit Koga. Er musste ein Grinsen unterdrücken.

»Vielen Dank«, sagte er, als er die Wohnung betrat. Sie war sehr klein für eine Familie. Man gelangte direkt in eine winzige Küche mit Holzboden und einem Waschbecken. Dahinter befand sich ein japanisches Zimmer von etwa zehn Quadratmetern.

In der kleinen Küche standen ein Tisch und zwei Stühle. Das Mädchen forderte die Kommissare auf, Platz zu nehmen. Anscheinend wohnten sie und ihre Mutter allein. Auf dem Tisch lag eine rosa-weiß karierte Wachstuchdecke mit Brandflecken an der Seite.

Das Mädchen setzte sich in das andere Zimmer, den Rücken gegen den Wandschrank gelehnt, und begann, in einem Buch zu lesen. An einem Aufkleber auf dem Einband war zu erkennen, dass sie es in der Bücherei ausgeliehen hatte.

»Was liest du denn da?«, fragte Koga.

Das Mädchen zeigte ihm schweigend den Einband. Koga rückte näher heran. »Oho«, sagte er bewundernd. »Du liest ja dicke Bücher.«

»Was liest sie denn?«, fragte Sasagaki.

»Vom Winde verweht.«

»Donnerwetter.« Sasagaki zeigte sich ebenfalls überrascht. »Ich habe nur den Film gesehen.«

»Ich auch. Ein ziemlich guter Film. Aber trotzdem wäre mir nie in den Sinn gekommen, das Buch zu lesen.«

»Überhaupt lese ich in letzter Zeit nicht viel.«

»Ich auch nicht. Nicht mal Mangas, seit Ashita no Joe eingestellt wurde.«

»Ach, das gibt es nicht mehr?«

»Nein, im Mai haben sie damit aufgehört. Seit keine neuen Ausgaben von Der Aufstieg der Giants und Joe mehr herauskommen, lese ich nichts mehr.«

»Das ist auch gut so. Wie sieht denn das aus, wenn ein Erwachsener Mangas liest?«

»Stimmt auch wieder«, sagte Koga.

Während die beiden sich unterhielten, las das Mädchen weiter, ohne aufzuschauen. Offenbar wusste sie, dass die beiden sich mit dem albernen Geschwätz die Zeit vertrieben.

Vielleicht empfand Koga genauso, denn auch er schwieg jetzt. Kurz darauf trommelte er mit den Fingern auf dem Tisch. Aber ein strafender Blick des Mädchens rief ihn zur Ordnung.

Sasagaki schaute sich beiläufig um. Möbel und Haushaltsgeräte waren auf das Notwendigste beschränkt, es gab keinen Gegenstand, den man im Entferntesten als Luxus hätte bezeichnen können, weder einen Schreibtisch noch Bücherregale. Direkt am Fenster stand zwar ein Fernseher, aber der war sehr alt und verfügte nur über eine Zimmerantenne. Vielleicht war es sogar noch ein Schwarzweißgerät. Bestimmt dauerte es endlos, bis das Bild erschien, wenn man ihn einschaltete. Und dann hatte es wahrscheinlich Streifen und flimmerte.

Es gab nicht nur einfach wenig Mobiliar. Obwohl ein junges Mädchen in der Wohnung lebte, hatte die Atmosphäre nichts Kindliches, nichts Fröhliches.

Direkt neben Sasagaki standen zwei Pappkartons. Mit der Fingerspitze hob er den Deckel des oberen an und spähte hinein. Er war bis zum Rand mit kleinen aufblasbaren Gummifröschen gefüllt, wie sie auf Abendmärkten verkauft wurden. Anscheinend stellten sie für Fumiyo Nishimoto einen zusätzlichen Nebenverdienst dar.

»Wie heißt du denn, kleines Fräulein?«, fragte Sasagaki das Mädchen. Irgendwie schien diese Anrede zu ihr zu passen.

»Yukiho Nishimoto«, antwortete sie, ohne aufzuschauen.

»Yukiho – wie schreibt man das denn?«

»Mit den Zeichen für Schnee und Ähre.«

»Schneeähre, das ist aber ein hübscher Name.« Er blickte Koga Zustimmung heischend an.

»Ja, wirklich«, pflichtete dieser ihm bei. Das Mädchen zeigte keine Reaktion.

»Hör mal, Yukiho, kennst du ein Pfandhaus Kirihara?«, fragte Sasagaki.

Yukiho antwortete nicht sofort. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nickte dann kurz. »Meine Mutter geht manchmal dorthin.«

»Kennst du den Mann, dem das Geschäft gehört?«

»Ja.«

»War er schon mal hier?«

Yukiho überlegte. »Ich glaube, ja«, sagte sie.

»Heißt das, du warst nicht da, als er hier war?«

»Kann sein. Aber ich weiß es nicht mehr.«

»Warum war er hier?«

»Weiß ich nicht.«

An dieser Stelle beschloss Sasagaki, die Kleine nicht weiter zu befragen. Ihm war nun klar, dass er dazu noch öfter Gelegenheit haben würde.

Er sah sich noch einmal in der Wohnung um. Nicht, dass er nach etwas Bestimmtem suchte, aber er war doch überrascht, als sein Blick auf den Mülleimer neben dem Kühlschrank fiel. Er war voll bis zum Rand, und ganz oben lag ein Papier mit dem Logo der Konditorei Harmony.

Sasagaki sah Yukiho an. Ihre Blicke trafen sich. Das Mädchen wandte sich sofort wieder ihrem Buch zu.

Sasagaki spürte, dass auch sie auf das Papier geschaut hatte.

Kurz darauf hob das Mädchen abrupt den Kopf. Sie klappte ihr Buch zu und sah zur Tür.

Sasagaki lauschte. Das leicht schlurfende Geräusch von Sandalen war zu hören. Koga schien es auch bemerkt zu haben, er öffnete den Mund.

Die Schritte näherten sich und machten vor der Wohnung halt. Mit einem metallischen Klimpern wurde der Schlüssel ins Schloss gesteckt.

»Es ist offen!«, rief Yukiho in Richtung Tür.

»Warum hast du nicht abgeschlossen? Das ist gefährlich.« Die Tür ging auf, und eine Frau in einer hellblauen Bluse betrat die Wohnung. Sie war etwa Mitte dreißig und trug ihr Haar im Nacken zusammengebunden.

Sobald Fumiyo Nishimoto die beiden Männer sah, huschte ihr Blick erschrocken zwischen ihrer Tochter und den Unbekannten hin und her.

»Sie sind von der Polizei«, sagte das Mädchen.

»Von der Polizei …?« Ein angstvoller Ausdruck erschien auf Fumiyo Nishimotos Gesicht.

»Polizei Osaka. Mein Name ist Sasagaki. Das ist mein Kollege Koga.« Die Kommissare erhoben sich.

Fumiyo war blass geworden und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Papiertüte in der Hand, stand sie wie erstarrt da, ohne die Tür zu schließen.

»Entschuldigen Sie unser Eindringen, aber wir ermitteln in einem Fall und würden Ihnen gern einige Fragen stellen.«

»In einem Fall …?«

»Es ist wegen dem Mann vom Pfandhaus«, schaltete Yukiho sich ein.

Fumiyo schluckte.

Aus den Mienen der beiden schloss Sasagaki, dass sie bereits vom Ableben Yosuke Kiriharas erfahren und darüber gesprochen hatten.

Koga stand auf. »Nehmen Sie doch erst einmal Platz«, sagte er und bot Fumiyo seinen Stuhl an. Sie ließ sich unverändert bestürzt darauf nieder.

Sasagaki fiel auf, wie regelmäßig ihre Gesichtszüge waren. Um die Augen wirkten sie etwas erschlafft, aber mit dem richtigen Make-up war sie zweifellos eine schöne Frau. Eine kühle Schönheit. Yukiho sah ihrer Mutter sehr ähnlich.

Yosuke Kirihara war zweiundfünfzig gewesen. Es hätte Sasagaki nicht gewundert, wenn die beiden eine Affäre gehabt hätten.

»Entschuldigen Sie, aber darf ich fragen, wo Ihr Mann ist?«

»Er ist vor sieben Jahren ums Leben gekommen. Bei einem Unfall auf der Baustelle, auf der er gearbeitet hat.«

»Das tut mir sehr leid. Und wo arbeiten Sie?«

»In einem Udon-Lokal in Imazato.« Es heiße Kikuya, und sie arbeite montags bis samstags von 11 bis 16 Uhr.

»Hat das Lokal eine gute Küche?«, fragte Koga freundlich, um die Stimmung etwas aufzulockern. Doch Fumiyo zuckte nur mit starrer Miene die Achseln. »Ja, ich glaube schon«, sagte sie.

»Sie wissen, dass Yosuke Kirihara verstorben ist?« Sasagaki beschloss, zur Sache zu kommen.

»Ja«, sagte Fumiyo leise. »Es kam sehr überraschend.«

Yukiho drängte sich an ihrer Mutter vorbei ins andere Zimmer, wo sie sich wieder mit dem Rücken zum Wandschrank auf den Boden setzte. Sasagaki folgte ihr mit den Augen, wandte sich dann aber wieder Fumiyo zu.

»Es ist sehr wahrscheinlich, dass Herr Kirihara in irgendetwas verwickelt war. Deshalb untersuchen wir, wo er sich aufgehalten hat, nachdem er letzten Freitagnachmittag sein Haus verlassen hat. Er war hier, nicht wahr?«

»Hier? Was? Nein …«, stotterte Fumiyo.

»Aber das war doch der Mann vom Pfandhaus«, schaltete Yukiho sich ein, »der den Pudding von Harmony mitgebracht hat, oder?«

Fumiyos Panik ließ sich fast mit Händen greifen. Ihre Lippen zitterten, als sie endlich sprach.

»Ah, ja, doch. Herr Kirihara war am Freitag hier.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Es war ungefähr …« Fumiyo blickte an Sasagakis rechter Schulter vorbei auf eine kleine Wanduhr über dem Kühlschrank. »Kurz vor fünf, glaube ich. Ich war gerade nach Hause gekommen.«

»Weshalb hat Herr Kirihara Sie aufgesucht?«

»Es gab keinen besonderen Grund. Er sagte, er habe in der Nähe zu tun gehabt. Herr Kirihara wusste, dass ich es als alleinerziehende Mutter finanziell nicht leicht habe und war manchmal so freundlich, mich zu beraten.«

»Er war in der Nähe? Das ist seltsam.« Sasagaki deutete auf das Papier von Harmony im Mülleimer. »Das hat doch Herr Kirihara mitgebracht, nicht wahr? Wir wissen aber, dass er die Sachen ursprünglich am Bahnhof Fuse kaufen wollte. Er hatte also, als er am Bahnhof war, schon die Absicht, zu Ihnen zu kommen. Und Fuse ist ziemlich weit von hier.«

»Ich kann Ihnen nur sagen, was Herr Kirihara mir gesagt hat. Er sei in der Nähe gewesen und deshalb vorbeigekommen …« Fumiyo senkte den Blick.

»Na gut, belassen wir es dabei. Wie lange war Herr Kirihara bei Ihnen?«

»Ich glaube, er ist kurz vor sechs gegangen.«

»Vor sechs? Sind Sie sicher?«

»Ziemlich sicher.«

»Das heißt, Herr Kirihara war etwa eine Stunde bei Ihnen? Worüber haben Sie gesprochen?«

»Nichts Besonderes … Nur Alltägliches.«

»Das kann ja vieles sein – vom Wetter bis zu Geldangelegenheiten.«

»Er hat vom Krieg gesprochen …«

»Vom Pazifikkrieg?«

Sasagaki wusste, dass Yosuke Kirihara Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen war. Aber Fumiyo schüttelte den Kopf.

»Nein, von einem Krieg im Ausland. Herr Kirihara sagte, dass dadurch die Ölpreise wieder steigen würden.«

Das musste der Jom-Kippur-Krieg sein, der Anfang des Monats ausgebrochen war.

»Er sagte auch, die japanische Wirtschaft würde den Bach runtergehen. Wahrscheinlich würden wir bald keine aus Öl hergestellten Waren mehr bekommen. Es würde jetzt nur noch darum gehen, wer auf der Welt das meiste Geld und die größte Macht hat. Das hat er gesagt.«

»Aha.«

Sasagaki beobachtete Fumiyo. Sie hielt den Blick weiter gesenkt, aber er hatte den Eindruck, dass sie die Wahrheit sagte. Die Frage war nur, warum Kirihara ausgerechnet mit ihr über dieses Thema gesprochen hatte.

Wollte er damit signalisieren, dass er Geld und Macht besaß, um sie für sich zu gewinnen? Den Büchern des Pfandhauses zufolge hatte Fumiyo Nishimoto kein einziges Pfand wieder eingelöst. Es war vorstellbar, dass Kirihara von ihrer Armut profitieren wollte.

Sasagaki warf einen Blick auf Yukiho. »Und wo war Ihre Tochter zu der Zeit?«

»Sie war in der Bücherei … Stimmt doch, oder?«

»Genau«, antwortete Yukiho.

»Ich verstehe. Da hast du dir Vom Winde verweht ausgeliehen. Gehst du oft in die Bücherei?«, fragte er.

»Ein oder zwei Mal die Woche.«

»Auf dem Heimweg von der Schule?«

»Ja.«

»Gehst du immer an bestimmten Tagen? Zum Beispiel montags und freitags? Oder dienstags und freitags?«

»Nein, ich habe keine festen Tage.«

»Machen Sie sich da keine Sorgen? Sie wissen ja nicht, ob Ihre Tochter wirklich in der Bücherei ist, wenn sie sich verspätet.«

»Nein, sie ist ja immer kurz nach sechs zu Hause«, sagte Fumiyo.

»Bist du am Freitag auch um diese Zeit nach Hause gekommen?«, wandte Sasagaki sich wieder an Yukiho.

Das Mädchen nickte stumm.

»Und sind Sie, nachdem Herr Kirihara weg war, den ganzen Abend zu Hause geblieben, Frau Nishimoto?«

»Nein, ich bin noch einkaufen gegangen. Bei Marukaneya.«

Der Supermarkt Marukaneya war nur wenige Fußminuten von ihrem Haus entfernt.

»Haben Sie unterwegs jemanden getroffen?«

Fumiyo überlegte. »Ja, Frau Kinoshita«, antwortete sie. »Die Mutter einer Mitschülerin von Yukiho.«

»Haben Sie ihre Telefonnummer?«

»Ich glaube ja.«

Fumiyo griff nach einem Adressbuch, das neben dem Telefon lag, und schlug es auf dem Tisch auf. »Kinoshita – da ist die Nummer«, sagte sie und deutete mit dem Finger darauf.

Sasagaki wartete, bis Koga sich die Nummer notiert hatte, und fragte dann weiter. »War Ihre Tochter schon zurück, als Sie einkaufen gingen?«

»Nein, noch nicht.«

»Um wie viel Uhr sind Sie vom Einkaufen zurückgekommen?«

»Das war so kurz nach halb sieben.«

»War Ihre Tochter schon da?«

»Ja.« Fumiyo nickte.

»Und danach sind Sie nicht mehr ausgegangen?«

»Nein.«

Sasagaki warf Koga einen Blick zu, der bedeutete, ob er noch Fragen habe. Statt einer Antwort schüttelte sein Kollege den Kopf.

»Entschuldigen Sie, dass wir Sie so lange aufgehalten haben. Wahrscheinlich müssen wir Sie auch später noch mal mit einigen Fragen behelligen.« Sasagaki erhob sich.

Die beiden Beamten verließen die Wohnung. Fumiyo brachte sie bis vor die Tür. Da Yukiho nicht mitgekommen war, beschloss Sasagaki, der Mutter noch eine weitere Frage zu stellen.

»Dürfte ich Sie noch etwas Privates fragen, Frau Nishimoto?«

»Was denn?« Wieder nahm Fumiyos Gesicht einen panischen Ausdruck an.

»Hat Herr Kirihara Sie einmal zum Essen eingeladen? Oder haben Sie sich außerhalb Ihrer Wohnung mit ihm getroffen?«

Fumiyos Augen weiteten sich, dann antwortete sie heftig. »Nein, so etwas ist kein einziges Mal vorgekommen.«

»Dann frage ich mich, weshalb Herr Kirihara so besorgt um Sie war.«

»Ich glaube, wir taten ihm leid. Herr Kommissar, verdächtigen Sie mich, etwas mit Herrn Kiriharas Tod zu tun zu haben?«

»Nein, nein. Wir überprüfen nur einige Dinge.«

Er verabschiedete sich, und die Polizisten verließen die Wohnung. Als sie um die nächste Ecke herum und außer Sicht waren, wandte er sich an Koga.

»Da stimmt etwas nicht.«

»Damit könnten Sie recht haben«, pflichtete der jüngere Kommissar ihm bei.

»Warum hat sie zuerst geleugnet, dass Kirihara am Freitag bei ihr war? Yukiho hatte dann wohl das Gefühl, die Wahrheit sagen zu müssen. Dabei hätte sie ihrer Mutter doch eigentlich beistehen müssen. Aber da ich das Puddingpapier gesehen hatte, dachte sie wahrscheinlich, es hätte keinen Zweck zu lügen.«

»Das wäre dem Mädchen zuzutrauen.«

»Fumiyo ist also nach ihrer Schicht im Udon-Lokal nach Hause gegangen, wie immer gegen fünf. Dann kam Kirihara. Zu der Zeit war Yukiho in der Bücherei, und sie kam erst zurück, als er wieder weg war. Das Timing ist fast zu gut.«

»Ob sie seine Geliebte war? Und während er bei der Mutter ist, muss die Tochter irgendwo draußen die Zeit totschlagen.«

»Könnte sein. Aber wenn sie seine Geliebte war, hätte er sie doch sicher finanziell unterstützt, und sie hätte nicht auch noch Spielzeug herstellen müssen.«

»Vielleicht war er noch dabei, sie zu erobern.«

»Wäre denkbar.«

Die beiden Kommissare beeilten sich, zum Polizeirevier von Fuse zu gelangen.

»Vielleicht war es Totschlag im Affekt«, sagte Sasagaki, nachdem er Nagatsuka berichtet hatte, was sie herausgefunden hatten. »Möglicherweise hat Kirihara seiner Angebeteten die Million Yen gezeigt, die er gerade von der Bank geholt hatte.«

»Und sie hat ihn getötet, weil sie das Geld wollte? Aber sie hätte die Leiche doch nie allein von ihrer Wohnung in das Gebäude transportieren können«, wandte Nagatsuka ein.

»Vielleicht hat sie ihn unter irgendeinem Vorwand in das Gebäude gelockt. Das ist doch nicht auszuschließen.«

»Der Rechtsmediziner meint jedenfalls, die Wunden hätte ihm durchaus auch eine Frau zufügen können.«

»Außerdem wäre Kirihara ihr gegenüber arglos gewesen.«

»Das heißt, als Erstes müssen wir herausfinden, ob Fumiyos Alibi stimmt.«

5

Gegenüber vom Supermarkt Marukaneya lag ein kleiner Park mit einem Spielplatz. Es gab Schaukeln, eine Rutschbahn und einen Sandkasten. Zum Ballspielen war zwar nicht genug Platz, aber die Mütter konnten ihre Kinder, während sie einkauften, unbesorgt dort spielen lassen. Außerdem diente der Spielplatz den Hausfrauen auch zum Austausch von Klatsch, oder sie konnten ihr Kind einer Bekannten anvertrauen, um in Ruhe ihre Einkäufe zu erledigen.

An dem Abend, als Yosuke Kirihara gegen 18.30 Uhr ermordet worden war, hatten Fumiyo Nishimoto und Yumie Kinoshita sich zufällig im Supermarkt getroffen. Fumiyo war bereits fertig und auf dem Weg zur Kasse, Frau Kinoshita gerade erst angekommen. Die beiden wechselten ein paar Worte und trennten sich wieder.

Als Frau Kinoshita den Laden verließ, war es nach 19 Uhr. Sie wollte mit ihrem Fahrrad, das sie am Rand des Parks abgestellt hatte, nach Hause fahren. Dabei sah sie Fumiyo auf einer Schaukel sitzen und gedankenverloren vor sich hinstarren.

Die Frage des Kommissars, ob sie sicher sei, dass die Person Fumiyo Nishimoto gewesen sei, bejahte Yumie Kinoshita.

Ihre Aussage wurde außerdem von einem älteren Mann bestätigt, der vor dem Supermarkt einen Stand mit Takoyaki – Oktopus-Klößchen – betrieb. Er sagte, die Dame habe bis fast 20 Uhr, als der Supermarkt schloss, auf der Schaukel im Park gesessen. Seine Beschreibung stimmte mit Fumiyos äußerer Erscheinung überein.

Mittlerweile gab es auch neue Informationen über Yosuke Kiriharas Aufenthalt nach seinem Besuch bei Fumiyo. Ein Apotheker, der mit ihm bekannt war, hatte ihn am Freitag nach 18 Uhr ohne Begleitung herumlaufen sehen. Er gab an, zuerst habe er Kirihara ansprechen wollen, dann aber bemerkt, dass dieser es eilig hatte, und davon Abstand genommen. Die Stelle, wo er ihn gesehen hatte, befand sich ziemlich genau in der Mitte zwischen Fumiyo Nishimotos Wohnung und dem Fundort der Leiche.

Die Tatzeit lag zwischen 17 und 20 Uhr. Demnach bestand die Möglichkeit, dass Fumiyo die Schaukel verlassen hatte, zum Tatort geeilt war und den Mord begangen hatte. Dennoch war der größte Teil der Ermittler der Ansicht, dass diese Möglichkeit gering war. In dem Fall hätte der Mord erst nach 20 Uhr stattfinden können. Aber es war so gut wie sicher, dass Kiriharas Tod zwischen 18 und 19 Uhr eingetreten war.