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Der Feelgood-Bestseller aus dem Literaturland Japan – bewegend, inspirierend und wunderschön.
In einem entlegenen Shinto-Schrein nahe Tokio findet ein geheimnisvolles Ritual statt: Während der Neumondnächte darf ein einzelner Gast mit einer Kerze das Innere eines hohlen Baumes betreten – und an diesem Ort eine Erinnerung hinterlassen. Diese besitzt die Kraft, die Zukunft eines Mitglieds seiner Familie zu verändern. Der junge Reito kennt das Geheimnis des Schreins zuerst nicht. Doch indem er beobachtet, welche Wunder des Nachts im Inneren des Baumes geschehen, erfährt auch er mehr über sich selbst, seine Herkunft und was es bedeutet, einer Familie anzugehören ...
Eine inspirierende Geschichte über drei zerbrochene Familien, die wieder ganz werden. Nach »Kleine Wunder um Mitternacht« der neue Roman des japanischen Bestsellerautors.
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Seitenzahl: 581
Veröffentlichungsjahr: 2025
In einem entlegenen Shinto-Schrein nahe Tokio findet ein geheimnisvolles Ritual statt: Während der Neumondnächte darf ein einzelner Gast mit einer Kerze das Innere eines hohlen Baumes betreten – und an diesem Ort eine Erinnerung hinterlassen. Diese besitzt die Kraft, die Zukunft eines Mitglieds seiner Familie zu verändern. Der junge Reito kennt das Geheimnis des Schreins zuerst nicht. Doch indem er beobachtet, welche Wunder des Nachts im Inneren des Baumes geschehen, erfährt auch er mehr über sich selbst, seine Herkunft und was es bedeutet, einer Familie anzugehören …
Eine inspirierende Geschichte über drei zerbrochene Familien, die wieder ganz werden. Nach »Kleine Wunder um Mitternacht« der neue Roman des japanischen Bestsellerautors.
Keigo Higashino wurde 1958 in Osaka, Japan, geboren und ist ein mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Bestsellerautor. Nach seinem Studium an der Osaka Prefecture University und einer Tätigkeit als Ingenieur begann er, Romane zu schreiben – und zwar mit sensationellem Erfolg. Allein in Japan hat Higashino 100 Millionen Bücher verkauft und ist auch international bekannt für seine Krimis (z. B. die bekannte Reihe über den Physikprofessor Yukawa) sowie für seine inspirierenden Feelgood-Romane, darunter die Bestseller »Kleine Wunder um Mitternacht« und »Der Baum der verborgenen Erinnerungen«. Higashino lebt zurückgezogen in Tokio.
Von Keigo Higashino bereits erschienen:
Kleine Wunder um Mitternacht
KEIGO HIGASHINO
Roman
Deutsch von Yukiko Luginbühl
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Kusunoki no Bannin (Camphor Tree Guardian)« bei Jitsugyo no Nihon Sha, Ltd., Tokyo.
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Copyright der Originalausgabe © Keigo Higashino 2020
Originally published in Japan in 2020 by Jitsugyo no Nihon Sha, Ltd.
German translation rights arranged with Jitsugyo no Nihon Sha, Ltd. through TOHANCORPORATION, Tokyo.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Bernd Stratthaus
Umschlaggestaltung: © Anke Koopmann | Designomicon
Umschlagmotive: © manmosu, Udalov Kornelius, Vibrands Studio / Shutterstock
BV · Herstellung: KH
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-32625-8V002
www.limes-verlag.de
Dumpf und rostig hallte der Klang der alten Schreinglocke durch die Stille. Reito unterbrach sein Game und ließ den Blick nach oben aufs Display wandern. Die Uhr seines Smartphones zeigte 22 : 05. Er schloss die App und ließ das Handy in der Innentasche seines Samue verschwinden. Er verrenkte den Kopf ein paarmal. Es knackte trocken. War er nun wirklich über zwanzig Minuten in dieses Spiel versunken gewesen? Gefährliche Sache.
Reito erhob sich und schob den Vorhang des Fensters neben ihm etwas zur Seite. Er blickte durch den schmalen Spalt nach draußen, als er im verhaltenflackernden Licht der Steinlaterne einen stämmigen Mann in einer Fliegerjacke stehen sah. Der Mann hatte kurzes Haar und ein markant zerfurchtes Gesicht. Er mochte etwa Mitte fünfzig sein.
Reito schlüpfte auf dem gestampften Boden im Eingangsbereich in seine Turnschuhe und griff nach der Papiertüte, die er dort bereitgestellt hatte. Er öffnete die Schiebetür und verließ das Schreinbüro.
Der Mann zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er Reito erblickte.
»Sind Sie Herr Toshiaki Saji?«
»Ja, korrekt. Aber …«
»Freut mich. Ich habe Sie schon erwartet.«
Herr Saji musterte Reito prüfend. »Du bist also der Neue?«
»Ja. Ich bin seit diesem Monat für den Kampferbaum zuständig. Mein Name ist Naoi.«
»Ja. Frau Yanagisawa hat etwas erwähnt … Du bist ein Verwandter von ihr?«
»Ich bin ihr Neffe.«
»Alles klar.« Herr Saji überlegte kurz. »Wie heißt du noch mal?«
»Naoi. Reito Naoi.«
»Naoi-kun. Werde ich mir merken«, sagte Herr Saji, ohne den Blick von Reito zu wenden. Seine Neugierde war unverkennbar. Wie kam dieser unschuldige junge Kerl zu einem solchen Job, fragte er sich. Reito hätte es ihm wohl erzählen können. Aber das hätte zu lange gedauert.
»Bitte sehr«, sagte dieser stattdessen nüchtern und hielt Herrn Saji die Papiertüte hin. »Die Kerzen. Sie brennen etwa zwei Stunden. Reicht Ihnen das?«
»Danke, ja. Bis Mitternacht bin ich durch. Wie gewohnt.«
»Streichhölzer haben Sie?«
»Habe ich dabei, danke.«
»Alles klar. Achten Sie bitte sorgfältig auf das Feuer.«
»Ja, das weiß ich langsam. Ihr warnt mich jedes Mal.«
»Verzeihung. Und gehen Sie vorsichtig, es ist dunkel. Möge der Kampferbaum Ihr ›Nen‹ erhören.« Zu Beginn hatte sich Reito hier jedes Mal verhaspelt. Endlich ging ihm der Spruch etwas leichter über die Lippen. Herr Saji bedankte sich und knipste die Taschenlampe an. Dann drehte er Reito den Rücken zu und lief langsam in Richtung des Dickichts, das sich am rechten Ende der Schreinanlage befand. Jetzt in der Dunkelheit konnte man es von hier aus nicht sehen, aber Herr Saji müsste schon bald auf ein hölzernes Schild mit der Aufschrift Kampferbaum Andachtsstätte stoßen. Dort begann, auf beiden Seiten von wucherndem Gestrüpp gesäumt, ein schmaler Pfad.
Reito kehrte ins Schreinbüro zurück. Er schnappte sich seine Taschenlampe und den Klappstuhl, der an der Wand stand, und ging gleich wieder nach draußen. Gerade wollte er es sich auf dem Stuhl neben der Eingangstür bequem machen, als er in der Dunkelheit am Rande seines Blickfelds auf einmal eine Bewegung wahrnahm. Erschrocken drehte er den Kopf. Im Gebüsch am oberen Ende der Schreinanlage bemerkte er etwas Graues. Eine streunende Katze oder irgendein anderes Tier konnte es nicht sein, dafür war es zu groß. Es war ein Mensch … Jetzt sah Reito den Lichtstrahl, der im Takt der Bewegungen hinter den Büschen aufblitzte. Der Eindringling leuchtete sich mit einer Taschenlampe den Weg. Wer konnte das um diese Uhrzeit nur sein? Ein Dieb bestimmt nicht. Wertvolle Gegenstände, für die sich eine solche Aktion lohnte, gab es hier im Schrein keine, Geld schon gar nicht. Es gab ja nicht einmal einen Opferkasten in diesem Schrein, der diese Bezeichnung vielleicht gar nicht mehr verdiente.
Ganz vorsichtig, um möglichst jedes Knacken unter seinen Füßen zu vermeiden, näherte sich Reito dem nächtlichen Besucher. Seine Taschenlampe schaltete er nicht ein.
Der Eindringling war an etwa der Stelle stehen geblieben, an der Herr Saji im Dickicht verschwunden war – also kurz vor dem Eingang zur Andachtsstätte im Kampferbaum – , und spähte angestrengt ins Gebüsch. Reito erkannte einen weißen Kapuzenpulli. Von hinten sah er, dass der Typ ziemlich klein war. Er schien so vertieft in sein Vorhaben, dass er sich nicht beobachtet fühlte.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Reito schließlich laut und knipste die Taschenlampe an. Die Gestalt vor ihm schrie kurz auf und zuckte erschrocken zusammen. Als sie sich zögernd umdrehte, sah Reito, dass es sich um eine junge Frau handelte. Ihr Gesicht war winzig … Umso beeindruckender waren ihre großen, weit aufgerissenen Augen, mit denen sie ihn anstarrte. Geblendet vom Licht der Taschenlampe, hielt sie sich schützend eine Hand vors Gesicht.
»Wer bist du?«, fragte Reito und senkte die Taschenlampe ein bisschen. »Was machst du hier?«
Die junge Frau schien etwas sagen zu wollen. Sie schnappte kurz nach Luft, brachte aber kein Wort heraus.
»Eine Bekannte von Herrn Saji?«, fragte Reito weiter.
Wie versteinert stand die Frau da.
»Hey, hör mal zu, um diese Uhrzeit darf man hier nicht einfach rein, verstehst du? Wenn du zum Kampferbaum willst, musst du dich vorher anmelden.« Doch Reito hatte kaum zu Ende gesprochen, als die junge Frau einen Satz machte und mit kleinen, flinken Schritten davonlief. Ihr Smartphone warf einen fahlen Lichtstrahl auf den Boden vor ihr. Es war vorhin also ihr Handy gewesen, das er gesehen hatte, keine Taschenlampe …
Etwas war hier faul, daran bestand kein Zweifel. Aber der Frau nachzulaufen und sie ins Kreuzverhör zu nehmen, fand Reito dann doch übertrieben. Allein schon die Tatsache, dass es eine junge Frau war, könnte ihn in unnötige Schwierigkeiten bringen, und darauf hatte er keine Lust. Reito beschloss, sich wieder auf seinen Stuhl vor dem Büro zu setzen. Er zog das Handy wieder aus der Innentasche seines Samue und begann, einen Science-Fiction-Film zu gucken. Ab und zu schaute er vom Bildschirm hoch und ließ den Blick über die Schreinanlage schweifen, aber dort regte sich nichts mehr. Die junge Frau von vorhin musste abgehauen sein.
Kurz nach Mitternacht trat Toshiaki Saji wieder aus den Büschen. Reito stand auf und ging auf ihn zu.
»So, ich bin fertig für heute«, sagte Herr Saji.
Reito nickte. »Sie sind bestimmt müde.«
»Ach, geht schon. Für morgen Abend müsste ich auch eingetragen sein.«
»Ja, das haben wir so notiert. Dann bis morgen, kommen Sie gut nach Hause.« Reito zögerte kurz und überlegte, ob er Herrn Saji von der jungen Frau erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben. »Gute Nacht!«
Auch Herr Saji verabschiedete sich.
Reito erleuchtete sich mit der Taschenlampe den Weg und ging den schmalen Pfad entlang, der vom Eingang der Andachtsstätte aus ins Dickicht führte. Das wuchernde Gestrüpp zu beiden Seiten machte den Pfad so eng, dass zwei Menschen darauf gerade noch aneinander vorbeipassten. Wenn man am Ende des Pfads angelangt war, lichtete sich das Gestrüpp, und man konnte direkt auf den Baum blicken, der einem riesigen Ungeheuer glich – den Kampferbaum. Mit seinen mindestens fünf Meter Durchmesser war er ein Koloss. Er war über zehn Meter hoch. Dicke Äste, die sich am Stamm entlang in die Höhe wanden, erinnerten an ineinander verschlungene Riesenschlangen. Damals, als er den Baum zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, war Reito so überwältigt gewesen, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte. Die fleischigen, fest im Boden verankerten Wurzeln bildeten über- und untereinander verlaufend ein kompliziertes Muster. Man musste sorgfältig darauf achten, wohin man trat, um nicht zu stolpern.
Reito umrundete den Stamm einmal von links. Auf der einen Seite befand sich eine riesige Öffnung. Sie war so groß, dass sich ein erwachsener Mensch nur leicht bücken musste, um hindurchzugehen. Behutsam setzte Reito zunächst einen Fuß hinein und betrat dann ganz den Hohlraum im Innern des Baums, dessen Fläche etwa drei Tatamimatten groß war. Ein Teil der Innenwand war eingekerbt und bildete einen knapp fünf Zentimeter breiten Sims. Zweifellos war dieser von Menschenhand gemacht, von wem genau, wusste jedoch niemand. Auf dem Sims stand der Kerzenständer, den Reito am frühen Abend für Herrn Saji bereitgestellt hatte. Die Kerzen, die darin steckten, waren nur noch kleine, etwa einen Zentimeter lange erloschene Stummel. Vor dem Kerzenständer lag ein weißes Kuvert. »Beitrag für die Kerzen« stand darauf. Reito schielte hinein und fand einen 10 000-Yen-Schein darin. Wer gibt denn 10 000 Yen für so etwas aus, fragte er sich. Aber gut, dann war es Herrn Saji das eben wert. Jeder hatte seine eigenen Prioritäten. Reito steckte das Kuvert in den Schlitz seines Samue und griff nach dem Kerzenständer. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, verließ er die Höhle wieder. Draußen blickte er wie zufällig in den Nachthimmel hinauf. Der Mond stand groß über ihm. Täuschte er sich, oder war er heute noch ein Stück runder als gestern? Morgen wäre endlich Vollmond.
Reito kehrte ins Büro zurück und machte sich ans Aufräumen. Als das Gröbste erledigt war, schielte er kurz zum kleinen Kühlschrank hinüber. Nein, von den Chûhai-Dosen wollte er heute die Finger lassen. Morgen ging es früh los, Alkohol würde ihn jetzt nicht weiterbringen. Er putzte sich am Waschbecken des Aufenthaltsraums die Zähne und wusch sich das Gesicht. Dann löschte er das Licht und legte sich auf seinen Futon. Er zog sich die Decke bis unter die Nase. Ein langer Tag ging endlich zu Ende. Reito schloss die Augen und spürte schon, wie ihn gleich der Schlaf übermannen würde. Doch während seine Gedanken immer mehr verschwammen, schlich sich ein seltsamer Zweifel bei ihm ein. War das alles wirklich wahr? Oder würde er morgen früh erwachen und merken, dass er sich ganz woanders befand? An dem Ort, wo er vor einem Monat noch gewesen war? Sein Nachtlager dort war noch unbequemer als dieses hier gewesen. Für die Arrestzelle eines Polizeireviers eigentlich kein Wunder …
Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und versuchter Diebstahl waren die Verbrechen, deren Reito sich schuldig gemacht hatte. Eingebrochen war er in das Lager der Firma »Toyoda Machinery«, einem Recyclingunternehmen für gebrauchte Werkzeugmaschinen, in dem er etwa ein Jahr lang gearbeitet hatte, bevor er vor zwei Monaten die Stelle wieder hingeschmissen hatte. Genauer gesagt wurde ihm gekündigt. Der Grund: Reito hatte einem Kunden offen mitgeteilt, dass die Erodiermaschine, die dieser schon mitnehmen wollte, einen Defekt hatte. Dummerweise hatte der Kunde das dem Chef erzählt.
»Oh, darauf hat mich ihr Mitarbeiter dort drüben aufmerksam gemacht«, hörte ihn Reito zu seinem Boss sagen. Dieser schäumte natürlich vor Wut, und Reito war seinen Job noch am selben Tag los.
Reito hatte versucht, sich zu rechtfertigen, so gut er konnte: »Was bitte ist falsch daran, die Wahrheit zu sagen?«, brauste er auf. »Ich will niemanden betrügen. Ich wollte nur ein ehrliches Geschäft machen.«
Doch Toyoi fletschte nur die Zähne. »Pah! ›Ehrliche Geschäfte‹ … mit dem Kunden unter eine Decke kriechen, und den Verlust soll der Boss tragen, ja? Hast wohl gedacht, dass ich das nicht merke, was?«
Reito verschlug es die Sprache. Denn es stimmte. Es war genau, wie er sagte.
»Du bist gefeuert! Verschwinde! Mach, dass du hier wegkommst!«, brüllte Toyoi.
»Gut.« Reito schnalzte mit der Zunge. »Dann geben Sie mir aber auch mein Entlassungsgeld.«
»Pah! Ich höre wohl nicht richtig!«
»Das steht mir aber zu. Das und der restliche Lohn. Wenn Sie nicht bezahlen, zeige ich Sie an.«
»Red keinen Schwachsinn! Keinen Yen bezahl ich dir. Ein Taugenichts wie du … Dankbar solltest du sein, dass du hier arbeiten und auch noch wohnen durftest! Ich sollte von dir ein paar Scheine kriegen und nicht umgekehrt!« Toyoi donnerte und schwang dabei drohend einen Schraubenschlüssel in der Luft. »Was machst du für ein Gesicht, hä? Wenn du dich beschweren willst, geh ruhig vor Gericht oder von mir aus sonst wohin!«
Reito stürmte wutentbrannt zur Tür hinaus.
Nun hatte er also seinen Job verloren. Und auch sein Zimmer in der Mitarbeiterunterkunft musste er räumen – obwohl, was hieß da Zimmer, gerade einmal fünf Tatamimatten war es groß, wie eine Besenkammer!
Da er keine Ersparnisse hatte, begann für ihn eine harte Zeit. Reito lief von einem Internetcafé zum nächsten. Tagsüber hielt er sich mit irgendwelchen Gelegenheitsjobs über Wasser, die ihm seine Kumpels vermittelten, doch allein das Geld für die Handyrechnung zusammenzukratzen, kostete ihn alle Kraft. Für eine anständige Mahlzeit reichte es schon lange nicht mehr.
Er sah sich bereits elend auf der Straße verrecken, als ihm eines Tages ein ehemaliger Arbeitskollege von »Toyoda Machinery« eine Information zukommen ließ. Dem Kollegen zufolge hatte sein ehemaliger Chef einem vor Kurzem pleitegegangenen Fabrikunternehmen einen lasergesteuerten Wegsensor abgekauft. Neu kostete so ein Teil mindestens zwei Millionen Yen! Die Person, die Toyoda das Gerät angeboten hatte, war die Witwe des Geschäftsführers. Sie hatte keinen Schimmer von den Preisen im Gebrauchtwarenhandel. Sie sei heilfroh, wenn sie es nur irgendwie loswerden könne, sagte sie und verkaufte Toyoda das Gerät für lächerliche 20 000 Yen.
»Er hat irgendwas von Mängeln und so gelabert und schon hatte er es ihr abgeluchst. Die alte Masche von dem Geizkragen«, empörte sich der Kollege.
Reito erfuhr außerdem, dass der lasergesteuerte Wegsensor recht klein war, er ließ sich also mühelos transportieren. Daran, dass er tadellos funktionierte, hatte er nicht den leisesten Zweifel. Er müsste ihn nur verkaufen und würde locker über eine Million Yen dafür bekommen. Dann hol ich mir anstelle meines Entlassungsgeldes eben dieses Gerät, dachte er bei sich. Tatsächlich hatte er sich schon öfter überlegt, in die Firma einzubrechen. Es ist zwar nicht in Ordnung, andere zu bestehlen, dachte er. Aber, wenn es um »Toyoda Machinery« ging, konnte man mal ein Auge zudrücken. Bei diesem lasergesteuerten Wegsensor handelte es sich doch nur um ein weiteres jener unzähligen schmutzigen Geschäfte seines Chefs. Allein der Firmenname »Toyoda« sprach ja Bände. Es war klar, warum er aus »Toyoi Machinery«, wie die Firma eigentlich hätte heißen müssen, »Toyoda Machinery« gemacht hatte. Potenzielle Kunden sollten sein Unternehmen für eine Tochterfirma des weltberühmten japanischen Autoherstellers halten und ihm stolze Gewinne einbringen. Was für ein durchtriebener Gauner! Bei jemandem wie ihm hatte Reito kein schlechtes Gewissen. Und überhaupt: Er war unrechtmäßig entlassen worden. Wenn er nicht bekam, was ihm zustand, dann holte er es sich eben auf diesem Weg. Normalerweise gab es kaum eine Chance, bei einem Einbruch an Geld oder Wertgegenstände zu kommen. Die Kasse war immer verschlossen, und selbst wenn er sich irgendwie einen Schlüssel beschaffen konnte, enthielt sie womöglich kein Geld. Die teuersten Geräte und Maschinen im Lager wogen Tonnen, es bestand keine Möglichkeit, sie allein dort herauszubekommen. Doch dieses Mal, dieses eine Mal, war die Situation anders. Im Lager schlummerte nun dieser lasergesteuerte Wegsensor, den er für über eine Million Yen weiterverkaufen konnte und der zudem auch noch federleicht war. Er durfte allerdings nicht zu lange warten. Sobald Toyoi einen Käufer für das Ding gefunden hatte, wäre die Chance vertan.
Reito entschied, den Einbruch am darauffolgenden Samstag durchzuführen. Wo die Sicherheitskameras angebracht waren, wusste er nach seinem Jahr bei Toyoda. Zudem ließ das Überwachungssystem dieser Firma ohnehin ziemlich zu wünschen übrig. Der Kollege hatte ihm genau beschrieben, wo das Gerät deponiert war, sodass er es sofort finden konnte. Doch beim Hinausgehen passierte Reito ein unerwartetes Missgeschick. Während er sich mit dem Schlüssel seines Kollegen Zutritt zum Lager verschafft hatte, wollte er vor dem Gehen den Eindruck erwecken, der Dieb wäre durchs Fenster eingestiegen, und beschloss deshalb, ein Fenster einzuschlagen. Als er jedoch mit einem Hammer die Scheibe zertrümmerte, heulte ein Alarm los. Reito hätte nie damit gerechnet, dass sein Ex-Chef, der Geizkragen, eine Alarmanlage installieren würde. Unter dem ohrenbetäubenden Lärm der Alarmglocke sprang Reito auf sein Fahrrad, mit dem er hergekommen war, und fuhr eilig davon. In der Hitze des Gefechts purzelte ihm das ergatterte Gerät vom Gepäckträger. An ein Anhalten war aber nicht zu denken. Trotz dieses katastrophalen Ausgangs war Reito ziemlich zuversichtlich, dass wenigstens die Polizei ihn nicht finden würde. Erstens hatte er Handschuhe getragen, und zweitens glaubte er, die Sicherheitskameras geschickt genug umgangen zu haben.
Doch am nächsten Morgen, als er gerade aus dem Internetcafé kam, in dem er die Nacht verbracht hatte, wurde er von einer Gruppe Polizisten umzingelt und aufgefordert mitzukommen. Als man ihm sagte, dass sein ehemaliger Kollege gestanden hatte, gab er auf und fügte sich. Reito war klar, dass Abstreiten jetzt nichts mehr bringen würde und schilderte im Verhörzimmer haarklein alles, was geschehen war: wie ihm völlig zu Unrecht gekündigt worden war und er darüber hinaus nicht einmal sein Entlassungsgeld, geschweige denn sein noch nicht ausbezahltes Gehalt, bekommen hatte und wie er deshalb die ganze Zeit über einen richtigen Hass mit sich herumgetragen hatte. Der Polizist zeigte tatsächlich Mitleid. Aber den ganzen Vorfall zu Reitos Gunsten zu behandeln, war dann anscheinend doch zu viel verlangt. Reitos Fall wurde unverzüglich der Staatsanwaltschaft übergeben.
Jetzt ist es aus, dachte er sich. Er war gerade dabei, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass er höchstwahrscheinlich im Gefängnis landen würde – vielleicht wäre das nicht einmal das Schlechteste, da er sowieso kein Dach mehr über dem Kopf hatte – , als etwas völlig Unerwartetes geschah. Auf dem Polizeirevier sprach ein Mann vor, der sagte, er sei als Anwalt von Reitos Großmutter beauftragt worden und müsse ihn sprechen.
Reito hatte seine Großmutter Fumi kurz vor der Fahrt auf das Polizeirevier angerufen und ihr rasch mitgeteilt, dass er womöglich ins Gefängnis müsse. Fumi, mit der Reito bis zum Abschluss des Gymnasiums unter einem Dach gelebt hatte, war seine einzige noch lebende nahe Verwandte. Sie hätte sich große Sorgen gemacht, wenn er auf einmal nicht mehr erreichbar gewesen wäre. Aber dass Fumi ihm helfen würde, hätte er im Traum nicht gedacht.
Die 78-jährige Fumi führte in einem Einfamilienhaus im Tokioter Bezirk Edogawa ihr bescheidenes, kleines Leben. Leichtgläubig, wie sie war, und mit ihrer unerschöpflichen Gutmütigkeit, war sie der Typ Mensch, der betrügerischen Telefonanrufen von kriminellen Banden auf Anhieb zum Opfer fiel. Als Reito sie anrief und das Wort »Verhaftung« aussprach, wurde sie am anderen Ende der Leitung ganz unruhig. Nein, dachte er sich, seine Oma hatte sicher nicht den Mut und erst recht nicht die nötigen Beziehungen, um für ihn einen Anwalt zu beauftragen.
Der Mann, der sich Reito im Besuchszimmer hinter der Acrylscheibe gegenübersetzte, hatte ein schmales, spitzes Gesicht und trug eine schwarze Hornbrille. Mit seinem schlohweißen Haarschopf kam er Reito ziemlich greisenhaft vor. Wie alt er wohl war? Der glänzende Anzug, den er trug, musste jedenfalls ganz schön teuer gewesen sein, das konnte sogar Reito gleich erkennen.
»Reito Naoi, richtig?«, fragte der Mann, erhob sich von seinem Klappstuhl und trat etwas näher.
»Ja.«
»Sehr erfreut.« Der Mann reichte Reito eine Visitenkarte. Unter dem Wort »Anwalt« konnte Reito seinen Namen lesen: »Yoshinori Iwamoto«.
»Hat meine Großmutter Sie hergeschickt?«, fragte Reito.
»So habe ich es vorerst mal formuliert. Auch um Sie nicht zu sehr zu verwirren.« Herr Iwamoto trat zurück und setzte sich wieder hin.
»Wer hat sie denn wirklich beauftragt?«
»Das darf ich Ihnen nicht verraten«, sagte der weißhaarige Anwalt und schlug ein Bein über das andere. »Ich habe es meiner Klientin versprochen. Zum jetzigen Zeitpunkt darf es noch niemand erfahren – zumindest nicht von mir.«
Reito kräuselte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»So lautet der Wunsch meiner Auftraggeberin. Als Anwalt habe ich die Aufgabe, die Anweisungen meiner Klienten zu befolgen. Früher oder später werden Sie es schon verstehen. Bis dahin muss ich ihren Namen geheim halten.«
Reito dachte angestrengt nach. Wer könnte ihm diesen Mann geschickt haben? Er ging im Kopf einige seiner Freunde durch, aber ihm kam niemand in den Sinn, der so etwas machen würde.
»Meine Klientin hat mir eine Botschaft an Sie mitgegeben«, sagte Herr Iwamoto und öffnete sein Notizheft. »Bereit? Dann lese ich sie Ihnen vor. ›An Herrn Reito Naoi: Falls Sie wieder ein freier Mensch sein möchten, vertrauen Sie sich Herrn Iwamoto an. Lassen Sie Herrn Iwamoto freie Hand, dann sollte alles gut gehen. Nach der Freilassung begeben Sie sich bitte rasch zu mir. Es gibt eine Gegenleistung, die ich von Ihnen dafür erwarte. Sollten Sie bereit sein, sie zu erbringen, übernehme ich die Anwaltskosten vollständig. Die Auftraggeberin.‹« Herr Iwamoto hob seinen Blick. »Ende der Mitteilung.«
Reito ballte seine Hände auf den Knien zu Fäusten. »Eine Gegenleistung? Was denn für eine Gegenleistung?«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Anwalt teilnahmslos. »Diesbezüglich weiß ich nicht mehr als Sie. So, was machen wir jetzt? Überlassen Sie mir die Angelegenheit? Falls ja, sorge ich dafür, dass Sie hier rauskommen – wie es meine Klientin schreibt.«
Reito war völlig ratlos. Was sollte er nur tun? Wie er es auch drehte und wendete, diese Geschichte erschien ihm nicht ganz geheuer. Und die Tatsache, dass diese Auftraggeberin anonym blieb, machte die ganze Sache richtig mysteriös. Zudem war da diese Gegenleistung, die er erbringen sollte, damit die Anwaltskosten beglichen wurden … Das roch schon sehr nach Gefahr. Aber was, wenn er das Angebot ausschlug? Man würde ihn mit Sicherheit verurteilen. Beweise, mit deren Hilfe er eine Strafe verhindern konnte, hatte er keine. Wie viele Jahre Haft würden ihm wohl blühen? Und … was würde Herrn Iwamotos Auftraggeberin wohl von ihm verlangen? Würde sie ihn in ein Verbrechen verwickeln? Vielleicht wollte sie, dass er jemanden umbrachte. Was sollte er dann tun? Aber einen Mord begehen zu müssen, um die Schuld eines harmlosen Diebstahls wiedergutzumachen? Nein, so etwas Absurdes gab es nicht.
»So. Haben Sie sich entschieden? Ich wäre froh, wenn ich bald eine Antwort bekäme.«
»Ähm …« Reito kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Schläfe. »Wie viel würde es mich kosten, Sie als meinen Anwalt zu beauftragen?«
»Sie wollen nicht vom Angebot meiner Klientin Gebrauch machen und die Anwaltskosten lieber selbst übernehmen?« Herr Iwamoto blickte ihn skeptisch an.
»Ich dachte, das wäre vielleicht eine Option …«
»Nein.«
»Nein?«
»Diese Option gibt es nicht. Ich habe als Anwalt das Recht, mir meine Klienten auszusuchen, und in diesem Fall nicht die geringste Lust, für jemanden zu arbeiten, von dem ich von vornherein weiß, dass er mich nicht bezahlen wird.« Eine schallende Ohrfeige. Gut, an Herrn Iwamotos Stelle hätte Reito wohl genauso geantwortet …
»Könnten Sie sich langsam mal entscheiden? Ich habe einen vollen Terminkalender.«
»Haben Sie Kleingeld dabei?«
»Kleingeld?«
»Egal was. Ein 10-Yen-Stück, ein 100-Yen-Stück, ein 5-Yen-Stück …«
Herr Iwamoto zog ein ledernes Portemonnaie aus seiner Brusttasche. Er nahm eine 100-Yen-Münze aus dem Münzfach. »Passt das?«
»Bitte werfen Sie sie hoch und …«, Reito machte eine Handbewegung, »… fangen Sie sie mit beiden Händen wieder auf: so.« Reito presste seine linke Handfläche auf die rechte.
»Sie wollen eine Münze werfen?«
»Ja. Das mache ich immer, wenn ich mich nicht entscheiden kann.«
»Alles klar. Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es dann auch wirklich die richtige Entscheidung ist?«
Reito neigte den Kopf zur Seite. »Fifty-fifty vielleicht?«
Herr Iwamoto schmunzelte. »Sie sind ja ein richtiges Mathegenie …«
»Es hilft mir, später mit der Sache leben zu können. Sie gewissermaßen als mein Schicksal anzunehmen.«
»Verstehe.«
»Tun Sie es also für mich?«
»Na schön.« Herr Iwamoto warf das 100-Yen-Stück hoch und fing es mit beiden Händen wieder auf. Er presste die linke Handfläche auf seine rechte. »Nun, Kopf oder Zahl?«
Reito betrachtete den Handrücken des alten Anwalts. Es war eine schöne Hand, die mit schwerer körperlicher Arbeit wohl nie in Berührung gekommen war. Er schluckte einmal und sagte: »Die Vorderseite. Zahl.«
Langsam hob Herr Iwamoto seine linke Hand an und hielt Reito die rechte Hand hin. Groß und im Relief stach Reito die 100 ins Auge.
»Ha! Volltreffer! Zahl.« Reito schnippte mit dem Finger. »Ich möchte Sie also gern um Ihre Hilfe bitten.«
Reito stand auf und verbeugte sich. Herr Iwamoto nickte. Er griff mit einer Hand in die Innentasche seines Kittels und holte sein Handy hervor. Flink wählte er eine Nummer.
»Ja, hallo, Iwamoto hier. Ja. Ich bin gerade mit dem Angeklagten im Besuchszimmer … Ja, das habe ich ihm gesagt. Er hat die Bedingungen akzeptiert und mich gebeten, ihn zu vertreten. Ja … alles klar.«. Nachdem er aufgelegt hatte, blickte er wieder zu Reito. »Verzeihung. So war es abgesprochen. Meine Klientin weiß nun Bescheid. Ich beginne jetzt mit meiner Arbeit, Sie hier herauszuholen. Bloß … ein Zurück gibt es dann nicht mehr. Ist das in Ordnung?«
»Aber natürlich«, antwortete Reito wie aus der Pistole geschossen. »Ein Mann ein Wort!«
»Sehr gut. Ach … eine Kleinigkeit noch, nur zur Sicherheit, versteht sich«, sagte Herr Iwamoto und hielt Reito die Münze von vorhin mit der Zahl nach oben hin. »Was ist unter der Zahl 100 eingeprägt«?
Reito beugte sich etwas näher vor und starrte angestrengt auf die Münze. »Das 30. Jahr der Ära Heisei …«, las er. Der Anwalt nickte. »Nur so für die Zukunft: Die Seite mit dem Produktionsjahr gilt auf japanischen Münzen allgemein als Rückseite.«
Reito wusste nicht, ob der alte Anwalt ihn auf den Arm nahm …
Wie auch immer, kurz darauf wurde Reito tatsächlich freigelassen. Man holte ihn aus seiner Haftzelle und gab ihm sein Smartphone und seinen Rucksack zurück, in den er seine gesamten Habseligkeiten gestopft hatte. Nachdem er ein paar Dokumente unterschrieben hatte, war er wieder frei. Nicht ein einziger Polizist drehte sich nach ihm um, als er auf dem Weg zum Ausgang den Korridor des Polizeireviers entlangging. Reito verstand die Welt nicht mehr.
Draußen vor dem Eingang erwartete ihn Herr Iwamoto.
»So, das war’s«, sagte er.
»Wow, nicht schlecht …« Reito ging auf ihn zu. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mich so schnell da rausholen würden. Wie haben Sie das denn fertiggebracht?«
Aber Herr Iwamoto war schon in Richtung Auto unterwegs.
»Das kann ich Ihnen im Auto erklären. Lassen Sie uns gehen.«
»Gehen? Wohin?«
»Das sehen Sie, wenn Sie mitkommen.«
Das Auto, auf das Herr Iwamoto zusteuerte, war eine stattliche Limousine. Die Marke kannte Reito nicht. Höchstwahrscheinlich ein Luxusschlitten von einem ausländischen Hersteller. Herr Iwamoto berührte nur kurz die Tür, und schon öffnete sich mit einem Klacken das Schloss.
»Das war gar nichts Besonderes«, sagte Herr Iwamoto, kurz nachdem sie losgefahren waren. »Ich habe mich einfach mit dem Geschädigten auf einen Vergleich geeinigt.«
»Was? Mit diesem Geizhals? Sie machen Witze, oder?«
»Gerade weil er so aufs Geld versessen ist, war er sehr leicht zu überreden. Was bringt es ihm, wenn Sie jahrelang im Gefängnis sitzen? Davon hat er ja nichts. Geld ist viel nützlicher, so ist das eben.«
»Sie haben ihn bezahlt?« Reito drehte sich zum Fahrersitz.
»Natürlich.«
»Wie viel?«
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Es würde mich schon interessieren …«
»Als Sie damals vom Tatort geflüchtet sind, haben Sie dieses Gerät doch fallen lassen, oder? Offenbar ist es dabei beschädigt worden. In unserem Fall zum Glück. Die Reparaturgebühren allein belaufen sich anscheinend auf über 500 000 Yen.«
»500 000 Yen für eine Reparatur …«
»Wenn Sie die Summe immer noch wissen wollen, kann ich sie Ihnen gern verraten.«
»Danke. Vielleicht besser doch nicht.«
Keine halbe Stunde, nachdem sie das Polizeirevier verlassen hatten, fuhr Iwamoto allmählich langsamer. Schließlich bogen sie in die Auffahrt eines Luxushotels ein. Iwamoto parkte vor dem Haupteingang.
»So. Da wären wir.« Ohne den Motor abzustellen, zog er einen Notizzettel aus der Innentasche seines Sakkos und kritzelte etwas darauf. »Gehen Sie zu diesem Zimmer hier, meine Klientin erwartet Sie dort.«
Reito nahm den Zettel entgegen. Darauf stand die Zahl »2016«.
»Und Sie?«, fragte Reito.
»Mein Auftrag ist beendet. Ab jetzt machen Sie, was Sie für richtig halten.«
»Alles klar …« Reito löste den Sicherheitsgurt, griff nach dem Rucksack, den er im Fußraum verstaut hatte, und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite.
Er hatte schon den linken Fuß nach draußen gesetzt, als Iwamoto noch einmal das Wort ergriff: »Nachdem wir uns auf den Vergleich geeinigt hatten, sagte Herr Toyoi, dass man kaputte Geräte noch so oft reparieren könne, früher oder später gingen sie doch wieder kaputt. Sie, Herr Naoi, seien genau wie so ein defektes Gerät. Herr Toyoi meinte, irgendwann würden Sie eine noch schlimmere Tat begehen und schließlich doch im Gefängnis landen.«
Reito biss sich auf die Lippen.
»Sehen Sie zu«, fuhr der Anwalt fort, »auf Ihrem weiteren Weg zu beweisen, dass die Prophezeiung Ihres Chefs ein Irrtum war.«
Reito schaute Iwamoto direkt in die Augen. »Wie … wie denn?«
»Die Antwort darauf finden Sie vielleicht in diesem Zimmer.« Iwamoto zeigte auf den Notizzettel in Reitos Hand. »Nur noch eins: Wenn Sie wieder mal vor einer wichtigen Entscheidung stehen, benutzen Sie Ihren Kopf, denken Sie nach und antworten Sie, sobald Sie sich eine klare Meinung gebildet haben. Schluss mit dem Münzenwerfen.« Iwamotos Augen blitzten kühl hinter den Brillengläsern auf.
Reito fühlte einen leichten Stich in der Brust. Nach ein paar Atemzügen sagte er schließlich: »Ja. Ich merke es mir.«
Er stieg aus und drückte sachte die Tür zu. An Iwamoto gerichtet verneigte er sich tief. Dieser nickte nur kurz und stieg dann aufs Gaspedal.
Nachdem Reito dem Wagen des Anwalts noch eine Weile hinterhergeschaut hatte, drehte er sich zum Hotel um. Den großen Rucksack geschultert und den Zettel von Iwamoto fest in der Hand, steuerte er langsam auf den Eingang zu. Noch nie zuvor hatte er ein solches Luxushotel betreten. Wie elegant die Leute aussahen, die in der Lobby ein- und ausgingen. Reito steckte immer noch in T-Shirt, Windjacke und Jeans vom Tag seiner Verhaftung. Er hatte sich seither kein einziges Mal gewaschen, geschweige denn umgezogen. Auf einmal bekam er Angst, man könnte ihm hier seine schäbige Kleidung und seinen muffigen Geruch übelnehmen und ihn wieder vor die Tür setzen.
Da tänzelte mit raschen Schritten ein junger Hotelangestellter auf ihn zu. Reitos Herz setzte kurz aus.
»Haben Sie ein Zimmer gebucht, gnädiger Herr?«, fragte ihn dieser aber nur. »Ich nehme Ihnen gern das Gepäck ab.«
Reito wehrte hastig ab: »Oh, äh. Nein, ich übernachte nicht hier.«
»Ich verstehe. Verzeihen Sie bitte.« Der Angestellte setzte wieder sein freundliches Lächeln auf, verbeugte sich leicht und entfernte sich.
Reito gelangte nun ohne weitere Zwischenfälle zum Aufzug. Zimmer 2016, das musste im 20. Stock sein. Reito drückte auf den Knopf und atmete ein paar Mal tief durch. Wer mochte an diesem Wahnsinnsort nur auf Reito warten? Und um was für eine Gegenleistung handelte es sich wohl?
Oben angekommen lief Reito den Gang entlang, von dem links und rechts die Zimmertüren abgingen. Reito räusperte sich zweimal. In solchen Luxushotels war bestimmt auch der Boden aus hochwertigem Material, denn seine Schritte erzeugten nicht das leiseste Geräusch. Endlich stand er vor Zimmer 2016. Die dunkelbraune Tür erschien Reito wie das Eingangstor zu einer anderen Welt.
Reito schluckte und drückte den Klingelknopf, der neben der Tür angebracht war. Ein paar Sekunden später hörte er, wie die Tür entriegelt und langsam geöffnet wurde. Reito hielt den Atem an. Die Person vor ihm war eine Frau von ungefähr sechzig Jahren. Für ihr Alter war sie eher groß gewachsen. Sie trug einen grauen Blazer und darunter eine weiße Bluse. Ihr kastanienbraunes Haar war kurz geschnitten. Irgendwie kam es Reito so vor, als wäre er der Frau schon einmal begegnet, aber er konnte sich nicht erinnern, wo.
Die Frau musterte Reito eine Weile. Ihre Augenbrauen waren dabei leicht hochgezogen.
Reito fühlte sich so in die Enge getrieben, dass er beinahe sofort wieder kehrtgemacht hätte.
»Komm rein«, sagte die Frau schließlich. Ihre Stimme klang rau, aber dennoch freundlich. Auch das Lächeln, das fast unmerklich ihre Lippen umspielte, ließ Reito etwas aufatmen. Er leistete ihrer Aufforderung Folge und trat geduckt ein. Das Ledersofa und der glänzend polierte Couchtisch verliehen dem Raum die Atmosphäre eines Empfangszimmers. Ein Bett war nirgends zu sehen. Aber es gab noch eine Tür. Bestimmt befand sich das Schlafzimmer nebenan.
»Bitte, setz dich doch.«
Reito stellte seinen Rucksack ab und setzte sich auf das Sofa. Auch die Frau nahm Platz. Erneut musterte sie Reito eingehend.
»So wie du guckst, kannst du dich wohl nicht mehr an mich erinnern, hm?«
Also doch! Reito kratzte sich am Kopf. »Entschuldigen Sie … sind wir uns denn schon mal begegnet?«
Die Frau hob Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand hoch. »Zweimal, um genau zu sein. Nun ja, das erste Mal war kurz nach deiner Geburt und das zweite Mal ist schon fünfzehn Jahre her, da warst du noch in der Grundschule. Es ist also nicht verwunderlich, wenn du dich nicht mehr erinnern kannst.«
Angestrengt wühlte Reito in seinem Gedächtnis, aber vergeblich.
Die Frau kramte in der Tasche neben sich und zog eine Visitenkarte hervor. »Hast du diesen Namen hier vielleicht schon mal gehört?« Reito griff nach der kleinen Karte und las: »Yanuts Corporation. Beirätin Chi … Yanagisawa.« Reito wusste nicht, wie man die Schriftzeichen ihres Vornamens aussprach.
»Frau Yanagisawa … Hm. Sagt mir leider überhaupt nichts.«
»Tja, dann ist es so, wie ich es mir gedacht habe.«
»Also«, sagte Reito und blickte abwechselnd zu der Frau und dann wieder auf die Karte, »diese Frau Yanagisawa, das bist schon du, oder?«
»Du?« Die Frau zog die rechte Augenbraue hoch.
»Oh … Verzeihung. Ich meinte … Ich … wollte fragen, ob es sich beim Namen Yanagisawa um den Ihren handelt.« Meine Güte … was redete er da nur für einen Unsinn.
Die Frau schmunzelte und zog dabei leicht die Nase kraus. »Ist schon in Ordnung. Wir können uns gern duzen. Das passt im Grunde auch viel besser. Genau, ich heiße Yanagisawa. Chifune Yanagisawa.«
»Chifune … Tausend Schiffe«, murmelte Reito. Schon etwas speziell, aber irgendwie cool. Anders als die ausgefallenen Modenamen von heute, hatte er etwas Vornehmes, eine besondere Eleganz an sich. Chifune griff wieder in ihre Handtasche. Diesmal holte sie einen Umschlag heraus und legte ihn vor Reito auf den Tisch.
»Schau mal hinein«, forderte sie ihn auf.
»Was ist das?«
»Das wirst du gleich sehen.«
Reito nahm das Kuvert und öffnete es. Darin lag ein altes Foto, auf dem vier Menschen abgebildet waren. Ganz hinten stand ein älterer, groß gewachsener Mann, direkt vor ihm ein Mädchen, das etwa im Grundschulalter sein musste. Links und rechts von dem Mädchen standen zwei Frauen. Als Reito sich die Frau links – sie war vielleicht Anfang zwanzig – genauer ansah, erschrak er. Er hob seinen Blick vom Foto und schaute Chifune an.
»Fällt dir etwas auf?«, fragte sie.
»Die Frau auf der linken Seite … das sind Sie … das bist du, nicht wahr?«
Chifune nickte. »Du bist gut!«
»Du hast dich ja auch kaum verändert.« Reito sagte ehrlich, was er dachte.
»Ach, im Schmeicheln bist du anscheinend schon geübt.«
Reito wurde rot. Er wollte sich schon rechtfertigen und beteuern, dass es keine Schmeichelei gewesen war, aber Chifune kam ihm zuvor.
»Und wer ist die Frau rechts? Erkennst du sie auch?«
Reito blickte erneut auf das Foto. Die Frau rechts neben dem Mädchen trug einen Kimono und war um einiges älter als Chifune … vielleicht Mitte dreißig. Mit ihren klaren Zügen um Mund und Augen eine schöne Frau, fand Reito. Doch als er sie eingehender betrachtete, zuckte er erneut zusammen.
»Sieht aus, als hättest du sie erkannt.«
»Das … Ist das meine Oma?«
»So ist es. Das ist Fumi.«
»Also doch«, murmelte Reito und schaute sich das Foto noch einmal an. »Ich bin geschockt, Oma war früher ja richtig schlank.« Reito musste an seine mollige Großmutter denken. Er rechnete. Das Foto musste vor rund vierzig Jahren aufgenommen worden sein …
»Was meinst du, wer dann das Mädchen sein könnte?«, riss Chifune ihn aus seinen Gedanken. Reito studierte das Foto abermals. Das Mädchen war vielleicht in der dritten Klasse. Sie trug eine weiße Bluse und einen marineblauen Rock und hatte kurzes Haar. Entschlossen blickte sie in die Kamera. Und auf einmal konnte Reito die Gesichtszüge des Mädchens zuordnen. Die Person war jemand, den er sehr gut kannte.
»Mama … Das ist meine Mutter!«
»Stimmt genau. Das ist Michie. Und der Herr hinter ihr ist dein Großvater, Sôichi Naoi.«
»Großvater … wow!«
Reitos Großvater war gestorben, als Reito noch sehr klein war. Niemand hatte Reito jemals wirklich etwas über ihn erzählt. Auch dass er Sôichi hieß, hörte er heute zum ersten Mal.
Als Reito ihr das sagte, schrieb Chifune den Namen Sôichi auf ein Blatt. »Sôichi schreibt man mit diesen Zeichen«, erklärte sie. »Tja. Und dein Opa Sôichi war mein Vater.«
»Dein Va … Was?« Reito verstand nun gar nichts mehr.
»So ist es. Sôichi war mein Vater. Aus seiner Ehe mit meiner Mutter bin ich als einziges Kind hervorgegangen. Sôichi hatte den Namen meiner Mutter – Yanagisawa – angenommen. So etwas gab es damals – er ist in die Familie meiner Mutter aufgenommen worden. Auch nachdem meine Mutter krank geworden und gestorben war, hat er den Namen noch eine Weile getragen. Aber dann verliebte sich Sôichi in eine seiner Schülerinnen und beschloss, wieder zu heiraten. Wusstest du, dass dein Großvater Japanischlehrer an einem Gymnasium war?«
»Nein, das höre ich zum ersten Mal.« Reito schwirrte noch immer der Kopf, und er ging die Geschichte, die Chifune soeben erzählt hatte, noch einmal durch. Schlagartig begriff er. »Moment mal … diese Schülerin, die er geheiratet hat, war das etwa … Oma?«
»So ist es. Zwischen den beiden lagen 22 Jahre.«
Reito schaute die junge Fumi auf dem Bild noch einmal an. »Nicht schlecht, Oma«, murmelte er.
»Bei der Heirat mit Fumi nahm Sôichi wieder seinen ursprünglichen Namen an, Naoi.«
»Verstehe … Und in diesem Fall musst du also …« Reito holte tief Luft und blickte Chifune fragend an.
Diese nickte lächelnd, setzte sich kerzengerade hin und senkte das Kinn. »Ich bin deine Tante, die Halbschwester deiner Mutter Michie. Deshalb meinte ich vorhin, das Du passt besser, so nah wie wir verwandt sind.«
Reito hatte den Atem angehalten und stieß nun mit einem Mal die Luft aus. Er legte das Foto auf den Couchtisch und versuchte, alles in seinem Kopf noch mal zu ordnen. »Meine Mutter hat mir nie ein Wort davon erzählt.«, sagte er.
Da verhärteten sich Chifunes Gesichtszüge unvermittelt. Sie nickte einige Male, dann sagte sie: »Das war nicht anders zu erwarten. Würde man mich fragen, ob wir wie ganz normale Schwestern gewesen sind, müsste ich das verneinen. Wir haben auch nie gemeinsam unter einem Dach gelebt.«
Reito runzelte die Stirn. »Warum denn nicht?«
»Das würde jetzt zu lange dauern. Ich will dir die Geschichte nach und nach erzählen. Für den Moment wollte ich dir nur zu verstehen geben, dass ich deine Tante bin. Falls du diesbezüglich noch Zweifel hast, kannst du von mir aus auf die Behörde gehen und Michies und Sôichirôs Akten einsehen.«
Die entschlossene und geradlinige Art, in der Chifune mit Reito sprach, war für ihn Beweis genug, dass sie nicht log. Außerdem war es, wie Chifune selbst gesagt hatte: Sollte sie die Unwahrheit sprechen, könnte Reito das ganz einfach herausfinden.
»Ja«, antwortete Reito also. »Ich glaube dir. Aber … warum gerade jetzt?«
Chifune zog beide Augenbrauen hoch und blickte Reito erstaunt an.
»Warum? Deinetwegen natürlich!«
»Meinetwegen?«
»Fumi hat sich bei mir gemeldet und mir erzählt, ihr Enkel sei gerade von der Polizei festgenommen worden.«
Reito fasste es nicht. »Oma … aber warum …«
»So war es zwischen uns ausgemacht. Der Name Yanagisawa darf nicht beschmutzt werden. Deshalb gilt bei uns die Regel, dass man mich – als derzeitiges Familienoberhaupt der Yanagisawas – unverzüglich informiert, wenn es in der Verwandtschaft einen Konflikt mit dem Gesetz gibt. Fumi hat sich bloß an diese Regel gehalten. Nach ihrem Anruf habe ich mich an einen mir bekannten Anwalt gewandt und ihn gebeten, den Fall zu übernehmen. Herr Iwamoto ist ein alter Schulfreund von mir. Er war der Meinung, dass es kaum Schwierigkeiten bereiten sollte, mit dem Kläger zu einer Einigung zu gelangen. Gleichzeitig habe ich von Fumi aber auch einiges über dich erfahren. Ein sehr vorbildliches Leben scheinst du ja nicht geführt zu haben.«
Reito wollte schon protestieren. Was ging sie das an? Aber er ließ es bleiben. Sein Gegenüber hatte Reito immerhin die Freiheit wiedergegeben.
Chifune fuhr fort: »Und da ist mir eine Idee gekommen. Herr Iwamoto hat dir meine Botschaft bestimmt übermittelt, oder?«
Statt zu nicken, reckte Reito ein bisschen sein Kinn. »Er hat mir gesagt, dass du die gesamten Anwaltskosten zahlst, wenn ich eine Gegenleistung dafür erbringe, falls du das meinst.«
»Gut. Du warst mit dieser Bedingung einverstanden. Darf ich davon ausgehen, dass du deine Meinung nicht geändert hast? Falls doch, besteht für dich immer noch die Möglichkeit, dein Versprechen zurückzuziehen und die gesamten Anwaltskosten selbst zu übernehmen.«
Reito hob abwehrend die Hände. »Es sollte doch klar sein, dass ich die Anwaltskosten nicht bezahlen kann. Und um es gleich zu sagen: Stärken habe ich keine, und die Dinge, mit denen ich mich nützlich machen kann, lassen sich an einer Hand abzählen.«
Chifunes Gesichtsausdruck wurde eiskalt. Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.
»Ich habe mir deinen Werdegang angesehen. Anscheinend wolltest du nach dem Abitur nicht studieren, stimmt’s?«
»Nicht dass ich nicht gewollt hätte, ich konnte nicht. Für so was war kein Geld da.«
»Wenn du es wirklich gewollt hättest, hätte es immer eine Lösung gegeben. Aber lassen wir das. Was sind deine Träume für die Zukunft?«
»Träume?«
»Deine Pläne von mir aus. Was willst du einmal werden? Wie willst du leben? Was machst du dir für Gedanken?«
»Pläne, nun ja …« Reito wich Chifunes Blick aus und rieb sich den Nacken. »Habe ich nicht wirklich. Ich bin froh, wenn ich irgendwie durchkomme, egal wie.«
Chifune seufzte einmal tief und nickte dabei verstehend. »Gut«, sagte sie dann. »In diesem Fall bleibt dir ja gar nichts anderes übrig, als meine Anweisungen zu befolgen. Ohnehin geht es um etwas, was nur du kannst, Reito, sonst niemand.«
»Ich? Was denn?«
Chifune setzte sich wieder kerzengerade hin, als wollte sie zeigen, dass sie Reito nun etwas Wichtiges mitteilen würde, das er auf keinen Fall verpassen durfte. Nachdem sie einmal tief ein- und wieder ausgeatmet hatte, wobei sich ihre Brust sichtbar hob und senkte, sprach sie endlich weiter: »Ich möchte, dass du die Wache des Kampferbaums übernimmst, Reito.«
Auch an diesem Morgen blickte Reito in einen strahlend blauen Himmel. Er war seit sechs Uhr früh auf den Beinen. Wie jeden Morgen ging es nach einem kleinen Frühstück ans Reinigen der Schreinanlage. Mit Besen und Kehrschaufel trat Reito vor das Schreinbüro. Doch ein Blick über den Platz vor ihm ließ ihn tief aufseufzen. Wie schon gestern früh war der Boden mit Laub übersät. Wenn das im Frühherbst schon so war, wie würde es dann erst in ein paar Wochen aussehen, wenn der Winter nahte? Das Gelände des Schreins war nicht besonders groß, aber diese Arbeit, bei der man kehrte und kehrte, nur damit beim nächsten Windstoß wieder alles voller Blätter lag, war doch einfach nur sinnlos! Aber Reito hatte gewusst, worauf er sich einließ. Chifune hatte ihn vorgewarnt, dass er bis zum Mittag stets mit Saubermachen beschäftigt sein würde.
Einen Tag nach ihrer seltsamen Begegnung in dem Hotelzimmer war Chifune mit Reito hierhergefahren. Die fast einstündige Zugfahrt von Tokyo endete an einem winzigen Bahnhof, von dem Reito zuvor noch nicht einmal den Namen gehört hatte. Auf dem Bahnhofsvorplatz stiegen sie in einen Bus. Doch das Ziel war auch nach der etwa zehnminütigen Fahrt noch nicht erreicht. Weiter ging es zu Fuß, alles bergauf wohlgemerkt. Von »Bergsteigen« zu sprechen, wäre übertrieben gewesen, doch Reito fand, den steilen Weg hätte man problemlos als Wanderroute bezeichnen können. Nachdem sie ein ganzes Stück zurückgelegt hatten, ging er in eine Art Waldtreppe über, deren Stufen mit Bahnschwellen markiert waren.
Als Reito nicht mehr konnte und eine kurze Rast einlegen wollte, wurde Chifune fuchsteufelswild.
»Das gibt es doch nicht!«, schimpfte sie. »Ein junger Mann wie du … Ich will ja hoffen, dass du bisher nicht immer nur auf der faulen Haut gelegen hast … Hier wird jedenfalls nicht herumgejammert, damit das klar ist!« Sie drehte sich schwungvoll um und ging zackig und bestimmt weiter.
»Alte Schnepfe«, fluchte Reito leise, während er sich hinter ihr die Treppen hochschleppte.
Oben angekommen führte der Weg unter einem großen Torii hindurch. Dahinter weitete sich der Blick auf eine ebene Fläche … das Grundstück eines Schreins mit dem Namen Tsukisato – auf dem Reito heute früh stand und Laub fegte.
»Die Geschichte des Schreins ist unbekannt«, erklärte Chifune. »Wann und warum der Schrein erbaut wurde, geschweige denn, von wem, ist nirgendwo festgehalten. Wir von der Familie Yanagisawa verwalten den Schrein nur deshalb, weil er auf unserem Familiengrundstück liegt. Wir haben einen Priester aus einem anderen Schrein angestellt, der sich nebenbei etwas um den Schrein kümmert, aber Zeremonien oder Feiern werden hier so gut wie nie abgehalten.«
Laut Chifune gab es im hinteren Teil der Anlage zwar einen kleinen Altar, der jedoch nur der Form Genüge tat. Natürlich war daher auch kein Opferkasten vorhanden.
Ein paar Schritte vom Schreinaltar entfernt befand sich ein winziges Häuschen, anscheinend das Schreinbüro. Hier wurden weder Talismane verkauft noch rote Goshûin-Stempel und Omikuji-Lose angeboten. Stattdessen fand Reito, als er hinter Chifune das Büro betrat, in der Mitte des Raums einen kleinen Esstisch vor. An der Wand stand ein Pult und daneben ein Metallgestell, auf dem sich mehrere Ordner reihten. Es gab auch einen Nebenraum, der zwar klein, dessen Boden aber mit Tatami-Matten versehen war. Auch ein Waschbecken und eine Toilette waren vorhanden. Immerhin. Die Klimaanlage sei zwar ein ziemliches Wrack, funktioniere aber noch gut, meinte Chifune.
»Wir nennen das Gebäude zwar Schreinbüro, tatsächlich hat es aber schon immer als Wohnung des Schreinwarts gedient.«, sagte Chifune und schaute sich mit in die Hüften gestemmten Armen im Raum um. »Der jeweilige Schreinwart ist bei uns außer dem Instandhalten der Schreinanlage noch für etwas anderes zuständig«, fügte sie dann noch hinzu. »Die Arbeit in der Schreinanlage ist im Grunde zweitrangig. Die viel wichtigere Aufgabe des Schreinwarts besteht in der Überwachung des Kampferbaums, der im hinteren Teil des Geländes steht.«
Die beiden verließen das Büro und Chifune führte Reito durch ein wucherndes Gestrüpp zu dem Ort am äußersten Ende der Anlage. Erschüttert von der Erhabenheit dieses kolossalen Baums, der bestimmt schon seit uralten Zeiten hier wachsen musste, stand Reito eine Weile wie angewurzelt da und brachte kein Wort heraus.
Kurz nach acht Uhr morgens fanden sich jeweils die ersten Besucher auf dem Gelände ein, meistens waren es Rentner aus der Nachbarschaft. Bei dem steilen Aufstieg und den ganzen Treppen war der Marsch hierher für sie zweifellos mehr als ein kleiner Spaziergang – eher ein ziemlich hartes Workout. Selten, aber doch ab und zu tauchten auch Leute im Trainingsanzug hier oben auf. Keuchend machten sie vor dem Altar halt, um kurz in sich gekehrt die Augen zu schließen. Vielleicht lag der Schrein auf ihrer Joggingroute. Die Besucher, die wegen des Schreins an sich herkamen, zeigten sich gewöhnlich ab zehn Uhr vormittags. Außer an den Wochenenden waren dabei drei bis vier Leute die Stunde schon viel. Alle erschienen aus ein und demselben Grund: wegen des Kampferbaums. Sie ließen den Schreinaltar links liegen und bogen direkt in den schmalen, von Büschen und Gräsern gesäumten Pfad ein. Anders als am Abend war der Kampferbaum tagsüber für alle frei zugänglich. Umso mehr musste Reito bei Tag aufpassen, dass kein Unfug getrieben wurde. So pflegte er auch, während er vorn sauber machte, regelmäßig seine Kontrollrunden zu drehen. Manchmal kam es dabei vor, dass ihn Besucher baten, ein Foto von ihnen zu machen. Chifune hatte ihm eingeschärft, ihnen immer freundlich zu begegnen; sie bestand darauf, dass auch das zu seinem Job gehörte.
Kurz vor Mittag, Reito war gerade dabei, die Stelle vor dem Schreinaltar vom Laub zu befreien, hörte er auf einmal, wie ihn jemand ansprach.
»Ähm, entschuldigen Sie …«
Als Reito aufblickte, sah er, wie eine junge Frau mit runder Brille auf ihn zukam. Sie trug einen dicken Kapuzenpulli und Jeans, das passende Outfit für eine leichte Wanderung. In einiger Entfernung standen zwei weitere Mädchen etwa im selben Alter. Reito hatte beobachtet, wie die drei vor etwa zehn Minuten das Gelände betreten hatten.
»Gibt es irgendwelche Vorgaben, wie man da beten soll?«, wollte die junge Frau wissen.
»Beten?«
»Ja, im Kampferbaum.« Die Frau zeigte mit dem Finger in Richtung des Pfades.
»Ach so.« Reito nickte. »Na, der Baum ist innen hohl. Wenn Sie etwas um den Stamm herumlaufen, gelangen Sie zur Öffnung. Dann können Sie einzeln eintreten.«
»Ja, aber, wie sollen wir genau beten?«
»Also … da gibt es eigentlich keine Vorschriften.«
»Echt?«, fragte die junge Frau und klimperte dabei ein paar Mal überrascht mit den Augenlidern.
»Nein. Ich denke, da hat jeder so seinen eigenen Stil.«
»Seinen eigenen Stil …« Die Frau runzelte skeptisch die Stirn.
Reito bejahte kurz angebunden und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Die junge Frau rannte zu ihren Freundinnen zurück. »Wir sollen wohl einfach irgendwas machen«, gab sie ihnen Bescheid, worauf Reito ein leises Raunen hörte. Seine Antwort schien sie enttäuscht zu haben.
»Tut mir ja leid, aber das hier war nicht meine Erfindung«, brummte er, während er sein Laub zusammenschaufelte.
Solche Dinge fragten ihn die Leute täglich.
»Ich habe gehört, dass die Wünsche, die man dem Kampferbaum anvertraut, in Erfüllung gehen. Ähm, was genau muss ich dazu tun?«
Jede Person formulierte es etwas anders, aber im Kern wollten sie alle dasselbe wissen. Neulich war sogar eine Frau zu ihm gekommen und hatte gefragt, ob sie »dem Baum ihren Wunsch übermitteln« könne und wie viel sie ihm dafür schulde. Reito hatte keine Ahnung, was sie auf diese Idee gebracht hatte.
Chifune wusste nicht genau, wann sich die Legende verbreitet hatte, dass der Kampferbaum Wünsche erfüllte. Zu Beginn hatte ihr zufolge außer ein paar Anwohnern in der Gegend niemand von diesem Geheimnis gewusst. Doch durch das Internet war der Tsukisato-Schrein mit seinem Kampferbaum in Windeseile als Powerspot bekannt geworden.
»Wir waren froh darum, denn seither besuchten an den Wochenenden und an Feiertagen immer mehr Menschen unseren abgeschiedenen Winkel hier. Leider hatte dies aber auch zur Folge, dass es unter den Besuchern immer wieder Unruhestifter gab«, erklärte Chifune. »Zum Beispiel, als die Sache mit diesen Kritzeleien aufkam. Das war vielleicht ein Kampf … Damals ging das Gerücht um, man müsse seinen Wunsch auf der Rinde des Baums hinterlassen, damit er in Erfüllung ginge. Hatte man den Kampferbaum auch nur einen Moment aus den Augen gelassen, war schon wieder etwas Neues draufgekritzelt worden. Da nützten auch Verbotstafeln und -plakate nichts. Wir mussten eine Zeit lang sogar einen Wachmann einstellen. Dabei war das Gekritzel, das man ja wieder wegwischen konnte, noch das geringste Problem. Leider gab es die Oberschlauen, die ihre Wünsche mit einem Schnitzmesser in die Rinde ritzen wollten. Zum Glück konnten wir das jedes Mal gerade noch verhindern. Ich muss sagen, dass wir auch mal die Polizei gerufen haben«, erzählte sie und bekräftigte damit, wie wichtig es deshalb sei, in diesem Schrein einen Wächter zu haben. »Für die Tagesaufsicht hatten wir einen Rentner aus unserem Bekanntenkreis angestellt. Leider wurde es ihm nach kurzer Zeit körperlich zu anstrengend und er hat vor etwa drei Monaten wieder gekündigt. Eine Weile habe ich dann wohl oder übel alle Aufgaben selbst erledigt, musste aber einsehen, dass es in meinem Alter einfach zu viel ist, Tag und Nacht im Einsatz zu sein. Tja, und just in dem Moment, als ich den Entschluss fasste, jemand neuen zu suchen, der mir die Arbeit abnahm, habe ich von dir gehört.«
Chifune wollte, dass Reito die Hausmeisterei dieses Schreins übernahm, so viel hatte Reito verstanden. Es gab da allerdings etwas, das ihn stutzig machte. Chifunes Bekannter hatte also die Tagesaufsicht übernommen. Aber hatte Chifune nicht gerade gesagt, dass sie, nachdem dieser aufgehört hatte, Tag und Nacht im Dienst gewesen sei? Tag und Nacht?
Als Reito Chifune danach fragte, nickte diese. »Du hast es erfasst! Genau das ist es, wofür ich dich brauche. Du wirst hier zum einen als Hausmeister angestellt sein, doch in erster Linie brauche ich dich für den Nachtdienst, die eigentliche Arbeit des Kampferbaumwächters.«
Reito hatte den Platz vor dem Altar fertig gefegt und schlenderte gerade zurück zum Schreinbüro, als er abrupt stehen blieb. Neben der Steinlaterne stand eine junge Frau. Dieses schmale Gesicht mit den großen Augen … Es war die Frau von gestern Nacht! Reito stellte fest, dass ihre Jacke gar nicht weiß war, wie er gestern angenommen hatte, sondern leicht rosarot. Ziemlich angespannt näherte sie sich ihm.
»Verzeihung, Sie gehören doch zu dem Schrein hier, oder?« Verdattert wiederholte Reito sich ihre Frage ein paar Mal stumm. Das war ihm so noch nie bewusst gewesen, aber im Grunde hatte sie recht. Das war er nun, ein Angestellter dieses Schreins …
»Ähm … ja«, erwiderte er. »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Gestern am späten Abend muss ein Mann hier gewesen sein …« Die Frau meinte natürlich Herrn Saji.
Reito nickte wortlos, was gab es da schon zu verbergen.
»Ja.«
»Was hat er hier gemacht?«
»Gemacht?« Reito ließ seinen Blick zum hinteren Teil des Geländes und wieder zurück zu der Frau wandern. »Andacht gehalten, nehme ich an.«
Die Frau zog die Augenbrauen zusammen. »Um diese Uhrzeit?«
»Ich glaube, das habe ich gestern schon erwähnt. Man kann bei uns auch nachts Andacht im Kampferbaum halten. Allerdings wie gesagt, dann nur mit einer Reservierung.«
»Was soll denn in der Nacht anders sein?«
»Das weiß ich leider auch nicht so genau.« Die Furchen zwischen den Augenbrauen der Frau vertieften sich noch weiter.
»Ja, aber Sie arbeiten doch hier.«
»Schon, aber erst seit etwa einem Monat. Ich bin sozusagen noch in der Ausbildung, wenn Sie so wollen.«
Skeptisch musterte die junge Frau ihr Gegenüber im Samue.
»Und was hat der Taugenichts gebetet?«
»Der Taugenichts?«
»Der Mann von gestern, wer sonst«, knurrte die Frau.
»Herr … Herr Saji …?«
Sie nickte und warf Reito einen erwartungsvollen Blick zu.
»Das weiß ich nicht. Die Wünsche der Besucher gehen uns nichts an.« Reito musterte die Frau noch einmal von oben bis unten. »Wer sind Sie denn überhaupt? Eine Bekannte von Herrn Saji?«
Die junge Frau wandte ihren Blick ab und atmete einmal tief durch. Sie schien abzuwägen, ob sie Reito seine Frage beantworten sollte. Reitos Bauch schlug Alarm. Das roch nach sehr viel Mühe und Ärger. Er sollte sich da besser nicht zu sehr einmischen. Bei diesem Entschluss nickte Reito der Frau einfach kurz zu und wollte sich schon entfernen, als sie plötzlich doch zu reden begann.
»Ich bin seine Tochter«, sagte sie. »Ich bin die Tochter von Toshiaki Saji.«
Reito blinzelte und starrte sie an. Die Frau hielt seinem Blick stand. Ganz schön hart, ihre Züge, dachte Reito, aber hübsch war sie allemal.
»Sie sehen sich aber nicht sehr ähnlich«, sagte Reito unumwunden.
Die junge Frau zog ein Portemonnaie aus ihrer Jeanstasche. Daraus zog sie wiederum eine Karte hervor, näherte sich Reito und streckte sie ihm unter die Nase. Es war irgend eine Mitgliedskarte.
»Yumi Saji«, las Reito. »Yumi Saji, ist das Ihr Name?«
Sie nickte. »Glauben Sie mir jetzt?«
»Ich glaube Ihnen gern«, erwiderte Reito.
»Dann erklären Sie mir bitte, was mein Vater hier gemacht hat.«
»Na, er hat Andacht gehalten, wie oft soll ich das denn noch sagen?«, entgegnete Reito nun schon etwas genervt. Er hatte keine Lust mehr, höflich zu sein.
»Ja, aber was? Was betet er denn?«
»Das weiß ich nicht! Ich bin nur für den Ablauf am Abend zuständig, weiter nichts. Die Wünsche und Andachten der Besucher sind für uns tabu. Wenn Sie’s unbedingt wissen wollen, können Sie Ihren Vater ja direkt fragen.«
Die junge Frau, die sich Yumi Saji nannte, schien zunächst noch etwas darauf sagen zu wollen. Stattdessen biss sie sich aber auf die Lippen, wie um ihre Wut zu unterdrücken, machte ruckartig kehrt und lief davon.
»Wenn es so einfach wäre, wäre ich ja nicht hier«, schien ihr graziler Rücken Reito noch anklagend zuzurufen.
Etwa zur selben Zeit wie am Vorabend läutete die rostige Glocke in die stille Dunkelheit des Schreingeländes hinein. Reito hatte Herrn Saji draußen schon gesehen und kam aus dem Büro.
»Was für ein prächtiger Vollmond«, sagte Herr Saji und blickte zum Nachthimmel empor.
Auch Reito schaute nach oben. Wahrhaftig, der weiße Schein des Mondes erschien ihm heute sogar noch strahlender als sonst. »Sie haben recht«, stimmte er Herrn Saji zu, der seine zerfurchten Mundwinkel zu einem scheuen Lächeln hochzog. »Das scheint mir ja ein gutes Zeichen zu sein.«
»Das freut mich«, erwiderte Reito. Ob Yumi ihn etwa gefragt hatte? Gerne hätte Reito Herrn Saji darauf angesprochen, wusste aber nicht recht wie.
»Ist irgendwas?«, fragte Herr Saji ihn zögerlich.
Reito schüttelte schnell den Kopf und reichte Herrn Saji die Papiertüte mit den Kerzen. Auch diese Kerzen heute würden etwa zwei Stunden lang brennen. »Es ist alles vorbereitet. Möge Ihr ›Nen‹ vom Kampferbaum erhört werden.«
Herr Saji bedankte sich. Dann nahm er Reito die Tüte ab und entfernte sich in Richtung der Andachtsstätte.
Reito kehrte ins Schreinbüro zurück. Heute wollte er nicht draußen vor dem Eingang auf Herrn Saji warten, wie er es sonst tat. Es gab etwas, das er herausfinden wollte. Er löschte das Licht und spähte durch den schmalen Spalt im Vorhang. Und tatsächlich! Schon kurz darauf trat das ein, was er vermutet hatte. Obwohl die Anlage nur mit der allernötigsten Beleuchtung versehen war, sodass die Ecken des Geländes im Dunkeln lagen, war dort, fast verschmolzen mit der Dunkelheit, schwach eine menschliche Gestalt zu erkennen. Sie wäre Reito nicht aufgefallen, hätte er nicht so genau hingeschaut. Leise öffnete er die Tür des Schreinbüros und begab sich nach draußen. Er hatte die Taschenlampe dabei, wollte sie aber noch nicht anknipsen. Die Gestalt war inzwischen am Eingang zur Gedenkstätte vorbei in den hinteren Teil der Anlage vorgedrungen. Reito schlich ihr nach, mit kleinen Schritten und ganz sachte, um ja kein Geräusch zu verursachen. Obwohl er noch nicht lange im Dienst war, konnte er sich durch seine tägliche Arbeit auf dem Gelände auch im Dunkeln mühelos orientieren. Mittlerweile ging er ganz dicht hinter ihr. Wann sollte er sie am besten ansprechen? Als Wächter müsste er sie schnappen und rauswerfen. Aber in Reito schlummerte diese brennende Neugier. Was hatte die junge Frau bloß vor?
Endlich erreichten sie das Ende des Dickichts, und Reito beobachtete, wie die Gestalt auf den Kampferbaum zuging. Ohne die Büsche, die das Mondlicht verdeckten, konnte Reito nun die Gestalt ganz klar erkennen. Natürlich hatte er richtig gelegen. Es war Yumi. Wohl um sich zu tarnen, trug sie heute Nacht nicht mehr ihre rosarote, sondern eine schwarze Jacke.