Ich habe immer nur den Zaun gesehen - Ernst Heimes - E-Book

Ich habe immer nur den Zaun gesehen E-Book

Ernst Heimes

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Beschreibung

Das Buch behandelt das KZ-Außenlager Cochem mit den Lagern in Bruttig und Treis. Es zeigt nicht nur die Ereignisse um 1944 sondern auch die Schwierigkeiten, die der Autor bei seiner Recherche erfuhr. Ziel des Buches soll es sein an die Schrecken der NS-Zeit zu erinnern und dem Vergessen entgegenzuwirken.

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© 2019 – e-book-Ausgabe Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe Die Verwendung von Texten und Abbildungen aus diesem Buch in schriftlicher oder digitaler Form, sowie die Nutzung derselben im öffentlichen Vortrag bedürfen der ausdrücklichen Zustimmung des Verlages. RHEIN-MOSEL-VERLAG Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel 06542/5151 Fax 06542/61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-874-6 Ausstattung: Stefanie Thur Fotos Umschlag: Zaun: fritz16/Shutterstock.com Restliche Fotos Titel: Ernst Heimes

Ernst Heimes

Ich habe immer nur den Zaun gesehen

Suche nach dem KZ-Außenlager Cochem

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Vorwort zu Neuausgabe

Das vorliegende Buch ist das Standardwerk zum KZ-Außenlager Cochem mit den Lagern in Bruttig und Treis. Die Erstausgabe erschien 1992. Sie informierte erstmals umfassend über die Mosellager und erinnerte an ein fast vergessenes Kapitel der regionalen Geschichte.

Obwohl es in früheren Neuauflagen des Buches auch immer wieder kleinere textliche und inhaltliche Veränderungen und Korrekturen gegeben hat, war es jetzt an der Zeit, den Text und die Gestaltung des Buches komplett zu überarbeiten und zu ergänzen. Ein Kapitel wurde stark gekürzt, da es mir nicht mehr zeitgemäß erschien. Viele Passagen wurden erweitert, umgestaltet, aktualisiert und sprachlich angepasst. Fotografien wurden hinzugefügt. Die Skizzen der Lager Bruttig und Treis mussten neueren Erkenntnissen entsprechend korrigiert werden. Schriftsatz und Typographie wurden verbessert. Das Buch wurde um zwei Kapitel erweitert und mit zusätzlichen Fotografien ausgestaltet.

Bei allen Änderungen bin ich so behutsam wie möglich vorgegangen, um den Duktus des Buches zu erhalten. So dokumentiert auch diese Neuausgabe nicht nur die Ereignisse um das KZ-Außenlager Cochem im Jahr 1944, sondern zeigt ebenso die schwierigen Bedingungen meiner Recherche in den Jahren 1985 bis 1992. Sie demonstriert die Haltung meiner Gesprächspartner sowie die gesellschaftlichen und politischen Reaktionen jener Jahre.

Die Notwendigkeit, durch Bücher wie das vorliegende, an die Schrecken der NS-Zeit zu erinnern und diese bewusst zu machen, dauert fort.

Vor genau 75 Jahren wurden die Konzentrationslager in den Ortschaften Bruttig und Treis errichtet. Ein halbes Jahr später, im September 1944, mussten sie aufgrund von Kriegseinwirkungen wieder aufgegeben werden. Während dieser Zeit waren die Häftlinge den erbarmungslosen Qualen ihrer Peiniger ausgesetzt. Viele fanden in den Mosellagern den Tod. Für die Überlebenden gingen die Leiden in anderen Konzentrationslagern weiter.

Für die heutigen Bewohner der Moselregion und darüber hinaus könnte dieses halbe Jahr des Schreckens eine Mahnung sein, Neonazismus, Rassismus und Ausgrenzung nie wieder zuzulassen.

Mehr noch, eine Verpflichtung sollte es sein.

Ernst Heimes im Frühjahr 2019

Pfingstspaziergang

Erst nachdem ich mich sehr lange ausgeruht hatte

und die Müdigkeit verschwunden war,

begriff ich, dass ich kein Gefangener war,

sondern ein Mensch.

An diesem Tag ergriff ich die Flucht.

Jean Bloch Michel

Große Zeiten

So hatte ein Mann zu sein. Wie Du. Ich, Dein Ältester, hatte also eine Orientierung. Da musste ich hin. So wollte ich werden. Stark, gerecht, fleißig, immer bereit zu vergeben, wissend. Wenn ich aber versuchte dahin zu kommen, zu Dir, hast Du mich zurückgewiesen. Was ich für erstrebenswert hielt, weil ich es an Dir so sah und bewunderte, wurde zum Streitpunkt zwischen uns. Du, mein Ideal, wurdest zu meinem Gegner, wenn ich mich Dir, meinem Ideal, zu nähern versuchte. Wolltest Du in mir nicht das wiederholt sehen, was Du selbst bist? Was hattest Du Dir vorgestellt, wie ich einmal werden sollte, vor dreißig, vor zwanzig, vor zehn Jahren? Heute?

Du warst der Auslöser für meine Aktivitäten, über die ich Dir berichten will. Du wunderst Dich? Das ist der Grund, weshalb ich Dir diese Geschichte erzählen werde: Du bist für mich das Bindeglied zwischen der Zeit, der ich versucht habe mich anzunähern und mir.

An einem Pfingstsonntag, das wird jetzt acht oder neun Jahre her sein, spazierten wir über den Conder Berg. Du und ich. Da sprachen wir über den Tunnel und das Konzentrationslager. Erinnerst Du Dich? Du wolltest ja meistens überhaupt nicht über diese Dinge reden. Aber dieser Morgen war günstig, das merkte ich. Ich hatte damals nicht die Absicht, umfangreichere Nachforschungen zu betreiben, wollte aber einfach alles, was mit dieser Sache zu tun hatte und in Erfahrung zu bringen war aufschreiben. Mal sehen, was dabei herauskommen würde. Meine Erinnerungen an unser Gespräch von jenem Vormittag notierte ich am Abend des gleichen Tages aus dem Gedächtnis. Hier sind sie:

Auf dem Weg von Cond nach Treis kommt man an der Stelle des ehemaligen Tunneleingangs vorbei. Solange ich mich erinnere, standen dort gigantische Monumente aus Stahlbeton in der Landschaft. Als ich zuletzt dort war, dachte ich zunächst, ich sei am falschen Platz. Nichts von dem war mehr zu sehen. Ich blickte mich um, untersuchte den Boden und fand die Erde übersät von zerkleinerten Resten des Betons. An vielen Stellen war Gras darüber gewachsen.

Bei unserem Ausflug heute Morgen, fragte ich meinen Vater, ob er davon gewusst habe, dass die Betonklötze, die Reste des ehemaligen Tunnelportals, verschwunden sind. Ja, sagte er, davon habe er gehört, die seien vor kurzem gesprengt worden, er habe aber keine Ahnung, wozu das gut gewesen sein soll. Er hielte das für einen großen Blödsinn.

»Die Betonklötze«, sagte er, »stammten aber nicht von dem Tunnelportal, sondern von einem Bunker, der daneben stand.«

Davon hatte ich noch nie etwas gehört.

»Ich dachte immer, die Betonbrocken seien die Trümmer des zerstörten Tunnelportals gewesen, aber ein Bunker …?«

»Ja sicher, da stand ein Bunker direkt neben der Tunneleinfahrt. Genau wie auf der Bruttiger Seite. Die beiden Betonwürfel, die unterhalb des Bahndamms in den Bruttiger Weinbergen liegen, das sind die Reste von sogar zwei Bunkern.«

Auch diese beiden Riesenklötze hatte ich immer für die Reste des Portals gehalten.

»Wozu hat man die Bunker an den Tunnelmündungen gebraucht?«, wollte ich wissen. »Die Bevölkerung«, und das war mein erster Gedanke, »konnte doch bei einem Bombenangriff nicht in diese Bunker fliehen. Dazu war die Entfernung vom Dorf dorthin viel zu groß.«

Wenn die Bunker, überlegte ich, und mir kam nicht in den Sinn, welch anderem Zweck sie hätten dienen können, vor Angriffen aus der Luft schützen sollten, dann mussten sich doch Menschen an den Tunnelmündungen aufgehalten haben. KZ-Häftlinge? Und für diese wurden Bunker gebaut? Nein, das passte nicht. Außerdem hätte jeder Schutzsuchende sich gleich in den Tunnel flüchten können.

»Ich weiß auch nicht, was man in den Bunkern gelagert hatte«, sagte er.

»Gelagert? Bunker als Lagerräume?«

»Nach dem Krieg sind wir ja im Tunnel drin gewesen. Das muss gegen Ende 1945, Anfang 1946 gewesen sein, in der schlechten Zeit. Die Bruttiger waren alle direkt zur Stelle und haben sich, nachdem das Lager aufgelöst worden war, alles raus geholt, was sie brauchen konnten.«

»Das Lager«, wiederholte ich.

»Ja, das Lager. Während des Krieges wurde der Tunnel als Fabrik genutzt, und soviel ich weiß, sind hier von der Firma Bosch Teile für Raketen und Flugzeugmotoren gebaut worden. Die Gefangenen aus dem Lager mussten dort arbeiten.«

Er überlegte kurz: »Eigentlich war das ein Konzentrationslager.«

»Und wer waren die Gefangenen?«

»Politische, keine Juden.«

»Kriegsgefangene?«

»Wäre schon möglich, ich weiß es aber nicht.« Er erinnerte sich, wie die Gefangenen ankamen: »Die wurden am Cochemer Bahnhof aus Viehwaggons ausgeladen und dann über die Brücke, durch Cond die Mosel hinauf nach Bruttig getrieben. Das habe ich gesehen. Das hat jeder gesehen. Endlose Kolonnen waren das.«

»Wie viele Menschen waren denn in dem Bruttiger Lager untergebracht?«

»Das weiß ich nicht genau. Aber viele sind es gewesen, wirklich viele.«

»Erzähl’ mal, wie hat der Tunnel von innen ausgesehen? Warum seid ihr da hinein gefahren?«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir wollten mal sehen, ob da noch was zu holen war, das wir hätten brauchen können. Wir haben ein Waschbecken und ein Klo und so ein Zeug mitgenommen. Viel war da nicht mehr. Die besten Sachen hatten die Bruttiger schon. Der alte Schrank, der beim Jäb im Kelterhaus steht, der ist auch aus dem Tunnel. Wir konnten damals nach dem Krieg alles brauchen. Übrigens, das braune Waschbecken, das bei uns in der alten Waschküche hing, das kennst du doch noch, das hatten wir auch von da mitgebracht.«

Und ob ich es kannte! Ich versuchte, mir ihm gegenüber nichts anmerken zu lassen, aber dieses Waschbecken hatte ich plötzlich ganz klar vor Augen. Ich vibrierte innerlich. Wie oft hatte ich mir wohl darin die Hände gewaschen, wenn ich als Kind verdreckt vom Spielen nach Hause kam! Und vor mir? Wer wusch sich vor mir darin? Ich wehrte mich gegen diese, meine Gedanken und das Zittern in mir drin, atmete tief, ruderte mit den Armen, wie bei einer Gymnastik, lief ein paar Schritte, sog wieder Luft ein, legte den Kopf in den Nacken. Über mir bewegte der Wind das Adergeäst der Bäume vor dem weißblauen Himmel. Dann lief es wie ein Film vor mir ab: Häftlinge, wie auf bekannten Fotos aus Konzentrationslagern, nackt, Knochen dünn mit glänzender Haut bespannt … Solche vielleicht? Waren es Menschen vor der Exekution, womöglich ohne in diesem Moment schon davon zu wissen oder um ihr mit Würde, mit gewaschenen Händen, entgegen zu gehen? »Auf der Flucht erschossen!« Wusch sich der Lagerkommandant in diesem Becken seine Hände in »Unschuld«? Benutzten es die Männer von den Wachmannschaften, die, die souverän die tödlichen Befehle erteilten? Und dann ich, als ich Jahre später verdreckt vom Spielen nach Hause kam. Filmriss.

Ich hörte meinen Vater sagen: »Wir sind in den Tunnel hinein gefahren, von der Bruttiger Seite aus. Der war gerade so breit, dass zwei Züge hätten aneinander vorbeifahren können. Auf der rechten Seite, also bergwärts, war eine Straße angelegt, und links der Straße befanden sich gemauerte Boxen, in denen sich scheinbar die Werkstätten, vielleicht auch Unterkünfte befanden.« Mit seinem Stock kratzte er eine Skizze des Tunnels auf den trockenen Waldboden.

»Es ist verrückt«, sagte er kopfschüttelnd, »dass der Tunnel gesprengt wurde. Das geschah auf Veranlassung der Franzosen während der Besatzungszeit. Die haben nicht nur die Eingänge gesprengt, sondern auch einige Male in der Mitte. Die ganze Röhre ist hin. Gerade heutzutage, wo es wieder brenzlig werden könnte, wäre so ein Tunnel doch nützlich.«

Ich sagte, heute im Atomzeitalter sei das so eine Sache. Da sei auch ein solcher Tunnel kein sicherer Schutzraum mehr.

»Nach dem Krieg, bevor die Franzosen das Ding in die Luft gejagt haben, hatte ein Cochemer eine Champignonzucht auf der Bruttiger Tunnelseite angelegt. Das war doch eine gute Sache! Aber dann, lange nachdem der Krieg vorbei war, eine solche Zerstörung.«

»Nun, man kann die Franzosen ja auch verstehen«, sagte ich, »wenn ihre Landsleute in der Tunnelfabrik Zwangsarbeit leisten mussten oder sogar darin umgekommen sind.«

»Ja, da hast du Recht. Als Reaktion von Betroffenen kann man das natürlich verstehen.«

Nach unserem Spaziergang fuhren wir nach Bruttig. Wir wollten uns unbedingt heute noch den alten Bahndamm anschauen, der quer durch den ganzen Ort in die Weinberge hineinführt und irgendwo in der Nähe der beiden Bunkerreste endet, da, wo der Tunneleingang gewesen sein muss. Oben auf dem Bahndamm, mitten im Ort, fiel uns eine heruntergekommene Baracke auf. Mein Vater sagte, das sei eine von mehreren Unterkunftsbaracken für KZ-Gefangene gewesen. Auf einem hölzernen Schild an der Seitenmauer des Bahndamms war neben anderen Wandervorschlägen zu lesen: Tunnelweg, 20 Minuten.

Bis zu diesem Tag hattest Du mir nie etwas vom Tunnel und den Lagern erzählt und seitdem auch nichts mehr. Nur an dem Abend des besagten Pfingstsonntages, ich war gerade dabei, unser Gespräch zu notieren, riefst Du mich an und machtest mich auf eine Zeitschrift aufmerksam, die im Dezember 1978 erschienen war.

»Da steht etwas über das Lager Bruttig drin.«

»Welche Zeitschrift ist das?«

»Zündkopf heißt sie. Die Jusos haben sie herausgegeben. Ich komme morgen bei dir vorbei und bringe sie dir mit.«

Zündkopf. Dieser hatte eher den Charakter eines im Selbstdruckverfahren hergestellten, mehrseitigen Flugblattes, als den einer Zeitschrift. Auf DIN-A4-Blättern wurde unter der Überschrift Was nicht im Heimatbuch steht über das KZ Cochem berichtet. Für mich war das die erste gedruckte Information zu dem Thema.

»Wegen des Artikels hat es damals ziemlich viel Aufregung gegeben«, wusstest Du. »Hier, lies mal: Die Außenkommandos sind in ihrer nächsten Umgebung unbekannt geblieben und wurden und werden bewusst totgeschwiegen. Wie gut diese kollektive Verdrängung von Schuld und schlechtem Gewissen nach dem Krieg bis heute funktioniert …« An dieser Stelle hörtest Du auf, vorzulesen, blättertest hin und her und sagtest dann: »Hier noch was. Da steht: In unserer Gegend betrug die Zahl der Familien, die in einem Dorf wie Bruttig als Gegner des Naziterrors bekannt waren, eins bis zwei. Das ist doch kein Wunder, dass sich die Leute über den Artikel aufgeregt haben.«

»War es denn nicht so?«, fragte ich.

»Viel anders war es sicher nicht. Aber das waren ja auch extreme Zeiten, davon macht ihr euch heute ja gar kein Bild mehr.«

»Mir ein Bild machen«, sagte ich. »Das ist es. Genau das will ich versuchen.«

Abb. 1: Links in den Weinbergen sind die Reste der beiden Bunker am ehemaligen Tunnelportal in Bruttig zu erkennen. Rechts daneben ist eine Befestigungsmauer zu sehen, die sich am Bahndamm bergseitig befindet. Am linken Ende der Mauer befand sich die Tunneleinfahrt. (Foto: E. Heimes)

Abb. 2: Ein Loch im Berg. Portal des Tunnels auf Bruttiger Seite in den 1920er/1930er Jahren (Historische Aufnahme, Sammlung E. Heimes)

Abb. 3: Der obere der beiden Bunker am Bruttiger Tunnelportal. Im Hintergrund ist die Ortschaft Bruttig zu sehen. Die Strecke vom provisorischen Lager im Gasthaus Schneiders – später vom Lager »Auf der Kipp« (Bruttig), das sich von hier aus gesehen hinter der Ortschaft befand – mussten die im Tunnel eingesetzten Häftlinge täglich hin- und zurück laufen. Die Entfernungen betrugen 1,2 km bzw. 1,7 km. Vom Lager Treis zur Arbeitsstelle im Tunnel betrugen die Wege 4,8 km (vom provisorischen Lager im Gasthaus Wildburg) und 3,8 km vom Lager »Auf der Kipp« (Treis). (Foto: E. Heimes aus dem Jahr 1986)

In den folgenden Tagen verschickte ich einen Schwung Briefe, von deren Beantwortung ich mir ein Weiterkommen erhoffte. Ein Schreiben ging an den Herausgeber des Zündkopf – unbekannt verzogen – ein weiteres an den Verfasser eines Buches über das SS-Sonderlager Hinzert im Hunsrück. Dieser antwortete, schickte Fotokopien und empfahl mir, Kontakt mit einem Studienrat aufzunehmen, der eine Ausstellung über Kriegsgefangenenlager organisiert hatte. Dieser wiederum antwortete auf mein Schreiben nicht. Die Fotokopien waren Ablichtungen aus einer Publikation über das Lager Hinzert von Marcel Engel und André Hohengarten. Zum ersten Mal las ich eine überregionale Veröffentlichung, in der mehrmals vom Lager Cochem die Rede war. Es hieß darin, am 5. März 1944 sei ein Arbeitskommando von N.N.-Franzosen aus Natzweiler dort hin geschickt worden. Zu diesem Konvoi habe auch der elsässische Journalist Aimé Spitz aus Sélestat gehört. Die Franzosen seien nach vier Wochen wieder abgezogen und durch Polen und Russen ersetzt worden. In dieser Zeit seien 37 Häftlinge ums Leben gekommen. Im Juli 1944 sei eine Gruppe Hinzerter Häftlinge nach Cochem gekommen. Einer von ihnen habe sich an die besonders mühselige Arbeit von Cochem-Treis erinnert. Durch intensive Bombardierung sei der Fortgang der Arbeiten in Cochem verhindert worden.

Weitere Anfragen und die Bitte, mir bei meinen Nachforschungen behilflich zu sein, schickte ich an die Jüdische Kultusgemeinde Koblenz, an die beiden Verbandsgemeindeverwaltungen Treis-Karden und Cochem-Land, sowie an die Gemeindeverwaltung Natzweiler im Elsass. Denn auch das war aus den Publikationen über Hinzert klar geworden: Cochem war ein Außenkommando des großen Konzentrationslagers Natzweiler im Elsass gewesen.

Die Gemeinde Natzweiler leitete mein Schreiben weiter an das SECRETARIAT D’ÉTAT AUPRÈS DU MINISTRE DE LA DÉFENSE CHARGÉ DES ANCIENS COMBATTANTS nach Straßburg. Von dort antwortete der Directeur Adjoint charge línteri, Monsieur J.C. Fournel wie folgt:

Durch Ihren Brief informieren Sie mich (…), dass Sie sich freuen würden, jedes Dokument zu erhalten, mit dem ich Ihre Arbeit unterstützen könnte. Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass dergleichen Dokumente, die sich mit dem Arbeitslager Cochem beschäftigen, nicht in meinem Besitz befinden. Im Übrigen ist der größte Teil der Dokumente, die wir besessen haben, bei einer Brandstiftung verschwunden, die das ganze Museum des Ex-Konzen­trationslagers Natzweiler-Struthof 1976 zerstört hat. So bin ich leider nicht in der Lage, zu Ihrer Zufriedenheit auf Ihre Anfrage zu antworten.

Für die Verbandsgemeindeverwaltung Cochem-Land antwortete der 1. Beigeordnete Probst, dass bei ihrer Verwaltung keine Dokumente über das während des Krieges in Bruttig geführte Außenlager eines Konzentrationslagers geführt würden. Die gewünschten Informationen könnten allenfalls über das Landes- und das Bundesarchiv beziehungsweise über noch lebende ältere Einwohner von Bruttig gegeben werden.

Im Antwortschreiben der Verbandsgemeindeverwaltung Treis-Karden hieß es: Unter Bezugnahme auf Ihr vorgenanntes Schreiben teilen wir Ihnen mit, dass sich in unseren Akten keine Unterlagen über das von Ihnen angesprochene Außenlager befinden. Das Gebäude der Verbandsgemeinde Treis-Karden wurde beim Einmarsch der amerikanischen Streitkräfte im März 1945 durch Brand zerstört. Dabei wurden sämtliche Akten vernichtet. Uns ist auch keine Stelle bekannt, wo Sie evtl. Informationen über das Außenlager erhalten könnten. Unterzeichnet: Esper, Bürgermeister.

Natürlich war ich enttäuscht über die kargen Informationen in den Antwortschreiben, hatte ich doch die Hoffnung gehabt, wenigstens in kleinen Schritten weiter zu kommen. Aber nichts. Die Antworten waren kühl und knapp, sachlich. Worüber ich mir damals kein Urteil bilden konnte, war der Wahrheitsgehalt der Briefe.

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass diesbezüglich zumindest an dem Schreiben des Bürgermeisters Esper gezweifelt werden darf. Denn erstens existieren, entgegen Espers Behauptung, Akten im Zusammenhang mit dem Außenlager beim Standesamt Treis-Karden. Das werde ich später noch ausführlich beschreiben. Demnach kann es zweitens auch nicht stimmen, dass bei dem Brand 1945 sämtliche Akten vernichtet wurden. Falsch sei auch die Behauptung, so hat mir später eine Treiser Bürgerin versichert, dass das Gemeindehaus beim Einmarsch der amerikanischen Streitkräfte zerstört worden sei. Tatsächlich habe es kurz danach plötzlich in Flammen gestanden. Ein kleiner, aber womöglich entscheidender Unterschied. Denn Espers Aussage legt nahe, dass das Verwaltungsgebäude aufgrund von Kriegshandlungen zerstört wurde, was tatsächlich jedoch nicht der Fall war. Gab es etwa Akten, die man lieber nicht den Amis in die Hände fallen lassen wollte? Ich bin mir nicht sicher, ob die Frage, wodurch das Haus tatsächlich in Brand geriet, jemals endgültig geklärt wurde.

Zwei Tage später hielt ich die Antwort der Jüdischen Kultusgemeinde Koblenz in den Händen: In Beantwortung Ihres Schreibens, stand da, bezüglich des ehemaligen Tunnels zwischen Treis und Bruttig, teilen wir Ihnen folgendes mit: Es war bekannt, dass in dem Tunnel Strafgefangene zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, die aber nichts mit der damals durchgeführten Maßnahme, die der jüdischen Bevölkerung galt, gemein hatte, also keinVerbrechen im Rahmen der Judenverfolgung darstellte. Deshalb ist es verständlich, dass wir weder eine Dokumentation noch sonst eine erschöpfende Auskunft darüber geben können.

Nachdem ich kurz den Grund meines Interesses an den Akten des Landeshauptarchivs dargelegt hatte, wurde mir dort ein Sachbearbeiter zugeteilt. Als Grund gab ich an, eine Publikation zum Thema KZ-Außenkommando Cochem verfassen zu wollen. Ich hatte aber tatsächlich selbst noch keine Ahnung über Form und Umfang einer solchen Arbeit, machte mir jedoch von da an ernsthaft Gedanken über eine mögliche Veröffentlichung, vorausgesetzt, es würde genug verwertbares Material zu finden sein.

Der Sachbearbeiter hörte sich ruhig meine Erläuterungen an und nahm mir dann jede Illusion, dass in den Aktenschränken des Hauses brauchbare Unterlagen archiviert seien. Dennoch legte er mir, nachdem er für eine Viertelstunde verschwunden war, einen beachtlichen Aktenberg auf den Tisch.

»Die können Sie sich einmal ansehen.«

Ich wälzte mich einen ganzen Nachmittag durch den Aktenberg und fand nichts, was zu meinem Thema passte. Kurz vor Feierabend, kam der Sachbearbeiter noch einmal auf mich zu: »Da habe ich was für Sie gefunden«, sagte er. »Es geht in diesem Vorgang, um eine Landschenkung der Gemeinde Treis an das Deutsche Reich. Der Vorgang stammt aus den Jahren 1939 und 1940. Es könnte sich hierbei um das Gelände handeln, auf dem später das Lager entstanden ist.«

Wie er das aus den drei Briefen, die er mir dann vorlegte, schließen konnte, war und blieb mir rätselhaft. Der Vorgang bestand aus einem Schreiben des Amtsbürgermeisters von Treis an den Landrat in Cochem vom 28. Oktober 1939, einem Schreiben des Landrates an den Amtsbürgermeister vom 29. November 1939, sowie einem Antwortschreiben an den Landrat vom 8. November 1940.

Ich hatte die Briefe kurz überflogen und fragte mich, warum der Sachbearbeiter annahm, es könne sich bei der Schenkung, über deren Genehmigung in den Briefen verhandelt wurde, um den Grund und Boden handeln, auf dem später das KZ errichtet wurde. Im ersten Schreiben war zu lesen, dass die in der Anlage näher bezeichneten Parzellen zum Zweck der Verbreiterung einer Reichsstraße kostenlos abgegeben werden sollten. Die dazugehörige Anlage war allerdings verschollen. Dennoch ließ ich mir die Schriftstücke fotokopieren. Vielleicht hatte ich ja noch nicht den Spürsinn entwickelt, der nötig war, um solche Dokumente lesen und richtig interpretieren zu können. Mit brummendem Schädel verließ ich den Benutzersaal des Landeshauptarchivs durch den Hinterausgang.

»Hier vorne ist schon zu«, hatte der Pförtner gesagt, »ich schließe Ihnen hinten auf.«

Ich fand bis heute keinen Hinweis darauf, dass die Treiser Landschenkung an das Deutsche Reich mit der späteren Entstehung des KZ-Außenlagers in Verbindung stand.

Helmut E. stammt aus Ernst. Ich hatte ihm von meinem Besuch im Landeshauptarchiv und dem dort archivierten Briefwechsel erzählt.

»Die rücken doch nichts raus«, sagte er sicher.

»Was weißt du denn über das Lager?«

»Die Ernster und die Bruttiger, die hatten es noch nie so recht miteinander. Die wischen sich gern gegenseitig eins aus, wie das bei Nachbardörfern eben so ist. Na ja, ich bin eben ein Ernster. Ich glaube, dass du von uns über den Tunnel und das KZ mehr erfahren kannst, als von den Bruttigern. Die Ernster haben damals zwar alles mitbekommen, waren aber nicht direkt betroffen. Die meinen, sie träfe keine Schuld, weil sie ja auf der anderen Moselseite wohnten, und die Brücke gab es ja damals noch nicht. Die erzählen auch heute noch davon. Mein Vater zum Beispiel, der war damals sechzehn, siebzehn Jahre alt. Der hat kürzlich noch erzählt, wie in Bruttig die Leute aufgehängt wurden.«

»Hat er das selbst gesehen?«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Helmut. »Aber ich frage ihn noch einmal. Der ist ein alter Sozi, der erzählt.« Der Vater habe eine Zeitlang im Kloster Ebernach, zwischen den Ortschaften Cochem und Ernst gearbeitet. Er wisse von alten, dort lebenden Franziskanern, dass einige der Ebernacher Brüder in die Konzentrationslager deportiert worden seien. Nach Dachau seien sie gekommen.

»Ja, nach Dachau«, sagte ich. »Dahin ist auch der Conder Pastor Ziegler verschleppt worden. Er kam nicht mehr zurück.«

»Mensch, dass man von dir auch noch mal was hört!«, rief Heinrich J. ins Telefon. »Womit kann ich dir helfen?«

»Du wohnst doch nur drei Kilometer von Bruttig weg. Ich will wissen, ob du dich an das KZ in Bruttig und den Tunnel erinnern kannst.«

Heinrich erinnerte sich und begann sofort zu erzählen. Im Hintergrund hörte ich eine Stimme. Es war seine Schwester, die scheinbar direkt begriffen hatte, über welches Thema wir redeten. Sie ergänzte und korrigierte Heinrichs Aussagen. Sie ist ein paar Jahre älter als er und erinnerte sich gut.

»Du kannst dem sagen«, hörte ich sie, »dass wir als junge Mädchen, mitbekommen haben, wie so ein paar arme Kerle aufgehängt worden sind. Vor dem Tunnelportal in Bruttig. Die waren, glaube ich, abgehauen damals.«

Heinrich J. war 1944 erst 14 Jahre alt.

»Ich habe immer nur den Zaun gesehen. Da waren ziemlich viele eingesperrt. Na ja, Motorräder haben mich damals mehr interessiert«, gestand er. »Jedenfalls habe ich keine schwarzen Uniformen gesehen. Ich erinnere mich gut, dass ich mich darüber immer gewundert habe.«

Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte.

»Keine schwarzen Uniformen, dass bedeutete, dass die Bewacher keine SS-Leute waren. Soldaten, die in dem Lager die Aufsicht hatten, trugen blaue Uniformen. Wie bei der Luftwaffe. Es steckt aber noch ein anderer Eindruck in mir: Die Kleider der Häftlinge, an die erinnere ich mich gut. Das waren gestreifte Anzüge. Blauweiß gestreift, glaube ich jedenfalls. Längs- oder quergestreift? Warte mal.« Er überlegte. »Nein, das weiß ich nicht mehr.«

Nach dem Krieg habe man erzählt, dass Hitlers Wunderwaffen, die V1 und V2 in den Werkstätten im Tunnel montiert worden seien, erzählte Heinrich, ob das stimme, wisse er nicht. Die KZ-Häftlinge sollen in dem Tunnel für die Firma Bosch gearbeitet haben, und Bosch habe diese Wunderwaffen ja mit entwickelt und gebaut.

Die Annahme, dass im Tunnel Bruttig-Treis die Raketen V1 und V2 gebaut oder montiert worden seien, war in den 1980er Jahren noch sehr verbreitet. In Gesprächen kam darauf immer wieder die Rede. Meine spätere Recherche wird jedoch zeigen, dass diese Annahme nicht den Tatsachen entsprach.

Heinrich J. erzählte, dass vor dem Krieg, der optimalen Voraussetzungen wegen, Champignons im Tunnel gezüchtet worden seien. Von Dir wusste ich von einer Pilzzucht nach dem Krieg. Pilze also, vor und nach dem Krieg.

»Du musst zu den Bruttiger Leuten mal hinfahren und mit denen reden, wenn du etwas über das Lager erfahren willst«, sagte Christa W. entschlossen. »Die reden zwar nicht gerne darüber, aber die wissen da ganz genau Bescheid.«

Christa arbeitete damals als Journalistin, freiberuflich. Sie sagte, dass sie sich auch für die ganzen KZ-Geschichten, wie sie es nannte, interessiere. Sie kenne eine Bruttiger Frau recht gut, die früher bei ihren Eltern im Haushalt gearbeitet habe.

»Die müsste jetzt weit über siebzig sein. Wie wär’s, wenn wir am Sonntag einfach einmal hinfahren?«

»Einverstanden.«

Frieda H. legte die Bibel zur Seite, als sie uns die Treppe zu ihrer Terrasse heraufkommen sah. Sie sagte, dass man ja heutzutage kaum mehr etwas wirklich Gutes zu lesen bekomme. Sie bat uns, in die Küche ihres alten Winzerhauses einzutreten. Ihr offenes Wesen machte es mir leicht, sie bald auf den Tunnel anzusprechen. Sie wusste gut Bescheid und begann mit ihrer Erzählung weit vor der Zeit des Faschismus in Deutschland.

»Der begonnene Bahnbau wurde nach dem ersten Weltkrieg sofort wieder eingestellt. Die Franzosen, die damals das ganze Gebiet hier bis zum Rhein hin besetzt hatten, wollten schon damals die Mosel kanalisieren und zur Großschifffahrtsstraße ausbauen. Eine zusätzliche Bahnlinie rechts der Mosel wäre damit überflüssig geworden. Aber so weit ist es ja dann doch nicht gekommen. In den dreißiger Jahren war eine Pilzzucht im Tunnel angelegt. Champignons, die brauchen die Dunkelheit und das feuchte Klima. Im Krieg war einmal Schluss damit. Nach dem Krieg hat wieder jemand damit angefangen. Die Franzosen beendeten das Unternehmen, mauerten die Tunneleingänge zu und sprengten sie später in die Luft.«

»Die Bunker, bei der früheren Tunneleinfahrt sind ja heute noch vorhanden«, sagte ich.

»Genau, das sind die Reste der beiden Tunnelbunker.«

»Welchen Zweck hatten die?«

»In einem Bunker«, wusste sie genau, »befand sich ein Noteingang zum Tunnel. Zur Sicherheit, falls das Hauptportal einmal zerstört worden wäre. In dem anderen befand sich ein Brunnen und andere Anlagen, die für die Versorgung des Tunnels erforderlich waren.«

»Die Bunker auf der Treiser Seite müssen einem ähnlichen Zweck gedient haben«, folgerte ich.

»Ich denke schon«, sagte sie. »Männer aus der weiteren Umgebung, die kamen alle nicht von hier, haben in der Fabrik im Tunnel gearbeitet. An einen erinnere ich mich. Der war aus Trier.«

»Was wurde denn in der Fabrik hergestellt?«, fragte Christa.

»Ja, Kind«, sagte sie, »das weiß ich auch nicht.«

»Sind dir mal Lastwagen aufgefallen, die nachts mit Planen überzogen ihre Fracht aus dem Tunnel fuhren?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

Ich merkte auf einmal, wie die alte Frau sich überwinden musste, weiterzusprechen. Ich hatte nach den KZ-Häftlingen gefragt. Sie erzählte, dass es Kriegsgefangene gewesen seien, die dort hätten arbeiten müssen. Sie blickte zu Boden, schüttelte den Kopf und schwieg. Plötzlich lag eine Spannung zwischen uns. Ich spürte, wie sie mit sich ringen musste, um weitersprechen zu können. Sie schwenkte noch immer den Kopf hin und her. Ihre Lippen zuckten. Dann brachte sie es heraus: »Das war so schrecklich, das könnt Ihr jungen Leute euch nicht vorstellen.« Jetzt wirkte sie erleichtert. »Von hier aus kann ich ja auf den Bahndamm gucken. Jeden Morgen und jeden Abend habe ich das miterleben müssen, wie die zur Arbeit hin- und zurückgeführt worden sind. Rappeldürr waren die. Sie trugen gestreifte Sträflingskleider und Holzschuhe. Abends, auf dem Rückweg zum Lager, konnten sie kaum noch gehen und die, die mit den Uniformen dabei gewesen sind, die Bewacher, schlugen mit ihren Knüppeln auf sie drauf. Schrecklich war das. Das konnte man überhaupt nicht verstehen. Ganz komisch, man hat das jeden Tag gesehen, tatsächlich miterlebt, aber es war so, als wäre es nicht wahr. Man konnte das einfach nicht glauben, obwohl es sich jeden Tag vor der eigenen Haustür abgespielt hat. Ich kann das jetzt noch nicht glauben. Das war, wie wenn man träumt. Einfach schrecklich.«

»Was haben sich denn die Leute hier aus dem Ort darüber erzählt?«, wollte Christa wissen.

»Ja Kind, da wurde nicht viel drüber geredet. Die Männer waren ja alle fort, im Krieg, und wir Frauen hatten Angst. Außerdem war das ja alles so unwirklich. Wir Frauen, wir hatten von Politik und all dem, was da passierte, sowieso keine Ahnung. Das war damals alles Sache der Männer. Und wir haben gemeint, was die sagten, das wäre auch richtig. Gott sei Dank ist das heute nicht mehr so. Früher, Kind, da wurden wir Frauen doch dumm gehalten. Deshalb konnten wir uns auch nicht einmischen. Aber was hätten wir auch tun sollen? Du hättest sehen müssen, wie die mit den armen Kerlen umgegangen sind. Getreten und geschlagen worden sind die. Manche wurden vom Tunnel ins Lager zurückgetragen, weil sie nicht mehr gehen konnten. Die, denen es am schlechtesten ging, bekamen die meisten Prügel. Nein, nein, das kann man alles gar nicht glauben.«

Wir hatten ihr aufmerksam zugehört und saßen eine Weile ergriffen, wortlos unter dem Eindruck ihrer Erzählung. Dann fügte sie noch hinzu und lachte dabei: »Aber manchmal gingen wir Frauen an den Zaun des Lagers und steckten den Gefangenen Äpfel und ein Stück Brot zu. Da musste man sehr aufpassen, dass um Himmels Willen keiner von den Aufsehern Wind davon bekam. Aber das haben viele Frauen gemacht, viele.«

»Darf ich wiederkommen?«, fragte ich bei der Verabschiedung an der Haustür.

»Ja, gern. Aber Sie müssen sich zu erkennen geben«, sagte sie, weil sie nicht jedem die Tür öffne. Man wisse ja nie … und sie sei ja auch ganz allein im Haus.

Ein Gerücht machte sich breit, von dem sich bald herausstellte, dass es völlig aus der Luft gegriffen war. Es hieß, der Bahndamm in Bruttig solle abgerissen werden. Oben auf dem Bahndamm hatte das Lager gestanden. Auch Frieda H. hatte das erzählt.

Falls noch Gebäude oder Teile der Lageranlage stehen, überlegte ich, werden diese jetzt womöglich mit dem Bahndamm dem Abriss zum Opfer fallen. Ich machte mich, mit dem Fotoapparat ausgerüstet, auf den Weg nach Bruttig. Dort war Kirmes. Die Leute waren mit sich und ihren Festtagsgästen beschäftigt, was mir ganz recht war, denn so konnte ich mich unbeobachtet fühlen. Ich ging zu der Baracke hin, die uns ja auch schon aufgefallen war, verknipste hier und nachher auf dem Friedhof einen ganzen Film. Abgesehen von der erwähnten Baracke und einem kleinen Schuppen standen an der Stelle, wo sich das Lager befand, kleine Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten. Ich hielt diese Häuser damals für Neubauten, weil sie sich in recht ordentlichem Zustand befanden. Später habe ich erfahren, dass es sich bei den Häusern um restaurierte, ehemalige Häftlingsbaracken des KZ-Außenlagers in Bruttig handelt.

Auf dem Bruttiger Friedhof hinter der Kirche wurde ich unerwartet fündig. Direkt neben dem Treppenaufgang befinden sich Grabsteine, wie sie gewöhnlich auf Kriegsgräbern stehen. Ich entsann mich, dass Frieda H. darüber gesprochen und gesagt hatte, dass auf dem Bruttiger Friedhof tote KZ-Gefangene begraben worden seien.

»Früher lagen noch mehr da, die hier gestorben sind«, hatte sie gesagt. »Die sind aber fortgekommen.«

»Fortgekommen, wohin?«, hatte ich gefragt, und sie hatte geantwortet, dass sie das nicht wisse.1

1Siebzehn auf dem Bruttiger Friedhof in einem Massengrab verscharrte Leichen von KZ-Häftlingen wurden auf Anordnung der französischen Besatzungsbehörden am 30. September und 1. Oktober 1947 exhumiert. Sieben der Toten wurden später auf dem Bruttiger Friedhof bestattet, die übrigen zehn Toten wurden überführt und in ihren jeweiligen Heimatorten beigesetzt. Quelle: Gespräch mit dem ehemaligen Bruttiger Bürgermeister Manfred Ostermann, vgl. hierzu auch Exhumierungsbericht von Dr. Paul Geis, Koblenz in Guido Pringnitz: Deckname »Zeisig«, 1. Auflage, Treis 2016

Auf sieben Grabsteinen von insgesamt zwölf stehen Namen, die fremdländisch klingen. Das Todesdatum der Begrabenen fällt ohne Ausnahme in das Jahr 1944, das Jahr, in dem das Lager Bruttig existierte.

Die sieben Grabinschriften lauten:

Adolf Czech * 01.10.1910 † 26.07.1944

Josef Anoilczyk * 02.05.1894 † 30.07.1944

Louis Christian Vervooren * 09.10.1895 † 31.03.1944

Hendrikus Rempe * 21.02.1903 † 26.03.1944

Josef Dunal * 13.01.1896 † 01.08.1944

Ignatz Chrzuszoz * 14.01.1909 † 31.07.1944

Jan Krolak * 24.04.1904 † 30.07.1944

Über das Leben und die Umstände des Todes einiger der hier Begrabenen sollte ich noch manches mehr erfahren, als ich an dem Bruttiger Kirmestag ahnte. Davon werde ich dir später berichten.

Abb. 4: Überreste des Konzentrationslagers in Bruttig. Die Abbildungen 4 – 7 zeigen die zentrale und größte Baracke des ehemaligen Lagers, den »Speisesaal« der Häftlinge. Das Gebäude befindet sich auf den Abbildungen aus dem Jahr 1986 noch weitestgehend im Originalzustand. (Fotos: E. Heimes aus dem Jahr 1986)

Abb. 5

Abb. 6

Abb. 7

Abb. 8: Eines der Gebäude des ehemaligen Lagers Bruttig, in dem sich »sanitäre Anlagen« befanden. (Foto: E. Heimes aus dem Jahr 1986)

Abb. 9: Der Bahndamm auf dem sich das Lager befand, führt in Bruttig quer durch den Ort. Über der Unterführung ist eine ehemalige Häftlingsbaracke (»Speisesaal«) zu erkennen. (Foto: Christian Gasterstädt).

Das sogenannte Stammlager

Im folgenden Winter fuhr ich ins Elsass. Natzweiler. Besichtigung der Gedenkstätte KZ Natzweiler. Ein Versuch, mehr zu begreifen. Rückte ich mir das bisher Unvorstellbare näher, weil ich die Anlagen besichtigte? Ich hatte vor gehabt, viele Fotos zu machen, diese zu Hause zu zeigen und zu sagen: Seht mal! Nach dem zweiten Auslösen versagte die Kamera. Vor Kälte. Also keine Fotos. Aber die Notwendigkeit, die Eindrücke aufzuschreiben, sie blieb. Dennoch ging ich tagelang Papier und Bleistift aus dem Weg. Ich schrieb damals nur diesen einen kurzen Text:

Am Eingangstor stand nicht Arbeit macht frei, obwohl es geplant gewesen sein soll, sondern lediglich Konzentrationslager Natzweiler. Beim kurzen Gespräch mit dem Herrn an der Pforte hätte ich diesem gern verheimlicht, dass ich Deutscher bin. Ich begegnete meiner Unsicherheit mit dem Gedanken, dass er mir mein Alter ja ansehen müsse und dass ich aus einer anderen Generation komme, als der, die hier gemordet hatte.

Die Kälte lähmte meine Finger. Ich packte den Fotoapparat in die Tasche. Die Kleider der Lagerinsassen waren dünne Leinenanzüge gewesen. Konnte ich auch nur ahnen, wie schrecklich es gewesen sein muss, hier zu erfrieren? Ich schob meine Hände, in wollenen Handschuhen steckend, tief in die Manteltaschen. Zwei oder drei Minuten lang blieb ich stehen, reckte den Kopf in den schneidenden Wind. Bevor der Schmerz kam, rieb ich mir eine meiner Wollhände durch das Gesicht, um die Eiseskälte zu vertreiben. In den Folterkammern, dem Sektionsraum und den Tötungsräumen suchte ich vergeblich nach Spuren von Gewalt. Alles gereinigt und zur Besichtigung frei gegeben. Das Büro des Arztes, der für medizinische Versuche an Menschen zuständig war, ist ein leerer Raum. Er unterscheidet sich nur durch die Größe und die Höhe des Fensters von den Gefängniszellen, die sich in einer anderen Baracke befinden. Ein bei den Einzelzellen des Bunkers abgetrennter Raum war ursprünglich zum Aufstellen eines Ofens vorgesehen. Viel zu klein für einen menschlichen Körper. Es sollen aber manchmal sogar zwei Menschen darin eingepfercht worden sein. Nicht sitzen, nicht stehen, nicht liegen, irgendetwas dazwischen und das mitunter vierzehn Tage lang. Und dann diese Kälte! Doch meine Fantasie ließ mich im Stich. Der Schrecken wurde nicht spürbar. Ich betrachtete mir andere Besucher der Gedenkstätte. Ob diese mehr begriffen? Im Krematorium stand ich vor dem Verbrennungsofen wie bei einer Schlossbesichtigung vor dem Bett des Bayernkönigs Ludwig auf Neuschwanstein. Die Nazis haben ganze Sache gemacht. Nicht nur das Leben von Menschen, auch das Wesen der Dinge scheinen sie ausgelöscht zu haben, so, dass sie zu mir jetzt nicht mehr sprachen. Nur der Zaun, drei Meter hoch zwischen doppelreihigen Holzpfosten gespannt, ließ mich seine Undurchdringlichkeit spüren.

Das Lager wurde in einer Höhe von achthundert Metern mitten in den Vogesen von den Häftlingen unter Zwang aufgebaut. Ich wäre an der Einsamkeit zu Grunde gegangen, die hier zu spüren war, die trotz aller Besuchergeschäftigkeit mehr nachzuempfinden war, als der Schrecken von Folter- und Tötungsgeräten. Deshalb hat mich auch der Zaun so sehr erschüttert, dieser verfluchte Zaun war es, der diese Vergessenheit, dieses weg sein von der Welt besiegelt haben muss.

Eine Ahnung überkam mich: Ich bin völlig unwichtig und egal. Es ist der Welt und den Menschen einerlei, ob ich lebe, leide oder sterbe. Ich werde geschlagen auf dem Prügelbock. Bäume und Felsen schweigen. Meine Schreie enden an den Wänden der Baracke. Wenn ich tot bin, wird mein Körper verbrannt und die Asche in das Gemüsebeet des Lagerkommandanten gekippt werden. Niemand wird fragen: Wer war er? Völlig egal.

Es war eine sehr ruhige Zeit in Natzweiler mit vielen Gelegenheiten zum Nachdenken. Wieder zu Hause machte ich mich sofort an die Arbeit und schrieb eine Erzählung, die im Wesentlichen das beinhaltete, was ich Dir bis hier hin erzählt habe. Alle Dialoge, verfasste ich allerdings im moselfränkischen Dialekt, so, wie ich sie mit vielen Einheimischen tatsächlich gesprochen habe. Bei späteren Lesungen und Vorträgen trug ich diese Passagen auch im Dialekt vor. Heute weiß ich: Meine Erzählung war nur der Anfang einer jahrelangen Auseinandersetzung mit dem KZ-Außenlager Cochem und seinen Nebenlagern Bruttig und Treis.

Abb. 10: Das Lagertor des Konzentrationslagers Natzweiler Struthof (Foto: E. Heimes Januar 1985)

Wenn ich mich mit den Menschen hier vor Ort unterhalte, sprechen die wenigsten von Konzentrationslagern in Bruttig und Treis. Sie sagen Arbeitslager. Das klingt weniger dramatisch. Und Arbeit ist ja schließlich nichts Schlechtes. Oder? Weit gefehlt, die Annahme, es habe sich hier um eine mildere Abstufung eines der bekannten KZs gehandelt. Die Verhältnisse in den Außenlagern waren die Fortsetzung der Verhältnisse in den großen Konzentrationslagern an anderen Orten. Sie unterschieden sich durch die Größe. Das KZ-Außenlager Cochem war nicht so ausgestattet wie das Lager Natzweiler. Es gab keine Gaskammern und keine Verbrennungsöfen. Auch wurden in Cochem keine medizinischen Versuche an Gefangenen durchgeführt. Aber: In der Mitte des Lagers in Bruttig stand der Galgen, als immer gegenwärtige Drohung, in den Zwingern wurden Hunde gehalten, verkommen zu lebenden Waffen, genau wie in Natzweiler auch. In Treis bedurfte es keines Galgens. Hier wurden die Menschen an den Bäumen erhängt, die im Lager standen. Alle Anweisungen für Cochem kamen aus Natzweiler. Es herrschten die gleichen Vorschriften. Die Post für die Gefangenen in Cochem wurde in Natzweiler zensiert. Das Schrecklichste, was Cochem mit Natzweiler gemein hatte: die Gefangenen waren hier wie dort zu einem bestimmt, zur Vernichtung durch Arbeit.

Cochem mit seinen Nebenlagern Bruttig und Treis war nur eines von 72 Außenlagern des KZ Natzweiler. Andere große KZs hatten ähnlich viele. Man stelle sich das vor. Deutschland war gespickt von Lagern, übersät von Stätten der Folter und des Todes. Und schenkt man den Zeitgenossen Glauben, die davon nichts gewusst haben wollen, sollen sie doch heute endlich zur Kenntnis nehmen, dass in der Nähe von fast allen deutschen Städten und Ortschaften solche Terroreinrichtungen platziert waren. Der Internationale Suchdienst von Arolsen gibt die Zahl der Konzentrationslager im damaligen Reichsgebiet mit 1.037 an. Dreiundzwanzig seien Hauptlager, 1.014 Nebenlager gewesen. Ferner habe es acht Vernichtungslager und unzählige andere Lager gegeben. Wie Treis und besonders Bruttig zeigen, befanden sich die Außenlager teilweise inmitten der Ortschaften.

Das KZ Natzweiler-Struthof, ungefähr fünfzig Kilometer südwestlich von Straßburg gelegen, wurde am 1. Mai 1941 eröffnet. Bereits im September 1944 wurde es geschlossen, nachdem die Gefangenen nach Dachau deportiert worden waren. In den allgemeinen Publikationen über die Konzentrationslager im SS-Staat wird Natzweiler-Struthof als Vernichtungslager charakterisiert. Es gehörte jedoch, misst man die Größe eines Konzentrationslagers an der Anzahl der dort hin Deportierten und Ermordeten, nicht zu den größten Vernichtungslagern. Allerdings war Natzweiler berüchtigt wegen der Durchführung medizinischer Versuche an lebenden Personen. Natzweiler war Endstation für viele Widerstandskämpfer aus den Staaten westlich des Reichsgebietes.

Die Benennung des Lagers ergab sich aus dem Namen der kleinen, im Tal gelegenen Gemeinde Natzweiler und dem Struthof, eines Hotels mit angrenzendem Bauernhof. Oberhalb des Struthofs wurde an einem Berghang das Konzentrationslager errichtet. Um die Arbeiten auszuführen, wurden im Mai 1941 die ersten Gefangenen hierher gebracht. Die Besitzer des Struthofs hatten zu dem Zeitpunkt das Hotel und den Hof bereits geräumt. Ein erstes provisorisches Lager wurde im Struthof errichtet. Die Gefangenen wurden gezwungen, rund achthundert Meter oberhalb des Struthofs das Lager aufzubauen. Die Strecke dazwischen, über die das gesamte Baumaterial von den Gefangenen geschleppt werden musste, war extrem steil und führte damals durch unwegsames Gelände.

Der Beschluss, das Lager an diesem Ort zu errichten, war durch das Vorhaben der Nazis bestimmt, die in der Nähe gelegenen Granitvorkommen durch den Einsatz der Gefangenen abzubauen. Dieses Vorhaben wurde in den Folgejahren unter Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge verwirklicht. Natzweiler wurde das einzige Konzentrationslager auf französischem Boden. In seinen vierzehn Häftlingsbaracken war Platz zur Unterbringung von 1.500 Menschen. Zu Beginn des Jahres 1944 lag die Zahl der Häftlinge noch unter 2.000, im September des gleichen Jahres, kurz vor der Umsiedlung und Schließung des Lagers, war es mit 7.000 Menschen völlig überbelegt.

Von den 150 Häftlingen, die im Mai 1941 mit dem ersten Transport auf dem Struthof ankamen, befanden sich 145 Deutsche. Fünf Häftlinge waren Polen. Die Deutschen, zum großen Teil politische Gefangene, mussten den Roten Winkel als Kennzeichnung tragen. Andere, aufständische Matrosen aus Kiel, waren der Spezialabteilung Wehrmacht (SAW) zugeordnet. Wieder andere, sogenannte Asoziale, trugen den Schwarzen Winkel, Homosexuelle den Rosa Winkel und so genannte Gemeinverbrecher den Grünen Winkel auf ihrer Kleidung. Als diese Männer die ersten drei Baracken fertig gestellt hatten, wuchs die Zahl der Häftlinge auf 400 Personen an. In der Folgezeit veränderte sich die Zahl der Gefangenen wie folgt: zum 1. Januar 1942 auf 419 Häftlinge; zum 1. Januar 1943 auf 709 Häftlinge und zum 1. Januar 1944 auf 1.840 Häftlinge. Die höchste nachweisbare Gefangenenzahl lag am 27. August 1944 bei 5.538 Häftlingen.

Neben den 14 Häftlingsbaracken hatte das Lager eine Küche, ein Gebäude mit Gefängniszellen und ein Krematorium. Die Baracken standen stufenförmig in einem Nordhang auf der Schattenseite eines Berges. Auf der untersten Stufe der Anlage befand sich eine Grube, in der die Asche und die Knochenreste von verbrannten Häftlingsleichen verscharrt wurden. Auf der obersten Stufe überragte ein Galgen auf der Mitte des Appellplatzes das Lager. Durch die doppelte Stacheldrahtumzäunung floss elektrischer Strom. Acht hölzerne Wachtürme machten das Gelände zu einer Festung, aus der es kein Entrinnen gab. Außerhalb der Umzäunung, standen die Unterkünfte der Wachmannschaft, die Hundezwinger und die Villa des Kommandanten mit Schwimmbad. Eine Gaskammer wurde auf dem Struthof eingerichtet. Hierzu wurde die Kühlkammer des ehemaligen Hotels umfunktioniert.