Ich heiße Parvana - Deborah Ellis - E-Book

Ich heiße Parvana E-Book

Deborah Ellis

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Beschreibung

Afghanistan nach den Taliban - ein von den Amerikanern befreites und gleichzeitig besetztes Land. Mit ihrer Schule für Mädchen stoßen Parvana, ihre Mutter und einige andere Frauen auf den Widerstand der Männer aus der Umgebung. Die Drohungen nehmen zu. Als Parvanas Mutter entführt und getötet wird, entschließen sich die noch verbliebenen Kinder zur Flucht. Sie entkommen knapp, bevor die Amerikaner die Schule bombardieren. Parvana muss noch einmal zurück, weil sie die Tasche ihres Vaters vergessen hat. Sie wird von den Amerikanern festgenommen und verhört und - weil sie schweigt - als Terroristin eingestuft. Erst einer früheren Lehrerin, Mrs. Weera, gelingt es, Parvana zu befreien.

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Seitenzahl: 196

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Die Übersetzung des Buches wurde

gefördert vom Canada Council for the Arts.

Impressum

© der englischen Originalausgabe 2012 by Deborah Ellis.

In Kanada und den USA erschienen bei Groundwood Books 2012 unter dem Titel „My Name is Parvana“. www.houseofanansi.com

„Resume“ vonDorothy Parker: Complete Poemsby Dorothy Parker, copyright © 1999 by The National Association for the Advancement of Colored People. Mit freundlicher Erlaubnis von Penguin, einer Tochter von Penguin Group (USA) LLC. Übersetzung: Brigitte Rapp

ISBN 978-3-7026-5872-4

1. Auflage 2014

Einbandgestaltung: b3k unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/LP

© Copyright 2014 by Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Deborah EllisIch heiße Parvana

Aus dem kanadischen Englisch übersetzt

Sieh im Glossar am Ende des Buches nach, wenn dir ein Wort nicht vertraut ist.

Deborah Ellis

ist Schriftstellerin und Psychotherapeutin und lebt in Simcoe, Ontario.

Sie verbrachte viele Monate in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan, wo sie Gespräche mit Frauen und Mädchen führte. Die Geschichten, die sie dort hörte, und die Menschen, die sie kennenlernte, inspirierten sie zur Trilogie Die Sonne im Gesicht, Allein nach Mazar-e Sharif und Am Meer wird es kühl sein. Die Romane wurden in 25 Sprachen übersetzt, mehr als eine Million Dollar aus den Tantiemen spendete Deborah Ellis an „Canadian Women for Women in Afghanistan“ und „Street Kids International“.

Sie hat zahlreiche nationale und internationale Preise erhalten.

Für jene, die jeden Morgen aufstehen und sich den Anforderungen des Tages stellen

EINS

„Heißt du Parvana?“

Das Mädchen in dem staubigen blauen Tschador reagierte nicht. Die Gefangene saß reglos auf dem harten Metallstuhl und hielt die Lider gesenkt. Der Stoff des Tschadors bedeckte die untere Hälfte ihres Gesichts.

Ihre Mundwinkel hatten beim Erkennen der englischen Wörter vielleicht ein klein wenig gezuckt, aber die beiden Unifor­mierten, die sie anstarrten, ein Mann und eine Frau, hatten jedenfalls nichts davon bemerkt.

„Heißt du Parvana?“

Die Frau übersetzte die Frage des Mannes ins Dari, dann ins Paschtu. Und nach einer Pause auch ins Usbekische.

Das Mädchen rührte sich immer noch nicht.

„Sie antwortet nicht, Sir.“

„Das sehe ich, Corporal. Fragen Sie sie noch einmal.“

Die Frau räusperte sich und wiederholte die Frage in allen drei Sprachen.

„Heißt du Parvana?“

Diesmal sprach sie lauter, als wäre es an der mangelnden Lautstärke gelegen, dass das Mädchen nicht antwortete.

Das Mädchen rührte sich nicht und gab auch jetzt keine Ant­wort. Sie hielt den Blick hartnäckig auf eine Schleifspur am Boden geheftet.

Aus der Ferne drangen Geräusche gedämpft durch die Wände in den kleinen Büroraum. Ein LKW-Motor. Stiefel, die auf Sand marschierten. Ein Jet, der über ihre Köpfe hinwegdüste. Das Surren eines Hubschrauberpropellers.

Das Mädchen wusste, dass noch andere Menschen da waren. Sie hatte sie gesehen, als sie aus dem LKW getrieben und an diesen Ort gebracht worden war, wo sie jetzt in diesem kleinen Raum auf diesem harten Stuhl sitzen musste. Aber auch auf dem Transport hierher hatte sie sich nicht umgesehen, sondern hatte ihren Blick nur auf den Sand und Stein im Hof, dann auf die Zementstufen und schließlich auf den harten grauen Fußbo­den in dem langen Gang gerichtet.

„Vielleicht ist sie taub, Sir.“

„Sie ist nicht taub“, antwortete der Mann. „Sehen Sie sie an. Sieht sie aus wie taub?“

„Ich bin nicht sicher …“

„Wenn sie taub wäre, würde sie sich im Raum umsehen, um herauszufinden, was hier los ist. Sieht sie sich um? Hat sie den Kopf gehoben? Nein. Sie schaut immer nur nach unten, seit sie hergebracht wurde, ich habe sie kein einziges Mal den Kopf heben sehen. Glauben Sie mir, sie ist nicht taub.“

„Aber sie hat nichts gesagt, Major. Kein einziges Wort.“

„Sie hat wahrscheinlich etwas gesagt, als man sie gepackt und auf den LKW verfrachtet hat. Hat sie gekreischt oder irgendetwas geschrien?“

„Nein, Sir.“

„Was hat sie gemacht?“

Das Mädchen in dem blauen Tschador hörte Papier flattern, während die Frau in der grünen Armeeuniform in einem Bericht las.

„Sir, hier steht, dass sie ruhig dagestanden und gewartet hat.“

„Dagestanden und gewartet.“ Der Mann sprach die Wörter gedehnt aus, als würde er sie im Mund hin und her schieben. „Corporal, was sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl über sie?“

Kurz war es still. Das Mädchen in dem blauen Tschador stellte sich vor, dass die Frau überlegte, welche Antwort dem Major gefallen würde.

„Sir, ich habe nicht genug Informationen, um mir eine Mei­nung zu bilden.“

„Corporal, warum sind Sie zur Army gegangen?“

„Meine Spanischlehrerin hat mich auf die Idee gebracht. Sie sagte, ich hätte ein Ohr für Sprachen und das Militär könnte mich brauchen.“

„Sie haben das Sprachinstitut des Verteidigungsministeriums in Monterey besucht?“

„Ja, Sir.“

„Sie sind sehr jung. Hatten Sie davor jemals einen Job?“

„Ich habe in der Bäckerei meiner Eltern gearbeitet.“

„Brot?“

„Brot auch. Kekse, Kuchen, Schnitten, Torten. So in der Richtung.“

„Apfeltaschen?“

„Sicher, Sir.“

„Mein Lieblingsgebäck.“

„Wenn Sie möchten, kann ich meine Eltern bitten, Ihnen welche zu schicken.“

„Danke, Corporal. Bis sie hier ankommen, sind sie vertrock­net, aber bestimmt immer noch recht gut. Also eine Kleinstadt-Bäckerei mit ein bisschen von allem – backen, Lieferanten an­rufen, Kunden bedienen?“

„Ja, Sir.“

„Hatten Sie schon mal das Gefühl, dass jemand nichts Gutes im Sinn hat?“

„Sir?“

„Ein Kunde kommt in Ihren Laden und tut nichts Schlimmes, sagt nichts Schlimmes, und trotzdem denken Sie, ‚Mit dem stimmt was nicht‛, und Sie beobachten ihn und sind froh, wenn er wieder weg ist.“

„Ich glaube schon, Sir. Es ist eine kleine Stadt, aber schlimme Dinge passieren überall.“

Der Mann klopfte mit seinem Stift an die Schreibtischkante. Er klopfte ziemlich lange. Das Mädchen in dem blauen Tschador wusste, dass es sich sehr zusammennehmen musste, um sich dadurch nicht aus der Fassung bringen zu lassen.

„Sehen Sie sie an“, sagte der Mann.

Nach den Geräuschen zu urteilen, änderten sie gerade ihre Sitzposition.

„Sie hat kein einziges Wort gesagt und hat dagestanden und gewartet, dass sie festgenommen wird“, sagte er. „Was sagt Ihnen das?“

„Ich weiß nicht, Sir. Vielleicht, dass sie Angst hat.“

„Sieht sie aus, als hätte sie Angst?“

Wieder war es kurz still.

„Nein, Sir. Tut sie nicht. Aber, vielleicht … vielleicht stimmt etwas nicht mit ihr. Vielleicht ist sie nicht klug genug, um Angst zu haben.“

„Sie waren in einer Bäckerei, Corporal. Ich in einer Sicher­heitsfirma. Ich habe gelernt, Schwierigkeiten zu erkennen. Und dieses Mädchen macht Schwierigkeiten. Was wissen wir über sie?“

„Sehr wenig, Sir. Sie wurde in einer verlassenen Ruine ge­funden, die früher eine Schule war. Wir vermuten, dass die Ruine derzeit von den Taliban als Stützpunkt genützt wird, um An­griffe auf uns vorzubereiten, und was wir aus den Dorfbewoh­nern herausgebracht haben, scheint das zu bestätigen, obwohl niemand bereit ist, offen darüber zu sprechen. Das Mädchen war dort ganz allein. Und sie trug eine zerlumpte Tasche über der Schulter. In der Tasche waren Papiere, auf denen der Name Parvana stand. Deshalb nehmen wir an, dass sie so heißen könnte.“

„Zeigen Sie mir die Tasche.“

„Ich glaube, sie ist gerade bei der Analyse.“

„Holen Sie sie her. Ich kann nicht warten, bis die dort alles genau unter die Lupe genommen haben. Die brauchen so viel Zeit, wie sie kriegen. Treiben Sie die Tasche auf. Brin­gen Sie sie her. Wenn die meckern, sagen Sie, es ist ein Be­fehl.“

„Ja, Sir.“

Das Mädchen auf dem Stuhl sah, wie die Armeestiefel der Frau den Boden überquerten und das Büro verließen. Als die Tür auf­ging, drangen noch mehr Geräusche herein – Telefonläuten, Ge­sprächsfetzen, das Auf- und Zuschieben von Aktenschränken.

Das Mädchen lauschte und hielt die Augen gesenkt. Sie wusste, dass der Mann am Schreibtisch sie beobachtete. Sie bemühte sich, ihn zu ignorieren. Es war schwer. Sie wandte einen alten Trick an, mit dem sie sich geholfen hatte, wenn sie in der Wildnis Angst hatte.

Sie übte das Einmaleins.

Neunzehn mal sieben ist hundertdreiunddreißig. Neunzehn mal acht ist hundertzweiundfünfzig. Neunzehn mal neun ist hundert­einundsiebzig.

Sie ging gerade die Multiplikationen mit vierundzwanzig durch, als die Stiefel der Frau wieder ins Büro traten. Sie hörte, wie die Schultertasche ihres Vaters auf den Schreib­tisch gelegt wurde.

„Die sieht aus, als hätte sie schon bessere Zeiten gesehen“, sagte der Mann. „Schauen wir mal, was wir da drinnen haben.“

Er benannte jeden Gegenstand, den er aus der Schultertasche nahm.

„Ein Heft. Was steht da?“

„Sir, da steht: Eigentum von Parvana. Alle anderen: Finger weg!“

„Genau das hätten auch meine eigenen Teenie-Töchter ge­schrieben. In welcher Sprache?“

„Dari. Aber wir wissen nicht, ob es ihr Heft ist. Vielleicht hat sie es beim Plündern mitgenommen oder ...“

„Stifte“, sagte der Mann. „Und eine Ausgabe von Wer die Nachtigall stört in englischer Sprache. Was hat ein Mädchen wie dieses mit einem amerikanischen Klassiker am Hut? Aber schauen Sie, da wurden Seiten rausgerissen – sieht fast so aus, als hätte jemand davon abgebissen! Wozu bemühen wir uns bloß, diesen Leuten Zivilisation beizubringen?“ Er schleuderte das Buch auf den Schreibtisch.

Das Mädchen im blauen Tschador konnte sich nur mit Mühe zu­rückhalten, aufzuspringen, das Buch zu packen und dem Mann damit eins überzuziehen.

Sie hörte, wie jemand das Heft durchblätterte.

„Wer ist dieses Mädchen? Was hat sie vor?“, fragte der Mann. „Vielleicht hat sie, wie Sie sagen, bloß geplündert. Das würde passen. Ihre Kleidung ist völlig verstaubt. Ihre Füße sind dreckig. Sie sieht aus, als hätte sie draußen auf der Erde geschlafen. War in dem Gebäude noch irgendetwas anderes, das einen Wert hatte?“

„Für diese Menschen hat alles einen Wert, Sir“, antwortete die Frau. „Aber, ja, da waren noch andere Dinge, die sie hätte nehmen können. Ein Radio. Ein paar Küchenutensilien.“

„Also Dinge, die sie verwenden hätte können. Oder verkaufen. Wenn sie also bloß eine Plünderin wäre, hätte sie die mitge­nommen. Stattdessen nimmt sie diese verrottete alte Schulter­tasche voller Papierfetzen und ein halb aufgegessenes Buch mit. Nein. Mein Instinkt täuscht sich nicht. Sie hatte etwas vor. Und wir werden dem auf den Grund gehen. Sperren Sie sie ein.“

Angst durchzuckte das Mädchen, als er das sagte.

„Es gibt ein Problem, Sir“, sagte die Frau. „In den Zellen sind lauter Männer.“

„Keine Frauenzellen?“

„Bisher gab es keinen Bedarf dafür.“

„Jetzt gibt es einen. Dieses Mädchen geht nicht weg von hier.“

Wieder war es ein Weilchen still. Das Klopfen an der Schreibtischkante begann von Neuem.

„Was ist mit unserem Knast?“, fragte der Mann nach einer Weile.

„Das Armeegefängnis? Das ist doch für Soldaten.“

„Es hat Zellen, oder nicht? Sind sie sicher?“

„Ja, aber …“

„Aber was?“, wollte der Mann wissen.

„Die Zellen da sind etwas schöner als die für unsere afgha­nischen Häftlinge.“

Der Mann lachte. „Heute ist kaum ein Glückstag für dieses Mädchen, Corporal. Wenn die Zelle auch noch so schön ist, es ist ein Gefängnis. Und sie könnte sehr lange da drinnen blei­ben.“

Er nahm das Telefon und drückte einige Tasten.

Das Mädchen auf dem Stuhl versuchte sich wieder auf die Multiplikationen zu konzentrieren. Sie musste ruhig bleiben. Sie durfte niemandem zeigen, wie groß ihre Angst war.

Der Mann legte auf. „Erledigt. Kümmern Sie sich um sie. Wir kriegen nichts aus ihr raus, wenn sie nicht spricht. Bringen Sie sie dazu, mit uns zu reden. Fragen Sie sie nach ihrem Na­men. Hören Sie nicht auf zu fragen, bis sie ihn verrät, nur damit Sie ihr endlich Ruhe geben. Das ist alles.“

Die Frau stand auf. „Ja, Sir!“

Sie nahm das Mädchen am Arm und führte sie aus dem Büro hinaus und durch den Gang. Dann waren sie wieder in der Sonne und es ging weiter über einen Hof, vorbei an einer Reihe von Panzern und bewaffneten Fahrzeugen, einer Gruppe von Soldaten, die Hampelmannsprünge machten, und mehreren großen grauen Containergebäuden. Sie gingen einige Stufen hinauf in ein anderes Gebäude und durch einen langen Gang. Vor einer Reihe von grauen Türen blieben sie stehen.

Das Mädchen hörte, dass der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Die Tür ging auf. Ein leichter Schubs beförderte sie in die Zelle. Hinter ihr ging die Tür zu.

Sie spürte, dass die Frau sie durch das kleine Fenster in der Tür beobachtete. Mit dem Rücken zur Tür blieb sie reglos stehen.

„Wir können dich für sehr lange Zeit hier einsperren“, sagte die Frau schließlich mit sanfter Stimme. „Rede mit mir. Heißt du Parvana?“

Das Mädchen stand immer noch mit dem Rücken zur Tür. Sie schwieg.

Sie hörte, wie die Stiefel der Frau sich über den Gang ent­fernten. Sie stand still und lauschte angestrengt, ob die Stiefel zurückkommen würden.

Als das Mädchen in dem staubigen blauen Tschador sicher war, dass sie allein war, brach sie endlich ihr Schweigen.

„Ja“, flüsterte sie. „Ich heiße Parvana.“

ZWEI

Parvana sah sich in dem kleinen Zimmer um, in dem sie gelan­det war.

Es sah nicht schlecht aus. Es war sauber. Es hatte ein schmales Bett mit einer dünnen Matratze. An einem Ende lag eine zusammengefaltete Decke. Gleich neben dem Bett war ein Metalltisch an der Wand befestigt. Darunter stand ein Klapp­stuhl.

Die Wände waren aus Metall und in einem gleichmäßigen Grau gestrichen. Parvanas Blick wanderte darüber und blieb an einem kleinen Sticker neben dem Bett fast unten am Boden hängen. Sie kniete sich hin, um ihn näher in Augenschein zu nehmen.

Reisegefängnis stand da zu lesen. Die wahren Verwahrungsex­perten, für sämtliche Verwahrungsarten.

Die Aufschrift war in englischer Sprache und daher für sie verständlich. Sie las weiter und erfuhr, dass das Gefängnis in Nordamerika hergestellt worden war, in einem Ort namens Fort Wayne, Indiana. Es musste wie ein Karton zusammengefaltet und in ein großes Flugzeug Richtung Afghanistan verladen worden sein, um dann hier, auf diesem staubigen Flecken Erde, wieder auseinandergefaltet und aufgestellt zu werden.

Parvana sah sich die Schrauben und Bolzen an, die alles zusammenhielten. Auf dem Etikett stand auch, dass ein Kontrol­leur 247 die Zelle überprüft hatte.

Der Kontrolleur 247 hatte wohl alles für in Ordnung befunden, schließlich war das Ding jetzt hier.

Parvana dachte über den Kontrolleur 247 nach. War es ein Mann oder eine Frau? Überlegten er oder sie, wer zwischen den grau­en Wänden, die sie kontrollierten, eingesperrt sein würde? Hatten er oder sie eine Familie, die sie abends erwartete? Eine Familie, die vollständig war, weil niemand erschossen worden oder auf eine Landmine getreten oder einfach zu müde zum Weiterleben geworden war? Hatten er oder sie in ihrer Jugend davon geträumt, einmal Kontrolleure für Reisegefängnisse zu werden?

Das musste ein guter Beruf sein, einer mit einer gewissen Macht. Als Kontrolleur konnte man sagen: „Diese Zelle ist gut, für den Versand geeignet“ oder: „Diese Zelle ist nicht in Ordnung. Zurück in die Fabrik.“

Am anderen Ende des Raums war eine Toilette und darüber ein Waschbecken. Parvana tippte auf den Wasserhahn.

Es kam Wasser heraus! Fließendes Wasser! Sie ließ es über ihre Fingerspitzen laufen.

Auf einem Blatt Papier über dem Becken stand, dass es bei Strafe verboten sei, Wasser zu verschwenden. Rasch drehte sie das Wasser wieder ab und horchte auf herannahende Stiefel im Gang. Niemand kam.

„Was können sie mir noch mehr antun?“, flüsterte sie.

Sie drehte den Hahn wieder auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Als sie fertig war, drehte sie ihn wieder zu. Nicht, weil sie sich vor Strafe fürchtete, sondern weil sie in einem trockenen Landesteil lebte, in dem man das Wasser nicht ver­schwenden durfte. Und auch wenn das Gefängnis aus Amerika kam, das Wasser war aus Afghanistan. Es gehörte ihr.

Das Bett sah einladend aus. Ach, sich auf einem Bett auszu­strecken, das nur ihr gehörte, in einem Zimmer mit geschlosse­ner Tür und Fließwasser! Aber sie konnte sich nicht erlauben zu schlafen, noch nicht. Nicht bevor sie wusste, was hier los war.

Sie stand eine Zeitlang an der Tür und suchte nach einem Spalt, durch den sie auf den Gang spähen könnte. Sie fand keinen. Die Tür hatte ein Sichtfenster aus Metall, das sich aber nur von außen öffnen ließ. Ihre Wärter konnten es zur Seite schieben und sie beobachten, wann immer sie wollten, ihr war diese Möglichkeit verwehrt.

Als sie schließlich fand, sie könnte das Bett ausprobieren, saß sie nur auf der Kante und war jederzeit sprungbereit, sollte es die Situation verlangen. Das Bett hatte einen Me­tallrahmen, in dem die Matratze verankert war.

Parvana war müde und ängstlich, aber zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie ein eigenes Zimmer, und das wollte sie genie­ßen, so gut es ging.

Wenn man sie gebeten hätte, dieses Zimmer zu gestalten – wenn Kontrolleur 247 sie um ihre Meinung gefragt hätte –, dann hätte Parvana etwas zur Farbauswahl zu sagen gehabt.

„Blau“, dachte sie. „Ein helles Blau, wie der Himmel an einem strahlenden Wintermorgen, bevor die Wolken von den Bergen her­einziehen. Dazu ein paar rote Farbtupfer hier und da.“ Ein freundliches Rot wie das Rot ihres schönen Shalwar Kameez, von dem sie sich als Kind trennen musste, weil ihre Familie das Geld brauchte.

Obwohl es viele Jahre her war, konnte sie ihn immer noch über den Markt davonflattern sehen – ein strahlender Farbfleck an einem ansonsten düsteren Ort. Ihr letztes Stück Kindheit, verkauft an einen Fremden.

Sie hätte ein Klappbett gewählt, um mehr Bewegungsspielraum zu haben und tanzen oder ihre Turnübungen machen zu können. In der Schule hatte sie immer schwierige Turnübungen gemacht, und wenn sie könnte, würde sie gern damit weitermachen.

Wenn es nach ihr ginge, würde natürlich auch das Fenster größer ausfallen. Es würde auf einen Obstgarten blicken und einen Fluss, und neben dem Fenster wäre eine Tür, die sie öff­nen und durch die sie jederzeit hinausgehen könnte.

Aber dann wäre es keine Gefängniszelle mehr.

Das Bett wurde ihr ein wenig zu bequem, und ihr Kinn begann zur Brust zu sinken. Mit einem Ruck riss sie es hoch und stand auf. Sie trampelte ein bisschen herum, um wach zu werden.

Sie musste wach bleiben. Sie musste auf der Hut sein vor allem, was auf sie zukam.

Jeder hatte diese Geschichten gehört. Jeder kannte jemanden, der jemand anderen kannte, der hinter den Mauern eines solchen Ortes verschwunden war. Manchmal kamen sie wieder raus und schworen empört Rache. Manchmal kamen sie zitternd heraus, mieden jeden Kontakt und führten Selbstgespräche. Jeder kannte jemanden, der jemand anderen kannte. Es war ein Geheimnis, von dem alle wussten.

Was sich hinter Gefängnismauern abspielte, war schlimm. Par­vana hatte die Narben gesehen, die Male der Folter. Der fah­rende Händler, der seinen Karren jeden Tag durch das Flücht­lingslager schob, pflegte seine Narben jedem zu zeigen, der einen Topf oder eine Bürste bei ihm kaufen wollte.

„Das waren nicht die Taliban“, sagte er. „Das ist von denen, die uns von den Taliban befreit haben. Wer wird uns von den Befreiern befreien?“

Parvana hatte seine Geschichte drei Mal zu hören bekommen, weil sie oft die Haushaltsdinge für die Familie besorgte. Er redete und redete, und hörte nicht auf, ihr seine geschundenen Handgelenke und Knöchel zu zeigen.

„Ich bin nur ein Händler“, sagte er jedes Mal. „Ich schiebe nur einen Karren vor mir her. Ich weiß nicht, was die Men­schen, denen ich Schuhbänder verkaufe, im Herzen tragen. Wenn ein Mann ein Stück Seife kauft, frage ich ihn nicht, ob er der Teufel ist. Warum haben sie mich eingesperrt? Warum haben sie mir wehgetan?“

Als Parvana die Geschichte zum ersten Mal hörte, war sie beeindruckt, erschrocken und voll Mitleid. Sie wollte etwas für den alten Mann tun. Es fiel ihr nichts Besseres ein, als ihn das Wechselgeld behalten zu lassen, aber das ging auf keinen Fall, denn ihre Familie hatte selbst so wenig Geld. Deshalb hörte sie sich seine Geschichte an, bis er des Erzäh­lens müde wurde, seinen Karren packte und seiner Wege zog.

Als sie seine Geschichte zum zweiten Mal hörte, war sie traurig und voll Mitgefühl, aber sie musste daran denken, dass ihre Mutter sie beim letzten Mal dafür gescholten hatte, dass sie herumgestanden und getratscht hatte, statt zu arbeiten. Während der Mann erzählte, wartete sie daher auf eine Gele­genheit, um sich höflich aus dem Staub zu machen.

Aber diese Gelegenheit kam nicht. Er redete und redete, hielt ihr seine Narben vor die Nase, beschrieb seinen Schmerz und forderte Antworten: „Warum hat man mir das angetan? Ich bin niemand. Warum tun sie das so einem Niemand an?“ Parvana fühlte sich machtlos, weil sie keine Antworten auf seine Fragen hatte und ihm nicht helfen konnte. Schließlich ließ sie ihn einfach stehen und den Himmel anjammern.

Beim dritten Mal tat sie, als kenne sie den Mann nicht. Sie wählte den Tee und den Nähfaden aus, um den sie gekommen war, und bezahlte wortlos, den Blick auf den staubigen Boden fi­xiert. Sie spürte die Einsamkeit, die er ausstrahlte, und ver­schloss ihr Herz davor.

Parvana wollte nicht wie der Händler enden. Sie wollte nicht wütend und rachsüchtig werden. An wem sollte sie überhaupt Ra­che nehmen? Wie weit zurück in der Zeit müsste sie gehen, um sich zu rächen? Hatte ein Wort wie Rache in einem Land wie Afghanistan überhaupt irgendeine Bedeutung?

Parvana zweifelte daran.

Rache zu fordern wäre reine Zeitverschwendung. Und von ihrer Zeit war schon genug verschwendet worden.

Sie wollte hinter diesen Wänden keinesfalls den Verstand verlieren. Afghanistan hatte bereits genug verlorene Seelen, die wie unsichtbare Ballons über dem Land schwebten und die Menschen wie leere Hüllen jammernd und einsam im Staub zurück­ließen.

„Wie komme ich hier raus?“, fragte sie sich flüsternd.

Sie musste daran glauben, dass man sie eines Tages freilas­sen würde.

Sie konnte sich nicht eingestehen, dass das sehr wahrschein­lich nicht geschehen würde.

Nach allem, was sie erlebt hatte, wusste sie eines sicher: Sie konnte ihnen nicht vertrauen.

Sie konnte nur sich selbst vertrauen.

DREI

Sie kamen in der Nacht.

Parvana war bereit für sie.

Sie saß auf dem Bettrand, und das Metall des Bettrahmens drückte sich in ihre Oberschenkel. Der Schmerz half ihr, wach zu blei­ben.

Durch den Druck auf die Beine schliefen ihr allerdings die Füße ein. Als die beiden uniformierten Frauen in Begleitung von Soldaten, die ihre Waffen im Anschlag hielten, in ihre Zelle drangen, sie jede an einem Arm packten und hinauszerr­ten, knickten ihr die Beine ein, sodass die Wachen sie den Gang entlang ziehen mussten.

„Steh gerade!“, befahl eine von ihnen.

Parvana ließ sich nicht anmerken, dass sie ihr Englisch ver­stand. Es war ohnehin egal, denn ihre Füße waren immer noch ziemlich taub.

„Das ist ja irre“, sagte die andere Wache. „Ich hab mich doch nicht durch die Grundausbildung geschwitzt, um mich mit trotzigen Gören abzuplagen.“

Die beiden mussten einander ein stummes Zeichen gegeben haben, denn beide ließen Parvana im selben Augenblick los. Sie sank zu Boden wie ein Sack Reis.

„Steh auf!“

Parvana blieb, wo sie war.

„Ich helfe euch bestimmt nicht“, dachte sie. Ihr ging es gut da unten. Sie hatte schon auf rauheren Unterlagen richtig gut geschlafen.

Das Mädchen wurde wieder hochgehoben, und die Schlepperei ging weiter.

Parvanas Tschador rutschte hinunter. Jetzt hatte sie nichts mehr, um ihr Gesicht zu verbergen. Es gefiel ihr nicht, dass es für alle sichtbar war.

Sie wurde wieder in das kleine Büro gezerrt und auf densel­ben harten Stuhl gedrückt. Stiefel, Beine und Rümpfe umstanden sie.

Neunzehn mal sieben ist …

Sie war zu nervös für diese Multiplikation und versuchte es mit einer leichteren. Zwei mal zwei ist vier. Zwei mal drei ist sechs. Zwei mal vier ist acht.

Sie multiplizierte und ihr Atem wurde regelmäßig. Sie hatte sich wieder im Griff.

„Ziemlich viele Leute für ein einziges kleines Mädchen.“

Parvana hörte die Stimme des Mannes, der sie bereits verhört hatte.

„Sie hat uns Schwierigkeiten gemacht, Sir“, sagte eine der Wachen.

„Etwas, das Sie nicht schaffen, Soldat?“

„Nein, Sir. Kein Problem, Sir.“

„Gut. Zurück an Ihre Arbeit.“

„Ja, Sir.“

Parvana sah zu, wie die Stiefelpaare aus dem Raum marschier­ten.

Plötzlich fiel ihr ein Zählreim zum Singen ein, den sie den Kleinen beigebracht hatte. Sie fand ihn toll, weil die Kinder Zählen und Englisch gleichzeitig lernten.