Sonne an dunklen Tagen - Deborah Ellis - E-Book

Sonne an dunklen Tagen E-Book

Deborah Ellis

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Beschreibung

Afghanistan im Jahr 2021, die Taliban haben wieder die Macht an sich gerissen. Parvana hat eine Schule für Mädchen gegründet, und ihr Sohn Rafi soll in New York auf die Ballettschule kommen. Doch eine Explosion auf dem Flughafen in Kabul macht Rafis Träume zunichte, und er muss allein den Weg nach Hause finden. Gleichzeitig fliehen die Mädchen vor den Taliban in Richtung Berge, um sich eine neue Zuflucht aufzubauen. Rafi schafft es trotz aller Gräuel zurück zu seiner Mutter, mit Hilfe jener Menschen, denen Parvana früher geholfen hatte.

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Seitenzahl: 193

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Deborah Ellis

ist Schriftstellerin und Psychotherapeutin und lebt in Toronto. Sie verbrachte viele Monate in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan, wo sie Gespräche mit Frauen und Mädchen führte. Die Geschichten, die sie dort hörte, und die Menschen, die sie kennenlernte, inspirierten sie zu „Die Sonne im Gesicht“ (Jungbrunnen 2001) und den Folgebänden „Allein nach Mazar-e Sharif“ und „Am Meer wird es kühl sein“. Die Romane wurden in 25 Sprachen übersetzt, mehr als eine Million Dollar aus den Tantiemen spendete Deborah Ellis an „Canadian Women for Women in Afghanistan“ und „Street Kids International“.

Sie hat zahlreiche nationale und internationale Preise erhalten.

Bei Jungbrunnen lieferbar:

Afghanistan-Trilogie (2010) und Ich heiße Parvana (2014).

© der englischen Originalausgabe 2022 by Deborah Ellis. In Kanada und den USA erschienen bei Groundwood Books unter dem Titel „One More Mountain“.www.groundwoodbooks.com

ISBN 978-3-7026-5981-3

eISBN 978-3-7026-5982-0

1. Auflage 2023

Übersetzung: Brigitte Rapp

Einbandgestaltung: vielseitig.co.at (Artwork: Silvia Wahrstätter unter Verwendung von Fotos von unsplah.com)

© 2023 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Europe

Druck und Bindung: Florjančič, Maribor

Wir legen Wert auf nachhaltige Produktion unserer Bücher und arbeiten lokal und umweltverträglich: Unsere Produkte werden nach höchsten Umweltstandards gedruckt und gebunden. Wir verwenden ausschließlich schadstofffreie Druckfarben und zertifizierte Papiere.

Deborah Ellis

Sonne an dunklen Tagen

Aus dem kanadischen Englisch übersetzt von Brigitte Rapp

Jungbrunnen

Siehe ab S. 153 nach, wenn dir ein Wort nicht vertraut ist.

Für jene, die weitergehen,wenn der Weg längst zu beschwerlich ist.

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

NACHWORT DER AUTORIN

GLOSSAR

1

„Mir kann niemand helfen“, sagte Damsa. „Sie auch nicht.“

Sie schwankte bedrohlich an der Dachkante des zerstörten Hauses.

„Doch, ganz bestimmt.“ Die Polizistin stand hinter ihr auf dem Dach. Sie machte einen Schritt auf das Mädchen zu.

„Es hat keinen Sinn“, sagte Damsa. Ein unsicherer Tritt, und Steine kullerten auf die Betonbrocken drei Stockwerke unter ihr. „Mein Vater will mich umbringen.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen.“ Die Polizistin kam noch zwei Schritte näher. „Mich wollen auch ein paar Männer umbringen.“

Sie streckte Damsa ihre Hand entgegen und lächelte tatsächlich dabei.

„Aber zuerst müssen sie uns finden.“

2

Damsa schielte durch das Gitter, das ihre Augen verdeckte. Sie hatte noch nie eine Burka getragen, aber die Polizistin hatte zwei aus dem Polizeiwagen geholt, sich eine über den Kopf gezogen und darauf bestanden, dass Damsa in die andere schlüpfte.

„Das ist für uns beide sicherer.“

Es war auch sicherer, das Polizeiauto im wild wuchernden Gras neben der Ruine des Hauses zurückzulassen, von dessen Dach sich Damsa beinahe gestürzt hätte.

„Die Taliban machen Jagd auf Frauen in Uniform“, erklärte ihr die Polizistin.

Sie marschierten drei Stunden lang, und jedes Mal, wenn ein mit Talibankämpfern besetzter Pick-up auf der Straße zu sehen war, duckten und versteckten sie sich.

Jetzt waren sie endlich am Ziel.

„Da sind wir.“

Hohe graue Mauern rahmten ein großes, hellrosa gestrichenes Tor ein, das mit Blumen in Orange, Blau und Gelb bemalt war. Damsa las den Namen auf dem Tor.

Grünes Tal.

Die Polizistin klingelte und schlug dann ihre Burka zurück, damit die Augen auf der anderen Seite der kleinen Öffnung ihr Gesicht sehen konnten. Damsa hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Ein Mädchen in ihrem Alter machte die Tür in dem großen Tor auf.

„Shauzia!“ Ein Junge von etwa elf Jahren ließ den großen Koffer fallen, den er im Hof gerade zu einem Wagen geschleppt hatte. Er lief auf die Polizistin zu und umarmte sie stürmisch. „Ich dachte, du schaffst es nicht rechzeitig“, sagte er.

„Glaubst du wirklich, dass ich dich ans andere Ende der Welt gehen lasse, ohne richtig Abschied zu nehmen?“, fragte Shauzia. „Rafi, allein dafür, dass du so etwas denken kannst, sollte ich dich verhaften.“

Rafi lachte. „Maryam macht Mama das Leben schwer“, sagte er.

„Also immer dasselbe Theater.“ Shauzia drückte Rafi noch einmal an sich. Dann lief er über den Hof davon.

„Mama! Shauzia ist da!“

„Ich bin froh, dass ihr es geschafft habt“, sagte das Mädchen, das sie hineingelassen hatte.

„Und ich erst“, antwortete die Polizistin. „Das ist Damsa.“

„Hallo, Damsa“, sagte das Mädchen. „Ich bin Larmina. Ich hole dir etwas zu essen.“

Larmina ließ sie im Hof zurück.

Shauzia führte Damsa zu einer Bank unter einem Baum. „Du kannst die Burka ausziehen.“

Damsa war froh, sitzen zu können. Sie war tagelang auf der Flucht gewesen, ohne Essen und mit sehr wenig Wasser. Aus Angst hatte sie auch kaum geschlafen.

Als sie jetzt endlich saß, schaffte sie es vor Erschöpfung nicht einmal mehr, sich die Burka selbst auszuziehen. Die Polizistin erledigte es für sie.

Larmina brachte ein Tablett mit Wasser, Datteln und Walnüssen und stellte es auf einem kleinen Tisch neben der Bank ab. Shauzia schenkte Damsa ein und reichte ihr das Glas, nahm sich dann selbst Wasser und setzte sich zu ihr.

„Willkommen im Grünen Tal“, sagte Shauzia und leerte ihr Glas.

Damsa versuchte ihr Glas an die Lippen zu führen, aber ihre Hand zitterte. Sie musste es in beide Hände nehmen, um ordentlich trinken zu können.

Dann sah sie sich um.

Überall war Farbe. So viel Farbe, dass Damsa die Welt, die sie gekannt hatte, im Vergleich dazu öde und staubig vorkam. Die hellen, weiß getünchten Mauern, die das Gelände umgaben, waren mit Mustern und Wandmalereien verziert. Teppiche und Decken hingen zum Lüften in der Sonne.

Sogar die Bank, auf der sie saß, war hellblau gestrichen und mit violetten Irisblüten bemalt.

Im Garten standen viele Beete in Blüte. Dazwischen schlängelten sich gepflegte Wege, die zu einem einstöckigen Haupthaus und mehreren kleineren Nebengebäuden weiter hinten führten. Das Haupthaus hatte ein großes Vordach zum Schutz vor Sonne und Regen.

Alles wirkte ordentlich, gleichzeitig ein bisschen durcheinander und voller Leben.

Der Hof im Haus von Damsas Vater war ganz aus grauem Stein gewesen, perfekt sauber gehalten von Bediensteten, die wie aufgeschreckte Mäuse davonhuschten, sobald sich ein Familienmitglied oder ein Gast zeigte. Ihrem Vater war es lieber, dass die Hilfen unsichtbar blieben.

Eine Frau mit sehr aufrechtem Gang und entschlossenem Gesichtsausdruck kam aus dem Haupthaus, ging zwei Schritte in Shauzias Richtung, drehte sich dann um und rief durch die offene Tür: „Maryam, wenn du nicht in fünf Minuten hier draußen bist, fahren sie ohne dich!“

„Ich weiß nicht, warum du sie anschreist, Parvana“, sagte Shauzia, die von der Bank aufgestanden war und über den Hof zu ihr ging. „Du weißt genau, dass das sinnlos ist.“

„Sie müssen vor Einbruch der Dunkelheit im sicheren Haus sein“, erklärte Parvana. Sie und Shauzia hoben den großen Koffer, den der Junge durch den Hof geschleppt hatte, in den offen stehenden Kofferraum. „Ich will nicht, dass sie nachts auf der Straße sind.“

„Asif weiß das doch“, sagte Shauzia.

„Ich weiß was?“

Ein Mann an Krücken, der ein leeres Hosenbein fein säuberlich nach oben geheftet hatte, trat mit zwei Rucksäcken über den Schultern auf den Hof.

„Du weißt, wie du deiner Frau unnötige Sorgen ersparst.“

„Das weiß ich genau“, sagte er, während er die beiden Rucksäcke auf dem Rücksitz des Wagens verstaute. „Wie schlimm ist es da draußen?“

„Auf der Autobahn sind Taliban“, sagte Shauzia. „Wenn ihr auf den Nebenstraßen bleibt, solltet ihr es problemlos nach Kabul schaffen.“

„Inschallah“, antwortete er. „Prinzessin Maryam ist im Anmarsch.“

„Bald ist sie Noorias Problem“, sagte Parvana. Sie umarmte Rafi. Asif kam dazu und umarmte sie beide.

Aus dem Haus war eine Stimme zu hören.

„Ich bin hier. Ich bin fertig. Ich konnte mein Gold nicht finden. Ich habe alles, was ich mit der Musik verdient habe, in Goldketten angelegt, die ich mitnehmen kann, aber ich konnte sie nicht finden. Bis mir einfiel, dass ich sie schon um den Hals trage.“

Eine Frau, jünger als Parvana und Shauzia und mit ihrer kunstvoll bestickten Tunika auch viel schöner gekleidet, trat in den Hof, einen kleinen Koffer hinter sich her ziehend.

„Ich weiß nicht, warum wir so früh aufbrechen müssen“, sagte sie. „Unser Flug geht erst morgen Mittag.“

Damsa ließ beinahe ihr Wasserglas fallen. Sie konnte nicht glauben, wen sie sah! Die ganze Erschöpfung war wie weggeblasen, sie sprang auf und flog förmlich über den Hof.

„Sie sind Maryam Gulalai“, rief sie. „Sie sind Maryam Gulalai! Ich kenne alle Ihre Songs!“

Maryams Gesichtsausdruck wechselte von ärgerlich aufgebracht zu huldvoll lächelnd. „Wie nett ist das denn!“, sagte sie und richtete sich ihren Tschador so, dass der Faltenwurf eleganter wirkte. „Wie heißt du?“

„Damsa. Ich … ich hab ein YouTube-Video aufgenommen, auf dem ich Ihre ‚Mandelbäume in Blüte‘ singe. Haben Sie es gesehen?“

„Ich schaue es mir an, wenn ich auf dem Flughafen bin“, antwortete Maryam. „Da werde ich Gott weiß wie viel Zeit haben.“ Sie warf Parvana einen zornigen Blick zu.

„Steig ein, Maryam“, sagte Parvana, aber als Maryam sich anschickte, ihren Worten zu folgen, packte Parvana sie und drückte sie fest. „Ich liebe dich und ich bin so stolz auf dich“, hörte Damsa sie sagen.

Damsa merkte, wie sie zur Seite geschoben wurde, als andere Mädchen aus dem Haus in den Hof drängten und tränenreich Abschied nahmen. Sie ging zu ihrer Bank zurück. Shauzia brachte die Mädchen nach ihrer Abschiedszeremonie zurück ins Haus.

Dann standen nur noch Parvana, Rafi, Asif und Maryam beim Wagen.

Rafi begann zu weinen. „Mama! Lass mich nicht gehen! Ich will nicht weg!“

Parvana kniete sich hin, um ihm in die Augen zu sehen. „Doch, du willst. Du willst weggehen und ein berühmter afghanischer Balletttänzer werden. Du wirst allen anderen Schülern in deiner neuen Schule zeigen, was es heißt, hart zu arbeiten und große Träume zu haben. Du wirst so wunderbare Tänze erfinden, dass die Leute sagen werden: ‚Das ist Afghanistan!‘ Und falls du feststellst, dass das Tanzen nichts für dich ist, ist mir das recht, weil ich weiß, was immer du tust, du wirst ein gütiger, guter Mann sein. Und dein Vater und ich werden uns Visa besorgen und dich in Nullkommanichts in New York besuchen.“

Shauzia kam mit einer ziemlich ramponierten Schultertasche zurück und gab sie Parvana. Parvana reichte sie Rafi.

„Du weißt, was das ist“, sagte sie. „Die hat meinem Vater gehört, deinem Großvater. Ich habe sie getragen, als ich mit ihm auf den Markt ging, um den Leuten, die nicht lesen konnten, ihre Briefe vorzulesen. Nach seinem Tod hatte ich sie mit, als ich deinen Vater in einer Höhle traf, damals, als wir noch Kinder waren, nicht viel älter als du.“ Sie hängte ihm die Tasche über die Schulter und sagte: „Wir werden immer bei dir sein.“

Sie erhob sich, nickte Shauzia zu, und Shauzia sorgte dafür, dass der Junge auf dem Vordersitz des Wagens Platz nahm.

„Du bringst sie auf den Flughafen, und wenn sie sicher durch die Kontrolle sind, kommst du sofort wieder zurück. Hörst du, Asif?“

„Feldwebel Parvana“, scherzte Asif. „Immer einen Befehl auf den Lippen.“ Er stieg ein und schloss die Wagentür. „Ich lasse nicht zu, dass unserem Sohn etwas zustößt.“

„Und was ist mit mir?“, hörte Damsa Maryam vom Rücksitz aus fragen.

„Dich verfüttere ich bei der erstbesten Gelegenheit an die Wildhunde. Und zieh diese Burka an. Deine Fans wollen vielleicht dein Gesicht sehen, aber die Taliban ganz sicher nicht.“

Der Wagen startete. Shauzia öffnete das Tor. Und dann waren sie fort.

Shauzia machte das Tor zu und stand neben Parvana. Damsa sah, dass sie weinten.

Damsas Lider wurden immer schwerer, und dann fielen sie einfach zu.

3

„Gib besser mir die Tickets.“ Maryam streckte ihre Hand zwischen den Sitzen durch und krümmte fordernd den Zeigefinger.

„Mama hat gesagt, ich soll das nicht tun.“

„Und ich sage, du sollst. Ich bin hier die Erwachsene. Du bist ein Kind. Es ist peinlich, wenn ein Achtjähriger meinen Pass herzeigt.“

Rafi blickte zu seinem Vater, der den Wagen lenkte. Asif lächelte kurz zurück.

„Ich bin elf“, sagte Rafi.

„Gib sie mir und ich kaufe ein Motorrad, wenn wir in New York sind, und fahre dich jeden Tag damit herum.“

„Mama hat gesagt, ich soll alle Dokumente bei mir behalten“, sagte Rafi. „Sie hat auch gesagt, dass ich erst auf einem Motorrad fahren darf, wenn ich fünfzig bin.“

„Parvana ist vielleicht dein Boss, aber nicht meiner“, sagte Maryam.

„Parvana ist, war und wird immer unser aller Boss sein“, entgegnete Asif.

„Lächerlich.“ Maryam ließ sich frustriert in ihren Sitz zurückfallen. „Ich bin ein Superstar in der Musikwelt, und meine große Schwester meint immer noch, dass sie mein Leben bestimmen kann. Wenn ich erst in New York bin, wird sie das jedenfalls nicht mehr können.“

„Nein“, sagte Rafis Vater, „da übernimmt Nooria.“

Rafi lachte auf. Er kannte seine Tante Nooria noch nicht, aber er hatte Geschichten über sie gehört. Er kam aus einer Familie resoluter Frauen.

Die Fahrt nach Kabul dauerte normalerweise drei Stunden. Sie waren jetzt schon vier Stunden unterwegs und hatten noch einen langen Weg vor sich. Es war ein ständiges Stoppen, Starten, dann wieder Stoppen.

Rafi streckte seine Beine aus, um die Muskeln zu dehnen.

„Wir machen bald Halt und legen eine Pause ein“, sagte sein Vater.

Kurze Zeit später hielten sie an einer Tankstelle. Während der Tankwart auftankte und das Öl prüfte, begleitete Rafi seinen Vater zur Toilette. Meist kam Asif mit seinen Krücken sehr gut zurecht, aber jetzt waren seine Muskeln vom Fahren verspannt und schmerzten.

Maryam beklagte sich, wie schmutzig es hier war.

„Du kannst hier sitzen bleiben und dich weiter beklagen, oder du gehst auch auf die Toilette, aber beides geht nicht“, sagte Asif. „Wir fahren nämlich in fünf Minuten weiter, egal, ob du wieder da bist oder nicht.“

Rafi begann sich zu strecken und zu recken. Er hielt sich seitlich am Wagen fest, als wäre es ein Ballettstange, aber sein Vater stoppte ihn.

„Mach nichts, was Aufmerksamkeit auf dich ziehen könnte“, warnte er, und Rafi wusste, dass er recht hatte. Deshalb machte er nur ein paar Laufschritte im Stehen.

Als Tante Maryam zurückkam, half er ihr in den Wagen. Sie war es nicht gewöhnt, eine Burka zu tragen. Rafis Mutter hatte sie ermuntert, sie auf dem Gelände zu tragen, um zu üben, aber Maryam hatte ihr nur einmal den Gefallen getan, und auch das nur ganz kurz.

„Ich sehe nichts, ich kriege keine Luft, und mein Gesicht sieht auch niemand“, hatte Maryam gejammert. „Wir haben 2021, Parvana. Du meinst, wir leben noch im finstersten Mittelalter.“

Parvana hatte nichts dazu gesagt. Und jetzt hatte Maryam keine Übung darin, sich in der Burka zu bewegen, die ihren ganzen Körper wie ein Zelt verdeckte. Es war unbequem, sie war unglücklich, und sie sorgte dafür, dass es alle mitbekamen.

Schließlich sagte Asif zu ihr: „Du lässt sie an oder ich bringe dich nach Hause und Parvana kriegt dein Visum und dein Ticket.“

Danach ließen Maryams Klagen ein wenig nach.

„Was, wenn sie sich am Flughafen nicht richtig verhält?“, fragte Rafi seinen Vater leise und hoffte, dass Maryam durch die Burka und den Lärm, den das Auto auf der holprigen Straße machte, seine Stimme nicht hören konnte.

„Schau unbedingt, dass du sie gut durch die Sicherheitskontrolle und zum Wartebereich für euren Flug bringst“, riet ihm sein Vater. „Wenn nötig, bitte jemanden vom Flughafen um Hilfe. Wenn sie sich weiter unmöglich benimmt, gib ihr ihr Ticket und ihre Dokumente, dann soll sie selbst schauen, wie sie es schafft. Deine Aufgabe ist, dich ins Flugzeug zu bringen. Deine Tante ist erwachsen. Irgendwann muss sie selbst Verantwortung für sich übernehmen.“

Das war ein alter Streit zwischen seinen Eltern – Parvana war nicht davon abzubringen, dass Maryam ihre Unterstützung brauchte, sie immer schon gebraucht hatte und immer brauchen würde, während Asif meinte, Parvana würde mehr Unterstützung von Maryam brauchen als Maryam von Parvana. Und Maryam würde auf ihren eigenen Beinen stehen, sobald Parvana das einsah.

Rafi fand, dass sie beide recht hatten. Maryam konnte tatsächlich selbst auf sich aufpassen, aber er hatte Zweifel, dass sie es jemals tun würde.

Maryam war nicht wirklich selbstsüchtig. Sie glaubte nur, dass das, was sie gerade tun wollte, immer viel wichtiger war als das, was irgendjemand sonst von ihr wollte.

„Die anderen fressen dein Leben auf“, hatte sie Rafi bei mehr als einer Gelegenheit gesagt. „Ich will singen, deshalb muss das an erster Stelle stehen. Hätte ich auf deine Mutter gehört, würde ich den ganzen Tag nur Böden wischen und gerettete Babys baden. Deine Zeit gehört dir! Deine Kunst ist wichtig!“

Ja, seine Kunst – sein Tanz – war wichtig, Rafi glaubte daran. Es war aber auch wichtig, dass er von seinem Vater lernte, ein Auto zu reparieren, damit er es wieder in Gang brachte, falls er auf dem Weg zu einer Vorstellung eine Panne hatte, und dass er sich selbst etwas kochen oder Gemüse anbauen und Holz hacken und seine Kleidung sauber halten konnte. Das sagte er Maryam einmal.

„Nein, nein, nein. Du hast das ganz falsch verstanden“, entgegnete sie. „Wenn du das einmal machst, werden sie es ständig von dir verlangen. Besser, sich ungeschickt anstellen und die anderen für sich arbeiten lassen. Dann kannst du dich auf deine Kunst konzentrieren.“

Parvana ließ Maryam so ein Verhalten nicht durchgehen, aber es war ein ständiger Kampf.

Rafi konnte nie wirklich böse auf seine Tante Maryam sein, auch wenn sie ihn auf die Palme brachte. Schließlich hatte er es ihr zu verdanken, dass er zu tanzen begonnen hatte, und ihr hatte er es auch zu verdanken, dass er nach New York gehen konnte.

Vor Jahren, als Rafi noch klein gewesen war, hatte er einmal bei Maryam gesessen, während sie das Internet nach passenden Tanzschritten für ihre Musik durchsuchte. Genau in dem Moment, als der Junge in dem Video wie ein Kreisel über eine Bühne wirbelte, verdeckte sie den Bildschirm.

„Geh weg! Geh weg!“, hatte Rafi gerufen. Er schaute mit offenem Mund zu, wie ein Junge, kaum größer als er selbst, sich nur durch seine Bewegungen in einen Vogel, in einen Löwen und dann in etwas ganz anderes verwandelte, indem er in Sprüngen und Spiralen über die Bühne flog, als gäbe es keine Schwerkraft.

Er sah sich das Video zehnmal hintereinander an, und dann noch einmal zehnmal, und ab da täglich mindestens zehnmal, Tag für Tag.

Tante Maryam suchte im Netz für ihn Ballettübungen und lehrte ihn die fünf Fußpositionen. Tante Maryam brachte seinen Vater dazu, ihm eine Ballettstange zu bauen, und Tante Maryam war es auch, die ein Video von ihm an Tante Nooria in New York schickte, nachdem er jahrelang gelernt und geübt hatte. Tante Nooria verschaffte ihm mithilfe des Videos ein Stipendium an einer Ballettschule in New York City.

Er wurde zunächst für ein Jahr im Rahmen des Internationalen Förderprogramms der Schule aufgenommen. Wohnen würde er bei Nooria und tagsüber in der Schule Tanzunterricht und regulären Schulunterricht bekommen. Wenn sie ihn gut fanden, würde er bleiben können.

Rafi sah vom Auto aus zu, wie Afghanistan an ihnen vorbeizog.

In seinem Kopf tanzte er.

Er tanzte über die flachen Dächer der Gebäude, die gerade gebaut wurden, und solcher, die zerbombt waren. Er sprang von einem Dach zum anderen, von Villen zu Lehmhütten, von Walnussbäumen zu Plakatwänden mit Werbung für Mobiltelefone, Kekse und vieles andere mehr.

Er hatte gehört, dass man in New York City ganze Straßenzüge überqueren konnte, indem man von einem Dach zum anderen sprang. Das würde er tun, wenn er da wäre. Ganz bestimmt würde er das tun.

In seiner Vorstellung tanzte Rafi durch die roten Staubwirbel und die felsigen Hügel hinauf und hinab. Er tanzte auf den Autowracks und den Skeletten von aufgegebenen Militärpanzern, und er tanzte mit einem Ballonverkäufer, der immer gerade dann aufzutauchen schien, wenn jemand ein Lächeln brauchte.

Er würde seine Eltern entsetzlich vermissen, aber das würde ihn nicht davon abhalten, diese Chance bis auf den letzten Tropfen auszukosten.

In Afghanistan mussten viele Jungen in seinem Alter den ganzen Tag arbeiten, Steine klopfen oder Wasser die Hügel hinaufschleppen, Sachen auf der Straße verkaufen oder betteln. Er war solchen Jungen begegnet, wenn er mit seiner Mutter Lebensmittel zu Familien brachte, die nichts zu essen hatten.

Diese Jungen waren genauso wie er, nur dass sie besser hungern konnten als lesen.

Maryam mochte sich für etwas Besonderes halten. Rafi wusste, dass er nichts Besonderes war. Er hatte nur Glück.

Alle drei atmeten erleichtert auf, als sie vor dem Tor des sicheren Hauses hielten. Hier wurden Menschen aufgenommen, die sich für Gerechtigkeit einsetzten und sich vor den Behörden verstecken mussten.

Es war ein zweistöckiges Haus aus grauem Beton in einer Umgebung mit vielen grauen Betonbauten. Rafi war nur einmal hier gewesen, als seine Eltern vor ein paar Jahren mit ihm nach Kabul gefahren waren, um ihm die Stadt zu zeigen. Er erinnerte sich, wie riesig und voller Wunder Kabul gewesen war, mit Museen und Cafés, großen Parkanlagen, so vielen Läden und sogar einem Vergnügungspark!

Eines Tages würde er zurückkommen und sich das alles noch einmal ansehen.

Rafi stieg aus dem Wagen und drückte auf die Türklingel. Er sprach mit einem Mann auf der anderen Seite des Tores. „Wir sind Freunde von Mrs. Weera“, sagte Rafi.

Das Tor ging auf, und Asif lenkte den Wagen in einen kleinen betonierten Hof.

Sobald das Tor verriegelt war, wurden sie von Menschen umringt, die sie willkommen hießen und umarmten. Maryam warf ihre Burka zurück, gab freudestrahlend Autogramme und versprach, nach dem Abendessen eine Vorstellung ihrer Kunst zu geben.

Rafi verbrachte den Abend damit, Kabuli, das traditionelle afghanische Reisgericht, und Ashak-Teigtaschen zu verspeisen. Er wusste, das würde für lange Zeit das letzte afghanische Mahl sein, das er in seiner Heimat aß. Er würde erst als erwachsener Mann und ausgebildeter Tänzer wiederkommen und seine eigene afghanische Ballettschule gründen. Das war der größte seiner großen Träume.

Die Leute in dem sicheren Haus hatten lange Zeit mit Parvana und Shauzia zusammengearbeitet. Sie erzählten, wie Rafis Mutter Mädchen aus Zwangsehen und Frauen vor Missbrauch durch ihre Ehemänner gerettet hatte, wie sie Familien mit Lebensmitteln versorgt hatte und zu Ärzten gebracht hatte, wie sie sich gegen korrupte Beamte zur Wehr gesetzt und nächtens waghalsige Fluchtaktionen unternommen hatte. Mrs. Weera war Abgeordnete zum Parlament gewesen. Rafis Eltern und Shauzia hatten bei ihr gelebt, als sie jünger waren, und so viel wie möglich gelernt, wenn sie nicht gerade Menschen in Sicherheit brachten.

Seine Tante begann zu singen – zuerst ihre eigenen Hits, dann Volkslieder. Jemand brachte Tabla-Trommeln, und jemand anderer spielte eine Rubab-Laute. Rafi klatschte und sang mit.

Als Tante Maryam Schlaflieder anstimmte, fielen ihm die Augen zu.

4

Damsa öffnete die Augen und sah nichts als Füße vor sich.

Sechs kleine Füße, knapp vor ihrem Gesicht.

Sie machte die Augen wieder zu. Vage erinnerte sie sich daran, ins Haus geführt worden und auf den Toshak gesunken zu sein. Danach hatte sie keine Erinnerung mehr.

Sie hörte ein Kichern.

„Du sabberst“, flötete eine Kinderstimme.

Jetzt war Damsa wach. Sie öffnete vollends ihre Augen und starrte die drei kleinen Mädchen an. Alle hatten rosige Wangen und lachende Augen. Sie saßen unmittelbar vor ihr und grinsten.

Damsa setzte sich mühsam auf und wischte sich den Mund ab. Sie hatte tatsächlich gesabbert. „Was starrt ihr so an?“

„Dich“, sagte eines der Kinder, und sie kicherten wieder.