Ich kann fliegen! - Verena Kantrowitsch - E-Book

Ich kann fliegen! E-Book

Verena Kantrowitsch

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  • Herausgeber: mareverlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Flugängstliche Menschen weichen gern auf andere Verkehrsmittel aus – oder vermeiden die Reise gleich ganz. Was aber, wenn man gar keine andere Wahl hat? Dann jedoch tausend Tode stirbt, weil man sich beim besten Willen nicht erklären kann, wie die tonnenschweren Dinger oben bleiben? Oder weil man Vogelschlag fürchtet – wahlweise Gewitter, Terroristen oder weibliche Piloten? Oder den Ozean, der sich so erschreckend endlos unter einem ausdehnt? Mit Sachverstand, Witz und Empathie vermittelt Diplom-Psychologin Verena Kantrowitsch das nötige psychologische sowie physikalische Wissen zur Überwindung der Flugangst; vor allem aber zeigt sie uns, woher menschliche Ängste überhaupt rühren und warum ihnen mit Talismanen, Stoßgebeten und selbst den ausgefeiltesten Vermeidungsstrategien nicht beizukommen ist.

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Verena Kantrowitsch

Ich kann fliegen!

Flugangst: woher sie rührt, wofür sie steht und wie wir sie überwinden

Das Ferrante-Zitat auf den Seiten 255/256 folgt der Ausgabe:

Elena Ferrante, Die Geschichte der getrennten Wege.

Aus dem Italienischen von Karin Krieger.

Copyright der deutschsprachigen

Übersetzung © Suhrkamp Verlag Berlin, 2017.

© 2020 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Abbildung Orlando Hoetzel

Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-379-8

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-600-3

www.mare.de

Wissen ist Macht.

Francis Bacon

Es gibt zwei gefährliche Abwege: die Vernunft schlechthin abzulegen und außer der Vernunft nichts anzuerkennen.

Blaise Pascal

Inhalt

Ready for Dreaming …

Ein Wort vorab

Apropos Psychologie …

In guter Gesellschaft: Zahlen zur Flugangst

Gebrauchsanweisung

… Ready for Planning …

Teil I – Ich will fliegen!

Will ich wirklich? Will wirklich ich?

Was genau will ich eigentlich?

Meine Flugangst: die eigene Geschichte erzählen

Typ A: Angst vor Absturz

Typ B: Angst vor Kontrollverlust

Typ C: Angst vor Kollaps

Typ D: Angst vor Terror

Scheinriesin Angst

… Ready for Booking …

Teil II – Ich muss wissen!

Ausgerechnet Physik?

Angst als lästiger Gast

Angst als Leibwächterin

Getriggerte Angst

Erlernte Angst

Die Irrwege der Angst – und die Auswege

1. Irrweg Bauch – Ausweg Kopf

2. Irrweg »Babyphysik« – Ausweg Realphysik

3. Irrweg Alarmismus – Ausweg Statistik

4. Irrweg magisches Denken – Ausweg Vernunft

5. Irrweg Egozentrik – Ausweg realistische Perspektive

6. Irrweg Stereotype – Ausweg Neugier

7. Irrweg Kontrollzwang – Ausweg fundiertes Vertrauen

8. Irrweg fliegerisches Halbwissen – Ausweg fliegerisches Faktenwissen

9. Irrweg medizinisches Halbwissen – Ausweg psychologisches Faktenwissen

… Ready for Check-in …

Teil III – Ich will können!

Konfrontation und Gewöhnung

Flugsimulation 1: im Flugzeug (Ablauf, Geräusche, Videos)

Flugsimulation 2: mein Körper an Bord

Flugsimulation 3: internationaler Flugverkehr

Atmungs- und Entspannungsübungen

Entspannungsbasis stärken

Kleine physikalische Experimente

Kleine Experimente zur Horizonterweiterung

… Ready for Boarding …… and ready for Take-off!

Teil IV – Ich kann fliegen!

Erfolge feiern

Widerständen nachspüren

Rückschritte und Umwege

Was könnte ich noch alles können?

Anhang

Interview mit Lufthansa-Pilot F.

Abgehobene Ex-Aviophobiker

Wann sollte ich eine Psychotherapie machen?

Dank

Quellennachweise und Internetlinks

Ready for Dreaming …

Ein Wort vorab

In aller gebotenen Bescheidenheit: Ich habe mein Psychologie-Diplom ganz ordentlich bestanden, suche gern die Herausforderung auf den Bühnen des Improvisationstheaters und bereite ein Chili zu, für das ich des Öfteren Komplimente einheimse.

Aber wissen Sie, worauf ich wirklich stolz bin? Darauf, dass ich fliegen gelernt habe. Ja, ich darf sogar recht unbescheiden sagen: Ich kann inzwischen ziemlich gut fliegen!

Zugegeben, Pilotin bin ich nicht. Nur Passagierin, aber eine erfolgreiche. Sogar eine sehr erfolgreiche, wenn ich bedenke, in welch desolatem Zustand ich im Sommer 1998 die Gangway eines A 320 (oder was immer es war) abwärtswankte – auf den blutleeren Lippen den Schwur, mein junges Leben nie wieder dermaßen leichtsinnig aufs Spiel zu setzen. (Dabei war mein zweistündiger Jungfernflug »ruhig und verhältnismäßig komfortabel« verlaufen, schenkt man meiner mitgereisten Urlaubsclique Glauben.)

Da Sie dieses Buch vermutlich nicht von ungefähr lesen, werden Sie wissen, wovon ich rede. Haben auch Sie einst einen ähnlichen Eid geleistet? Vielleicht gehören Sie, wie früher auch ich, zu den Menschen, die unwillkürlich an das Schicksal des Ikarus denken und mit dem Klassiker unter den Sprüchen der Flugneurotiker kokettieren: »Wenn Gott gewollt hätte, dass wir fliegen, hätte er uns Flügel wachsen lassen.« Ob genau so gemeint, ob trotzig oder selbstironisch – die scheinbar weise, in Wahrheit aber naive Formel tröstet die unsichere Psyche: »Ach, diese moderne Welt!«, seufzt sie. »Ich aber kenne meine Grenzen. Und akzeptiere sie.«

Wirklich?

Fühlte ich mich nicht doch manchmal eingeschränkt? Wie ein im Stich gelassener Invalide, der unter dem etwas peinlichen chronischen Gebrechen namens Aviophobie litt?* Beneidete ich nicht all die anderen Menschen, die durch Reisen ihren Horizont erweiterten, Pläne in die Tat umsetzten und ihren beruflichen Erfordernissen nachkamen, ohne von jener verfluchten Angst ausgebremst und ausgegrenzt, ja ausgelacht zu werden? (Oder mindestens von diesem altbekannten dumpfen Unwohlsein?) Mitmenschen wie du und … nun ja, eben leider nicht ich; Menschen jedenfalls, die ihre Flugzeit ganz entspannt mit Lesen, Dösen, Schwatzen verbringen? Deren größtmögliche Sorge darin besteht, ob sie pünktlich ankommen – und nicht etwa, ob überhaupt?

Falls Sie sich all das (oder Ähnliches) fragen, verspreche ich Ihnen: Die Chancen, dass Sie das Fliegen lernen, stehen gut. Der Beweis bin ich. Immerhin ist es selbst mir gelungen. Obwohl ich zu den wirklich schweren Fällen gehörte – Fällen, in denen die Flugangst scheinbar genetisch verankert ist …

Ich bin in einer sehr liebevollen Familie aufgewachsen – einer ganz besonderen (jedenfalls nach Ansicht meiner Familie). Möglich, dass eine solche Ansicht in den narzisstisch geprägten heutigen Zeiten eher die Regel ist als die Ausnahme. Wie auch immer – gilt man im Kindesalter als etwas ganz Besonderes, ist das für das Selbstvertrauen und viele Entwicklungsaufgaben sehr beflügelnd. Problematisch wird es allerdings, wenn daraus ein allzeit gültiges Credo oder eine Forderung entsteht: »Sei immer etwas ganz Besonderes!« Dann kann so etwas Harmloses wie Durchschnittlichkeit Gefahr bedeuten, bis hin zur Bedrohung existenziellen Ausmaßes.

Nicht dass es um Geringschätzung anderer Menschen gegangen wäre. Schon als Ministrantin hatte ich gelernt, dass jeder Mensch einzigartig und nach Gottes Ebenbild geschaffen sei. Aber neben all jenen einzigartigen normalen, durchschnittlichen Ebenbildern gibt es eben auch solche Menschen, die sich nun einmal durch noch einzigartigere Besonderheiten abheben: Sie sind charmanter, klüger, geschickter, musikalischer und/oder sensibler als der Durchschnitt, verfügen über eine außergewöhnliche Begabung für ihren Beruf sowie über eine herausragende Wahrnehmung in den verschiedensten Bereichen. Und derlei besondere Menschen haben natürlich auch besondere Begegnungen und besondere Geschichten, welche entweder besonders wundervoll sind – oder aber: besonders tragisch.

Die früh verinnerlichte Annahme von Besonderheit dürfte ein recht schwerwiegender unter vielen anderen Gründen sein, dass mich Statistiken über das Fliegen nie beruhigt haben. Der durchschnittliche Mallorca-Urlauber kommt sein ganzes Leben sicher auf der Insel an? Schön für ihn. Aber was hat das mit mir zu tun?

Fühlen Sie sich bereits jetzt ertappt? Doch selbst wenn nicht, verspreche ich: Auch alle anderen mehr oder weniger guten Gründe für Flugangst – oder auch nur für das viel zitierte »übliche Unbehagen« – lassen sich Schritt für Schritt ad absurdum führen. Bis sich die Flugangst in Wohlgefallen auflöst.

Dazu braucht es nur Leselust, Motivation und das Licht der psychologischen (und: physikalischen!) Betrachtung.

*Die Schriftstellerin Eva Menasse bezeichnet es sehr schön als »Hexenschuss der Seele«.

Apropos Psychologie …

Jeder, der etwa auf einer Party erzählt, was er beruflich treibt, macht so seine Erfahrungen mit den Reaktionen. Ein Bankkaufmann muss »bei der Gelegenheit mal eben« mit einer Frage zur Riester-Rente rechnen – oder gleich mit einer Gardinenpredigt zum globalen Finanzwesen. Eine Ärztin legt im Moment ihrer Offenbarung zwar um rund hundert Prozent an Ausstrahlung zu, muss sich dafür aber end-lose Krankengeschichten anhören. Auch Piloten entfalten eine besondere Aura, werden aber im Gegenzug gebeten, Heldengeschichten zu erzählen – oder besorgniserregende Vorfälle aufzuklären, die der Gesprächspartner auf Flügen selbst erlebt hat (bzw. ein Freund, die Freundin eines Freundes oder wenigstens dessen Tante).

Die Offenbarung »Ich bin Psychologin« löst jedenfalls sehr oft die gleichermaßen ironisch wie nervös vorgetragene Reaktion aus: »Oha. Dann muss ich ja jetzt aufpassen, was ich sage!«

Eine gängige Vorstellung von Psychologen besagt nämlich, sie seien permanent mit der Analyse ihrer Mitmenschen beschäftigt (die zweithäufigste Vorstellung vermutlich; die häufigste dürfte darin bestehen, dass »Seelenklempner selbst nicht ganz dicht« seien). Nun muss ich sagen: Ich bin leidenschaftlich gern Psychologin. Ich bin so begeistert von meinem Fach, dass die Annahme von der Analyse meiner Mitmenschen durchaus zutrifft; wenn auch beileibe nicht permanent – denn selbst im Leben von Psychologinnen gibt es zum Glück nicht nur Psychologie.

Das Gegenüber auf einer Party ist also auch für mich nicht in erster Linie Objekt einer spontanen psychologischen Diagnostik. Sondern bestenfalls ein interessanter, neugieriger oder freundlicher Gesprächspartner, schlimmstenfalls ein arroganter oder langweiliger Dampfplauderer. Doch egal, welche Kategorie ich vor mir hatte – erzählte mir jemand etwas über das Fliegen, stieg meine Aufmerksamkeit maximal. Fortan schrieb ich alles mit, und irgendwann ließ mich das Thema einfach nicht mehr los.

Aufgrund der Anregungen aus all jenen Gesprächen – zufälligen (Party-)Unterhaltungen ebenso wie planmäßigen Interviews –, ferner bei der Lektüre wissenschaftlicher Artikel und populärwissenschaftlicher Literatur und nicht zuletzt durch die Analyse meiner eigenen Person wurde mir klar, wie ausgesprochen spannend das Thema Flugangst doch eigentlich ist. Wie viel man noch darüber hinaus lernen kann und wie bereichernd es für das generelle Selbstvertrauen ist, sich mit Flugangst zu beschäftigen. Mal abgesehen von dem ursprünglich nicht für möglich gehaltenen Effekt, künftig mit Vorfreude in ein Flugzeug steigen zu können.

In guter Gesellschaft: Zahlen zur Flugangst

Genau wie ich früher auch glauben viele Menschen mit Flugangst oder -unbehagen, sie gehörten einer mehr oder weniger pathologischen Minderheit an. Ganz der Gegensatz also zur starken, gesunden Mehrheit entspannt fliegender Zeitgenossen. Weswegen viele diese »Schwäche« ungern einräumen.

Allerdings nicht alle. Meine Mutter zum Beispiel. Sie sagt zwar nicht: »Ich habe Flugangst.« Sondern vielmehr: »Ich fliege nicht.« Ungefähr, wie eine Nichtraucherin sagt: »Ich rauche nicht.« Sie begründet ihre Flugabstinenz mit einer besonderen Empfindsamkeit und Intuition für Gefahren. Und verweist ganz nebenbei – nicht zu Unrecht – auf ihren dadurch günstigen CO2-Verbrauch.*

Ob die Ökobilanz meiner Mutter allein durch ihre Flugabstinenz tatsächlich besser ist als meine (die ich wenig fliege, wenig Auto fahre und überwiegend pflanzlich esse), sei dahingestellt.** Eher als um moralische Skrupel handelt es sich in diesem Fall allerdings um eine psychohygienische Methode, mit Flugangst umzugehen. Hilft natürlich nur, solange man definitiv niemals fliegen will oder muss. (»Wenn eines von euch Kindern am anderen Ende der Welt in Gefahr wäre« – so versichert meine Mutter allerdings glaubhaft –, »würde ich mich sofort ins Flugzeug setzen.«)

Doch zurück zur Minderheitshypothese. Was besagen Umfragen? Sind Menschen, denen das Fliegen Angst oder zumindest Unbehagen bereitet, tatsächlich in der Minderheit? Daran darf man Zweifel haben. Man darf sogar das Gegenteil annehmen: Sie befinden sich damit in guter Gesellschaft. Oder, um es weniger narzisstisch zu formulieren: in völlig normaler Gesellschaft.

Flugunbehagen ist weit verbreitet. Es betrifft jedes Geschlecht***, jeden Bildungsstand, jeden Beruf und jede Weltanschauung, und es kann einen Flugneuling ebenso erwischen wie eine Vielfliegerin.**** Je nach Erhebung liegt der Anteil der Ängstlichen zwischen 30 und 60 Prozent. Einer großen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge haben 15 Prozent der Deutschen eine echte, nur von Psychotherapeuten diagnostizierbare Aviophobie, weitere 20 Prozent fühlen sich unbehaglich. Umfragen für Lufthansa zufolge leiden sogar fast 70 Prozent der Fluggäste an einem zumindest leichten Unbehagen. In einer anderen Studie wiederum haben zwar knapp über 50 Prozent angegeben, dass sie »keinerlei Angst« haben, allerdings hatten 20 Prozent der Befragten noch gar keinen Flug erlebt – oft aber entsteht die Angst erst nach dem ersten Flug. (Ich weiß, wovon ich spreche.)

Grundsätzlich bestimmt die Art der Frage die Antwort. Die Reaktion auf »Wie wohl fühlen Sie sich an Bord eines Flugzeugs?« (sehr unwohl, unwohl, neutral, wohl, sehr wohl) wird etwas anders ausfallen als diejenige auf die Frage »Wie oft empfinden Sie Angst im Flugzeug?« (selten, manchmal, häufig, meistens). Denn je direkter die Frage nach etwas Negativem, desto häufiger die Neigung, die Antwort zu beschönigen. Flugneurotiker finden es oft peinlich, das volle Ausmaß ihrer Angst zuzugeben. Sie wissen, dass es keine plausiblen Gründe dafür gibt. Nicht selten kreuzen einige daher lieber »manchmal« an, obwohl sie Angst de facto häufig empfinden.

Es kommt außerdem sehr darauf an, wen man was fragt: nur Menschen, die mindestens einen Flug absolviert haben? Oder auch Menschen, die noch nie geflogen sind – möglicherweise aus Angst? Andere wiederum glauben zwar, dass sie keine Angst haben, wissen es aber nicht (weil sie es ja nie geprüft haben). Von denen, die ihre Angst gestehen, sagen wiederum nicht wenige, dass sie unter normalen Umständen keine Angst haben, aber in Ausnahmesituationen schon. Was aber ist eine Ausnahmesituation? Für mich wäre ein Gewitter schon eine gewesen, oder eine Turbulenz. Für Pilotinnen ist beides Alltag.

Wenn man also Menschen auf der Straße befragt, ob sie Flugangst haben, wird man recht häufig folgende Verteilung antreffen:

Abb. 1 Verteilung der Flugangst

Nur der hellblaue Bereich repräsentiert also die vollkommen Angstlosen. Die hellgraue Gruppe kann sich jedoch wegen mangelnder Erfahrung keineswegs sicher sein, und auch die erwähnte Beschönigungstendenz kann eine Rolle spielen. Insofern gehört man womöglich eher dann zu einer Minderheit, wenn man als Fluggast vollkommen angstfrei reist.

Kein Wunder, ist es doch natürlich, beim Fliegen zunächst einmal Unbehagen zu spüren – bis hin zu Angst. Warum das so ist – und warum »natürlich« nichts mit »unveränderbar« zu tun hat –, wird später eingehend erläutert.

Unbehagen im Flugzeug ist normal – aber kein Schicksal!

*Zweifellos ist die Frage der individuellen Ökobilanz eine der wichtigsten unserer Zeit. Da der Schadstoffausstoß des weltweiten Flugverkehrs wesentlich für die drohende Klimakatastrophe mitverantwortlich ist, stellt sich diese Frage der Mitverantwortung jedem einzelnen Flugpassagier. Also ist sie selbst in einem Ratgeber gegen Flugangst nicht zu negieren, leider aber nicht befriedigend abzuhandeln. Sinnvolle Antworten sind hochkomplex und exklusives Thema für entsprechende Sachliteratur. Flugangst als Hoffnung für die Rettung der Welt kann jedenfalls schwerlich die Lösung sein, schon allein, weil viele Menschen (etwa aus beruflichen Gründen) kaum eine andere Wahl haben, als zu fliegen. In diesem Buch geht es um die Bekämpfung der Angst und nicht um Wellness-PR oder Lobbyarbeit für Fluglinien. Nichtsdestoweniger sei die persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema selbstverständlich empfohlen.

**Bei der Berechnung der individuellen CO2-Bilanz hilft zum Beispiel die Homepage des Umweltbundesamtes (mit Hinweisen auf Verbesserungsmöglichkeiten). 2018 hat die Stiftung Warentest geprüft, welche Anbieter die CO2-Kompensation am besten und am transparentesten umsetzen (siehe Internetlinks im Anhang).

***Laut Lufthansa werden deren Flugangstseminare zu 60 Prozent von Frauen besucht. Generell werden spezifische Phobien zwar bei Frauen häufiger diagnostiziert, doch wenn man statt von Angst von Unbehagen spricht, reihen sich mehr Männer ein.

****Einige interessante Unterschiede gibt es allerdings: So sind Kinder und Senioren weniger betroffen als Menschen in der Mitte des Lebens.

Gebrauchsanweisung

Die Ursachen des Unbehagens beim Fliegen – oder gar der ausgeprägten Angst – mögen mitunter allzu komplex erscheinen. Entsprechend fühlt sich vielleicht so mancher darin Gefangene wie in einem Labyrinth: scheinbar nichts als verwinkelte Sackgassen. Oder gar wie in einem Teufelskreis, aus dem es sprichwörtlich kein Entrinnen gibt.

An dieser Stelle ist es wichtig, sich der drohenden Resignation nicht zu beugen. Machen Sie die Probe aufs Exempel und betrachten dieses Buch als Leitfaden, der aus dem Labyrinth der Angst herausführt. Als Wegweiser aus dem Teufelskreis, der die neurologischen Irrwege systematisch markiert. Es gibt nicht viel zu verlieren. Zu gewinnen aber ein paar aufschlussreiche Lektürestunden, die Sie in die Welt der Psychologie führen – und sogar etwas mehr an Psychologie, als für die reine Flugangstbekämpfung notwendig wäre. Vielleicht lösen Sie ja demnächst noch ganz andere Probleme?

Wenn Sie sich das Inhaltsverzeichnis dieses Buches aufmerksam betrachten, offenbart sich eine grobe vierteilige Gliederung. Sie folgt einer Psycho-Logik, an der sich auch viele verhaltenstherapeutische Konzepte orientieren:

•Unerlässlich am Anfang jeder aktiven Veränderung ist der Wille dazu. Die entscheidende Voraussetzung für das Fliegen-Können ist also das Fliegen-Wollen.

•Um etwas Neues zu können, brauchen wir Wissen. Die Mühen und Freuden des Wissenserwerbs versprechen das Serum für die Auflösung unserer Ängste.

•Wäre allerdings Wissen allein die Lösung, gäbe es viele große und kleine Menschheitsprobleme schon gar nicht mehr. Was ich gelernt habe und nunmehr weiß, muss ich auch anwenden, und zwar im Sinne eines »Trainings«.

•Jedes gute Training zeitigt Fortschritte, aber auch Erschöpfung, mitunter kleinere Rückfälle oder gar Widerstand. Gerade dann ist es wichtig weiterzutrainieren, denn: Flugangst zu überwinden macht stolz und glücklich.

So zwingend diese Psycho-Logik ist, so dringend möchte ich an dieser Stelle raten: Lesen Sie vorrangig die Passagen, die Sie besonders interessieren. Das klingt womöglich banal oder wohlfeil, fast reformpädagogisch und – tja, uninteressant. Ist es aber nicht.

Die psychotherapeutische Forschung zum Thema zeigt zwar einerseits: Für die Bewältigung von Ängsten ist es wichtig, sie auf verschiedenen Ebenen zu verstehen sowie verschiedene Informationen und Techniken einzusetzen. Um die Angst in den Griff zu bekommen, sollte man also nicht nur auf ein Pferd setzen. Andererseits können zu viele verschiedene Ideen sogar störenden Einfluss ausüben (siehe Exkurs 1*).

EXKURS 1

Motivationsfördernde Strategie

Diäten sind besonders beliebt, wenn die Regeln überschaubar und Empfehlungen einfach sind.

Allgemeine Tipps für eine bessere Kalorienbilanz – und dementsprechend eine Gewichtsreduktion – wären z. B.

1.täglich 30 Minuten Bewegung,

2.keine Süßigkeiten,

3.kein Alkohol,

4.Kalorientagebuch führen.

Versucht man, alle diese Punkte umzusetzen, schafft aber nur zwei, besteht Frustrationsgefahr – obwohl man ja immerhin die Hälfte geschafft hat. Dieses Misserfolgsgefühl zieht Entmutigung nach sich, und man lässt es lieber ganz bleiben. Konzentriert man sich aber erst einmal auf nur zwei Aspekte dieser Liste, zum Beispiel (1) täglich 30 Minuten Bewegung und (2) keine Süßigkeiten, ist die Wahrscheinlichkeit für langfristige Motivation und damit auch Erfolg bei den meisten Menschen deutlich höher. (Oder man befolgt gar nur eine einzige Empfehlung, diese aber konsequent, z. B. Verzicht auf Kohlenhydrate – dann nimmt man auch weniger Kalorien zu sich.)

Wenige ausgesuchte Techniken sind also besser einzuhalten als viele verschiedene, und ebenso gilt: Lust und Wille, sie durchzuführen, sind signifikant höher, ist man inhaltlich von ihnen überzeugt. Wenn Sie also während der Lektüre merken, dass bestimmte Inhalte Sie sehr ansprechen, sich bei anderen hingegen gar nichts regt – dann lesen Sie Erstere gründlich und überfliegen Letztere vorerst nur. (Obligatorisch ist allerdings das Kapitel »Ausgerechnet Physik?« in Teil II. Auch »Die Irrwege der Angst – und die Auswege« in demselben Teil empfehle ich zur Lektüre; sie sind aber nicht in ihrer Gesamtheit für jeden Flugangst-Typus notwendig.)

Ein persönliches Beispiel. In der Fachliteratur besteht ein nicht unerheblicher Aspekt der Angstbewältigung in Entspannungsübungen. Zu Beginn der Auseinandersetzung mit meiner Flugangst habe ich mich pflichtbewusst durch jedes Kapitel dazu gequält, inklusive detaillierter Beschreibungen sämtlicher Übungen, die ich dann halbherzig ausprobierte. Progressive Muskelentspannung, Yoga, autogenes Training – all das fand ich von Beginn an langweilig, und es war für mich theoretisch öde und praktisch ohne positive Wirkung.

Wohlgemerkt: für mich. Anderen Menschen helfen solche auto-suggestiven Techniken durchaus erheblich. Die wissenschaftliche Psychologie bestätigt deren angstmildernde Effekte (vor allem auf Flugangst-Typ C, siehe unten) und kann sie darüber hinaus plausibel erklären.

Grundsätzlich bleibt eben zu bedenken, dass die Wissenschaft stets durchschnittliche Effekte belegt – auch in der Medizin. Das heißt, nicht jedes Medikament und jede Maßnahme schlagen bei jedem in gleichem Maße an. Teilweise spielt etwa das Geschlecht eine viel größere Rolle, als die Forschung lange Zeit berücksichtigte; teilweise auch ganz andere, geschlechtsunabhängige Faktoren, zum Beispiel die des individuellen Stoffwechsels.

Generell besteht die Flugangst in individuell unterschiedlichen Ausprägungen und Zusammensetzungen. Zum Beispiel: Absturzangst; Platzangst; Angst, vor den anderen Passagieren hysterisch zu lachen oder etwas »Wahnsinniges« zu tun; Angst, vor Angst zu sterben; Terrorangst und andere.

Bei keinem Flugangst-Patienten sind alle Aspekte gleich wichtig, bei manchen mögen einige sogar völlig irrelevant sein. Obwohl also Überschneidungen nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sind, habe ich aus pragmatischen Gründen vier gängige Flugangst-Typen übernommen, die jeweils einen ganz bestimmten Schwerpunkt der Angst verdeutlichen.

Übrigens zeigt sich die Angst auch mit ganz unterschiedlichen Gesichtern: Sieht man sie einer Person trotz des inneren Ausnahmezustands gar nicht an, ist die andere leichenblass. Redet einer während der akuten Angstattacke kein Wort, so eine andere sehr viel. Jenseits des Durchschnitts können also ganz unterschiedliche Gefühle und Verhaltensweisen zur Geltung kommen – und eben auch unterschiedlich wirkungsvolle therapeutische Maßnahmen. Ich hätte früher beispielsweise nicht gedacht, dass für mich der wichtigste Ausweg in der genaueren Kenntnis der Flugphysik bestehen würde.

Stellen Sie sich doch spaßeshalber einfach schon mal vor, wie Sie eines nicht allzu fernen Tages die Gangway zu einem Flugzeug hinaufsteigen, und dieses komische Gefühl im Magen ist nicht wie üblich Angst, sondern: Vorfreude!

Unterdessen unternehmen wir einen weiteren Schritt auf unserem Weg – dem Ausweg aus dem Labyrinth der Flugangst. Am Ende des nächsten Kapitels sind wir dann bereits …

*Die Exkurse in diesem Buch vertiefen jeweils einen Gedanken, der für das Verständnis des Nachfolgenden nicht zwingend erforderlich ist; sie bieten kleine, interessante Ausflüge in erweiterte Themenfelder.

… Ready for Planning …

TEIL I

Ich will fliegen!

Will ich wirklich?Will wirklich ich?

Einfache, aber bedeutsame Fragen. Fragen, die zunächst geklärt werden müssen, will man nicht von vornherein auf Irrwege geraten.

Manchmal denkt man schlicht, dass man etwas selbst will, und irgendwann merkt man, dass man den eigenen Willen mit dem seines Umfeldes verwechselt hat. Das kann zum Beispiel bei der Berufswahl der Fall sein, bei der Familiengründung oder Ähnlichem (siehe Exkurs 2).

EXKURS 2

Unbewusste Aufträge

Oft werden Ziele, die wir uns im Leben setzen, von unbewussten Aufträgen bestimmt. Freunde, Familie, Gesellschaft erteilen sie uns – auf verborgenen oder auch direkten Wegen. Manchmal wirken selbst noch diejenigen Normen und Werte unterschwellig in uns fort, für die der gesellschaftliche Konsens zu schwinden scheint. Weichen wir von ihnen ab, geraten wir nicht selten unter Stress.

Religiosität zum Beispiel führt Studien zufolge zu erhöhtem individuellem Wohlbefinden – vorausgesetzt, der oder die Betreffende lebt in einer Gesellschaft, in der Religiosität von vielen geteilt wird. Ein Arbeitsloser leidet unter seiner Arbeitslosigkeit nur dann in hohem Maße, sofern Arbeit in seinem entsprechenden sozialen Umfeld einen hohen Wert genießt. Alleinerziehende sind in Italien deutlich unglücklicher als in Dänemark, weil dieses Familienmodell in Dänemark weiter verbreitet ist und seltener negativ bewertet wird. Und die Ehe macht nur dann signifikant glücklicher, wenn man in einem konservativen Umfeld lebt.

Für uns Individuen kann es schwer sein, den ureigenen Wunsch deutlich zu erkennen. In unseren westlichen Gesellschaften können wir zum Beispiel nominell sehr eigenständig entscheiden, Mutter bzw. Vater zu werden – oder eben darauf zu verzichten. Die Aussage »Das muss ja jeder selbst wissen!« würden die meisten wohl unterschreiben. Kommt allerdings eine Studie aufs Tapet, die besagt, dass manche Mütter ihre Entscheidung für die Mutterschaft nachhaltig bereuen*, wird eben doch leidenschaftlich debattiert: Ist eine solche Aussage eigentlich umstandslos hinzunehmen? Ist sie überhaupt »normal«? Oder eher eine narzisstische Volte, ein Hinweis auf ein Selbstwertproblem oder einen anderen Defekt (Stichwort Rabenmutter)? Oder sonst etwas?

Dazu die Journalistin und Bloggerin Stephanie Rohde in einem Rundfunk-Interview: »Wenn Mütter ihr Muttersein so offen (…) bereuen, zucken viele zusammen. Bei Vätern würde man wohl auch zucken – aber eher mit den Schultern.«

Ja: Männer scheinen ein geringeres Risiko zu tragen, diesen gesellschaftlichen Auftrag (»Bekomme Kinder, oder du wirst es eines Tages bereuen!«) unbewusst zu verinnerlichen.

Kurzum: Ein Mensch braucht eine ordentliche Portion Autonomie und Selbstbewusstsein, um ein ureigenes Ziel zu erkennen, ernst zu nehmen und von den Ansprüchen des Umfeldes zu befreien.

So wurde möglicherweise auch der unkomplizierte Wunsch zu fliegen von anderen Menschen vorgegeben. Vielleicht will eigentlich eher Ihre Chefin, dass Sie einen Geschäftstermin in Schanghai wahrnehmen. Oder Ihre Familie oder Freunde möchten mit Ihnen in den Urlaub fliegen. Nun freuen sich die meisten Menschen, wenn andere einen gern im Urlaub dabeihaben (so war es zumindest bei mir), und Sie sind womöglich ein bisschen geschmeichelt und möchten etwas zurückgeben. Und dann denken Sie vielleicht, es sei ja schon ein wenig albern, Flugangst zu haben; ein Trip nach New York mit Freunden wäre doch schön; eigentlich müsste man sie ja auch loswerden können, diese Flugangst … Und ganz allmählich keimt ein Wunsch in Ihnen, der eigentlich aus mehreren Wünschen besteht – und offenbar vor allem aus den Wünschen anderer.

Oder es ist folgende Variante: Eventuell haben Sie ja sogar den authentischen, zarten eigenen Willen, eine New-York-Reise mit lieben Menschen zu unternehmen. Doch plötzlich passiert etwas Merkwürdiges: Je mehr die anderen davon sprechen, wie toll es wäre, gemeinsam mit Ihnen nach New York zu fliegen, und dass Sie sich nicht durch Ihre Angst kleinkriegen lassen sollten, und je öfter Sie motivierende Statements zu hören bekommen (»Du wirst es sicher nicht bereuen!«, »Nachher lachst du über deine Angst!«, »In zwanzig Jahren wirst du die Dinge, die du nicht getan hast, mehr bedauern als die Dinge, die du getan hast!«), desto deutlicher regt sich Widerstand in Ihnen. Sie haben immer weniger Lust auf New York. Die Reise wird Ihnen zu teuer. Und je häufiger die anderen über New York und Angst reden, desto seltener fühlen Sie sich verstanden und stellen sich die Frage, ob Sie – umgeben von netten, aber offenbar eher verständnislosen Menschen – eine solche Zumutung wirklich auf sich nehmen sollen. Falls Sie es nach New York geschafft haben sollten, müssen Sie sich vor Ort womöglich noch anhören, wie toll es war, dass Sie überredet wurden, sonst hätten Sie diese schöne gemeinsame Zeit gar nicht erlebt – dabei müssen Sie ja noch zurückfliegen. All das könnten Sie sich ersparen, wenn Sie zum Beispiel mit der Bahn nach Berlin führen. Da wollten Sie ja übrigens sowieso schon lange mal wieder hin.

In beiden Fällen liegt der eigene Wille unter den Wünschen anderer begraben. Doch es lohnt sich, ihn freizuschaufeln und so den ersten Schatz der Veränderungsmotivation zu heben: Ihren eigenen wahrhaftigen Wunsch, warum Sie fliegen können wollen. Im Jargon der Psychologie: Ihre intrinsische Motivation (siehe Exkurs 3).

EXKURS 3

Intrinsische und extrinsische Motivation

Diese Begriffe diskutieren Psychologen schon lange: Entsteht meine Motivation, etwas zu tun, vorwiegend durch Wünsche aus meinem Inneren (intrinsisch) oder eher durch erwartete Belohnung, also von außen (extrinsisch)? Zum Beispiel: Mag ich meinen Job gern, oder verdiene ich damit nur mein Geld?

Intuitiv ahnt man, wann die Wahrscheinlichkeit für den Berufserfolg besonders hoch ist: wenn ich selbst dahinterstehe, also intrinsisch motiviert bin – und nicht allein durch eine ausstehende Belohnung oder die Wünsche anderer Menschen, also extrinsisch.

Das heißt allerdings nicht, dass andere Menschen mich nicht mit ihrem Wunsch motivieren und unterstützen können. Soziale Unterstützung ist grundsätzlich hilfreich. Für eigentlich alle Herausforderungen des Lebens – also auch Flugangst – gilt: Menschen, die mich mögen, gar lieben und mich dabei unterstützen, Herausforderungen anzunehmen, sind ein großes Glück. Aber: Es ist ein erheblicher Unterschied, ob sie mich in meinem Wunsch zu fliegen unterstützen oder aber ich sie in ihrem Wunsch unterstütze, dass ich fliege!

Intrinsische und extrinsische Motivation kann auch nebeneinander existieren – oder sich überschneiden. Das ist sogar meistens der Fall. Ein Beruf, der jemanden sehr erfüllt (intrinsische Motivation), wird bei guter Bezahlung (extrinsische Belohnung) nicht weniger gern ausgeübt. Aber wenn einem nicht klar ist, was man für sich macht und was für andere oder für Geld oder eine andere Art von Anerkennung, dann kann es zu inneren Kämpfen kommen. Dann verwandelt sich Motivation möglicherweise in Widerstand.

Schon Säuglinge sind wild darauf, Dinge zu bewegen und zu erreichen. »Selber machen« und »alleine« gelangen erstaunlich schnell in den Wortschatz kleiner Kinder. Schon früh in ihrem Leben lieben Menschen das Gefühl der Autonomie, aus eigener Kraft etwas zu (er)schaffen. Aus reiner Lust daran vermögen sie große Ausdauer zu entwickeln.

Diese ureigene Lust kann jedoch regelrecht korrumpiert werden. Dazu gibt es eine alte, nachhaltig eindrucksvolle Studie über das Malverhalten von Kindern. Normalerweise malen Kinder aus eigenem schöpferischen Antrieb, vielleicht auch aus Spaß an Gesprächen, die über diese Bilder entstanden. Belohnte man Kinder nun finanziell dafür, malten sie zwar weiterhin – aber die Bilder wurden immer langweiliger: Sie malten eben nur noch für die Belohnung. Gab es im nächsten Schritt keine Belohnung mehr, malten die Kinder zudem weniger als vorher. So wurde aus Malspaß eine bloße Möglichkeit zum Geldverdienen.

Am eindrücklichsten veranschaulicht diesen Gedanken vielleicht Jesper Juul, der berühmte dänische Erziehungsexperte: »Die Belohnung wird zur Motivation. Das ist so, wie wenn Sie zu Ihrem Mann sagen, Sie werden mit ihm schlafen, wenn er den Rasen mäht.«

Ein Widerstand gegen fremde Ziele ist also oft etwas Gutes, bedeutet er doch eine Verteidigung der eigenen Bedürfnisse und Autonomie.

Kennen Sie Ihre intrinsische Motivation bereits? Ich selbst wusste anfangs nämlich gar nicht, was eigentlich mein Ziel war – wofür ich fliegen lernen wollte. Es ging mir ja ohne nicht schlecht, im Gegenteil gab es ja so viele schöne Ziele, die man mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen konnte.

Vor allem die Nordsee. Dass die See Musiker und Reisende offenbar deutlich mehr inspiriert hat als zum Beispiel die westfälische Einöde meiner Kindheit, leuchtete mir ein, denn auch mich hat das Meer früh mit den großen Fragen des Lebens konfrontiert. Auf Norderney habe ich als Kind viel Zeit damit verbracht, auf das Meer zu schauen und zu versuchen, mithilfe eines Lineals die Krümmung der Erde am Horizont zu erkennen. Nachdem mir dieses naturwissenschaftliche Experiment misslang, verlegte ich mich ein paar Jahre später auf die poetische Betrachtung des Meeres, indem ich Mixtapes aufnahm, die vom Meer handelten. Und schließlich sollte mein Horizont tatsächlich durch Meer und Sehnsucht erweitert werden: In einem Traum machte ich wieder Urlaub an der Nordsee. Ich schwamm im Meer, das ebenso grau war wie der Himmel, als plötzlich eine Felsenhöhle vor mir auftauchte, in die ich hineinschwamm. Auf der anderen Seite öffnete sie sich wieder, und dort funkelte und glitzerte türkisgrünes Meer unter einem tiefblauen Himmel. Ich war sehr glücklich, diesen Tunnel gefunden zu haben. Und wachte leider auf. Doch das Bild von diesem ganz anderen Meer verfolgte mich bis in den Alltag. Ich wollte zu neuen Ufern aufbrechen. Vielleicht wollte ich auch schlicht und einfach nur Urlaub machen an einem Ort, an dem es strahlend blauen Himmel und türkisgrünes Wasser gibt.

Dieser Traum war meine Initialzündung. Ist auch bei Ihnen bereits eine erfolgt? Wenn ja, wissen Sie noch, welche es war? Womöglich ebenfalls ein Traum oder ein Gespräch, ein Bild, ein Roman? Gibt es einen Wunsch, eine intrinsische Motivation?

Diesen ureigenen Wunsch zu identifizieren, von Fremdwünschen zu unterscheiden und möglichst konkret zu imaginieren, sind die ersten wichtigen Schritte. Wenn Sie diese bereits geschafft haben: sehr gut. Damit sind Sie schon fast »ready for planning«. Falls nicht, dann womöglich nach der weiteren Lektüre …

*Gemeint ist die Studie der israelischen Soziologin Orna Donath, die unter dem Titel »Regretting Motherhood« (»Bedauern der Mutterschaft«) bekannt wurde.

Was genau will ich eigentlich?

Der nächste Schritt besteht darin, einen Wunsch von einem Ziel zu unterscheiden – bzw. aus einem Wunsch ein Ziel abzuleiten.

Ob im Coaching oder in der Psychotherapie: Das Ziel ist so wichtig, dass Ratgeber mit dem Begriff »Ziel« im Titel dutzendweise zu finden sind. Andererseits gibt es nach wie vor Therapien, in denen erst einmal drauflosgearbeitet wird. Ich bin immer ein wenig irritiert, wenn mir jemand von seiner ersten Therapiestunde erzählt und sie »sehr interessant« fand: »Mal sehen, was der Therapeut noch so vorhat!«

In manchen Fällen mag das seine Berechtigung haben, in unserem jedoch ganz gewiss nicht: Für uns ist es geradezu unerlässlich, das konkrete Ziel möglichst genau zu formulieren.

Nun scheint dies nur allzu leicht, wenn man seine Flugangst überwinden möchte: »Ich will meine Flugangst loswerden«, fertig. Ich entsinne mich noch sehr gut, dass auch ich meine Flugangst einfach nur loswerden wollte.

Solche Loswerden-Wünsche sind aber recht vage Ziele. Überhaupt haben sie – psychologisch betrachtet – ungünstige Eigenschaften. Negativ und abstrakt formuliert, benennen sie als Ziel weniger die Lösung, sondern vielmehr das Problem. Folglich steht das Schlüsselwort Angst weiterhin deprimierend groß im Zentrum der Aufmerksamkeit; es übt geradezu hypnotische Wirkung aus.

Zum Thema »Angst im Flugzeug« verfügen wir nämlich über einen unerschöpflichen Fundus innerer Bilder. Sobald wir das Wort lesen oder auch nur denken, greift unser Hirn darauf zu – ob aus eigener Erinnerung oder Selbstbeobachtung, durch die Beobachtung anderer, durch Filme oder Ähnliches: ein kalkweißes Gesicht, ein Mensch, der sich an die Armlehnen krallt (während um ihn herum alles wackelt), jemand, der gar die Spucktüte nutzen muss. Selbst in seiner verneinten Erscheinungsform beschwört der Begriff »Angst« also genau das Bild vom Nervenbündel herauf, welches man ja auf keinen Fall länger verkörpern will. Natürlich kann man das Wort nicht generell vermeiden – in der Formulierung des Ziels sollte es allerdings nicht vorkommen.

Psychologische Haarspalterei? Nein. Das hypnotische Potenzial der Sprache wird im vierten Exkurs belegt.

EXKURS 4

Coaching im Sport

Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört, dass man im Coaching für Sportler mit positiven Visionen arbeitet. Zum Beispiel mit intensiven Vorstellungen des Sieges: Der Protagonist überschreitet die Ziellinie, Jubel brandet auf, er steht auf dem Treppchen, hält einen Pokal in der Hand – das Ziel »Ich will einen Sieg!« kann man sich insofern sehr detailliert ausmalen. (Viel schwieriger dagegen die negativierte Form: »Ich will keine Niederlage, ich will nicht versagen« etc.)

Ein weiteres Beispiel: Schüchterne Menschen wünschen sich oft, »weniger schüchtern« zu sein. Wie aber sähe das konkret aus? Gegen Schüchternheit ist ja nichts einzuwenden. Die entscheidende Frage ist: Wann stört sie mich? Was will ich erleben, woran mich die Schüchternheit hindert? Das könnte sein: »Ich will tanzen gehen« oder »Ich will Gespräche mit anderen Menschen führen« oder »Ich will ab und zu Nein sagen, wenn mich ein Kollege um einen Gefallen bittet«.

Außerdem ungünstig am Motto »Loswerden«: Es legt Passivität nahe. Es weckt unsere kindliche Sehnsucht nach anstrengungsloser Geborgenheit. Etwas Ungutes möge von mir genommen werden!

Ein solcher Satz definiert allerdings kein Ziel, sondern einen Wunschtraum. Nichts gegen Wunschträume – sie sollten bloß nicht mit Zielen verwechselt werden. Sie zeigen uns nicht, wie wir unser Denken und Handeln beeinflussen können, im Gegenteil: Der Witz an einem Wunschtraum ist ja gerade, dass etwas Großartiges einfach so geschieht – und nicht erst durch eigene Aktivität herbeigeführt werden muss.

Die Idee, dass man selbst etwas unternehmen, lernen oder trainieren könnte, ist naturgemäß in reinen Loswerden-Wünschen nicht enthalten. Und das ist ausgesprochen ungünstig, wenn ich mein Geschick in die eigene Hand nehmen will, anstatt mich einfach meinem Los zu fügen – etwa dem vermeintlichen »Schicksal Flugangst«.

Zugegeben: Für unsere Flugangst böten zum Beispiel Tabletten oder Alkohol schnelle, leicht herbeizuführende, allerdings nur halbwegs haltbare (und nicht ungefährliche) Loswerden-Lösungen. 65 Prozent aller Flugängstlichen schenken sich am Flugtag gern einen ein; außerdem hat Alkohol hoch oben in den Wolken ja angeblich eine noch stärkere Wirkung als auf dem Boden, nicht wahr?*

Ich bin auch immer mit einem Sekt vor dem Start gestartet, und die anschließende Albernheit, der Galgenhumor und ablenkende Redefluss entfalteten durchaus ihre Wirkung. Tabletten und Alkohol verhalten sich letztlich zur echten Überwindung von Flugangst ungefähr so, wie sich elektronische Fitnessgürtel zu echtem Sport verhalten, wenn man abnehmen will. Außerdem bergen sie nicht nur ernst zu nehmende Suchtrisiken, sondern verstärken das Problem womöglich noch. All das sollte man zumindest wissen. Außerdem ist man am Anreisetag todmüde. (Was mich damals allerdings, zugegebenermaßen, wenig scherte: Lieber todmüde als tot, dachte ich mir.)

Wie verhält es sich aber mit Beruhigungsmitteln, die man ausschließlich in dieser Notsituation einsetzt? Wenn man wirklich nur selten fliegt, lässt sich der Gebrauch von Psychopharmaka zwar durchaus rechtfertigen. Bloß sollte das Ziel dann nicht »Fliegen lernen« heißen, sondern »die bestmögliche Narkose suchen«. Darüber hinaus sollten Sie sich in dem Fall bewusst sein, dass es jedes Mal ein bisschen schwieriger wird, die Angst auf Dauer zu verlernen – denn Sie wenden aktiv Vermeidungsverhalten zweiter Art an.

Will ich nicht nur keine Flugangst mehr haben, sondern entspannt im Flugzeug sitzen – und den Flug womöglich sogar genießen –, wird das mit Tabletten schwerlich funktionieren. Dazu muss ich etwas tun, etwas lernen. Um mich zum Lernen zu motivieren, lohnt es sich, dieses Ziel noch viel schöner und greifbarer zu machen, sprich: leichter erreichbar. Zum Beispiel, indem ich es ganz konkret und nicht in negativer Verdrehung benenne – so wie ich es ein paar Zeilen weiter oben bereits getan habe: »Ich will ganz entspannt im Flugzeug sitzen …« In meinem Fall etwa hatte das Idealziel dann komplett gelautet: »… welches mich zu einem türkisgrünen Traumort bringt.«

Wofür wollen Sie die Mühen des Fliegenlernens auf sich nehmen? Haben Sie bereits ein klares Ziel? Und ist es wirklich Ihr eigenes?

Flugmotivation entsteht durch ein echtes Ziel.

*Nein, leider nicht wahr, vielmehr ein Mythos (siehe z. B. Internetlink im Anhang).

Meine Flugangst: die eigene Geschichte erzählen

Menschen lernen durch Bilder und durch Geschichten. Diese Weisheit wird seit ewigen Zeiten in Religionen genutzt und auch in allen möglichen anderen Zusammenhängen: im Coaching, in der Therapie, im Controlling, im Marketing (Stichwort: Storytelling), in der Erziehung sowie natürlich in der Kunst und Literatur. Wir mögen Bilder und Geschichten, weil unser Gehirn dafür optimal ausgerüstet ist; aufgrund ihrer emotionalen Qualität kann man sie sich gut merken, viel besser als zum Beispiel Vorschriften oder Zahlen. Die wirklich prägenden Umwälzungen unseres Denkens und Erlebens, die Dinge, an die wir uns immer erinnern werden, sind meistens an Bilder oder an Geschichten gebunden. Auch blödsinnige Dinge merkt man sich ja oft, wenn das Bild dazu prägend wirkt.

Zum Beispiel werde ich wohl nie vergessen, dass eine Kollegin mir einmal sagte, ich hätte offenbar stark abgenommen. Als ich etwas verwundert entgegnete, es könne sich dabei maximal um zwei Kilo handeln, nickte sie eifrig und sagte: »Ja – das sind zwei Literflaschen Cola!« Seitdem sehe ich mich mit einer wechselnden Anzahl Literflaschen Cola herumlaufen.

Ähnlich wirkungsvoll wie Bilder sind Geschichten. Auf jeder Homepage von Flugangstseminaren findet man daher auch Erzählungen der Kursteilnehmer. Sie berichten, wie ihre Angst begann, wie genau sie sich zeigte, wie sehr sie darunter gelitten haben, warum sie irgendwann etwas dagegen unternehmen wollten, was im Seminar geholfen hat und warum sie nun ein glücklicheres Leben führen. Die Geschichten verfügen über emotionale Hochs und Tiefs sowie ein Happy End, und ich empfehle unbedingt, ein paar davon zu lesen.

Geschichten können Erklärungen für menschliche Probleme liefern – und für deren Lösungen. Damit sind sie sinnstiftend, und diese Eigenschaft von Geschichten hat laut Hirn-, Trauma- und Therapieforschung einen erheblichen therapeutischen Nutzen. In der Narrativen Expositionstherapie ist es beispielsweise ein Hauptbehandlungsmerkmal, einem etwaigen Trauma im Leben eines Patienten einen bestimmten Platz zuzuweisen: das Erlebte in die Biografie einzuordnen und daraus Sinn abzuleiten (siehe Exkurs 5).

EXKURS 5

Der Sinn eines Traumas

In der sehenswerten Dokumentation Die verborgene Seite der Angst berichtet eine Überlebende von Nine-Eleven von ihrem Trauma – den grauenvollen Bildern, Gerüchen, Geräuschen und Gefühlen dieses Tages. Mehr als alles andere schien für ihre Heilung von Bedeutung zu sein, dem Erlebten einen Sinn abzugewinnen. Sie begann zunächst damit, Menschen über den Ground Zero zu führen und ihre Geschichte immer wieder zu erzählen – jedoch zunehmend mit dem Fokus darauf, dass sie überlebt hat und jetzt lebt, und nicht wie vorher, dass sie fast gestorben wäre. Der Fokus der Geschichte und die verwendete Sprache haben sich also im Laufe der Heilungszeit verändert. Oder hatte vielleicht die veränderte Sprache einen heilsamen Effekt auf ihr Erleben?

In diesem Zusammenhang ist wichtig: Welche Geschichte erzähle ich wie? Schildern Passagiere mit Flugangst die Geschichte ihres jüngsten Fluges, verwenden sie immer wieder gern das Genre des Katastrophenberichts, gespickt mit Angst-, Unglücks- und Todesvokabeln wie »Ende«, »Absturz«, »kaputt«, »tot« – sie springen einem in den folgenden Fallbeispielen geradezu ins Auge. Auch vermeintlich neutrale Formulierungen wie »Ausnahmesituation«, »Turbulenzen« oder »Überlebenswahrscheinlichkeit« entfalten negative hypnotische Kraft. Und eignen sich mithin fatal, jemanden in der irrigen Annahme zu bestärken, dass es sich beim Fliegen womöglich doch um ein riskantes Unterfangen handele.

Sprache konstruiert unsere Wirklichkeit mit. Angstformeln zu gebrauchen ist negative Selbsthypnose.

Doch es gibt auch den heilsamen Effekt des Geschichtenerzählens. Um diesen zu erfahren, muss man kein regelrechtes Trauma erlebt haben. Ein Anfang wäre damit gemacht, sich schon während der Lektüre dieses Buches die ganz persönliche Überwindung der Flugangst vorzustellen: ein privates kleines Heldenepos. Indem Sie später schildern können, wie Ihre Angst entstanden ist, wie sie sich angefühlt hat und wie Sie sie bewältigt haben, nutzen Sie Ihr nach Emotionen und Sinn gierendes Gehirn in der bestmöglichen Weise.

Zunächst aber – aus Verfahrensgründen unumgänglich – zurück zur Sprache der Angst. Was liegt an dieser Stelle näher, als Ihnen exemplarisch die grundlegende Geschichte meiner Flugangst zu erzählen? Zumal ich einen weitverbreiteten Typus von Flugneurotikern verkörperte: Typ A (Angst vor Absturz).

Wie bereits erwähnt, bleibt eine Einteilung in Typen stets eher grob, das liegt in der Natur der Sache. Natürlich gibt es häufig Überschneidungen – oder innerhalb desselben Typus individuell spezifische Details. Vielleicht entdecken Sie in meiner Geschichte einen Teil der Ihren, vielleicht aber auch in Bastians (Typ B: Angst vor Kontrollverlust), Felix’ (Typ C: Angst vor Kollaps) oder Julias (Typ D: Angst vor Terror).*

Oder in allen vieren.

Am Ende jeder Geschichte wird auf diejenigen Kapitel verwiesen, die für den jeweiligen Typus zur Bekämpfung seiner Art der Flugangst besonders interessant sind – und zu den entscheidenden Wendungen in der Heldengeschichte beitragen können.

Typ A: Angst vor Absturz

Nachdem meine Mitschüler und ich unser Abi geschafft hatten, musste ein Urlaub mit Sonnengarantie her, in dem außerdem maximaler Alkoholkonsum für minimales Geld möglich war. Es lief auf Bulgarien hinaus. Eine Woche Goldstrand all-inclusive für 299 DM. (Kein türkisfarbenes Meer übrigens.)

Ich freute mich darauf: Freiheit, Freunde und mein Jungfernflug! Als Kind war ich ja nie geflogen. (Übrigens hatte meine Mutter ein Flugzeug nie auch nur von Nahem gesehen. Statt zu fliegen, fuhren wir also jeden Sommer zu fünft mit dem Auto in den Urlaub, was Statistiken zufolge viel gefährlicher war. Unsere entsprechenden Vorträge beeindruckten meine Mutter jedoch kein bisschen; dreizehn Stunden fuhren wir bis an die Côte d’Azur.) Nun aber war ich mit meinen Freundinnen und Freunden unterwegs. Auf dem Weg zum Flughafen waren wir zwar übernächtigt, aber auch berauscht: von der neuen Freiheit, von der Aussicht auf die schier unendliche, funkelnd vor uns liegende Zukunft und von der dritten Dose Karlsquell. Ich war aufgeregt und reisefiebrig, doch Angst spürte ich nicht – die kam vollkommen unerwartet im Moment des Starts.

Und zwar, als plötzlich eine ganz und gar unnatürliche Beschleunigung Besitz von dieser – zu allem Überfluss undicht wirkenden – Klapperkiste ergriff. Ich war fast verblüfft, als sie trotz ihres tonnenschweren Gewichts dann auch noch – und zwar gegen alle mir bekannten Naturgesetze – abhob und sich nach bereits fünf Sekunden so weit vom Erdboden entfernt hatte, dass man mit absoluter Sicherheit tot wäre, fiele man jetzt aus irgendeinem Grund durch ein Loch im Boden. Es sah alles genauso aus wie diese Aufnahmen im Fernsehen. Das Grauenvolle war nur: Das war kein Fernsehen.

Zwei Stunden Zittern und drei Beinahe-Infarkte später landete die Blechbüchse wie durch ein Wunder tatsächlich in Bulgarien. Dass ich überlebte, war reine Gnade – die auf dem Rückflug natürlich nicht garantiert war, weshalb ich vorsichtshalber vor irgendeiner unsichtbaren Macht jenen Eid ablegte, im Falle der Heimkehr nie wieder ein Flugzeug zu besteigen. Und sieben Tage lang den Rückflug verdrängte.

Anscheinend erfolgreich, denn die Urlaubswoche habe ich in schöner Erinnerung. Es gab viel zu lachen, und obwohl wir beim Geldwechsel tüchtig geschröpft worden waren, hatten wir am letzten Abend vor dem nächtlichen Rückflug noch genug Bares übrig, um unsere letzten Lewowe für (im Wechsel) Rakija und koffeinhaltige Getränke auszugeben.

Der Rückflug war dann noch schlimmer als der Hinflug. Beim ersten Mal war ich kalt erwischt worden, nun aber perfekt aufs Angsthaben vorbereitet. Schon beim Einsteigen notierte ich im Geiste akribisch, an welcher Stelle die Maschine dem bloßen Augenschein nach defekt war; hellhörig registrierte ich verdächtige Geräusche – und davon gab es unzählige.

Zu allem Überfluss musste ich vor dem Start auch noch einen kleinen Stromausfall beobachten: Das Licht in der Kabine ging – mit einem besorgniserregenden Knacken – vollständig aus und dann flackernd wieder an. Ein Flugzeug mit Wackelkontakt! Die humoristische Hilfestellung meiner Freunde – »Na, solange nur die Lampen kaputt sind …« bzw. »Hm, komisch, irgendwie sieht der Flügel schief aus. Außerdem wackelt er« – ließ die Fassung, die ich zumindest äußerlich auf dem Hinflug noch mühsam gewahrt hatte, wütender und weinerlicher Humorlosigkeit weichen. Und der Koffein-Alkohol-Cocktail nahm auf der Flugzeugtoilette den Notausgang.

Fliegen? Nie wieder.

Davon war ich in jenem Moment überzeugt. Und doch habe ich mich noch zwei Mal bemüht. Zwei besondere Ereignisse, nämlich ein Studiensemester meiner Freundin M. in Thailand und die Feier zum runden Geburtstag meiner Mutter auf einer Nordseeinsel, brachten mich dazu, in den Jahren danach erneut Flugzeuge zu besteigen: einen A 300 nach Bangkok (zehn Stunden Angst hin, zehn Stunden Angst zurück) und eine Britten-Norman Islander nach Juist (fünf Minuten). Der kleine Flieger war ein besonderes Erlebnis, da er von innen an einen sehr alten, sehr lauten Bulli erinnerte, der wackelte und rundum unerwünscht viel Ausblick bot. Ich hielt mir die Augen zu.