Ich kenne einen Ort weit weg von hier - Maya Angelou - E-Book

Ich kenne einen Ort weit weg von hier E-Book

Maya Angelou

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Beschreibung

So viel Leben in so kurzer Zeit: das Aufwachsen im segregierten Süden der USA, die erste turbulente, Liebe, frühe Mutterschaft, eine Karriere als weltreisende Sängerin, der Kampf für Bürgerrechte an der Seite von Martin Luther King Jr. … Und im Jahr 1962 beginnt für die legendäre Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou ein neues Abenteuer, erneut spiegelt ihr Schicksal das der afroamerikanischen Community. Sie geht nach Accra, Ghana. Vertrieben von der Gewalt und Bigotterie ihrer Heimat, magisch angezogen von der Erfüllung eines Traums: gleiches, gerechtes Leben in einem jungen unabhängigen Land Afrikas. Doch bei der Arbeit am Theater, im Umgang mit den Freunden, angesichts der Gepflogenheiten der Liebe an diesem Ort ist sie mit neuen Konflikten konfrontiert. Ihre Hautfarbe ist keine gewaltvolle Zuschreibung mehr, vielmehr bleibt ihre amerikanische Herkunft unhintergehbar …

Ich kenne einen Ort weit weg von hier ist das Tagebuch eines Traums. Darin erzählt Maya Angelou vom Hoffen, Handeln, Freuen und Bereuen nach der Rückkehr auf den afrikanischen Kontinent nach Hunderten von Jahren. Und teilt auf virtuos-lebendige Weise ihren Glauben: Kraft und Selbstvertrauen liegen in der Schönheit der Sprache.

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Seitenzahl: 298

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Titel

Maya Angelou

Ich kenne einen Ort weit weg von hier

Aus dem amerikanischen Englisch von Marieke Heimburger

Suhrkamp

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel All God’s Children Need Travelling Shoes bei Random House, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5242.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© 1986 by Maya Angelou

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfoto: mauritius images/Prostock-Studio/Alamy

eISBN 978-3-518-77260-7

www.suhrkamp.de

Ich kenne einen Ort weit weg von hier

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Ich kenne einen Ort weit weg von hier

Danksagung

Informationen zum Buch

Ich kenne einen Ort weit weg von hier

Dieses Buch ist Julian und Malcolm gewidmet und all jenen Gefallenen, die mit Leidenschaft und großem Ernst nach einer Heimat suchten.

Swing Low, Sweet Chariot, Coming for to carry me home.

Die Brisen der westafrikanischen Nacht waren scheu und innig, sie spielten mit den Haaren, strichen unerhört intim durch die Baumwollkleider und verschwanden in der tiefschwarzen Dunkelheit. Das Tageslicht war genauso intensiv, aber viel draufgängerischer. Es blendete, dass einem die Sicht durcheinandergeriet. Es durchdrang meine geschlossenen Augenlider, weckte mich und trieb mich aus einem fremden Bett in völlig neue Straßen.

Nachdem wir fast zwei Jahre in Kairo gelebt hatten, war ich mit meinem Sohn Guy nach Accra gekommen, wo er an der University of Ghana sein Studium aufnehmen wollte. Ich hatte vor, zwei Wochen bei Freunden einer Kollegin zu wohnen, bis Guy sich in seinem Studentenwohnheim eingerichtet hatte, und dann weiterzureisen nach Liberia, um dort eine Stelle im Informationsministerium anzutreten.

Guy war siebzehn und aufgeweckt. Ich war dreiunddreißig und resolut. Wir waren Schwarze Amerikaner in Westafrika, wo unsere Hautfarbe zum ersten Mal in unserem Leben als völlig normal und unauffällig akzeptiert wurde.

Guy hatte in Ägypten die Highschool abgeschlossen, sein Arabisch war gut, und er strotzte vor Gesundheit. Er versicherte mir, er würde schnell eine der in Ghana gesprochenen Sprachen lernen und selbstverständlich allein zurechtkommen. Ich war in Kairo als Journalistin erfolgreich gewesen und an einer Ehe gescheitert, die ich nach außen würdevoll und insgeheim tränenreich beendete. Doch ganz gleich, wie viel ich in der Vergangenheit geweint hatte, jetzt war ich auf dem Weg in ein neues Abenteuer. Die Zukunft lockte verheißungsvoll.

Zwei Tage lang lachten Guy und ich. Wir betrachteten die Straßen in Ghana und lachten. Wir lauschten den wohlklingenden Sprachen und lachten. Wir sahen einander an und lachten laut.

Am dritten Tag machte Guy einen Ausflug und hatte einen Autounfall. Er brach sich einen Arm, ein Bein und den Hals.

Der Juli und der August 1962 räkelten und streckten sich wie ein dicker, gähnender Mann nach einer üppigen Mahlzeit. Sie hatten jedes Recht, sich zu weiden, denn sie hatten mich geschluckt. Verschlungen. Meinen Geist verzehrt, nicht in aller Eile, sondern in aller Ruhe, mit der obszönen Geduld gewisser Sieger. In den weißglühenden Straßen war ich nur mehr ein Schatten, im Krankenhaus ein dunkles Gespenst.

Es war mir kein Trost, dass die Ärzte und Krankenschwestern, die sich um Guy kümmerten, Afrikaner waren, und auch nicht, dass ich mich in der Gesellschaft Schwarzer Auslandsamerikaner befand, die, kaum dass sie von unserem Unglück hörten, vorbeikamen, um mir dabei zu helfen, die sich schleppende Zeit zu vertreiben. Ethnische und kulturelle Zugehörigkeiten hatten keine Bedeutung mehr.

Sosehr ich mich auch anstrengte, ich kam nicht an Guys stoische Gelassenheit heran. Woche um Woche lag er vollkommen gefasst da in einem Gefängnis aus Gips, aus dem nur sein Gesicht, ein Arm und ein Bein herauslugten. Seine Beteuerungen, er würde wieder gesund werden und dann wieder wie neu, nein, besser als neu sein, trieben mich in ungläubiges Schweigen. Wenn ich nicht solche Angst gehabt hätte, hätte ich Gott verflucht. Wenn ich anderer Herkunft gewesen wäre, wäre ich noch weiter gegangen und hätte seine Existenz bestritten. Doch mir fehlten der Mut und entsprechende Vorbilder, und so tobte ich innerlich wie ein blinder Bulle in einer Metallbox.

Zugegeben, Guy lag da in dem Bewusstsein, dass, wenn er einmal heftig nieste, die gebrochene Wirbelsäule gegen sein Rückenmark pressen könnte und dass er dann für immer gelähmt oder sofort tot wäre, aber er war bisher auch nur ein bisschen verknallt ins Leben. Er hatte noch nicht lange genug gelebt, um diese brutal köstliche Angelegenheit wirklich zu lieben. Er konnte sich ohne Probleme in eine andere Welt hinüberbegeben, wenn es denn tatsächlich eine solche gab, wo seine jugendliche Unschuld ihm ganz sicher eine Krone, Flügel, eine Harfe, Ambrosia, kostenlose Milch und die Abwesenheit nostalgischer Sehnsuchtsanfälle bescheren würde. (Ich bin mit Spirituals aufgewachsen, in denen man sich danach sehnt, die alte Mutter in aller Herrlichkeit wiederzusehen [»See my old mother in glory«] oder den geliebten Kindern im Himmel wieder zu begegnen [»Meet with my dear children in heaven«], doch nicht mal die fantasievollsten Dichter wagten es jemals, die Frage zu stellen, ob jene herumtollenden Seelen auch nur einen einzigen Gedanken verschwenden an uns, die wir uns weiter hier auf Erden abrackern.) Ich dagegen fühlte mich so hundeelend, weil mir klar wurde, was ich verlieren würde.

Ich hatte bei meiner Mutter gelebt, bis ich mit siebzehn meinen Sohn bekam. Als er zwei Monate alt war und auf meiner linken Hüfte saß, zogen wir aus, und seither – mit der Ausnahme eines Jahres, in dem ich mich in Europa auf Tournee befand – waren wir einander Mittelpunkt und Heimat gewesen, siebzehn Jahre lang. Er konnte jetzt sterben, wenn er wollte, und dahin gehen, wo Tote so hingehen, aber ich, ich würde zurückbleiben, heimatlos.

Der Unfallverursacher stand schwankend am Fußende des Bettes. Wieder mal betrunken – oder zwei Monate später immer noch. Er, der er zu dem Ausflug eingeladen hatte und dem das Auto gehörte, hatte benebelt auf der Rückbank gelegen, während Guy versuchte, den abgewürgten Motor zu starten. Ein Laster war viel zu schnell den Berg heruntergekommen und in Richards Wagen gekracht. Richard hatte keine Schramme davongetragen.

Jetzt eierte er irgendwie im Krankenzimmer herum und wagte es kaum, mich anzusehen. »Hallo, Schwester Maya.« Die Worte waren so verwaschen, dass ich ihn nur noch mehr hasste. Am liebsten hätte ich ihm den dürren Hals umgedreht. Ich wandte den Blick von diesem Mistkerl ab und sah zu meinem Sohn. Der ehemals weiße Gips, der seinen Körper umschloss und sich um sein Gesicht legte, war gelb geworden und begann zu bröckeln.

Ich sprach leise, so, wie man mit sehr alten, sehr jungen und sehr kranken Menschen spricht. »Na, mein Schatz, wie geht’s dir heute?«

»Richard redet mit dir, Mutter.« Seine ohnehin tiefe Stimme knurrte missbilligend.

»Hallo, Richard«, murmelte ich in der Hoffnung, er würde es nicht hören.

Doch meine Worte drangen durch seinen Alkoholnebel, und der Mann hob an zu einem Entschuldigungsmonolog, der meine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellte. »Es tut mir leid, Schwester Maya. So leid. Ich wünschte, ich würde da in dem Bett liegen … Ach, ich wünschte, ich würde da liegen …«

Genau das wünschte ich mir auch.

Als er fertig war, verabschiedete er sich von Guy und nahm meine Hand. Es widerte mich an, von ihm berührt zu werden, doch Guy beobachtete mich, darum setzte ich ein dämliches Grinsen auf und sagte: »Wiedersehen, Richard.« Kaum war er weg, machte ich mich daran, den Korb auszupacken, in dem ich Essen mitgebracht hatte. (Der Appetit eines Teenagers leidet kein bisschen unter ein paar Blutergüssen oder Knochenbrüchen.)

Guy unterbrach mich.

»Komm her, Mutter, damit ich dich sehen kann.«

Er konnte sich nicht umdrehen in seinem Gips, darum mussten die Besucher sich direkt in seinem Blickfeld aufhalten. Ich stellte den Korb ab und platzierte mich am Fußende des Bettes.

Er sah wütend aus.

»Ich weiß, ich bin dein einziges Kind, Mutter, aber du darfst nicht vergessen, dass das hier mein Leben ist, nicht deins.« Der Dorn des Strauchs, den man selbst gepflanzt, gehegt und gepflegt hat, sticht am tiefsten von allen und lässt am meisten Blut fließen. Gequält wartete ich ab, was noch über seine gekräuselten Lippen kommen würde. Aus seinem Blick sprach Verachtung. »Wenn ich nichts dagegen habe, dass Richard mich besucht, und begreife, dass er schwerer verletzt wurde als ich – warum kannst du das dann nicht? Hast du nicht immer Toleranz gepredigt? Verständnis und Nachsicht? Hast du nicht immer gesagt, bevor man einen anderen Menschen verurteilt, sollte man eine Weile in seinen Schuhen gehen? Oder hast du das alles gar nicht so gemeint?«

Natürlich hatte ich das alles so gemeint – theoretisch, in Gesprächen über unterprivilegierte, unverstandene und unterdrückte Übeltäter. Aber doch nicht in Bezug auf einen Trunkenbold, der das Leben meines Sohnes aufs Spiel gesetzt hatte.

Ich log und sagte: »Doch, natürlich habe ich das so gemeint.«

Guy lächelte und sagte: »Natürlich hast du das, Mutter, das wusste ich ja. Du bist nur einfach völlig durch den Wind.« Sein vom Gips umrahmtes Gesicht spiegelte Vergebung und wurde davon noch schöner. »Mach dir keine Sorgen mehr. Ich komme hier bald wieder raus, und dann kannst du nach Liberia.«

Ich zerknüllte alle Bitterkeit und schluckte sie herunter.

Ich runzelte die Stirn, grinste und sagte: »Du hast Recht, mein Schatz. Ich werde mich jetzt beruhigen.«

Wie üblich fanden wir etwas, über das wir lachen konnten. Mit der unversehrten linken Hand fingerte Guy am Essen herum, und als er etwas davon zu fassen bekam, tat er, als wüsste er nicht, wie er es in seinen Mund befördern sollte. Krümel fielen auf seinen Kittel. »Ich krieg das schon hin, Mom. Ich verspreche dir, dass ich nicht verhungern werde.« Wir spielten mit Wörtern, und die Besuchszeit verging wie im Flug.

Viel zu schnell war ich wieder auf der grellen Straße, einen leeren Korb in der Hand und einen schwimmenden Kopf in der einsamen Luft.

Ich kannte ein paar Leute, die mich bei sich aufnehmen würden, wenn auch ungern, weil ich nichts zu bieten hatte als ein langes Gesicht und ein in Selbstmitleid versinkendes Herz, und ich hatte auch nicht vor, das zu ändern. Schwarze Amerikaner meiner Generation hatten nichts übrig für abseits von Beerdigungen öffentlich zur Schau getragene Trauer. Von uns wurde von unseresgleichen und von anderen erwartet, die Bürde mit einem Lächeln zu tragen und potenziellen neuen Angriffen lachend auszuweichen. Schließlich hatte genau das jahrhundertelang funktioniert. Oder etwa nicht?

An unserem ersten Abend in Ghana hatte unser Gastgeber (der Freund eines Freundes) zu unseren Ehren mehrere in Ghana lebende Schwarz- und Südamerikaner eingeladen. Julian Mayfield und seine wunderschöne Frau Ana Livia, eine Ärztin, kannte ich bereits aus New York, den Rest jedoch nicht. Da aber unter Landsleuten im Ausland eine Art Verwandtschaft besteht, in etwa so wie die Verbindung zwischen Bischöfen oder das Band zwischen Dieben, waren wir uns sofort vertraut, erzählten einander Anekdoten und tauschten bereits binnen einer Stunde Kontakte und sogar Adressen aus.

Alice Windom, eine sehr kluge Frau aus St. Louis, und Vicki Garvin, eine sanftmütige New Yorkerin, gehörten zu den Amerikanern, die im kleinen Wohnzimmer lachten und sich unterhielten. In den zwei Jahren, die vergangen waren, seit Guy zuletzt von so vielen Schwarzen Amerikanern umgeben gewesen war, hatte er sich von einem pubertären Jugendlichen in einen selbstsicheren jungen Mann entwickelt. Er strotzte vor Freude, als ihm klar wurde, dass er sich in der ausgelassenen Gesellschaft behaupten konnte.

Jeder einzelne der Auswanderer lobte und pries Ghana und wunderte sich über meinen Plan, nach Liberia weiterzureisen. Ich brauchte ihnen nicht zu erzählen, dass ich nach Sicherheit hungerte und so gut wie alles angenommen hätte, was mir in Afrika Beständigkeit in Aussicht gestellt hätte. Sie wussten das, und doch zogen sie mich damit auf. Einer fragte: »Kennst du dieses Lied von Ray Charles, wo er singt ›When you leave New York, you ain’t going nowhere‹?«

Ja, das kannte ich.

»Na ja, und wenn du Ghana verlässt, um nach Liberia zu gehen, dann gehst du nicht nach Afrika, dann gehst du auch in Wirklichkeit nirgendwohin.«

Ich kannte einige Liberianer, die so afrikanisch waren wie Congas, und doch respektierte ich die Gesprächstradition und ließ die anderen weiter sticheln.

Alice riet: »Meine Liebe, du solltest dir lieber hier einen Job suchen und sesshaft werden. Besser als Ghana wird es nicht, aber es kann sehr viel schlechter werden.« Alle lachten und stimmten zu.

Die Schnelligkeit, mit der geredet und gewitzelt wurde, war mir von zu Hause vertraut, und entzückt bewies ich den anderen, dass ich immer noch wusste, wie man sich in Schwarzer Gesellschaft benahm. Ich lachte genauso laut wie die, die mich aufzogen, und genoss die Kameradschaft.

Doch Guys Unfall hatte mich alle ihre Namen, ihre Gesichter und ihre Fröhlichkeit vergessen lassen. Ich hatte das Gefühl, noch niemandem begegnet zu sein, niemanden zu kennen und als hätte ich mein ganzes Leben als die trauernde Mutter eines schwer verletzten Kindes zugebracht.

Tragödien, ganz gleich, wie schlimm, werden allen, die sich nicht in ihrer süchtig machenden Liebkosung befinden, sehr schnell langweilig. Ich beobachtete, wie mein Gastgeber, der am Anfang so mitfühlend gewesen war, sich immer weniger für mich und meinen Kummer interessierte. Nach ein paar Wochen in seinem Haus durchdrang sein Unbehagen sogar meine Ichbezogenheit. Als Julian und Ana Livia Mayfield mir gestatteten, meine Bücher und Kleidung bei ihnen zu lagern, bedankte ich mich pflichtschuldig bei meinem ersten Gastgeber und zog in ein winziges Zimmer im nächstgelegenen YWCA. Ich kreiste einzig und allein um mich selbst und hin und wieder um Guy. Im Grunde war ich ganz froh darüber, dass ich niemandem mehr Gesellschaft leisten musste, und doch wurde das Gefühl, abgewiesen worden zu sein, zu einer weiteren Perle an meiner Sorgenkette.

Eines sonnigen Morgens stand Julian in der Lobby des YWCA und erwartete mich. Er sah so umwerfend gut aus, dass er die kichernde Aufmerksamkeit der jungen Frauen auf sich zog, die auf Plastikstühlen sitzend vorgaben zu lesen.

»Ich bin hier, um dich abzuholen. Ich will dich jemandem vorstellen. Jemandem, den du kennen solltest.« Er sah mich ernst an. Er war groß, Schwarz, zäh und schroff. »Was dir fehlt, ist jemand, der mit dir redet. Eine Frau. Auf geht’s.«

Seine herrische Art missfiel mir, aber mir fehlte die Energie, ihm zu sagen, dass er nicht mein Bruder war, ja, nicht einmal ein enger Freund. Ich wollte mich ihm widersetzen und folgte ihm zu seinem Wagen.

»Irgendjemand muss dir sagen, dass langsam Schluss sein muss mit deinem Selbstmitleid. Du lässt dich total gehen. Sieh dich mal an: deine Kleidung. Deine Haare. Herrje, wer hat sich denn den Hals gebrochen? Guy oder du?«

Wut entflammte in meinem Mund, doch ich schluckte die bösen Worte herunter und wandte mich Julian zu. Sein Blick war auf die Straße gerichtet, doch von der Seite sah ich ihm die Anspannung an. Er blinzelte nicht, und seine vollen Lippen schmollten.

»Wir verstehen dich ja … so weit, wie man den Schmerz eines anderen Menschen verstehen kann … aber du … du hast vergessen, wie man höflich miteinander umgeht. Herrje, Maya, du tust allen leid, aber niemand ist dir etwas schuldig. Und das weißt du. Du darfst deine Herkunft nicht vergessen. Deine Mutter hat dich schließlich nicht in der Hundehütte großgezogen.«

Schwarze sind unter gewissen Umständen äußerst tolerant, was Jubelgeschrei, Spötteleien, Übertreibungen, Anspielungen, mangelnden Respekt, unflätige Sprache und sogar regelrechte Beleidigungen angeht, aber gegen Verunglimpfungen der Familie setzt man sich unverzüglich zur Wehr.

Ich sagte: »Und woher weißt du so gut über meine Kindheit Bescheid? Hat mein Vater dir davon erzählt, wenn er bei uns zu Hause fehlte und stattdessen bei deiner Mutter war?«

Ich ging davon aus, dass Julian explodieren würde. Seine Reaktion schockierte mich. Er prustete los vor Lachen und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Das ganze Auto wackelte und fuhr immer langsamer, während er sich am Lenkrad festklammerte. Sein Lachen steckte mich an, ich zupfte an seiner Jacke und schlug mir aufs Knie. Wundersamerweise kamen wir nicht von der Straße ab. Wir lachten immer noch, als er in eine Einfahrt bog und den Motor abschaltete.

»Wird schon alles gut werden, Mädchen. Du hast nicht alles vergessen. Du weißt dich zu wehren. Jetzt musst du nur noch dran denken … dass du dich manchmal gegen dich selbst wehren musst.«

Wir stiegen aus, Julian nahm mich in den Arm, und so gingen wir gemeinsam auf das Nationaltheater Ghanas zu, ein rundes weißes Gebäude inmitten grünschwarzer Bäume.

Efua Sutherland hätte für die Originalbüste von Nofretete Modell gestanden haben können. Sie war hochgewachsen, schlank, Schwarz und wunderschön, und sie sprach so leise, dass ich die Ohren spitzen musste, um sie zu verstehen. Eine undurchdringliche Aura umgab sie wie schweres Parfüm, und sie trug ein strenges, bodenlanges weißes Gewand.

Regungslos saß sie da, während Julian meine furchtbare Geschichte erzählte und damit abschloss, dass mein einziges Kind derzeit im Militärhospital lag. Als Julian verstummte und sie demonstrativ ansah, stellte ich erfreut fest, dass Efuas gelassene Miene keine mitleidigen Risse bekam. Sie schwieg, und Julian fuhr fort: »Maya schreibt. Wir kennen uns von zu Hause. Sie hat für Martin Luther King gearbeitet. Sie ist ganz allein hier, darum nehme ich die Rolle ihres Bruders ein, aber sie muss mit einer Frau reden, und sie braucht bald Arbeit.«

Efua sagte nichts, wandte sich aber schließlich mir zu, und ich hatte das Gefühl, als würde ich ganz und gar von ihr absorbiert. Der Moment kam mir vor wie eine Ewigkeit.

»Maya.« Sie erhob sich und kam auf mich zu. »Schwester Maya, das mit der Arbeit sehen wir später, aber jetzt brauchst du erst mal eine gute Freundin.« Ich hatte seit dem Unfall nicht geweint. Im ersten Krankenhaus hatte ich dabei geholfen, Guys reglosen Körper auf den Röntgentisch zu legen, ich hatte mitangepackt, als er zum Krankenwagen getragen wurde, der ihn in ein anderes Hospital bringen sollte. Ich hatte geschlafen, war aufgewacht, war herumgelaufen und hatte gelebt – in einer Atmosphäre, die so dicht war, dass ich nur sehr flach atmen und automatisierte Bewegungen ausführen konnte.

Efua legte die Hand auf meine Wange und wiederholte: »Schwester, du brauchst eine gute Freundin, weil du weinen musst, und jemand muss dich weinen sehen.«

Ihre Gesten und ihre Stimme waren hypnotisierend. Ich fing an zu weinen. Sie streichelte eine Weile mein Gesicht und kehrte dann an ihren Platz zurück. Sie begann, sich mit Julian über andere Dinge zu unterhalten. Ich weinte weiter und war peinlich berührt, weil ich gar nicht mehr aufhören konnte. Als Kind sagte meine Großmutter in solchen Momenten zu mir: »Pass auf, Schwester. Je mehr du weinst, desto weniger wirst du pinkeln, und Pinkeln ist wichtiger.« Doch als der Hahn erst geöffnet war, musste er einfach leerlaufen. Ich hatte keinerlei Einfluss darauf.

Efua schickte Julian weg und versicherte ihm, sie würde mich zum Krankenhaus bringen. Ich sah sie an, aber sie schien völlig in sich zu ruhen, und ich war frei, alle Bitterkeit und alles Selbstmitleid der letzten Tage herauszuweinen.

Als ich fertig war, erhob sie sich wieder und bot mir ein Taschentuch an. »Und jetzt, Schwester, musst du essen. Essen und trinken. Du musst auftanken.« Sie rief ihren Fahrer, der uns zu ihr nach Haus brachte.

Sie war Dichterin, Dramatikerin, Lehrerin und Leiterin des Nationaltheaters. Im Auto sprachen wir über Shakespeare, Langston Hughes, Alexander Pope und Sheridan. Wir waren uns einig, dass Kunst die Blume des Lebens war und dass Schwarze Künstler aller jahrelangen ungerechten Behandlung zum Trotz einige der allerschönsten Blüten darstellten.

Sie kannte den Präsidenten und nannte ihn vertraut »Kwame«.

Sie sagte: »Kwame hat gesagt, Ghana muss seine eigenen Legenden zur Heilung einsetzen. Ich habe die alten Sagen neu aufgeschrieben, um den Kindern beizubringen, dass ihre Geschichte reich und edel ist.«

Ihr Haus, weiß wie Kreide und sachlich, hatte runde Wände, die einen grünen Rasen umschlossen. Ihre drei Kinder kamen lachend herbei, um mich zu begrüßen, und ihr Dienstmädchen brachte mir Essen. Mit dem Mädchen sprach Efua Fanti, mit den Kindern eine Mischung aus Fanti und Englisch.

»Das ist Tante Maya. Sie kommt jetzt öfter zu uns. Ihr Sohn ist krank, aber den werdet ihr auch noch kennenlernen, wenn er wieder rauskommt aus dem Krankenhaus.«

Esi Rieter, mit zehn Jahren die Älteste, Ralph, sieben, und der fünfjährige Amowi wollten sofort wissen, wie alt mein Sohn ist, was er hat, ob ich noch mehr Kinder habe, was ich arbeite. Efua schickte sie weg und versicherte ihnen, die Zeit würde all diese Fragen beantworten.

Ich aß, wie ich geweint hatte, reichlich. Nach dem Essen ging Efua mit mir zum Auto.

»Du bist nicht allein, Schwester. Ich werde morgen selbst ins Krankenhaus gehen. Dein Sohn ist jetzt mein Sohn. Er hat hier ab sofort zwei Mütter.« Wieder legte sie die Hand an meine Wange. »Du musst dich in Geduld üben, Schwester. Du musst es versuchen.«

Als der Fahrer vor dem Krankenhaus hielt, fühlte ich mich so kühl und erfrischt, als sei ich gerade den Becken von Bethesda entstiegen und als hätte das Heilwasser viele meiner Sorgen von mir abgewaschen.

Das Krankenhaus wurde bunt, auf den Fluren war Gelächter zu hören, und Guys gute Laune war keine Einbildung mehr. Er und die Ärzte hatten überraschenderweise Recht gehabt. Die Genesung war ihm an seinen Händen anzusehen und daran, wie er mit dem schweren Gips durch die Flure rumpelte.

Die Sonne, die so gnadenlos geknallt und gebrannt hatte, tauchte mich nun in wohltuende Strahlen, hievte mich aus der Depression und setzte mich wieder auf die Füße, wo ich es laut meinem neuen Gemüt verdient hatte, zu sein.

Ich lächelte fremde Menschen an und nahm Gebäude und Straßen wahr. Es dauerte Wochen, bis mir bewusst wurde, dass ich meine Nöte losgelassen hatte.

Der Besuch bei Efua und Julians widerstrebendes, aber aufrichtiges Angebot, mein Bruder zu sein, waren sehr wirksame Medizin gewesen.

Ich konnte es nicht abwarten, mein Leben in Ordnung zu bringen. Natürlich würde ich nicht nach Liberia gehen, also … musste ich zusehen, dass ich Arbeit fand, ein Auto und eine Wohnung, in der Guy wieder ganz gesund werden konnte. Ich musste mir die Haare, die Finger- und die Fußnägel machen lassen. Mein Aufzug war eine Schande.

Panikattacken kamen und gingen. Hatte während der zweimonatigen Depression meine Entschlossenheit Schaden genommen? Der einzige Bereich meines Lebens, den ich je wirklich unter Kontrolle gehabt hatte, war ich selbst gewesen. Offenbar war ich verdammt nah daran vorbeigeschrammt, diese Kontrolle aufzugeben zugunsten grenzenlosen Selbstmitleids.

Ich dachte über Julians harsche Worte nach. »Deine Mutter hat dich schließlich nicht in der Hundehütte großgezogen.« Und das war noch stark untertrieben.

Meine Mutter, diese hübsche, zierliche Frau mit der stählernen Brust, hatte mir und meinem Bruder Bailey beigebracht, dass jeder »sich um seinen eigenen Kram kümmern, auf eigenen Beinen stehen, sich selbst ins Zeug legen und wie besessen arbeiten« muss. Und sie fügte stets hinzu: »Hofft auf das Beste, aber rechnet stets mit dem Schlimmsten. Ihr werdet nicht immer das bekommen, wofür ihr bezahlt habt, aber ihr werdet ganz sicher immer für das bezahlen, was ihr bekommt.« Vivian Baxter hatte für jede Lebenslage einen klugen Spruch auf Lager, und wenn nicht, dachte sie sich schnell einen aus.

Ich war ihr eine gute Schülerin gewesen, hatte ihren Rat angenommen und verinnerlicht, und so schob ich jetzt die an mir nagende Angst von mir, dass ich vielleicht einen Teil meines mir ureigenen und überlebenswichtigen Starrsinns eingebüßt hatte.

Ich sah mir nicht nur das Chaos genauer an, in dem ich die letzten Monate gelebt hatte, sondern auch meine Nachbarinnen. Zu meiner Überraschung wohnten viele der Frauen, die an unserem ersten Abend auf der Party waren und die Guy immer wieder treu im Krankenhaus besucht hatten, auf derselben Etage. Fasziniert stellte ich fest, dass den Hausgästen gratis Mopps, Besen, Eimer und andere Putzgeräte zur Verfügung standen.

Alice und Vicki sahen mir dabei zu, wie ich mich aus meinem Kokon befreite, und nahmen mich bis auf ein paar zarte Neckereien kommentarlos an. Während ich die paar Quadratmeter Boden in meinem Zimmer wischte und meine Sachen wusch, sagte Alice: »Ich würde ja anbieten, dir zu helfen, Maya, aber irgendwie habe ich keins der häuslichen Talente geerbt, die unsereins nachgesagt werden.«

Vicki bot ihre Hilfe an, aber mir war klar, dass die Arbeit etwas Kathartisches hatte, und so schrubbte ich die Wände, polierte die Türknäufe und das winzige Fenster ganz allein. Die Schmutzschicht und der üble Geruch der Niederlage verschwanden im Dreckwasser.

Die Bewohnerinnen des YWCA verziehen mir, dass ich mich der Hoffnungslosigkeit so hemmungslos hingegeben hatte, und wir fingen an, in der hauseigenen Cafeteria und auf den mir noch völlig unbekannten Straßen Zeit miteinander zu verbringen. Alice zeigte mir den riesigen Bogen auf dem Black Star Square, der zum Teil nach der von dem ehemaligen Sklaven und Abolitionisten Frederick Douglass in den USA gegründeten Zeitung benannt war.

Vicki und Sylvia Boone fuhren mit mir zum Flagstaff House, dem Regierungssitz. Als ich sah, wie Afrikaner das offizielle Gebäude betraten und wieder verließen, bebte ich vor einer bis dahin ungekannten Ehrfurcht. Die Souveränität, mit der sie sich über die Marmorstufen bewegten, bewies wieder einmal, dass die Weißen sich stets geirrt hatten. Schwarze und braune Haut waren keine Merkmale gottgegebener Minderwertigkeit. Wir waren durchaus in der Lage, uns, unsere Städte und unser Leben selbst zu verwalten, und zwar kultiviert und mit Erfolg. Wir mussten keine Weißen bitten, uns zu erklären, wie die Welt funktioniert, oder uns in die Geheimnisse des Denkens einzuführen.

Meine Besuche im Krankenhaus schrumpften zusammen auf eine tägliche Stippvisite, und zu sehen, wie gut Guy aufgelegt war, ließ mich wieder jung werden.

Efua stellte mich dem Präsidenten des Instituts für Afrikastudien der Universität vor und bat ihn, mich einzustellen. Sie hatte ihm erzählt, dass ich eigentlich eine Stelle in Liberia antreten wollte, dass dann aber mein siebzehnjähriger Sohn einen Verkehrsunfall hatte und dass ich nun in Ghana bleiben müsse, bis er wieder ganz genesen sei. Lächelnd erklärte sie ihm, dass ich bereits versuchte, Fanti zu verstehen, und dass ich eine gute Ghanaerin abgeben würde.

Professor J. H. Nketia, einer der führenden Gelehrten Ghanas, war erschütternd unprätentiös. Geduldig hörte er Efua zu, dann fragte er mich: »Können Sie tippen?« Als ich sagte, nur ein bisschen, aber dass ich archivieren und schreiben konnte, umschloss er das Kinn mit einer kompakten braunen Hand und lächelte. »Können Sie am Montag anfangen?« Er erklärte, ich würde nach ghanaischem Standard bezahlt und dass er mir ein kleines Auto besorgen würde. Mir war klar, dass der mir angebotene Job mehr über Nketias Leidenschaft und Zuneigung für Efua aussagte als darüber, wie sehr er meine Dienste benötigte.

Ausländische Uni-Angestellte verdienten viel Geld, verglichen mit dem ghanaischen Durchschnittseinkommen, und sie erhielten großzügige Ausgleichszahlungen. Sie bekamen Wohngeldzulage, einen Unterrichtszuschuss für ihre Kinder oder Unterstützung bei deren weiterer Ausbildung, Beförderungsbeihilfe und eine Sondervergünstigung mit der charmanten Bezeichnung Standortkompensation. Sie alle waren in ihren Heimatländern rekrutiert und aufgrund ihrer akademischen Referenzen und Erfahrung eingestellt worden. Ich dagegen konnte abgesehen von zwei Jahren an der Abendschule nicht mehr als einen Highschoolabschluss vorweisen.

Ich nahm mir fest vor, diesen Job, ganz gleich, was er beinhaltete, mit großer Gewissenhaftigkeit und Heiterkeit anzugehen.

Einer der Professoren nahm sich ein Freisemester, und ich durfte drei Monate in seinem Haus wohnen. Als Guy aus dem Krankenhaus entlassen wurde, zog er in unser möbliertes, aber vorübergehendes Zuhause ein.

Die Gemeinschaft Schwarzer »Expats« öffnete sich und nahm mich bei sich auf, als hätten sie schon lange einen Platz für mich freigehalten.

Der Anführer dieser Gruppe, wenn eine solche Ansammlung von Exzentrikern denn überhaupt angeführt werden konnte, war Julian. Er hatte in den USA bereits drei Bücher veröffentlicht, hatte in einem Stück am Broadway mitgespielt und war ein angesehener, in Amerika ansässiger Intellektueller gewesen, bis eine Begegnung mit der CIA und dem FBI dafür sorgte, dass er nach Afrika floh. Auf seiner Flucht begleitete und unterstützte ihn Ana Livia, die politisch mindestens genauso brisant war wie er.

Sylvia Boone, eine junge Soziologin, war das erste Mal mit einer von der Kirche organisierten Reise in Afrika gewesen und dann deutlich gebildeter, mit einem doppelten Master und fließend Französisch sprechend wiedergekommen und hatte ihren Platz auf dem Kontinent gefunden. Ted Pointiflet war Maler, er redete immer wieder, aber durchaus gemäßigt davon, dass Afrika selbstverständlich das einzige Ziel aller Schwarzen Amerikaner sein konnte. Lesley Lacy, eine schlanke Studentin im Master, war Expertin für Marxismus und Garveyismus, während Jim und Annette Lacy, nicht mit Lesley verwandt, Grundschullehrer waren und etwas aus dem Rahmen fielen, weil sie mehr zuhörten als redeten. Der finster dreinblickende Frank Robinson, Klempner, hatte ein ansteckendes Lachen und hegte glühende Verehrung für Nkrumah. Vicki Garvin war früher aktive Gewerkschafterin gewesen, Alice Windom war ausgebildete Soziologin. Ich nannte die Gruppe »Revolutionäre Rückkehrer«.

Jeder Einzelne hatte etwas anderes nach Afrika mitgebracht – unterschiedliche Talente, Energien, Schwung, Jugendlichkeit und schreckliche Sehnsüchte, die es zu akzeptieren galt. Auf Julians Veranda versuchten wir uns an warmen schwarzen Abenden gegenseitig zu überbieten, wenn es darum ging, Amerika niederzumachen und Afrika zu lobpreisen.

Wir tranken Ginger-Ale mit Gin, wenn wir es uns leisten konnten, und Club-Bier, wenn das Geld knapp war. Wir redeten nicht über die offenen Rinnsteine in Accras Straßen, nicht über die Wellblechhütten in bestimmten Vierteln, nicht über dreckige Strände und nicht über gierige Mücken. Und unter gar keinen Umständen erwähnten wir unsere Enttäuschung darüber, dass die Ghanaer uns behandelten wie Luft.

Wir waren nach Hause gekommen, und wenn dieses Zuhause nicht unseren Erwartungen entsprach, Pech. Unser brennendes Verlangen nach Zugehörigkeit erlaubte es uns, das zu ignorieren und uns echte oder ausgedachte Orte zu erschaffen, die unseren Vorstellungen entsprachen.

Ärzte waren Mangelware, darum bekam Ana Livia schnell eine Stelle im Militärkrankenhaus und hatte binnen eines Jahres eine Frauenklinik aufgebaut, in der sie und ihre Kolonne von Krankenschwestern bis zu zweihundert Frauen am Tag versorgten. Auch nach progressiven Journalisten bestand große Nachfrage, sodass Julian, der für diverse amerikanische und afrikanische Zeitungen schrieb, nun auch für die Ghana Evening News arbeitete. Frank und sein Partner Carlos Allston aus Los Angeles gründeten einen Klempner- und Elektrobetrieb. Ihr Erfolg machte den anderen Mut. Wir zweifelten keine Sekunde daran, dass wir sympathisch waren. Wenn die Afrikaner uns erst kennenlernten, würden sie uns nach und nach sympathisch finden. Wir bezweifelten auch nicht, von Nutzen zu sein. Unsereins war über dreihundert Jahre lang darauf getrimmt worden, von Nutzen zu sein, es war ein blutiger Krieg darüber geführt und verloren worden, aber unsere Nützlichkeit hatte er nicht beendet. Wir waren die Nachkommen afrikanischer Sklaven, die ihrer Heimat entrissen wurden, und darum gingen wir davon aus, dass wir uns das Recht, in diese Heimat zurückzukehren, nicht erst verdienen mussten. Aber wir wollten auch nicht so arrogant sein, alles für selbstverständlich zu halten. Wir wollten arbeiten und produzieren und uns dann an Afrika anschmiegen wie ein Baby an seine Mutter.

Ich schwärmte schnell und begeistert für Ghana, wie ein frisch verliebtes junges Mädchen: sorglos und mit wenig Aussicht darauf, dass ihre Gefühle erwidert wurden.

Für meine Verliebtheit gab es eine plausible Erklärung. Unsereins hatte sich stets nach Hause zurückgesehnt. Jahrhundertelang hatten wir von einem Ort gesungen, der nicht von Menschenhand erbaut war, wo die Straßen mit Gold gepflastert waren und von Honig und Milch überspült. Wo die Heiligen in weißen Gewändern und mit juwelenbesetzten Kronen umherliefen. Ein Ort, an dem wir schließlich und endlich nicht mehr lernen mussten, Krieg zu führen, und an dem, was noch viel wichtiger war, niemand mehr Krieg führte gegen uns.

Die alten Schwarzen Diakone, Platzanweiser, Mütter der Kirche und Kinderchöre meinten mit diesem Sehnsuchtsort nicht ausschließlich den Himmel. Im Sehnen waren der Himmel und Afrika untrennbar miteinander verbunden.

Und jetzt, keine hundert Jahre nach Abschaffung der Sklaverei, kehrten ein paar Nachkommen jener ersten Afrika entrissenen Sklaven zurück, beladen mit einer schweren Hoffnung, auf einen Kontinent, an den sie keine Erinnerung hatten, in eine Heimat, die sich beschämend wenig an sie erinnerte.

Wer von uns hätte ahnen sollen, dass so viele Jahre der Sklaverei, der Gewalt, der Vermischung mit anderem Blut, mit anderen Bräuchen und anderen Sprachen uns in einen neuen, unbekannten Stamm verwandelt hatten? Wir wussten, dass wir in unserem Geburtsland weitestgehend unerwünscht waren, und versprachen uns sehr viel vom Kontinent unserer Vorfahren.

Ich war nur durch einen Zufall (oder vielmehr Unfall) in Ghana gelandet, aber die anderen Expats hatten sich für dieses Land entschieden, weil es so progressiv war und einen brillanten Präsidenten hatte, Kwame Nkrumah. Er hatte verlautbaren lassen, dass amerikanische Schwarze in Ghana willkommen seien. Er bot allen süd- und ostafrikanischen Revolutionären Zuflucht, die sich in ihren Ländern für ein Ende des Kolonialismus einsetzten.

Zugegeben, Ghanas Innen- und Außenpolitik waren hochinteressant, aber es waren Ghanas Menschen, die mich faszinierten. Ihre Hautfarben erinnerten mich an alles, wonach ich mich als Kind verzehrt hatte: Erdnussbutter, Lakritz, Schokolade und Karamell. Ihr Lachen war das Lachen der Heimat, kurz und ungekünstelt. Der sehr aufrechte und würdevolle Gang der Frauen erinnerte mich an meine Großmutter in Arkansas, wenn sie am Sonntag mit Hut zur Kirche ging. Ich hörte Männern beim Reden zu, und ganz gleich, ob ich verstand, was sie sagten, oder nicht: Ihren Stimmen lag eine Melodie zugrunde, so vertraut wie Süßkartoffelauflauf, die mich an meinen Onkel Tommy Baxter in Santa Monica, Kalifornien, erinnerte. Ich war also endlich zu Hause. Das verlorene Kind, das herumgestreunt war, das dem Land seiner Väter geklaut oder von ihm verkauft worden war, das die Talente seiner Mutter nicht genutzt hatte, das in der Gosse gelandet war, sich aber schließlich selbst daraus erhoben und zurückbegeben hatte in die offenen Arme der Familie, die es baden, in feine Gewänder kleiden und zu sich an den Tisch setzen würde.

Ich war eine von knapp zweihundert Schwarzen Amerikanern aus St. Louis, New York City, Washington, D.C., Los Angeles, Atlanta und Dallas, die hofften, das biblische Gleichnis am eigenen Leib zu erfahren.

Einige von uns waren am Flughafen in Accra gelandet in der Erwartung, Zollbeamte würden ihnen um den Hals fallen, Pförtner würden laut »Herzlich willkommen!« rufen und Taxifahrer sie hupend ins Zentrum fahren, wo lächelnde Funktionäre sie mit Bändern überhäuften und vor lauter Rührung an sich drückten. Doch unsere Ankunft fiel außer uns selbst praktisch niemandem auf. Wir sahen die Ghanaer mit großen Augen an, doch kaum einer nahm Notiz von uns. Die Neuankömmlinge verbargen ihre Enttäuschung hinter schlagfertigen Kommentaren, Witzen und zusammengebissenen Zähnen.

Die Menschen in Ghana hatten ihre eigenen Sorgen. Sie waren damit beschäftigt, ihre Flagge zu bewundern, ihre fünf Jahre alte Unabhängigkeit von Großbritannien und ihren Präsidenten. Journalisten, die sich einer wunderschönen Sprache bedienten, in der sie englische Wörter mit einer afrikanischen Syntax verschmolzen, beschrieben ihren Führer als »Kwame Nkrumah, Mensch, der Menschen übertrifft, Eisen, das Eisen schneidet«. Redner, die mehr wie Baptistenprediger klangen, als ihnen bewusst war, sprachen von Ghana als dem Juwel Afrikas, das mit Nkrumahs und Gottes Hilfe (in dieser Reihenfolge) den gesamten Kontinent aus dem Kolonialismus in die komplette Unabhängigkeit führen würde. Als Nkrumah der Nation befahl, die Stämme aufzulösen, machten sich die Clans der Fanti, Twi, Aschanti, Ga und Ewe sofort daran, Strukturen aufzulösen, die ihre Vorväter vor Jahrhunderten aufgebaut hatten. Die Verantwortung, ein modernes Land aufzubauen, und dabei gleichzeitig traditionellen Bräuchen und Göttern zu huldigen, verbrauchte enorm viel Energie.

Die Menschen in Ghana betrieben eine höchst effiziente öffentliche Verwaltung, Hotels sowie riesige Staudämme – und mussten weiterhin an althergebrachten Stammesritualen teilnehmen. Jeden Tag bewegten sich, begleitet von Trommeln, reihenweise Feiernde und Trauernde durch die Stadt und übers Land, hin zu Beerdigungen, Outdoorings (Taufzeremonien), Hochzeiten oder der Einsetzung von Häuptlingen, außerdem wurden nationale und religiöse Erntefeste gefeiert. Kein Wunder also, dass die paar sich diesen Umzügen anschließenden Schwarzen Amerikaner gar nicht weiter bemerkt wurden.