Was die Wahrheit uns bedeutet - Maya Angelou - E-Book

Was die Wahrheit uns bedeutet E-Book

Maya Angelou

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Veränderung muss her. Die Musik wird sie nicht retten. Das weiß Maya spätestens nach der Begegnung mit Billie Holliday, der zum Wrack gewordenen Jazz-Ikone. Mit ihrem Sohn verlässt Maya Kalifornien und geht Anfang der Sechziger nach New York. Und auf einen Schlag verwandelt sich ihre intime Sehnsucht nach Veränderung in den Gerechtigkeitskampf einer ganzen Generation. Ihr heftiger Wille, ihr Eigensinn, ihre Fantasie, ihr Fleiß machen sie zu einer zentralen Figur der Bürgerrechtsbewegung. Seite an Seite mit Martin Luther King, mit Malcolm X kämpft sie für eine bessere Zukunft aller Schwarzen. Doch ihre Kompromisslosigkeit fordert Opfer, die Liebe scheint unvereinbar mit diesem Leben. Und Maya läuft Gefahr verloren zu gehen, zwischen dem Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit und einem Mann.

Was die Wahrheit uns bedeutet ist Ausdruck eines unbändigen Kampfeswillens. Auf meisterhafte erzählerische Weise offenbart Maya Angelou, welche weltverändernde Kraft der Wunsch nach Gerechtigkeit bedeutet, in einer Welt, in der seit Jahrhunderten der Wohlstand der einen das Unglück der anderen zur Folge hatte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 467

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Maya Angelou

Was die Wahrheit uns bedeutet

Aus dem amerikanischen Englisch von Christiane Buchner

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 1981 unter dem Titel The Heart of a Woman bei Random House, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5202.

Erste Auflage 2022suhrkamp taschenbuch 5202Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© 1981 by Maya AngelouAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlagfoto: Klaus Vedfelt / Getty Images

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-77003-0

www.suhrkamp.de

Was die Wahrheit uns bedeutet

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Cover

Titel

Impressum

Was die Wahrheit uns bedeutet

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Was die Wahrheit uns bedeutet

»The ole ark’s a-movernin’, a-moverin’, a-movernin’ the ole ark’s a-moverin’ along.«

Das alte Spiritual hätte der Titelsong der Vereinigten Staaten des Jahres 1957 sein können, so hoch ging es damals bei uns her, moverin’ vorwärts und rückwärts und oft genug auch einfach nur im Kreis.

Wir schufen uns ein Labyrinth aus Widersprüchen. Schwarze und weiße Amerikaner tanzten einen extravaganten und oft gefährlichen Tanz, und mit unseren Schritten nach vorn, den plötzlichen Drehungen, Pirouetten und Rückwärtsschritten machten wir uns ganz wirr. Das Land feierte Althea Gibson, die hochgewachsene Tennisspielerin, die als erste Schwarze die U.S. Open im Einzel der Frauen gewann, Präsident Eisenhower schickte ein Fallschirmjägerbataillon, um Schwarze Schulkinder in Little Rock, Arkansas, zu beschützen, und South Carolinas Senator Strom Thurmond filibusterte 24 Stunden und 18 Minuten lang im Kongress, um die Verabschiedung des Wahlrechtsgesetzes der Kommission für Bürgerrechte zu verhindern.

Sugar Ray Robinson, everybody’s Dandy, verlor seinen Mittelgewichtstitel, holte ihn sich wieder und verlor ihn erneut – alles innerhalb von ein paar Monaten. Der Bestseller des Jahres war Jack Kerouacs On The Road, und der Titel beschrieb treffend die Psyche unserer Nation: Wir waren tatsächlich unterwegs, auch wenn keiner wusste, wohin und wann wir dort ankommen würden.

Ich war nach einer einjährigen Europatournee als Solotänzerin bei Porgy and Bess wieder nach Kalifornien zurückgekehrt. Ein paar Monate lang arbeitete ich als Sängerin in Clubs an der Westküste und auf Hawaii und sparte mein Geld, dann nahm ich meinen kleinen Sohn Guy unter den Arm und ging unter die Beatniks. Zum Kummer meiner Mutter und zu Guys allergrößtem Vergnügen zogen wir über die Golden Gate Bridge und in eine Hausbootkommune in Sausalito, wo ich barfuß und in Jeans herumlief und wir beide in ungebügelten Klamotten. Guy schleppte ich zu einem Friseur in San Francisco, meine eigenen Haare dagegen ließ ich zu einer wilden, ungeglätteten Mähne wachsen, mit der ich aus der Ferne aussah wie ein großer brauner Baum, dem man die Äste abgezwickt hatte. Meine Mitbewohner, eine Ichthyologin, ein Musiker, eine Ehefrau und ein Erfinder, waren Weiße und wären, so sie politisch gewesen wären (was nicht der Fall war), irgendwo zwischen linkem Rand und Revolution angesiedelt gewesen.

Erstaunlicherweise bot mir das Hausboot eine Atempause von den Spannungen zwischen Weiß und Schwarz und meinem Sohn die Gelegenheit, sich unter Weißen zu bewegen, für die er weder so exotisch war, dass man ihn nicht auch zurechtweisen durfte, noch so stinknormal, dass man ihn ignoriert hätte.

Während unserer Zeit in Sausalito hatte meine Mutter schwer mit ihrem Mutterinstinkt zu kämpfen. Bei ihren monatlichen Besuchen, im Marderpelz, Klunker um den Hals und Stöckelschuhe an den Füßen, mit denen sie grundsätzlich zwischen lockeren Bootsplanken steckenblieb, machte sie gute Miene und biss sich auf die Zunge. Ihre Augen verrieten jedoch die Sorge um ihr Kind und Kindeskind. Sie stopfte mir bündelweise Geldscheine unters Kopfkissen oder drückte mir beim Abschiedskuss einen Scheck in die Hand. Dabei hätte sie sich ruhig entspannen können, getreu dem Bibelspruch »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm« – wenn er ihr denn eingefallen wäre.

Binnen eines knappen Jahres regte sich in mir die Sehnsucht nach Privatsphäre, Teppichboden und Maniküren. Guy war bald außer Rand und Band wie ein junger Tiger. Er wusch sich seltener, als ich für gesund hielt, und weil meine Freunde ihn wie einen Erwachsenen behandelten, wollte er sich allmählich auch von seiner Mutter nichts mehr sagen lassen.

Etwas Neues musste her – zum Beispiel konnte ich wieder als Sängerin arbeiten und meinen Sohn und mich mit den Gagen über Wasser halten.

Es galt, dem Leben zu vertrauen, schließlich war ich jung genug, um daran zu glauben, dass das Leben den liebt, der sich traut, es zu leben.

Ich packte meine Sachen, verabschiedete mich und zog los.

Laurel Canyon galt als offizielle Wohngegend von Hollywood, keine zehn Minuten von Schwab’s Drugstore und eine Viertelstunde vom Sunset Strip.

Bestechend an dem Canyon war seine Sinnlichkeit. Häuser im maurischen Stil mit roten Ziegeldächern schmiegten sich zwischen Erdbeerbäumen verführerisch aneinander, die feuchte Luft duftete nach Eukalyptus, Blumen tobten sich aus in Purpur, Pink, Fuchsia und Sonnengelb. Häher und Nachtfalken, Hüttensänger und Schwalben zirpten, pfiffen und trillerten auf Baumästen in allen Schattierungen von ominösem Dunkelgrün bis Brackengelb. Filmstars und Starlets, Produzenten und Regisseure, die sich dort niedergelassen hatten, trugen das Ihre zur erotischen Aufladung ihrer Umgebung bei.

Die paar Schwarzen, die in Laurel Canyon wohnten, darunter Billy Eckstein, Billy Daniels und Herb Jeffries, waren reich, berühmt und hellhäutig genug, um als Weiße durchzugehen, jedenfalls als Portugiesen. Ich dagegen war eine mäßig bekannte Nightclub-Sängerin mit dem Ruf, mehr Hartnäckigkeit als Talent zu besitzen; unbedingt wollte ich in dieser Glamour-Gegend wohnen. Dass die Geschichten von Amateuren, die beim Lunch an der Bar entdeckt wurden, ins Reich der Fabel gehörten, war mir zwar klar, doch zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, schien mir schon wichtig, und 1958 schien mir kein Ort so richtig wie Laurel Canyon.

Als ich mich auf eine Mietanzeige meldete, hieß es, das Haus sei am selben Vormittag vermietet worden. Ich bat ein mir wohlgesinntes weißes Ehepaar, Atara und Joe Morheim, es für mich zu probieren, und siehe da, ihnen gelang es.

Am Umzugstag tauchten die Morheims, mein Gesangscoach Frederick »Wilkie« Wilkinson, Guy und ich vor einem bescheidenen, überteuerten Drei-Zimmer-Bungalow auf.

Der Vermieter begrüßte Joe herzlich mit Handschlag, blickte ihm dann über die Schulter und erkannte mich. Schockiert und angewidert wich er zurück und riss seine Hand an sich. »Ihr Mistkerle! Ich weiß, was ihr vorhabt. Ich sollte euch anzeigen!«

Joe, der immer eine an Desinteresse grenzende Lässigkeit an den Tag gelegt hatte, verblüffte mich mit seiner emotionalen Reaktion: »Das lässt du schön bleiben, du Faschist. Wenn hier einer einen anzeigt, dann ist das die Dame hier, und falls sie das tun will, sage ich als Zeuge vor Gericht für sie aus. Und jetzt zisch ab, damit wir einziehen können.«

Der Vermieter rauschte an uns vorbei und brüllte seinen Ärger in den milden Frühlingsduft. »Das hätt ich mir denken können! Du Mistkerl, du, du Drecksjude!«

Unter nervösem Gelächter trugen wir meine Möbel ins Haus.

Ein paar Wochen später hatte ich das kleine Haus strahlend weiß gestrichen, Guy in der nahegelegenen Schule angemeldet, lediglich ein paar Drohanrufe bekommen und mir einen schicken Oldtimer zugelegt. Der meergrüne, zehn Jahre alte Chrysler hatte ein Armaturenbrett aus Parkett und Türen mit splitteriger Holzoptik. Mit dem blitzenden Chrom der Cadillacs und Buicks meiner Nachbarn konnte er zwar nicht mithalten, aber er hatte eine altmodische Eleganz, und wenn ich ihn offen fuhr, kam ich mir vor wie eine exzentrische Künstlerin und nicht wie eine mittellose Schwarze, die im falschen Viertel und fern von ihren Wurzeln über ihre Verhältnisse lebt.

Eines Morgens im Juni kam Wilkie zu mir ins Haus marschiert und fragte: »Hast du Lust, Billie Holiday kennenzulernen?«

»Natürlich, was für eine Frage. Hat sie Auftritte in L.A.?«

»Nein, sie ist bloß auf der Durchreise von Honolulu. Ich bin auf dem Weg zu ihrem Hotel und bringe sie mit, wenn du dir das zutraust.«

»Was gibt’s da zum Zutrauen? Sie ist eine Frau, ich bin eine Frau.«

Wilkie lachte polternd. »Huiuiui, du nimmst den Mund ganz schön voll. Vielleicht gefällt ihr das, dann ist alles Ordnung. Vielleicht auch nicht, dann hast du Pech.«

»Das könnte auch umgekehrt gehen. Vielleicht gefällt sie mir ja genauso wenig.«

Wilkie lachte noch einmal. »Ich sag’s ja, du nimmst den Mund ganz schön voll. Hast du Gin da?«

Irgendwo stand eine Flasche herum, die seit Monaten Staub ansetzte.

Wilkie stand auf. »Gib mir den Schlüssel. Cabrio fahren gefällt ihr bestimmt.«

Erst als er weg war, setzte die Nervosität ein. Die Tatsache, dass Lady Day zu mir nach Hause kommen würde, fuhr mir in die Glieder und schlotterte mich durch. Dass sie harte Drogen nahm, war kein Geheimnis; ich dagegen rauchte nicht mal mehr regelmäßig Gras. Wie sollte ich ihr begreiflich machen, dass sie sich bei mir keinen Schuss setzen und keine Line ziehen konnte? Außerdem hatte sie angeblich lesbische Affären. Wenn sie sich an mich ranmachte, wie sollte ich dann höflich ablehnen, ohne dass sie das Gefühl hätte, ich lasse sie abblitzen? Ihr Temperament war im Showbusiness legendär, da wollte ich ihr garantiert nicht zu nahetreten. Ich holte den Staubsauger, leerte Aschenbecher und räumte auf, im vollen Bewusstsein, dass ich Billie Holiday damit nicht beeindrucken würde.

Als ich sie dann durch die Fliegentür sah, wurde aus der Nervosität blitzartig ein Schock. Das aufgedunsene Gesicht ließ nur noch einen Schatten seiner einstigen Schönheit erahnen. Als sie eintrat, blieben ihre schwarzen Augen ausdruckslos, und als Wilkie uns bekanntmachte, lag ihre Hand in meiner schlapp wie ein Gummitier.

»Hallo Maya, was liegt an? Hübsch hast du’s hier.« Noch keinen Blick hatte sie ins Haus geworfen. Die Stimme aber war genau die schleppende, karge, klagende, die mir in einsamen Nächten oft beiseitegestanden hatte.

Ich holte den Gin, setzte mich und hörte zu, wie Wilkie und Billie sich über die alten Zeiten und die alten Freunde in Washington unterhielten. Die Namen und die Eskapaden, mit denen sie prahlten, sagten mir nichts, aber Billies Ausdrucksweise zog mich in den Bann. Durch meinen Umgang mit der Straße, mit Hustlern, Spielern und Kleinkriminellen, war ich Fluchen gewohnt. Durch jahrelanges Frequentieren von Nightclub-Garderoben, Cabarets und Spelunken kannte ich jeden ordinären Ausdruck, jede Obszönität – dachte ich jedenfalls. Aber so abfällig und ordinär, wie sich Billie Holiday ausdrückte, riss es mir fast die Ohren weg. Sie gebrauchte durchaus die alten Wörter, setzte sie aber in neue Kontexte und verschliff sie so lässig, dass sie einem an den Gehörgängen entlangraspelten. Als sie mich nach einer halben Ewigkeit ins Gespräch miteinbezog, war mir klar, dass ich bei ihr nicht würde punkten können.

»Wilkie meint, du bist Sängerin. Singst du auch Jazz? Und taugst du was?«

»Nö, nicht so richtig. Mit der Intonation hapert’s manchmal.«

»Hast du Aspirationen? Willst du mir Konkurrenz machen?«

»Ich will niemandem Konkurrenz machen. Ich bin Entertainerin und verdiene einfach mein Geld damit.«

»Als Entertainerin? Also Titties raushängen lassen und mit dem Arsch wackeln?«

»Das habe ich nicht nötig. Und ich würd’s auch nicht tun. Unter keinen Umständen.«

»Beschreien reimt sich super auf bereuen.«

Ich überlegte schon, wie ich mir die Frau samt ihrer Feindseligkeit wieder vom Hals schaffen konnte, da sprang mir Wilkie zur Seite.

»Billie, hör sie dir doch erst mal an, bevor du den Mund aufreißt. Sie singt Folksongs, Calypso und Blues. Du kennst mich, wenn ich sage, sie ist gut, dann meine ich das. Sie ist gut, und sie war so nett, uns zum Lunch einzuladen, also jetzt halt mal die Luft an, sonst kannst du deinen Hintern allein den Hügel hier runterschaffen. Das ist mein voller Ernst.«

Sie lachte dröhnend. »Wilkie, du bist doch derselbe kleine Scheißer wie früher. Irgendwann setzt du mich auf die Straße, das war mir immer klar.« Sie schenkte mir ein brüchiges Lächeln.

»Was gibt’s denn zu essen, Baby?« An Essen hatte ich überhaupt nicht gedacht, aber im Kühlschrank lag ein rohes Huhn. »Ich brat uns ein Huhn. Brathähnchen, Reis und Arkansas-Spezialsoße.«

»Hähnchen mit Reis ist immer gut. Aber brat mir den Gockel. Brat ihn, bis er durch ist, ich hasse scheiß rohe Hühner.«

»Billie, ich behaupte nicht, dass ich eine tolle Sängerin bin, aber wie man ein Essen auf den Tisch stellt, weiß ich. Und rohes Huhn habe ich noch nie serviert.« Ich musste für mich einstehen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie mir Beleidigungen an den Kopf warf.

»Okay, Baby, okay. Ich sag ja bloß, dass ich blutige Hühnerbeine nicht ausstehen kann. Aber du weißt, was du tust, dann ist ja alles in Ordnung. Ich wollte dir nicht zu nahetreten.«

Ich zog mich in die Küche zurück. Über dem Geklapper der Töpfe und dem zischenden Fett waberte Wilkies und Billies Gelächter herüber.

Was dieser Nachmittag wohl noch alles mit sich brachte? Vielleicht hatte ich ja Glück, vielleicht tranken sie die Flasche leer und Wilkie nahm sie mit in eine Bar auf dem Sunset.

Billie setzte sich bedächtig an den Tisch. Jede Bewegung wirkte wie sorgfältig überlegt.

»Du deckst so einen schönen Tisch und hast keinen Kerl?«

Ich erklärte ihr, dass ich mit meinem Sohn allein lebte. Sie drehte sich abrupt weg – die erste schnelle Bewegung, seit sie mein Haus betreten hatte. »Kinder kann ich nicht ausstehen. Die kleinen Krähkrümel fressen einem die Haare vom Kopf und sagen nicht mal Danke.«

»Mein Sohn ist nicht so. Er ist intelligent und höflich.«

»Das sagen sie alle. Also, ich kann die kleinen Scheißer nicht um mich haben. Das Hähnchen schmeckt nicht schlecht.«

Ich warf Wilkie einen Blick zu; er nickte.

»Billie, ich fahr dich jetzt in eine Kneipe auf der Western, da kriegst du alles, was du willst.«

Ihre vollen Backen hielten sie keineswegs vom Sprechen ab. »Verdammt, Nigger, wenn ich in ne Kneipe will, find ich die auch ohne dich. Im ganzen Land kenne ich jeden Schuppen, wo man kriegt, was du dir nur vorstellen kannst. Ich wollte aber zu einer freundlichen Lady nach Hause. Kochen kann sie auch. Ich bin also happy wie ein Schwuler im Baumpflanzercamp. Gib mir mal noch das Hühnerbein da.«

Während ich die Reste des Hähnchens in die Küche brachte, erzählte Billie von Hawaii.

»Die Leute schwärmen immer von ›den Inseln, den Inseln‹. Verdammt, da gibt’s nichts als Wasser und Sand. Den ganzen Tag scheint die Sonne. Scheiße, was soll die Sonne sonst tun außer scheinen?«

»Aber fandst du es nicht auch schön dort? Die laue Luft, die Blumen, die Palmen und die Menschen? Die Hawaiianer sehen doch so gut aus.«

»Nichts als ein paar Nigger. Nackte noch dazu. Und dann die Musik! Unf, unf.« Sie ahmte den Klang einer Ukulele nach.

»Nee, also echt. Da bin ich lieber in New York. In New York sind zwar alles Arschlöcher, aber wenigstens tun sie nicht scheinheilig.«

Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, sah Wilkie mit einem Seitenblick zu mir auf die Uhr. »In einer halben Stunde habe ich einen Schüler. Komm, Billie, ich fahr dich zurück ins Hotel. Danke, Maya, wir müssen los.«

Billie sah von ihrem Glas auf. »Du vielleicht. Ich muss gar nichts, außer Schwarz bleiben und irgendwann sterben.«

»Na, ich hab dich hergebracht, also nehm ich dich auch wieder mit. Maya hat wahrscheinlich sowieso zu tun.«

Die beiden starrten mich an. Ich überlegte kurz und beschloss, nicht zu lügen.

»Nein, ich habe Zeit. Ich fahre sie dann ins Hotel, wenn sie zurückmöchte.«

Wilkie schüttelte den Kopf. »Okeydoke.« Seine Miene verriet ein »Hoffentlich weißt du, was du tust«. Wusste ich natürlich nicht, aber die Neugier war stärker als die Angst.

Billie warf den Kopf zurück. »Also bis dann, Wilkie. Hoffentlich nicht erst wieder in zwanzig Jahren.«

Wilkie drückte ihr einen Kuss auf die Wange, warf mir einen höchst eigenartigen Blick zu und verließ uns.

Die ersten paar Minuten schwiegen wir beide. Billie taxierte mich, und ich überlegte, mit welchem Thema ich wohl ihr Interesse wecken könnte.

»Du bist keine von uns, oder?«, fragte sie schließlich.

Ich wusste, was sie meinte. »Nein.«

»Wieso hast du mich dann eingeladen?«

Eingeladen hatte sie zwar Wilkie, aber ich hatte mich darauf eingelassen.

»Weil du eine große Künstlerin bist und ich Respekt vor dir habe.«

»Quatsch. Du wolltest mich aus der Nähe sehen.« Meinen Protest ließ sie nicht gelten. »Schon gut, damit trittst du mir nicht auf die Zehen. Aber was du hier siehst, sagt gar nichts. Ich war eine Schönheit hoch drei. Das fanden alle. Haben sie jedenfalls gesagt. Du weißt ja, wie die Leute so reden, wenn sie was von dir wollen, lügen sie dir die Hucke voll. Und dann gibt’s die, die dich einfach bloß aussaugen. Die kenn ich auch, zur Genüge.« Plötzlich schien sie in Gedanken und ich blieb stumm, um ihre Träumerei nicht zu stören.

Sie hob den Kopf und drehte sich weg, Richtung Fenster.Dann kam ein verschwörerisches Flüstern. »Männer. Männer können einem echt den Rest geben. Frauen genauso, die haben bloß nicht den Nerv. Das sind genau solche Hyänen, sie sagen es bloß nicht so laut.«

Zwar kannte ich die Geschichten, wie Billie von Männern verprügelt, von Dealern übers Ohr gehauen und von Drogenfahndern gejagt worden war, trotzdem litt sie für meine Begriffe einfach unter Verfolgungswahn.

»Hast du denn keine Freunde? Niemand, dem du vertraust?«

Sie fuhr wieder herum. »Klar hab ich Freunde. Gute Freunde sogar. Wer keine Freunde hat, der kann sich gleich einsargen lassen.« Zuvor war sie weicher geworden, aber durch meine Frage hatte sie blitzschnell die alten Mauern wieder aufgebaut. Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich ihr die Befangenheit nehmen könnte. Dann waren Guys Schritte auf der Treppe zu hören.

»Mein Sohn kommt nach Hause.«

»Ach du Scheiße. Wie alt ist der noch mal?«

»Er ist zwölf und ein sehr netter Mensch.«

Voller Energie kam Guy ins Zimmer gestürmt.

»Hey, Momwieisses? Washastdugemacht? WasgibtszumEssen? DarfichzuTony? DarfichnachdenHausaufgabenzuTony?«

»Guy, wir haben einen Gast. Das ist Miss Billie Holiday.« Er wandte sich Billie zu, war aber zu schnell unterwegs, als dass er die Abneigung in ihrer Miene bemerkt hätte.

»Billie Holiday? Ach ja, ich weiß. Guten Tag, Miss Holiday.« Er ging um den Tisch und streckte ihr die Hand hin. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe mal was über Sie gelesen, in einer Zeitschrift. Da hieß es, die Polizei hätte Sie schikaniert. Und dass Sie ein sehr schwieriges Leben hatten. Stimmt das? Was hat die Polizei denn mit Ihnen gemacht? Und konnten Sie sich wehren? Also, die anzeigen oder so?«

Billie fiel vor lauter Verblüffung nichts mehr ein.

Guy packte ihre Hand und schüttelte sie, ohne dass dabei sein Redefluss versiegt wäre.

»Vielleicht erwarten die zu viel von Ihnen. Damit kenne ich mich aus. Wenn ich von der Schule heimkomme, muss ich als Erstes den Rasen gießen, also, erst mal mich umziehen natürlich. Und ist Ihnen schon aufgefallen, dass wir an einem Hang wohnen? Wenn da also Wind geht, dann kriege ich beim Gießen die volle Ladung ab. Und wenn ich dann tropfnass wieder reinkomme, glaubt meine Mutter, ich hätte bloß mit dem Schlauch rumgespielt. Dabei kann ich gegen den Wind doch nichts machen. Kommen Sie mit raus und unterhalten sich mit mir, wenn ich mich umgezogen habe? Ich möchte alles über Sie wissen.« Er ließ ihre Hand los und raste aus dem Zimmer. »Bin gleich wieder da!«

Billie wusste nicht, wie ihr geschah. Nach einer Schrecksekunde sah sie mich an. »Hölle, das ist ja ein Kaliber. Schlaues Kerlchen. Was will er denn werden?«

»Mal Arzt, mal Feuerwehrmann, kommt immer drauf an, wann man ihn fragt.«

»Gut so. Hauptsache, er geht nicht ins Showbusiness. Schwarze Männer und Showbusiness ist eine schlechte Kombination. Wenn sie nicht das werden, was sie sich erträumt haben, lassen sie das an ihren Frauen aus. Wie heißt er noch mal?«

»Guy. Guy Johnson.«

»Du heißt Angelou, er Johnson? Du hast doch nicht schon die zweite Ehe in den Knochen? So alt siehst du gar nicht aus.«

Ich hatte Guy als unverheirateter Teenager gekriegt, deshalb trug er den Nachnamen meines Vaters. So viel von unserer Familiengeschichte wollte ich aber nicht preisgeben.

»Wie’s halt so geht«, sagte ich.

Billie nickte. »Ja, life is a bitch. Und was für eine«, murmelte sie.

Guy kam wieder hereingefegt, alte Jeans zerrissenes T-Shirt. »Alles klar, Miss Holiday? Sind Sie dabei? Kommen Sie, ich pass schon auf, dass Sie nicht nass werden.«

Sichtlich mühsam stemmte Billie sich hoch.

Ich beschloss einzuschreiten. »Guy, Miss Holiday will sich mit mir unterhalten. Geh du mal raus und erledige deine Aufgaben, dann kannst du hinterher noch mit ihr reden.«

Billie stand aufrecht. »Ach was, ich geh schon mit ihm raus. Aber wie kannst du ihn in diesen zerlumpten Klamotten rumlaufen lassen? Ihr wohnt in einer weißen Gegend, da steht er doch unter Beobachtung. Guy, wenn deine Mutter mich fährt, kauf ich dir morgen was Anständiges zum Anziehen. Du brauchst ja nicht rumzulaufen wie auf dem Baumwollfeld, bloß weil du den Rasen sprengst. Komm jetzt, los.«

Guy hielt ihr die Tür auf, und sie stelzte durchs Zimmer. Kurz darauf konnte ich beobachten, wie mein Sohn mit dem Schlauch auf den Rosengarten zielte und Billie wacker übers Gras balancierte, obwohl die Absätze ihrer Baby-Doll-Pumps in der weichen Erde versanken.

Sie blieb noch zum Abendessen – ich könne sie doch auf dem Weg zur Arbeit im Hotel absetzen. Während ich in der Küche stand, unterhielt sie sich mit Guy, und erstaunlicherweise saß er stumm da und hörte zu, wie sie von den Südstaaten erzählte, von den Städten, der Polizei, den Musikagenten, den guten Musikern und schuftigen Kerlen, denen sie begegnet war. Sie unterließ jegliches Fluchen und wenn ihr doch ein Ausdruck herausrutschte, entschuldigte sie sich bei ihm: »Ist einfach eine schlechte Angewohnheit von mir.« Als nach dem Abendessen die Babysitterin kam, verkündete Billie, dass sie Guy ein Gutenachtlied singen würde.

Sie gingen in sein Zimmer, ich kam nach. Guy setzte sich auf die Bettkante, und Billie stimmte a capella »You’re My Thrill« an, einen alten Song voller sinnlicher Metaphorik. Sie sang ihn, als wäre sie ausgehungert nach Sex, und nur der Junge, der sie aus teilnahmslosen Teenageraugen anblickte, könnte ihr Befriedigung verschaffen.

Ich beobachtete die Szene von der Tür aus und zeichnete jeden Ton innerlich auf, prägte mir alles ein, die raue Stimme, Billies Haltung und Guys nachsichtigen Blick (er hätte viel lieber gelesen oder Scrabble gespielt).

Als ich sie am Sunset Colonial Hotel absetzte, sagte sie, ich solle sie am nächsten Morgen in aller Frühe wieder abholen. Sie könne sowieso nicht schlafen, bekam ich zu meiner Verwunderung zu hören, also könne sie mit ihrem Chihuahua genauso gut bei mir die Zeit totschlagen.

Die nächsten vier Tage kam Billie frühmorgens zu uns, redete den ganzen Tag wie ein Wasserfall, sang Guy ein Gutenachtlied vor und blieb, bis ich zur Arbeit fuhr. Ich hätte eine beruhigende Wirkung auf sie, meinte sie, weil ich so gottverdammt spießig sei. Sobald Guy auftauchte, beherrschte sie sich, ansonsten fluchte sie wie ein Bierkutscher, nur in seiner Gegenwart riss sie sich zusammen und ließ nicht nur die Obszönitäten weg, sondern gab sich erhebliche Mühe, deutlich zu artikulieren.

Am letzten Abend, bevor sie nach New York zurückflog, wollte sie Guy als Abschiedslied »Strange Fruit« vorsingen. Wir saßen am Esstisch, Guy stand in der Tür.

Mit heiserer Stimme und trockenem Ausdruck sprach und sang Billie das berühmte Protestlied. Ihre Phrasierung und die raue Stimme schlugen mich völlig in Bann. Ich sah die Leichen an den Bäumen hängen, sah vor mir, wie das Blut der Lynch-Opfer von den Blättern an den Stämmen entlang bis zu den Wurzeln rann.

Guy rief dazwischen. »Wie soll denn da Blut an die Wurzeln kommen?« Ich blickte ihn scharf an. »Sei still, Guy, hör einfach zu.« Billie hatte, mit bebender Stimme über jähe Klippen hinweg, weitergesungen.

Sie malte das Bild einer lieblichen Südstaatenlandschaft, pastoral und idyllisch, und dann kamen hervorquellende Augen und verzerrte Münder dazu.

Guy platzte heraus: »Was ist denn eine pastorale Szene, Miss Holiday?« Billie hob langsam den Kopf und taxierte ihn. Plötzlich trat Grausamkeit in ihren Blick, und als sie sprach, klang ihre Stimme verächtlich. »Das heißt, wenn die Cracker die Nigger umbringen. Wenn sie einen kleinen Nigger wie dich packen, ihm die Eier abschneiden und sie ihm ins Maul stopfen. Das heißt das.«

Mich hatte ihr Ausbruch verblüfft, und Guy war völlig vor den Kopf gestoßen.

Billie war noch nicht fertig. »So läuft das. Das ist eine gottverdammte pastorale Szene.«

Guy schoss uns einen eisigen Blick zu. »Entschuldigt mich, ich gehe jetzt ins Bett.« Er drehte sich um.

Ich stand auf, unter dem Vorwand, ich müsse zur Arbeit, aber Billie hörte weder ihn noch mich.

Oben in Guys Zimmer entschuldigte ich mich für Billies Benehmen. Er lächelte sarkastisch, als hätte ich und nicht Billie ihn so angeblafft, und hielt mir kühl die Wange für meinen Gutenachtkuss hin.

Im Auto versuchte ich Billie zu erklären, was an ihrem Verhalten falsch war, aber sie weigerte sich, es zu verstehen. »Wieso, ich hab doch nicht gelogen«, sagte sie. »So sind die Cracker. Man wird ja wohl noch die Wahrheit sagen dürfen.«

Sie beschloss, nicht ins Hotel gebracht werden zu wollen, sondern mit mir in den Nightclub zu kommen und mich singen zu hören. Jeder Versuch, sie umzustimmen, blieb erfolglos.

Ich nahm sie also mit in den Club, besorgte ihr einen Platz in der ersten Reihe und ging in meine Garderobe.

Jimmy Truitt von der Lester Horton Dance Troupe war schon in voller Montur für die erste Nummer.

»Hey« – Jimmy grinste wie ein Schuljunge – »Billie Holiday sitzt im Publikum, und ihr glaubt es nicht …«

Die anderen Tänzer und Tänzerinnen umringten uns.

»Die große Billie Holiday sitzt in der ersten Reihe, und ein Minihündchen säuft aus ihrem Glas.« Für mich war es inzwischen normal, dass Billie kaum einen Schritt ohne Pepe tat, ich hatte das gar nicht groß bemerkt.

Die Tanztruppe schwärmte aus und legte ein Feuerwerk aus Latin-Rhythmen auf die Bühne. Danach wurde ich angekündigt.

Nach meinem ersten Stück wandte ich mich ans Publikum.

»Ladies and Gentlemen, es ist zwar gegen die Regeln dieses Clubs, Prominente im Publikum zu begrüßen, damit nicht etwa einmal jemand übersehen wird. Aber heute Abend verstoße ich gegen diese Regeln. Es wird Sie sicher alle freuen, dass Miss Billie Holiday hier bei uns ist.«

Das Publikum applaudierte begeistert. Die Leute jubelten, sprangen auf und blickten sich suchend um. Billie stierte mich an, nahm dann Pepe auf den Arm, stand auf, drehte sich zum Publikum und verbeugte sich ein paar Mal huldvoll. Mit unbewegter Miene setzte sie sich wieder.

Mein nächstes Stück war ein alter Blues, den ich immer allein mit Bassbegleitung anfing. Es war ein Klagelied mit einem tragischen Text. Ich sang es mit geschlossenen Augen, als so plötzlich, als würde eine Scheibe zerbersten, Billies Stimme mir dazwischenfuhr.

»Stopft der Bitch das Maul! Stopft es ihr, verdammt! Maul stopfen! Sie klingt ja wie meine gottverdammte Mutter.«

Ich brach ab und sah gerade noch, wie Billie mit Pepe auf dem Arm durch die Menge zur Damentoilette marschierte. Ich bedankte mich beim Publikum, bat den Bandleader weiterzuspielen, und stürzte ihr nach. Zwei Mal am selben Abend hatte die Frau mich brüskiert. Das ließ ich mir nicht gefallen. Sie sollte lernen, dass eine »gottverdammte Spießerin« sich wehren konnte.

Ich hatte die Hand kaum auf dem Drücker, da flog die Tür schon auf und eine weiße Frau mittleren Alters schoss mit kalkweißem Gesicht an mir vorbei.

Ich trat ein. Billie stand vor dem Spiegel und betrachtete sich eingehend. »Hör mal, Billie«, setzte ich an.

Den Blick weiter auf den Spiegel gerichtet, sagte sie: »Ach, ist schon okay mit dem Lied. Du kannst ja nichts dafür. Die meisten Schwarzen Frauen klingen gleich. Außer sie versuchen, wie Weiße zu klingen.« Sie lachte. »Hast du gesehen, wie die olle Schnepfe hier rausgezischt ist?«

»Mir ist eine Frau über den Weg gelaufen, ja.«

»Das war sie. Sie saß auf dem Klo, und als ich die Tür aufmache, keift sie mich an: ›Tür zu!‹ Ich keife zurück: ›Dann sperr sie doch zu, wenn sie zu bleiben soll! Schnepfe.‹ Hinterher kommt sie raus und meint: ›Wow, sind Sie nicht Billie Holiday?‹ Und ich: ›Frag ich dich, wie du heißt? Schnepfe.‹ Ein Bild für die Götter, wie die hier abgezischt ist.« Sie lachte wieder und schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse.

»Die Frau war womöglich ein alter Fan von dir, Billie«, sagte ich.

Sie drehte sich um, Pepe, Handtasche und Jacke fest im Griff. »Vorhin, als du mich vorgestellt hast, weißt du, warum die ganzen Cracker da aufgestanden sind? Weißt du warum?«

»Aus Respekt«, erwiderte ich.

»Quatsch. Mann, bist du naiv. Alle sind sie aufgestanden und haben rumgeglotzt. Und was wollten sie sehen? Eine Schwarze, die schon mal wegen Dope im Knast saß. Und noch eins sag ich dir. Du willst doch berühmt werden, oder?«

Ich gab zu, dass das stimmte.

»Du wirst auch berühmt. Allerdings nicht als Sängerin. Du weißt ja selber, dass du nicht so wahnsinnig gut bist. Aber du wirst trotzdem berühmt. Und deshalb fragst du dich am besten gleich jetzt: ›Wem kann ich dann noch trauen?‹ Die Cracker sind alles Schweine, und die Nigger sind nicht viel besser. Pass einfach auf deinen Sohn auf. Lass ihn nicht aus den Augen und sag ihm immer wieder, dass er der klügste Mensch auf Gottes Erden ist. Vielleicht wird er dich dann später nicht hassen. Denk immer dran, Billie Holiday hat dir gesagt: ›So weit kannst du’s gar nicht bringen, dass dich nicht einer wieder abschießt.‹«

Draußen vor dem Lokal setzte ich sie in ein Taxi. Ein paar Monate später starb sie in einem New Yorker Krankenhaus. Sämtliche Jazz- und Rhythm-and-Blues-Sender im Radio schleimten herum, dass es so eine großartige Künstlerin nicht ein zweites Mal geben wird. Jazzexperten mit einem aufgeblasenen Vokabular schrieben lange und oft dröge Elogen auf die atemberaubend schöne Lady Day, auf ihre Phrasierung und ihr unerhörtes Harmonieverständnis. Ich erinnerte mich mein Leben lang an den Rat einer einsamen, kranken Frau mit einer Klappe wie ein Scheunentor, die einem Zwölfjährigen hübsche Lieder vorsang.

Noch Wochen nach Billies Besuch zeigte Guy mir die kalte Schulter. Keiner von uns beiden erwähnte die Szene, aber er benahm sich, als hätte ich ihn verraten. Ich hatte einer Fremden gestattet, ihn zu beleidigen, ohne ihm beizustehen. Das Schuljahr ging allmählich zu Ende, und als ich ihn fragte, ob er in den Ferien in die Sommerschule, ins Sommerlager oder lieber einfach zu Hause bleiben und in den Canyons herumstreunen wolle, erwiderte er mit der größtmöglichen gelangweilten Distanz, er habe sich noch nicht entschieden.

Es war offensichtlich, dass unser Zusammenleben sich nicht normalisieren würde, bevor er nicht sagen durfte, wo der Schuh drückte.

»Wie fandst du eigentlich Billie Holiday, Guy?«

»Ganz okay.«

»Sonst nichts?«

»Na ja, sie hat ganz schön ordinäre Sachen gesagt. Wenn sie immer so rumflucht, ist es kein Wunder, wenn die Leute sie nicht mögen.«

»Dann mochtest du sie also nicht?«

»Wer so viel flucht, ist doch einfach bescheuert.«

Er gebrauchte schon auch inakzeptable Schimpfwörter, wenn er mit seinem Freund Tony unterwegs war, das hatte ich natürlich mitgekriegt. »Aber du fluchst doch selber manchmal rum, oder?«

»Schon, aber Jungs reden halt so, wenn wir unterwegs sind, oder beim Training. Da sagen wir Sachen, die man nicht sagt, wenn Mädchen dabei sind, aber das ist was anderes.«

Ich hielt es nicht für angebracht, ihm ausgerechnet jetzt einen Vortrag über die Ungerechtigkeit einer solchen Doppelmoral zu halten. Er ging auf sein Zimmer, blieb dann in der Tür stehen und drehte sich nicht einmal um. »Ach ja, und wenn ich groß bin, dann lass ich bestimmt nicht zu, dass ein Gast meine Kinder beleidigt, und wenn er noch so berühmt ist.«

Seine Tür knallte zu.

Der Vorfall hatte meinen Sohn tiefer verletzt, als mir klar gewesen war. Ich dachte mir ein Wiedergutmachungsprogramm aus, um mich mit ihm zu versöhnen. Als Erstes entschuldigte ich mich bei ihm, dann achtete ich ein paar Tage lang streng auf meinen Ton, machte ihm sein Lieblingsessen, ging mit ihm ins Kino und lieferte mir mit ihm knallharte Scrabble-Partien, bis ich zur Arbeit musste. Als er schon auf dem besten Weg war, erhielt ich einen Anruf aus seiner Schule.

»Miss Angelou, ich bin Vertrauenslehrer an der Marvelland School, und wir sind der Meinung, dass Guy im nächsten Jahr nicht mit dem Bus zur Schule kommen sollte.«

»›Wir sind der Meinung‹ … Wer ist ›wir‹ und warum nicht?«

»Der Direktor, einige Lehrerinnen und ich. Wir haben über das, was er getan hat, gesprochen … und sind uns einig –«

»Was er getan hat? Was hat er denn getan?«

»Nun, er hat im Schulbus unflätige Ausdrücke benutzt.«

»Ich komme.«

»Ach, das ist nicht –«

Ich legte auf.

Als ich ins Direktorat marschiert kam und das Empfangskomitee sah, fühlte ich mich fünf Meter groß und Schwarz wie die Nacht. Zwei weiße Frauen und ein mickriges weißes Kerlchen mit schütterem Haar erhoben sich von ihren Stühlen.

Ich wünschte allerseits einen guten Morgen und stellte mich vor.

»Wirklich, Miss Angelou, es wäre nicht nötig gewesen, dass Sie gleich herkommen.«

Das Kerlchen streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin Mr Baker, Guys Vertrauenslehrer, und ich weiß, dass er kein schlechter Junge ist, eigentlich.«

Ich blickte die Frau an, die noch gar nichts gesagt hatte. Am besten ließ ich alle erst einmal reden.

Die andere Frau begann: »Ich unterrichte Englisch, und eine Schülerin berichtete mir heute Morgen von dem Vorfall.«

»Ich wüsste gern, was überhaupt vorgefallen ist.«

Die Englischlehrerin wählte ihre Worte mit Bedacht, als wollte sie jedes einzelne kosten.

»Nach meinem Verständnis hatte sich ein Gespräch über ein gewisses Thema entsponnen. Als der Bus an Ihrer Ecke hielt, stieg Guy zu und beteiligte sich an dem Gespräch. In der Folge führte er das Thema in nicht jugendfreien Details aus. Als der Bus die Schule erreichte, waren einige der Mädchen in Tränen aufgelöst, diese kamen dann zu mir und berichteten mir von Guys Verhalten.«

»Und was hat Guy gesagt? Womit hat er sich entschuldigt?«

Nun brach die zweite Frau ihr Schweigen. »Mit Guy haben wir noch nicht gesprochen. Wir wollten ihn nicht in Verlegenheit bringen.«

»Sie glauben also, wenn jemand einer Sache beschuldigt wird, hat er sie auch begangen? Sie würden ihm glatt das Recht absprechen, den Schulbus zu benutzen, der von meinen Steuern bezahlt wird, ohne seine Seite auch nur anzuhören? Ich möchte Guy sehen. Und zwar sofort. Wie kam ich nur darauf, dass weiße Lehrer einen Schwarzen Jungen fair behandeln könnten. Ich möchte hören, was Guy zu sagen hat, und zwar jetzt.«

Die direkte Konfrontation hatte eine unerwartete Wandlung zur Folge. Die drei Lehrer, die jeder für sich klein und schwach gewirkt hatten, verschmolzen plötzlich zu einer Einheit, drei Körper mit einem einzigen Gehirn. Ihre Mienen versteinerten, die Blicke ebenso.

»Wir unterbrechen Schüler während des Unterrichts nicht, grundsätzlich nicht. Es gibt auch keine Ausnahme, nur weil ein Kind Schwarz ist. Und wir lassen nicht zu, dass ein Schwarzer Junge in Gegenwart unserer Mädchen unflätig wird.«

Die beiden Frauen standen da und bekundeten stumm ihr Einverständnis.

Mr Baker hatte für sie und für Weiße insgesamt gesprochen.

Die Ausweglosigkeit der Situation lag mir wie ein bitterer Geschmack auf der Zunge. Wie sollte ich einem erwachsenen Mann, der als Weißer auf die Welt gekommen war, einen Schwarzen Jugendlichen begreiflich machen? Wie sollten die beiden weißen Frauen eine Schwarze Mutter verstehen, die ihrem Sohn notgedrungen eine gespielte Überheblichkeit mit auf den Weg gegeben hat? Und wenn ich eine Ewigkeit Zeit hätte und die Engelszungen der alten Spirituals, ich könnte sie nicht dazu bringen, die schmerzhaften Momente zu durchleben, in denen ich Guy klarzumachen versuchte, dass seine Hautfarbe kein grausamer Scherz ist, sondern eine kerngesunde Mitgift. Wenn sie wüssten, dass ich meinem Sohn den lieben Gott als eine Art John Henry beschreibe, den Schwarzen Arbeiterhelden, der den Wettbewerb gegen den Dampfhammer gewann, würden sie das nicht für Blasphemie halten? Falls Guy eigensinnig war, dann hatte ich ihm das beigebracht. Falls er, in seinem pubertären Glauben, sich für den gelungensten Repräsentanten der Menschheit hielt, dann hatte er das von mir, und ich brauchte mich dafür nicht zu entschuldigen. Aus dem Radio, der Werbung, den Zeitungen, von Lehrerinnen, Busfahrern und Verkäuferinnen hörte er schließlich jeden Tag in tausenderlei Variationen, dass er aus dem Nichts käme und es zu nichts bringen würde.

»Ich verstehe Sie, Mr Baker. Und jetzt möchte ich Guy sehen.« Mein Ton war ruhig und beherrscht.

»Wenn wir ihn aus dem Unterricht holen, müssen Sie ihn mit nach Hause nehmen. Wir unterbrechen unseren Unterricht nicht, das ist einfach ein Grundsatz.«

»Gut. Ich nehme ihn mit nach Hause.«

»Dann wird das als Fehltag für ihn gezählt. Aber das tut wohl nichts zur Sache.«

»Ich nehme meinen Sohn mit nach Hause, Mr Baker.« Ich musste Guy unbedingt sehen und hören, was er zu sagen hatte. Von dem Gespräch mit den Lehrern war nichts weiter zu erwarten. Er musste auch wieder zurück in diese Schule, aber fürs Erste wollte ich mich vergewissern, dass er nicht noch einen Schlag abbekommen hatte.

»Ich warte draußen auf ihn. Danke.«

Guy kam mit wacher, besorgter Miene ins Auto gesprungen. »Was ist denn los, Mom?«

Ich erzählte ihm von dem Gespräch mit den Lehrern.

Er entspannte sich. »Oh Mann, Mom, und deswegen kommst du extra in die Schule? Das war doch Pipifax. Manche von denen sind einfach so bescheuert. Es ging drum, wo die Babys herkommen. Die haben so unglaublichen Schwachsinn erzählt. Dann habe ich halt das mit Penis, Vagina und Gebärmutter erklärt, so wie das in meinem Buch steht. Und dann flennen ein paar dämliche Mädchen los, bloß weil ich gesagt habe, ihre Väter haben’s ihren Müttern besorgt.« Beim Gedanken an die heulenden Mädchen musste er lachen. »Mehr war nicht. Ich hab doch recht, oder vielleicht nicht?«

»Manchmal ist es klüger, im Stillen recht zu haben.«

Er sah mich mit jugendlichem Argwohn an. »Aber du sagst doch immer, ich soll den Mund aufmachen. Ich soll die Wahrheit sagen, egal, worum’s geht. Und ich hab einfach die Wahrheit gesagt.«

»Ja, mein Schatz. Du hast einfach die Wahrheit gesagt.«

Zwei Tage später lieferte Guy einen Brief bei mir ab, der mich in Rage brachte. Mein Sohn verfügte über hinreichende Intelligenz, war aber nie mehr als ein kompetenter Schüler gewesen. In dem Brief stand dagegen, aufgrund seiner überragenden Leistungen sei er aufgestiegen und würde ab dem nächsten Halbjahr eine andere Schule besuchen.

Die offensichtliche Lüge beleidigte meinen Sohn genauso wie mich; trotzdem hielt ich es für geboten, Guy so schnell wie möglich aus dieser Schule zu holen, denn ich wollte nicht, dass ein bereits voreingenommener Lehrkörper meinen Sohn als Prügelknaben missbrauchte.

Ich sah mich nach einer anderen Schule um und zugleich nach einer anderen Wohnung. Wir brauchten eine Gegend, in der Schwarze Haut nicht als unansehnliche Verirrung der Natur galt.

Das Westlake-Viertel schien mir ideal. Tür an Tür wohnten mexikanische, afroamerikanische, asiatische und weiße Familien in großen alten, charaktervollen Häusern, und Nachbarn hielten beim Rasenmähen oder beim Einkaufen in den alteingesessenen kleinen Läden ein Schwätzchen.

Ich mietete die obere Etage eines zweistöckigen viktorianischen Hauses an, und als Guy die Schwarzen Kinder in unserer neuen Straße sah, freute er sich halb tot. An seiner Reaktion konnte ich ablesen, wie sehr er den Kontakt zu Schwarzen vermisst hatte.

»Mann!« Er war kaum zu bändigen. »Mann! Hier find ich bestimmt sofort Freunde!«

1

Für die nächsten anderthalb Jahre wohnten wir also, bis auf meine gelegentlichen kurzen Engagements als Sängerin in anderen Städten, in Westlake, und Guy fand Anschluss an eine Gruppe von Jugendlichen, die genügend Blödsinn anstellten, um ihren Drang nach Rebellion zu befriedigen, ohne die Toleranz der Nachbarn allzu sehr zu strapazieren.

Ich fing an zu schreiben. Zunächst beschränkte ich mich auf kurze Sketche, dann auf Songtexte, dann wagte ich mich an Erzählungen. Als ich mit John Killens in Verbindung kam, der sich gerade in Hollywood einquartiert hatte, um das Filmskript für seinen Roman Youngblood zu schreiben, erklärte er sich bereit, einen Teil meines »work in progress«, wie er es nannte, in Augenschein zu nehmen. Ich hatte inzwischen sechs selbstgeschriebene Songs bei Liberty Records eingespielt, dachte aber, bevor John seinen kritischen Blick auf meine Geschichten geworfen hatte, nicht im Ernst an eine Karriere als Autorin. Danach dachte ich an nichts anderes mehr. John war der erste Schwarze Autor auf dem Buchmarkt, mit dem ich wirklich in Berührung gekommen war. (James Baldwin hatte ich zwar in den frühen Fünfzigerjahren in Paris einmal getroffen, aber nicht wirklich kennengelernt.) »An deinen Texten muss ein bisschen gefeilt werden. Das ist auch nichts Besonderes, das geht jedem so. Aber Talent hast du, das steht fest«, meinte er. Und schloss an: »Am besten kommst du nach New York, du gehörst eigentlich in die Harlem Writers Guild.« Das war eine etwas verblümte Einladung, aber sie klang verlockend.

Jahre zuvor hatte ich die Sängerin Abbey Lincoln kennengelernt, und während meiner Zeit in Westlake hatten wir uns angefreundet. Inzwischen war sie nach New York gezogen, und jedes Mal, wenn wir telefonierten, schwärmte sie – wenn sie mit dem Schwärmen über ihre große Liebe Max Roach fertig war – von New York. Es sei der absolute Nabel der Welt, der einzig wahre Ort für einen intelligenten Menschen, der etwas aus sich machen will.

Wenn ich nach New York ging, dachte ich mir also, könnte ich doch ganz vielleicht auch meine Nische finden, sie ausbauen und erfolgreich werden.

Dass ich aus Los Angeles wegwollte, hatte nämlich noch einen Grund. Guy, mit dem ich früher so viel Spaß gehabt hatte, entwickelte sich allmählich zu einem hochaufgeschossenen, distanzierten Fremden. Unsere gemütlichen Abende mit Scrabble und Scharade gehörten für ihn uralten Zeiten an. Die Spiele aus der Kindheit fand er einfach nicht mehr spannend. Und wenn er sich an meine Hausregeln hielt, dann demonstrativ gelangweilt – rebellieren wäre einfach zu anstrengend gewesen.

Ich begriff damals nicht sofort, dass die Pubertät ihn heimgesucht und ihren Sack an Ängsten und Unsicherheit über ihm ausgekippt hatte. Mein schmächtiger Teilzeit-Liebhaber, der ganz in der Nähe wohnte, war zu fade und fromm, als dass er mir hätte begreiflich machen können, was mit meinem Sohn los war. Mit seinem Faible für fernöstliche Religionen, Vegetariertum und sexuelle Abstinenz war er für fast nichts zu gebrauchen außer für tiefschürfende Gespräche über den Sinn des Lebens.

Ich rief meine Mutter an, und sie hob nach dem ersten Klingeln ab.

»Hallo?«

»Lady?«

»Ach, hallo, Baby.« Sie sprach so frisch gebügelt wie eine Weiße.

»Ich möchte mich mit dir treffen. Ich ziehe nach New York und weiß nicht, wann ich wieder nach Kalifornien komme. Vielleicht können wir uns irgendwo treffen und ein paar Tage zusammen sein. Ich könnte ein Stück rauffahren, Richtung San Francisco …«

Sie überlegte keine Sekunde. »Natürlich können wir uns treffen, ich würde dich auch so gern sehen, Baby.« Gut eins achtzig groß, mit einem vierzehnjährigen Sohn, und immer noch hieß ich bei ihr Baby. »Wie wär’s mit Fresno? Das ist die halbe Strecke. Wir könnten in das Hotel dort gehen, du hast bestimmt davon gelesen.«

»Ja. Aber nicht, wenn es Ärger gibt. Ich will einfach mit dir zusammen sein.«

»Ärger? Ärger?« Da war sie wieder, die vertraute Schärfe im Ton. »Ich reib mir schon die Hände, Baby, du kennst mich. Das Hotel ist gesetzlich verpflichtet, Schwarze als Gäste zu empfangen. Ich kann vor Gott und fünf weiteren gestandenen Mannsbildern bezeugen, dass meine Tochter und ich Schwarze sind. Wenn sie uns trotzdem nicht reinlassen wollen …« – vor Vorfreude schnappte ihr fast die Stimme über – »tja, dann finden wir schon einen Topf, auf den wir sie setzen können.«

Damit war dieser Teil des Gesprächs beendet. Vivian Baxter witterte eine Konfrontation am Horizont – nichts und niemand würde sie davon wieder abbringen. Ich hätte einfach den Southern Pacific nach San Francisco nehmen und die zwei Tage in ihrem Haus in der Fulton Street verbringen sollen, um dann in Frieden wieder zurückzukehren und meine Sachen für den transkontinentalen Umzug zu packen, aber für diese Erkenntnis war es jetzt zu spät.

In wieder weicherem Ton brachte sie mich in puncto Familienklatsch auf den neuesten Stand und legte ein Datum für unser Treffen fest.

Fresno im Jahr 1959 war eine mittelgroße Stadt mit Palmen und einem dezidiert südstaatlichen Einschlag. Die meisten der weißen Einwohner kamen einem vor wie Nachfahren der Joads aus Steinbecks Früchte des Zorns, und die Schwarzen Bürger waren Farmarbeiter, die einfach die Holperpisten von Arkansas und Mississipi gegen die staubigen Straßen von Mittelkalifornien eingetauscht hatten.

Ich parkte meinen alten Chrysler in einer Seitenstraße und stiefelte mit meinem Köfferchen um die Ecke zum Desert Hotel. Meine Mutter hatte vorgeschlagen, dass wir uns um drei Uhr treffen, was bedeutete, dass sie ab zwei Uhr warten würde.

Die Hotellobby war mit Willkommensbannern für eine Verkäufertagung geschmückt. Unter tiefhängenden Kronleuchtern standen breitschultrige, rotgesichtige Kerle und flachsten mit korpulenten Frauen herum.

Als ich hereinkam, stockte ihnen der Sekt in den Gläsern. Alle Köpfe drehten sich, alle Blicke taxierten mich, erst ungläubig, dann entrüstet. Am liebsten wäre ich ins Auto gesprungen, zurück nach Los Angeles gerast und hätte mich hinter meinen viktorianischen Säulen verkrochen. Stattdessen straffte ich die Schultern, setzte eine gleichgültige Miene auf und trat an den Empfang. Die Uhr dahinter meldete Viertel vor drei. »Guten Tag. Wo ist bitte die Bar?« Ein junger Mann mit kindlichem Gesicht senkte den Blick und deutete hinter mich.

»Danke.«

Die Menge wich auseinander, und ich marschierte durch das Schweigen, in der Gewissheit, dass ich noch vor der rettenden Tür zur Lounge ein Messer in den Rücken oder ein Lasso um den Hals bekommen konnte.

Meine Mutter saß im braunen Samtkostüm und ihrem Dobbs auf dem Kopf an der Bar. Ich stellte mein Köfferchen hinter die Tür und gesellte mich zu ihr.

»Hi Baby«, strahlte sie mich mit blendend weißem Lächeln an. »Du bist aber früh dran.« Womit sie natürlich gerechnet hatte. »Jim?« Ich wiederum hatte damit gerechnet, dass sie den Barkeeper bereits kennengelernt und um den Finger gewickelt hätte. Der Mann grinste pflichtschuldig.

»Jim, das ist mein Baby. Hübsch, was?«

Jim nickte, ohne den Blick von meiner Mutter zu wenden. Sie beugte sich zu mir und drückte mir einen Kuss auf den Mund.

»Mach ihr einen Scotch mit einem Schuss Wasser und dir auch noch einen.«

Als er abwehren wollte, kam sie ihm zuvor. »Keine Widerrede, Jim. Auf einem Bein steht es sich nun mal schlecht.« Sie lächelte ihm zu, und er tat wie geheißen.

»Gut siehst du aus, Baby. Wie war die Fahrt? Hast du noch den alten Chrysler? Hast du die Leute in der Lobby gesehen? Da wird einem ja die Milch sauer, bei den Gesichtern. Wie geht’s Guy? Wieso zieht ihr nach New York? Findet er das gut?«

Jim stellte mir den Whisky hin und prostete mir mit seinem zu.

Meine Mutter hob ebenfalls ihr Glas. »Schau mir in die Augen, Jim.« Und zu mir: »Auf dich, Baby.« Sie lächelte, und mir wurde wieder bewusst, dass sie einfach die schönste Frau der Welt war.

»Danke, Mutter.«

Sie nahm meine Hände und rieb sie zwischen ihren.

»Die sind ja eiskalt. Dabei herrscht hier eine Affenhitze. Alles okay bei dir?«

Meine Mutter hatte vor nichts und niemandem Angst, außer vor Gewittern. Ihr konnte ich doch nicht erzählen, dass ich mit meinen zweiunddreißig Jahren mir wegen der Weißen in der Lobby fast in die Hose gemacht hätte.

»Alles gut, Mutter. Ist wahrscheinlich die Klimaanlage.«

Sie ließ mir die Lüge durchgehen.

»Okay, trinken wir aus und gehen aufs Zimmer. Es gibt eine Menge zu reden.«

Sie nahm die Barzettel, zählte sie durch und holte zwei Dollarscheine heraus.

»Um wie viel Uhr fängst du an, Jim?«

Der Barkeeper drehte sich grinsend zu uns um. »Ich schließe morgens die Bar auf, um elf.«

»Dann mach ich dir den Eintänzer. Scotch mit Wasser, nicht vergessen. Um elf. Das ist für dich.«

»Ach, das ist aber nicht nötig.«

Meine Mutter war vom Barhocker aufgestanden. »Eben. Umso lieber tue ich es. Bis morgen früh.«

Ich nahm mein Köfferchen und trottete ihr nach, raus aus der schummerigen Bar und rein in das Stimmengewirr der Lobby. Wieder ebbte es ab, aber meine Mutter nahm davon keine Notiz. Sie stöckelte durch die Lobby und trat an den Tresen.

»Mrs Vivian Baxter Johnson mit Tochter. Wir haben reserviert.« Trotz diverser Ehen hing meine Mutter an ihrem Mädchennamen; ob gerade verheiratet oder nicht, sie nannte sich einfach gern Vivian Baxter.

Das wirkte. »Und bitte rufen Sie den Pagen. Mein Koffer liegt im Wagen, hier ist der Schlüssel. Stell dein Gepäck da hin, Baby.« Wieder zu dem Mann am Empfang: »Den Koffer meiner Tochter möge er bitte ebenfalls auf unser Zimmer bringen.« Zögernd schob der Hotelangestellte ein Formular über den Tresen. Meine Mutter zückte ihren goldenen Sheaffer und trug uns ein.

»Den Schlüssel, bitte.« Wieder in Zeitlupe schob er meiner Mutter den Schlüssel hin.

»Zwei zehn, zweiter Stock. Danke. Komm, Baby.« Das Hotel hatte erst einen Monat zuvor seine Segregationspolitik aufgegeben, doch meine Mutter tat so, als verkehrte sie hier schon seit Jahren. Rechts von der Anmeldung führte eine geschwungene Treppe nach oben, und vor dem Lift stand ein Grüppchen entgeisterter Tagungsteilnehmer.

»Komm, nehmen wir die Treppe«, sagte ich.

»Wir nehmen den Aufzug«, erwiderte sie und drückte auf den Knopf. Die Wartenden blickten uns an, als hätte allein unsere Gegenwart sie jegliches Wertvollen im Leben beraubt.

Oben trat meine Mutter aus dem Lift, blickte sich kurz um und steuerte nach links auf die Nr. 210 zu. Sie schloss auf, warf ihre Handtasche aufs Bett und trat ans Fenster.

»Setz dich, Baby. Ich sag dir jetzt mal was, und schreib es dir bitte hinter die Ohren.«

Während sie die Vorhänge zurückzog, setzte ich mich auf den erstbesten Stuhl. Ihre Umrisse waren vom Sonnenlicht eingerahmt, ihre Miene war nicht zu deuten.

»Tiere wittern Angst. Sie können sie spüren. Und Menschen sind nun mal Tiere. Zeig nie einem anderen Menschen, dass du Angst hast, nie. Und einer Gruppe von Menschen schon gar nicht. Angst bringt die allerniedrigsten Triebe zum Vorschein. Du warst in dieser Lobby panisch wie ein Karnickel, das habe ich gespürt und diese ganzen Weißen genauso. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte die Meute zum Mob werden können. Aber irgendetwas an mir hat ihnen gesagt, wenn sie einer von uns blöd kommen, können sie sich einen neuen Hintern besorgen, denn was sie von ihrer Mama mitgekriegt haben, blas ich ihnen weg.«

Sie gackerte wie ein junges Mädchen. »Guck mal in meine Handtasche.« Ich klappte die Tasche auf.

»Das Desert Hotel soll sich mal lieber auf die Integration einstellen, sonst hab ich nämlich eine Überraschung parat.«

Unter dem Portemonnaie, halb verdeckt von ihrem Kosmetiktäschchen, lag eine dunkelblaue deutsche Luger.

»Zimmerservice? Hier ist die zwei zehn. Ich hätte gern einen Krug Eiswürfel, zwei Gläser und eine Flasche Teachers Scotch. Danke.«

Der Page hatte unsere Koffer gebracht und wir hatten geduscht und uns umgezogen.

»Den Cocktail nehmen wir hier, zum Abendessen gehen wir dann runter. Aber jetzt reden wir erst mal. Wieso New York? Da warst du doch 52 schon und musstest nach Hause geschickt werden. Wieso glaubst du, da ist jetzt alles anders?«

»Ich habe einen Autor kennengelernt, John Killens. Als ich ihm erzählt habe, dass ich auch schreiben will, hat er mich nach New York eingeladen.«

»Der ist doch Schwarz, oder?« Seit der Scheidung von meinem ersten Mann, einem Griechen, hoffte meine Mutter auf einen afroamerikanischen Schwiegersohn.

»Mutter, er ist verheiratet. Darum geht’s nicht.«

»Umso schlimmer. Neunundneunzig Prozent der verheirateten Männer lassen sich wegen ihrer Freundinnen garantiert nicht scheiden, und das eine Prozent verlässt die neue Frau wegen einer noch neueren Freundin.«

»Ehrlich, darum geht’s nicht. Ich kenne auch schon seine Frau und seine Kinder. Ich gehe nach New York, wohne ein paar Wochen bei ihnen, bis ich eine Wohnung gefunden habe, und dann hole ich Guy nach.«

»Und wo wird der die zwei Wochen wohnen? Nicht allein in dem Riesenhaus. Er ist doch erst vierzehn.«

Wenn ich jetzt erzählen würde, er solle bei dem Mann bleiben, von dem ich mich gerade trennte, würde sie in die Luft gehen. Für Vivian Baxter war ihr gesundes Misstrauen ein Überlebensmechanismus. Nie würde sie einem enttäuschten Liebhaber zutrauen, ihren Enkel fair zu behandeln.

»Ein Freund kümmert sich um ihn. Ist ja nur für zwei Wochen.«

In stiller Übereinkunft dachten wir beide daran, dass sie mich und meinen Bruder zehn Jahre lang in die Obhut meiner Großmutter väterlicherseits gegeben hatte. Wir blickten uns an, sie machte zuerst den Mund auf.

»Du hast recht, es sind nur zwei Wochen. Dann lass dir mal erzählen, was ich so vorhabe. Ich gehe zur See.«

»Aha. Und dann? Springst du rein oder wie?«

»Ich gehe zur Handelsmarine.«

Von weiblichen Seeleuten in der Handelsmarine hatte ich noch nie gehört.

»Als Mitglied der Gewerkschaft der Köche und Stewards zur See.«

»Wieso denn das?« Meine Stimme überschlug sich fast. Sie war ausgebildete OP-Schwester, Immobilienmaklerin, verfügte über eine Lizenz als Friseurin und besaß ein Hotel. Wieso wollte sie ausgerechnet zur See gehen und das raue, wenig glamouröse Matrosenleben auf sich nehmen?

»Weil es hieß, als Schwarze Frau kommt man nicht in die Gewerkschaft. Weißt du, was ich denen erzählt habe?«

Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich es mir ganz gut vorstellen konnte.