Mit jedem Schlag unserer Flügel - Maya Angelou - E-Book

Mit jedem Schlag unserer Flügel E-Book

Maya Angelou

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Beschreibung

Ein Angebot von Malcolm X lockt sie Mitte der Sechziger zurück in ihre Heimat. Maya Angelou soll Seite an Seite mit dem Schwarzen Bürgerrechtler arbeiten. Ihre vier Jahre in Ghana enden, genau wie die Versuche, auf dem afrikanischen Kontinent Versöhnung zu finden. Was nun beginnt, ist der offene Kampf gegen den Rassismus in den Vereinigten Staaten, mit viel zu vielen Opfern: Malcolm X wird erschossen, im Stadtteil Watts im Süden von Los Angeles kosten Ausschreitungen zahlreichen Schwarzen Menschen das Leben, Martin Luther King stirbt bei einem Attentat … Aus nächster Nähe berichtet Maya Angelou von den historischen Rückschlägen und der Gewalt, von der Macht eines menschenverachtenden Systems, bis sie ein zweites Mal in ihrem Leben vor Schmerz fast verstummt. James Baldwin ist es, der ihr Sinn und Zweck und Kraft und Schönheit der Worte in Erinnerung ruft und sie bittet, schreib es alles auf.

Mit jedem Schlag unserer Flügel schließt den Kreis. Maya Angelou beschwört darin die Opfer auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit. Sie bezeugt den Überlebenswillen der Schwarzen Gemeinschaft und feiert die Sprache als Ort der Erlösung.

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Seitenzahl: 185

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Cover

Titel

Maya Angelou

Mit jedem Schlag unserer Flügel

Aus dem amerikanischen Englisch von Marieke Heimburger

Suhrkamp

Impressum

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel A Song Flung Up to Heaven bei Random House, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5375.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2002 by Maya Angelou

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfoto: mauritius images/Irwin Photographics/Alamy/Alamy Stock Photos

eISBN 978-3-518-77774-9

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Mit jedem Schlag unserer Flügel

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Informationen zum Buch

Mit jedem Schlag unserer Flügel

Mit jedem Schlag unserer Flügel

Für Caylin Nicole Johnson Brandon Bailey Johnson und meine ganze Familie wo immer und wer immer ihr seid

1

The old ark’s a-movering a-movering a-movering the old ark’s a-movering and I’m going home.

Amerikanisches Spiritual über die Arche Noah aus dem 19. Jahrhundert

Die alte Arche war ein Düsenjet der PanAm, und ich kehrte darin zurück in die Vereinigten Staaten. Der Jet war in Johannesburg gestartet und nahm bei seiner Zwischenlandung in Accra, Ghana, weitere Fluggäste auf.

In traditioneller westafrikanischer Kleidung ging ich an Bord und fühlte mich sofort und zum ersten Mal seit Jahren deplatziert. Mich beschlich ein Unbehagen, noch bevor ich meinen Sitz ganz hinten im Flugzeug erreichte. Die ersten paar Minuten vertrieb ich mir damit, meine Taschen, Souvenirs, Geschenke zu sortieren. Als ich endlich auf dem schmalen Sitz Platz nahm, sah ich mich um und wusste sofort, woher dieses Unbehagen kam. Ich war von mehr Weißen umgeben, als ich in den letzten vier Jahren zusammengenommen gesehen hatte. Es war mir in dieser Zeit nicht weiter aufgefallen, schließlich gab es an meinem Arbeitsplatz, der Universität, durchaus europäische, kanadische und weiße amerikanische Dozenten. Roger und Jean Denoud, die für die Vereinten Nationen arbeiteten, waren enge Freunde von mir geworden und hatten mir dabei geholfen, meinen jugendlichen Sohn großzuziehen – oder vielmehr zu bändigen. Meine Verstörung rührte also nicht daher, weiße Gesichter zu sehen, sondern daher, so viele davon auf einmal zu sehen.

Die nächsten sieben Stunden dachte ich nach über das Leben, das ich hinter mir ließ, und die Verhältnisse, in die ich zurückkehrte. Mir ging durch den Kopf, wie unterschiedlich sie waren, die Gesichter, von denen ich mich gerade mit Umarmung verabschiedet hatte, und jene hier an Bord, die mich und andere in Accra zugestiegene Schwarze verächtlich oder regelrecht angewidert ansahen. Ich dachte an meinen wilden neunzehnjährigen Sohn, den ich nun einer befreundeten ghanaischen Familie überließ. Genau wie dem wachsamen Auge und, so hoffte ich, der liebevollen Fürsorge Gottes, der einzigen Macht, die meinen Sohn in Schach halten konnte.

Ich dachte auch nach über das politische Klima, das ich verließ. Alle wussten, dass sich in diesen Tagen regierungsfeindliche Kräfte zusammenschlossen, um das Regime von Kwame Nkrumah, Ghanas kontroversem, hoch verehrtem, aber auch zutiefst verhasstem Präsidenten zu stürzen. Die Atmosphäre war schwanger von Beschuldigungen, Bedrohungen, Angst, Schuld, Gier und Willkür. Immerhin waren hier alle sichtbaren Beteiligten Schwarz, im Gegensatz zu der Bevölkerung des Landes, in das ich zurückkehrte. Mir war klar, dass es in den Vereinigten Staaten nicht weniger turbulent zuging als in Ghana. Wenn ich Briefen und Zeitungen aus der ganzen Welt glauben durfte, dann tobten überall Unruhen und Chaos. Überall im Land riefen Schwarze »Burn, Baby, Burn« – »Brenn, Baby, brenn!« – und veranstalteten keine Sitzstreiks und Demos mehr, sondern plünderten Läden und zündeten sie an.

Malcolm X hatte bei seinem letzten Besuch in Accra von seinem Wunsch erzählt, eine Organisation namens African-American Unity zu gründen. Er wollte die Not der Afroamerikaner den Vereinten Nationen vortragen und den Weltrat bitten, sich für die Schwarzen in Bedrängnis einzusetzen. Die Idee war bei der afroamerikanischen Community in Accra so gut angekommen, dass ich zu dem Schluss kam, in die Staaten zurückzukehren, um beim Aufbau dieser Organisation zu helfen. Auch andere in Ghana lebende und arbeitende Afroamerikaner wie Alice Windom und Vickie Garvin, Sylvia Boone und Julian Mayfield erklärten sich sofort bereit, die Sache zu unterstützen. Kaum hatte ich meine Freunde, Kumpels, Kameraden über meinen Plan informiert, nach Amerika zurückzukehren, um mit Malcolm zusammenzuarbeiten, behandelten sie mich auf einmal, als sei ich etwas ganz Besonderes. Sie redeten nicht mehr so laut, wenn ich in der Nähe war, klopften mir nicht mehr auf den Rücken, wenn sie lachten, und wiesen mich nicht auf meine Schwächen hin. Ich war in ihrem Ansehen ein ganzes Stück gewachsen.

Wir alle lasen Malcolms letzten Brief an mich.

Liebe Maya,

ich war richtig schockiert und gleichzeitig überrascht, als dein Brief kam, aber ich habe mich auch gefreut, weil ich nur zwei Monate auf ihn warten musste, statt wie beim letzten fast ein Jahr. Wie du siehst, habe ich meinen Humor nicht verloren. (grins)

Du hast sicher Recht, wenn du sagst, dass wir uns zu oft einer Sprache bedienen, die den meisten zu hoch ist und die sie darum nicht erreicht, und dass wir über die Köpfe der Massen hinwegreden. Du kannst kommunizieren, weil du so viel (Seele) hast und immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehst.

Anbei ein paar Artikel, mit deren Hilfe du dir eine Vorstellung davon machen kannst, was ich hier täglich erlebe, dann wirst du besser verstehen, warum es manchmal so lange dauert, bis ich dir schreibe. Es freut mich zu hören, dass du dieses Jahr womöglich herkommst. Du schreibst wunderbare Texte und bist eine wunderbare Frau. Du weißt, dass ich jederzeit alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dir behilflich zu sein, also bitte keine falsche Bescheidenheit.

Gezeichnet

Dein Bruder Malcolm

Ich sah mich unter den südafrikanischen Gesichtern im Flugzeug um und dachte an Vus Make, meinen letzten Ehemann, von dem ich mich getrennt hatte. Er und die Mitglieder des Pan-Afrikanischen Kongresses sowie Oliver Tambo, der stellvertretende Präsident des African National Congress, glaubten wirklich, dass sie bei den apartheidsverliebten Buren einen Sinneswandel herbeiführen könnten, auf den eine Verhaltensänderung folgen würde. In den frühen Sechzigern nannte ich sie Phantasten. Wenn ich an Robert Sobukwe dachte, den Leiter des Pan-Afrikanischen Kongresses, der mehrere Jahre im Gefängnis verbracht hatte, und Nelson Mandela, der vor Kurzem festgenommen worden war, dann konnte ich mir nichts anderes vorstellen, als dass sie den Rest ihres Lebens von der Welt isoliert hinter Schloss und Riegel verbringen würden. Ich dachte, diese beiden Männer würden trotz der Leidenschaft, mit der sie ihre vollkommen berechtigte Sache betrieben, nichts weiter werden als Fußnoten auf einer Seite im Geschichtsbuch der Welt.

Angesichts der sich nun abzeichnenden Entwicklungen hatte ich ein klein wenig Mitleid mit den Buren und gratulierte mir und allen anderen Afroamerikanern zu unserer Courage. Die Begeisterung, die mein Volk unter Malcolms Führung zeigte, würde uns dabei helfen, unser Land ein für alle Mal vom Rassismus zu befreien. Die Afrikaner in Südafrika sagten oft, Martin Luther King jr. und der Busboykott von Montgomery 1958 hätten sie inspiriert. Wir aber wollten ihnen etwas Neues liefern, etwas Visionäres, zu dem sie aufsehen konnten. Wenn wir uns selbst und unser Land erst vom Hass befreit hätten, würden sie sich anschauen können, wie wir das gemacht haben, sich ein Beispiel an uns nehmen und in ihrem Land genauso die Glocken der Freiheit läuten lassen wie wir in unserem.

Süße Zukunftsträume dämpften den heftigen Schmerz darüber, sowohl meinen Sohn als auch den anderen wichtigen Mann in meinem Leben zu verlassen. Guy würde im Laufe der Zeit schon erwachsen und zu einem anständigen Kerl werden, aber mein Romeo würde nie in meine Welt passen und ich nie in seine.

Er war ein mächtiger Westafrikaner, wie ein Hurrikan kam er in mein Leben getobt. Er entwurzelte meine sorgsam gehegten Ansichten und warf meine tiefsten Überzeugungen in Sachen Anstand über den Haufen.

Ich war schon oft verliebt gewesen, bevor ich ihn kennenlernte, aber ich hatte mich noch nie jemandem vollkommen ergeben. Ich hatte mein Wort und meinen Körper gegeben, aber nie meine Seele. Der Afrikaner war es gewohnt, dass man ihm gehorchte, und er bestand darauf, mich komplett für sich zu haben. Er erfüllte mich so sehr, dass ich nicht in der Lage – oder zumindest nicht willens – war, mich ihm zu widersetzen.

Einen Monat, nachdem ich meine Selbstbestimmung und mein Leben in die Hände eines anderen gegeben hatte, wurde mir bewusst, dass ich einen riesigen Fehler begangen hatte. Wenn ich Huhn wollte, wollte er Lamm, und ich fügte mich. Wenn ich Reis wollte, wollte er Yamwurzeln, und ich fügte mich. Er sagte, ich müsse mich allem beugen, was er wollte, und ich fügte mich. Wenn mir nach Freunden war, er aber mit mir allein sein wollte, fügte ich mich.

Die Enge seiner Umarmung bekam ich zu spüren, als ich zum ersten Mal noch aufbleiben und lesen, er aber ins Bett gehen wollte.

Wo er, wie er hinzufügte, mich brauchte.

Ich fügte mich.

Aber ich dachte: Er brauchte mich? Brauchte mich wie eine zusätzliche Decke? Wie die Klimaanlage? Wie etwas mehr Pfeffer in der Suppe? Es behagte mir nicht, als Ding betrachtet zu werden, musste aber zugeben, dass ich die Situation selbst zuließ und keinen Grund hatte, mich über irgendjemanden außer mich selbst zu ärgern.

Jedes Mal, wenn ich zugunsten seines Lamms auf mein Huhn verzichtete, aß ich weniger. Wenn ich auf einen Abend mit Freunden verzichtete, genoss ich seine Gegenwart weniger. Und wenn ich ihm folgte und mein Buch auf dem Tisch liegen ließ, war auch meine Lust auf das Schlafzimmer jedes Mal geringer.

»Ihr Amerikaner seid so stur, dumm und verrückt. Warum habt ihr Präsident Kennedy ermordet?« Er hörte nicht, wie ich sagte: »Ich habe den Präsidenten nicht ermordet.«

Meine Rückkehr in die Vereinigten Staaten kam zu einem sehr günstigen Zeitpunkt. Ich konnte meinen Sohn den Hürden seiner Mannwerdung überlassen; ich würde meine große, verzehrende Liebe zu seinen gehorsamen Untertanen zurückkehren lassen; und ich würde wieder mit Malcolm X arbeiten und die Organization of African-American Unity aufbauen.

Als wir in New York landeten, hatte ich meine schmähenden Gedanken zu den weißen Rassisten an Bord wieder verworfen und sogar ein klein wenig Mitleid mit ihnen bekommen.

Was mich traurig stimmte, war ihre geistige Unreife. Eines war sicher: Sobald wir Schwarzen Amerikaner unser Land auf Spur hatten, würden die Xhosas, die Zulus, die Matabeles, die Shonas und andere im südlichen Afrika die Weißen aus der finsteren Ignoranz ins gleißende Licht der Erkenntnis führen.

Die Geräusche am Flughafen überraschten mich. In Afrika war es oft laut, viele Sprachen wurden durcheinander gesprochen, Kinder weinten, Trommeln dröhnten. Doch am New Yorker Flughafen Idlewild dominierte mit herrischer Penetranz vor allem eines: Geschrei. Es wurde gerufen und befohlen, gebrüllt, beschworen und gefordert, Hupen plärrten und Stimmen dröhnten. Ich suchte mir eine Wand, an die ich mich anlehnen konnte. Vier Jahre lang war ich weg gewesen von dieser Kakophonie, jetzt war ich wieder zu Hause.

Als ich mich gesammelt hatte, suchte ich mir eine Telefonzelle.

Mir war klar, dass ich noch nicht bereit war für New Yorks heftige Energie, aber jetzt musste ich das erst einmal meinen New Yorker Freunden vermitteln. Ich hatte Rosa Guy, meiner mich stets unterstützenden schwesterlichen Freundin geschrieben, und sie erwartete mich. Und ich musste Abbey Lincoln anrufen, die Jazzsängerin, sowie ihren Mann, Max Roach, den Jazzdrummer, die mir ein Zimmer in ihrer Wohnung an der Columbus Avenue angeboten hatten, das ich dankend ablehnte. Vor allem aber musste ich mit Malcolm sprechen.

Seine Telefonstimme überraschte mich. Mir ging auf, dass ich noch nie mit ihm telefoniert hatte.

»Maya, endlich bist du hier. Wie war die Reise?« Seine Stimme klang höher als erwartet.

»Gut.«

»Bleib einfach am Flughafen, ich hole dich ab. Ich fahre sofort los.«

Ich unterbrach ihn. »Ich fliege direkt weiter nach San Francisco. Mein Flug geht gleich.«

»Ich dachte, du wolltest hier in New York mit uns arbeiten.«

»In einem Monat bin ich zurück ...« Ich erklärte, dass ich etwas Zeit mit meiner Mutter und meinem Bruder Bailey brauchte, bis ich mich wieder daran gewöhnt hatte, in Amerika zu sein.

Malcolm sagte: »Ich musste meinen Wagen im Holland-Tunnel stehen lassen. Da war jemand hinter mir her. Ich bin bei einem Weißen ins Auto gesprungen, der wurde ganz panisch. Ich hab ihm erklärt, wer ich bin, dann hat er gesagt: ›Ducken Sie sich, ich bringe Sie hier raus.‹ Glaubst du das, Maya?«

Ich sagte ja, aber es fiel mir schwer. »Ich rufe dich nächste Woche an, wenn ich richtig angekommen bin.«

Malcolm sagte: »Aber erst muss ich dir von Betty und den Mädchen erzählen.« Sofort erinnerte ich mich an die langen Nächte in Ghana, in denen unser Grüppchen ihm dabei zuhörte, wie er vom Kampf erzählte, von Rassismus, politischen Strategien und sozialen Unruhen – und von Betty. Seine Stimme nahm dabei einen weicheren Klang an und eine neue Melodie. Er erzählte uns, wie wahnsinnig intelligent sie war, wie schön, wie geistreich. Was für eine großartige Mutter und mutige, liebende Ehefrau.

Malcolm sagte: »Sie bereitet gerade ein wunderbares Abendessen vor. Du weißt, sie ist schön und schwanger. Also ganz schön schwanger.« Er lachte über seinen eigenen Witz.

Ich sagte: »Bitte grüß sie von mir. Ich muss mich beeilen, mein Flug. Ich melde mich nächste Woche.«

»Alles klar. Guten Flug.«

Ich rief auch noch schnell Max Roach und Abbey Lincoln an, um ihnen zu sagen, dass ich wieder da war. Auch sie boten mir an, mich vom Flughafen abzuholen, aber ich sagte, ich würde sie nächste Woche aus San Francisco anrufen.

Rosa Guy hörte sich meine Erklärung an und hatte Verständnis. Das Gespräch war sehr kurz.

Ich überlegte, James Baldwin anzurufen, der mir ein enger Freund geworden war. Wir hatten uns in den 1950ern in Paris kennengelernt, wo er schrieb und ich die Solotänzerin in der Oper Porgy and Bess war. Als ich 1960 in New York lebte, kamen wir uns näher. Jimmy war sehr vertraut mit dem Werk von Jean Genet, und als ich in Genets The Blacks die Weiße Königin spielte, half er mir an langen Abenden dabei, in die Rolle zu finden. Ich rief ihn dann doch nicht an, weil ich wusste, dass er mich dazu überreden würde, wenigstens einen Tag in New York zu bleiben. Seine zarte Statur, sein Humor und seine Liebe zu mir erinnerten mich so sehr an meinen Bruder Bailey, dass ich ihm nie ganz widerstehen konnte.

2

Meine Mutter erwartete mich am Flughafen von San Francisco. Sie war kleiner und hübscher, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie gab mir einen Kuss: »Sag den skycaps, wie deine Koffer aussehen, dann bringen sie sie zum Auto.« Die Gepäckträger hatten nur Augen für meine Mutter. Sie tänzelten Aufmerksamkeit heischend um sie herum wie ein männliches Ballettensemble um die Primaballerina, aber sie schien das gar nicht zu bemerken. Mutter eilte mit mir zum Auto, und mein Herz hüpfte, denn auf der Rückbank saß Bailey. Er war extra aus Hawaii gekommen, um mich zu sehen, und fing sofort an zu reden und Fragen zu stellen.

Mutter sagte: »Sie ist hübscher geworden. Du bist eine schöne Frau, Baby.«

Bailey sagte: »Ja, aber gutes Aussehen liegt bei uns ja in der Familie. Dafür kann sie doch gar nichts. Erzähl mir von Guy.«

Mutter sagte: »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass du zurückgekommen bist, um mit Malcolm X in irgendeiner neuen Organisation zu arbeiten. Ich will hoffen, dass das nicht stimmt. Das will ich schwer hoffen.« Sie hielt inne, dann fuhr sie fort: »Wenn du meinst, das tun zu müssen – unbezahlt zu arbeiten –, dann geh zurück zu Martin Luther King. Der versucht wirklich, uns Schwarzen zu helfen. Malcolm X ist ein Scharfmacher.«

Mir blieb die Luft weg, ich konnte nicht atmen. Genauso plötzlich war wieder Luft da, und als ich gerade etwas erwidern wollte, berührte Bailey mich an der Schulter, und ich drehte mich zu ihm um. Er sah mich ernst an und schüttelte den Kopf. Ich hielt die Klappe.

Mein Bruder war zwar keine zwei Jahre älter als ich und gerade mal eins fünfundsechzig groß, aber solange ich mich erinnern konnte, war er mein Berater und Beschützer gewesen. Als wir drei und fünf waren, trennten unsere Eltern sich. Sie schickten uns ohne jede Begleitung von Kalifornien zu unserer Großmutter väterlicherseits in Stamps, einem Kaff in Arkansas. Da die Erwachsenen dort alle Fremde für uns waren, wurde Bailey das Oberhaupt einer Familie, die nur aus mir und ihm bestand. Er lernte schneller als ich, und er brachte mir bei, was ich tun sollte und wie.

Als ich sieben war, tauchte unser schmucker kalifornischer Vater in der staubigen Stadt auf. Nachdem er sämtliche Leute, einschließlich seiner Mutter, seines Bruders und seiner Kinder, mächtig geblendet hatte, brachte er Bailey und mich nach St. Louis, Missouri, wohin unsere Mutter nach der Scheidung zurückgekehrt war und wo wir fortan leben sollten. Es ging ihm dabei nicht so sehr darum, dass wir ein besseres Leben haben sollten, sondern darum, dem Leben, das meine hübsche Mutter als Single führte, ein Ende zu bereiten.

Meine Großmutter packte uns mitsamt einem Schuhkarton Fried Chicken in das Auto meines Vaters und weinte, als sie uns zum Abschied nachwinkte. Mein Vater fuhr praktisch ohne Pause durch, bis er uns in St. Louis meiner Mutter übergab.

Die ersten Monate waren wir fasziniert von der exotischen Familie aus dem Norden. Unsere Großmutter mütterlicherseits sah weiß aus und sprach mit deutschem Akzent. Unser Großvater war Schwarz und sprach mit trinidadischem Akzent. Ihre vier Söhne stolzierten ein und aus wie Halbstarke aus einem Film.

Wir staunten über das, was sie aßen. Es gab Leberwurst und Salami, was wir beides noch nie gesehen hatten. Ihr geschnittenes Brot war weiß und in fettiges, schmieriges Wachspapier verpackt, und nachdem wir immer nur hausgemachtes Eis gegessen hatten, glaubten wir nun, es gäbe nichts Besseres als bunte Scheiben von einem gefrorenen Dessert in Backstein-Form. Wir fanden es großartig, Großstadtkinder zu sein, bis der Freund meiner Mutter mich vergewaltigte. Es kostete einiges an Überredung (der Mann hatte gedroht, meinen Bruder zu töten, falls ich irgendjemandem davon erzählte), bis ich Bailey davon erzählte, der der Familie davon erzählte. Der Mann wurde festgenommen, verbrachte eine Nacht im Gefängnis, wurde wieder freigelassen und drei Tage später tot aufgefunden.

Die Polizisten, die meine Großmutter in meinem Beisein über den Tod des Mannes informierten, sagten, er sei zu Tode getreten worden.

Das verschlug mir die Sprache. Ich dachte, ich hätte mit dem Brechen meines Schweigens, mit meiner Stimme diesen Mann getötet, und darum stellte ich das Sprechen ein, und Bailey wurde zu meinem Schatten, wie bei einem Spiel. Wenn ich links abbog, bog er auch links ab; wenn ich mich setzte, setzte er sich auch. Er ließ mich kaum mehr aus den Augen. Die große, wilde Großstadtfamilie versuchte, mich aus meinem sturen Schweigen zu locken, doch da ich mich weiter weigerte, zu sprechen, wurden Bailey und ich beide zurück nach Arkansas geschickt. In den nächsten sechs Jahren war mein Bruder der einzige Mensch, vor dem ich meine Stimme aus dem Versteck ließ. Ich dachte, meine Stimme sei so giftig, dass ich damit Menschen töten könnte. Ich sprach nur selten mit Bailey und manchmal völlig unverständlich, aber ich glaubte, weil ich ihn so sehr liebte, würde meine Stimme ihm nichts anhaben können.

Dann zogen wir wieder zu unserer Mutter, die nach Kalifornien zurückgekehrt war. Und unsere Leben begannen, sich unterschiedlich zu entwickeln. So, wie Bailey früher meinen Schatten gespielt hatte, setzte er nun alles daran, immer das Gegenteil von dem zu tun, was ich machte. Ich ging zur Schule, er schwänzte. Ich lehnte Drogen ab, er wollte damit experimentieren. Ich wollte zu Hause bleiben, er ging zur Handelsmarine. Doch trotz all dieser unterschiedlichen Wege und Gewohnheiten habe ich nie mein absolutes Vertrauen in Bailey verloren.

Als ich jetzt im Auto meiner Mutter saß und den Lichtern der Großstadt und den Angriffen meiner Mutter auf Malcolm ausgesetzt war, blieb ich friedlich, weil Bailey es mir riet und weil ich wusste, dass er am Ende Recht haben würde.

Das Haus meiner Mutter in der Fulton Street, eine viktorianische Villa, sah noch ganz genauso aus wie vor vier Jahren, als ich nach Afrika aufbrach. Meine Mutter hatte neue Teppiche gekauft oder ein paar Möbel ausgetauscht, aber das Licht fiel immer noch grell durch die hohen Fenster herein, und in der Luft hing noch immer die Mischung aus ihrem Tweed-Parfum und dem Geruch von Gas, das irgendwo leise entwich.

Ich sollte meine Taschen in mein altes Zimmer bringen und mich dann zu Mutter und Bailey in die riesige Küche setzen, um gebührend willkommen geheißen zu werden.

Mutter erzählte pikante Geschichten, und Bailey beehrte mich mit hawaiischen Liedern und seiner Interpretation eines typischen Insel-Bauchtanzes. Mutter holte ein Rezept für Jollof-Reis hervor, das ich ihr aus Ghana geschickt hatte. Sie faltete den Brief auseinander und las: »Etwa ein Pfund Reis kochen, zwei bis drei Zwiebeln in nicht zu viel Öl eine Weile anbraten, dann drei, vier oder fünf Tomaten von passender Größe hinzugeben ...«

An der Stelle fing Bailey laut an zu lachen. Er arbeitete als Koch in einem schicken hawaiischen Hotel. Die ungefähren Angaben zu Zutaten und Zubereitungszeit amüsierten ihn.