ich - Sarah Michaela Orlovský - E-Book

Beschreibung

Kann jemand eine Schublade für mich erfinden? Nono (Veronika) ist gerade 15, als ihre Mutter noch einmal schwanger wird. Und angesichts dessen, was da in Mamas Bauch schwimmt, sieht sich die ich-Erzählerin ziemlich unter Druck gesetzt. Erstens: Da kommt vielleicht genau das Kind nach, das sich Mama immer gewünscht hat, ein liebes, süßes Gugugaga-Baby. Aber Nono weiß auch: Das Baby und sie müssen zusammenhalten. Denn von wem soll der/die/das Kleine sonst etwas über die Welt lernen? Daher zweitens: Nono muss dringend herausfinden, wer sie eigentlich ist. Zur Verfügung stehen ihr dazu 200 Notizheft-Seiten, lange Sommerferien zuhause, ein beginnendes Schuljahr und die fixe Idee, über ein bestimmtes Outfit zu ihrem wahren ich finden zu können. Auch in ihrem zweiten Jugendroman beweist Sarah Orlovský ihr großes Gespür für die Sorgen und Sehnsüchte von Jugendlichen. Gemeinsam mit ihrer Protagonistin macht sie sich auf die Suche nach den (vermeintlichen) Versatzstücken menschlicher Identität. Entstanden ist dabei eine beeindruckende Collage sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten: tagebuchartige Einträge, Kurznotizen, Listen, Lexikonartikel, Gedichte und Hashtag-Kommentare, kombiniert mit Zeichnungen und Skizzen von Ulrike Möltgen. Ein rasanter Jugendroman voller Offenheit, Witz und Warmherzigkeit

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Wir danken der Kulturabteilung der Stadt Wien

für die freundliche Unterstützung.

2017

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung:Ulrike Möltgen und Nele Steinborn

Satz- und Layoutgestaltung:Nele Steinborn, Wien

Illustrationen:© Ulrike Möltgen - vermittelt durch

Agentur Susanne Koppe, www.auserlesen-ausgezeichnet.de

Handschrift:Eleni Steinborn, Wien

Schriften:DTL Documenta

Druck und Bindung:FINIDR, Tschechien

ISBN978-3-7022-3640-3 (gedrucktes Buch)

ISBN978-3-7022-3652-6 (E-Book)

E-Mail:[email protected]

Internet:www.tyrolia-verlag.at

ich

#wasimmerdasauchheißenmag

Sarah Michaela Orlovskýmit Bildern von Ulrike Möltgen

Inhalt

Freundschafts???!buch

Nono

Alternatives Freundschaftsbuch

Pilottest

Erbärmlich

Streifentest

Schwester sein

Urlaub

Mitbringsel

Staycation

I’m a tourist, baby, so why don’t you kill me

#habefertig

Postkarte von Verli

Nachricht von Jarik

NONOs Sommerblues

Badeunfall

Krise

NONOTIZ, von Nono an Nono

Möglichkeiten

Wirklichkeiten

Urlaubsfotos

Ausnahme

Kontraste

Kunstprojekt

PROJEKTNAMEN

Postkarte von Verli

Sonnenklar

Schwangerschaftshormone

Online-Kunst

2 Stunden später

Family Guy

VERFÜGUNG

Nachricht von Jarik

Nachricht von Jarik

Wie wir unser Leben meistern

Wankelmut

Wildwald

Waldfee und Jordan

Waldwild

Post

Jo-Jo-Effekt, der

Dreadlock, the

dread (drěd)

Dreadful dreads

Gleich und gleich

Nachricht von Jarik

Daheim geht

Namenlos

Zauberaus

ANNONCE

Hormonrauschkauf

Freiwillig

Suchtmond

Schulanfang, 1. Akt

Der Code

Verkleidungstag

The show must go on

Mamas Style

Designer Outfit

Prinzessinnen-Blues

Wäscherei

Postkarte

Sechs Wörter

Englisch-Vokabel

Skating is a way of life

See you later, alliskater

Freestyle

Re-Tour

Queen of Buchweizen

Tag #14

Siebhirn

Gotischer Schick

Aus dem Insider-Wortschatz der 5B

„Wall of Fetzen“ Trauerspiel in einem Aktenkoffer

Babykleidung

Frame it, digga

Wanted: Spürhund

Fight the Fetzenwind

Augen zu und querfeldein

Out-Fit

Sport ist Mord – also modisch gesehen

Schwangerschaftsstreifen

Durchfallproblem

Kletterpflanze

Aus zweiter Hand

Angebot und Nachfrage

Ladybird

SOKO Deko

Baustelle 2

Mädels schauen

Baustelle 4

Nachspiel

Derweilen, hinter den Kulissen, in der Künstlergarderobe

Wellness

Aufräumen

Das perfekte Outfit

Kismet

Ich packe in meinen Koffer

Kliniktasche

Kaiser, König, Bettelmann

Bond-Girl

MAMA

Geburts-Tag

Klebt

Eigentlich wollte ich dieses Heft für den Schulanfang aufheben. Gestern habe ich es von Verli bekommen. Quasi als Abschiedsgeschenk, weil Verli auf Sprachferien nach Florida muss. Die gesamten Ferien. Das muss man sich mal vorstellen: Wie genial ist unser Schulsystem, wenn Eltern ihr Kind aus Angst vor einem Hauptfach für zwei Monate ins Ausland schicken? Florida. Ausgerechnet. Ich würde mein Geld an ihrer Stelle ja gewinnbringender anlegen. Na ja. Verli sei es vergönnt. Hoffentlich spricht ihr Ferien-Flirt grammatikalisch korrekt. Auf jeden Fall, danke fürs Geschenk. 200 Seiten, geniales Format, grau kariert. Hier wollten Verli und ich alles dokumentieren, was wir in der Oberstufe so anstellen. Jetzt brauche ich das Heft aber schon am Anfang der Sommerferien. (200 Seiten wären höchstwahrscheinlich sowieso zu wenig für die gesammelten Abenteuer der weltgenialsten Klasse. Ich besorge uns für die Schule gleich ein richtig fettes Teil, irgendein Registrierbuch für Hotels oder so, da können wir uns dann so richtig austoben. Und ich schreibe alles, alles mit. Die gesammelten Werke der 5B.)

Freundschafts???!buch

Heute war dieses Mädchen da. Das kleine rothaarige, das aussieht wie eine extrem schüchterne Version von Pippi Langstrumpf. Der Rotschopf macht wohl grad bei den seltsamen Schrebergarten-Pensionisten am Ende der Straße Urlaub. Ich glaube, das sind ihre Großeltern. Oder sie haben die Kleine entführt, wie in dem einen Film da – wo sie dann mit dem Campingbus unterwegs sind und am Ende fackelt das Mädchen den Bus samt ihren Entführern ab … Dafür sah Miss Feuerhaar aber irgendwie doch nicht verängstigt genug aus. Sie heißt Lilli, hat sie gesagt, und sie kommt schon in die zweite Klasse Volksschule. Sie hat mir ihr Freundschaftsbuch gegeben. Ich darf es aus-nahms-wei-se über Nacht haben und bis morgen Früh ausfüllen. Dreingeschaut hat sie ja, als würde sie mir die Kronjuwelen von Tadschikistan anvertrauen oder so.

Das Buch ist noch komplett leer. Ich bin die Erste, die reinschreibt. Die ERSTE. Tragisch irgendwie. Ich kann für das arme Kind nur hoffen, dass sie das Buch grade erst von Oma und Opa Schrebergärtner bekommen hat. (Das wäre dann ein Argument gegen die Entführer-Theorie. Kein Kidnapper der Welt ist so blöd und schenkt seiner Geisel ein Buch, in das sie am Anfang ihren richtigen Namen und ihre Adresse schreiben muss, um es dann anderen Leuten aufzuzwingen, die ebenfalls was reinschreiben sollen.)

Also: Ich habe mich echt bemüht. Für Lilli. Für diese riesigen rotbraunen Hundeaugen über der Zahnlücke. Für ihren Glauben an die Spontan-Freundschaftisierung über Gartenzäune hinweg. Mindestens zehn Minuten bin ich dagesessen, den Stift im Mund, und habe nachgedacht. Das müsste doch auch ohne Grübeln gehen, denkt sich mein Zeitspar-Ich. Du hast ja in deinem Leben schon genug solcher Freundschaftsbücher ausgefüllt. Da geht es doch nicht einmal darum, WAS du hinschreibst. Das ist mehr so ein Sehen-und-gesehen-Werden, ein Schau-mal-ich-bin-auch-da, ein Das-alles-sind-meine-Freunde-also-bin-ich-kein-Loser-dessen-Leben-den-Bach-runtergehen-wird.

#ichgehördazu-unddu?

Aber ich bin eben nicht mehr in der Volksschule. Ich weiß, dass ich kein Loser bin, und ich brauche kein Buch mehr, um mir meiner Freunde sicher zu sein. Warum ich die blöden Fragen dann nicht einfach trotzdem ausfüllen kann, so nullachtfünfzehn? Warum mich das so dermaßen aufregt?

Weil! Das! Grober! Unfug! Ist!

Mal ganz ehrlich: Was ist mit einem Kind im tiefsten afrikanischen Busch, das nicht lesen und schreiben kann? Oder mit einem blinden indischen Straßenkind ohne Beine, das sich von Essensresten ernährt, die es auf der Straße findet? Und was ist mit einem Menschen, der gelähmt ist, und nicht reden kann und nur die Augen bewegt, wenn er kommuniziert? Rechts blinzeln für „ja“, links blinzeln für „nein“, die Augen schließen für „Rutsch mir doch den Buckel runter, du Versager“?

SIND DIE ETWA NIEMAND, WEIL SIE KEINEN LIEB-LINGSFILM haben?

Okay, okay. Vielleicht ist das et-was übertrieben.

Meinetwegen. Aber trotzdem: Lieblingsfilm. Lieblingsspeise. Lieblingsschulfach. Lieblingspipapo … Was soll das denn über einen Menschen aussagen?

Wenn ich das alles ausfülle, und wenn ich alles genau gleich habe wie ein anderes Mädchen auf dieser Welt, sind wir dann gleich? Wenn ich einen Unfall habe und plötzlich gelähmt bin und keinen Geschmackssinn mehr habe, bin ich dann noch ICH? Wenn ich nichts TUN kann, um ich zu sein, wenn ANDERE Kleidung für mich aussuchen und mir die Haare schneiden, sodass ich nicht einmal mehr AUSSEHE wie ich – wer bin ich dann?

Wenn man das Aussehen

und das Gelernte

und das Gesehene

und all die unwichtigen Dinge dieser Welt

weggibt,

sollte es nicht etwas geben,

so einen Funken in jedem von uns,

so unverkennbar wie ein Fingerabdruck,

etwas, das bleibt,

das, was mich zu der macht, die ich BIN?

Nono

Ich habe das Internet befragt.

Nonô war ein brasilianischer Fußballspieler,

der nur ein einziges Länderspiel absolvierte.

Nono heißt eine Taverne in Kroatien,

Decke und Wände vollgeklebt mit Hüten und Musikinstrumenten.

Nono ist ein Haarentfernungssystem mit 60 Tagen

Rückgabegarantie.

Und Nono bin ich

(aber das weiß das Internet nicht):

Veronika,

1,74 m,

a(r)schblond,

15.

Ich spiele nicht Fußball,

ich trage keine Hüte,

ich kann kein Musikinstrument.

Ich habe kaum Haare auf den Beinen

und die paar, die ich habe, sind hellblond.

Ach so – wer ich BIN?

Das Internet sagt:

„BIN“ ist eine Beratungsstelle für Abhängigkeitserkrankungen;

„BIN“ heißt „Bank Identification Number“;

„bin“ bedeutet Abfalleimer auf Englisch.

Der Müll ist:

Ich – habe – keine – Ahnung – wer – ich – bin.

Alternatives Freundschaftsbuch

Danach suche ich auf dem Flohmarkt:

Die besten Songs meines Lebens:

Wenn ich krank bin, habe ich am häufigsten …

Mein tollster Fund:

Meine beste Idee:

Diesen Geruch mag ich am liebsten:

Das hätte ich schon längst tun sollen:

Wörter, die ich am meisten gebrauche:

Wenn das Leben ein Gugelhupf wäre – das wären meine Zutaten:

Hast du schon einmal …

… jemandem ein Kompliment gemacht, den du gar nicht kennst?

ja nein vielleicht

… etwas mitgehen lassen?

ja nein vielleicht

… ohne Zelt im Freien übernachtet?

ja nein vielleicht

… den Notruf gewählt?

ja nein vielleicht

… jemandem gesagt, dass du in ihn verliebt bist?

ja nein vielleicht

… an Weihnachten geweint?

ja nein vielleicht

… Herzklopfen gehabt, dass dir die Ohren platzen?

ja nein vielleicht

Pilottest

Es gibt so magische Sätze.

Sätze, die über Leben und Tod entscheiden.

Beispiel #1 „Ich heiße Jacqueline (mit stimmhaftem sch und langem i, ganz wie es der Franzose am liebsten hat), meine Mama ist Französin.“

Dieser Satz katapultiert dich im Nullkommanichts in die oberste soziale Riege jeder Schulklasse. Zumindest, bis du gezeigt hast, wie cool du wirklich bist.

Beispiel #2 „Ich bin die Tschacklin (mit peitschendem tsch und krach-tirolerischem Lagerfeuer-Knack-ckch).“

Mit diesem Satz tritt dein absoluter sozialer Tod ein. Und zwar mit sofortiger Wirkung. Egal, woher deine Mutter kommt.

Meine zwei ersten Sätze sind eigentlich recht brauchbar.

Satz #1 „Ich heiße Nono.“

Ist ein Hin-Hörer, funktioniert aber nur bei Mitschülern. Die Lehrer bestehen auf „Veronika“, weil es so auf der Klassenliste steht und weil sie diese Klassenliste mit nach Hause nehmen und sie dort auswendig lernen. (Aber die Zeit heilt alle Namenslisten. Spätestens nach den Weihnachtsferien hat noch jeder Lehrer Nono zu mir gesagt.)

Satz #2 „Mein Papa ist Pilot.“

Funktioniert immer und bei jedem. Ruft starke Reaktionen hervor. Reaktionen von Lehrern: „Ach wirklich? Interessant. Für welche Linie fliegt er denn?“ Reaktionen von Schülern: „Boah, cool! War er schon auf der ganzen Welt? Darfst du gratis fliegen? Kannst du Flugmeilen verschenken?“

Das ist sozusagen der Pilottest. (PILOT-Test. Check? Wortwitz, komm heraus, du bist umzingelt!) Meine Antworten entscheiden darüber, ob ich hop oder drop bin. Das war schon im Kindergarten so und in der Schule auch und auf jeder Party und in jedem Ferienlager. Eigentlich ist es egal. Bald nach Schulanfang wird sowieso neu durchgemischt. Dann ist der erste Eindruck verflogen, dann kommt die Wahrheit ans Licht. Aber da kann es sein, dass der soziale Tod dich schon umgebracht hat. Also innerlich, meine ich.

Meistens denke ich mir eine Fluglinie aus, für die Papa angeblich fliegt. Dann muss ich nicht erzählen, dass er in Wirklichkeit für eine private Firma arbeitet. Dass er wichtige Politiker und berühmte Stars durch die Gegend kutschiert, gemeinsam mit ihren Leibwächtern und ein paar Flaschen Schampus.

Ich will nicht „die Tochter vom Piloten“ sein. Ich bin Nono. Sonst nichts.

#wasimmerdasauchheißenmag

Erbärmlich

Ein Freundschaftsbuch, dazu erschaffen, dass sich Achtjährige als humorvoll profilieren können, indem sie als Lieblingsfach „Pause“ angeben und als Lieblingsbuch „das Telefonbuch“ – und ich krieg eine Existenzkrise.

Streifentest

Eigentlich würde ich das alles ja lieber mit Papa bereden. So wie immer. Ja, ich gestehe, ich bin ein Papa-Mädchen. Nein, das ist völlig in Ordnung. Ja, auch wenn man schon 15 ist. Wir passen einfach gut zusammen. Das hat absolut NICHTS mit dem Ödipus-Komplex zu tun. Außerdem hatte Ödipus was mit seiner MUTTER. Also: Komplett andere Baustelle.

Tut aber ohnehin nichts zur Sache. Dieses Mal steht Papa nicht zur Verfügung. Er hat die Seiten gewechselt. Er ist vom gegnerischen Team gekauft worden. Er ist ins feindliche Lager übergelaufen.

#i’m.on.my.own

Bis heute Abend war alles noch normal.

Na ja, „normal“ ist natürlich sehr relativ bei uns. Heute war wieder ein Tag #14. Wir leben im Zwei-Wochen-Rhythmus. Zwei Wochen ist Papa da und wir sind eine Familie, tutti paletti, Friede, Freude, Gugelhupf. Dann ist Papa zwei Wochen im Dienst, fliegt von Flughafen zu Flughafen, von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel. Zurück bleiben: Mama und Nono. Das Chaos-Duo. The Terrible Two. Wir fühlen uns beide einsam. Gleichzeitig stehen wir einander im Weg, treten uns gegenseitig auf die Zehen, gehen einander auf die Nerven, während die Zeit dahinschleicht. Wir zählen die Tage. Eeeeeeins. Zweeeeei. Dreeeei. Viiiiiiier. … Alle Tage sind gleich lang. Nur so unglaublich unterschiedlich breit. Am breitesten aber ist Tag #14. Das sind die schlimmsten im Zwei-Wochen-Rhythmus. Zuerst ist Mama der Putzfimmel in Person. Sie saugt und schrubbt und wischt und wäscht und ich würde ja in Selbstmitleid versinken, weil es keinen Fleck mehr gibt im Haus, wo man nicht im Weg ist – aber der Staubsauger ist eindeutig ärmer dran als ich. Also kein Selbstmitleid. Staubsaugermitleid.

So ist das immer, bevor Papa heimkommt. Heute hat sich Mama aber echt selbst übertroffen. Man stelle sich vor: Sie hat die blitzeblank geschrubbte Küche NOCH EINMAL geputzt. (Rätsel der Kategorie „Suchen Sie die 10 Unterschiede“. Auflösung: April, April, Sie werden keine finden.)

Da hätte ich schon misstrauisch sein sollen. Aber dazu hatte ich keine Zeit. Ich war vollauf damit beschäftigt, mich vor Tag #14, Teil 2 zu fürchten. Auf jeden Putzwahnsinn folgt das Kuschelkommando, wie das Amen im Gebet, wie der Durchfall auf das All-you-can-eat-Buffet beim Chinesen. Da hängt Mama dann ganz kaputt im Sofa, in Gedanken schon bei Papa, der wahrscheinlich schon gelandet ist, der vielleicht schon im Auto sitzt, dem es doch hoffentlich gut geht („Warum schreibt er denn nicht?“), den sie am liebsten schon knutschen würde. Nur dass er noch nicht da ist. Also muss ich herhalten.

„Nono? Komm her. Setz dich zu mir.“

Und da haben wir es schon.

Als Kind habe ich mir oft nichts mehr gewünscht, als bei Mama am Sofa sitzen zu dürfen und ihre Hand warm auf meinem Rücken zu spüren. Darum kann man natürlich nicht bitten. Das muss über einen kommen wie das braune Weich aus dem Schokobrunnen. So etwas ist ein Gefühlsgeschenk, Miteinandermagie, Zweierzauber, ein Winzigwunder, jedes einzelne Mal.

Aber bei Tag #14, Teil 2 geht es nicht um Wunder.

Da bin ich nur Platzhalter.

Ganz ehrlich: Lieber sitze ich allein im Keller und starre die Decke an.

Keine von uns würde es zugeben. Aber in dem Moment, in dem Papa zur Tür hereinkommt, nachdem wir ihm zugesehen haben, wie er aus dem Auto steigt, wie er seinen Rollkoffer aus dem Kofferraum hebt, nachdem wir zur Haustür gegangen sind, betont langsam, das Willkommen-daheim-Lächeln auf dem Gesicht ausgebreitet, in dem Moment, wo Papa also endlich da ist, aber noch bevor er die Schuhe aufgemacht hat – in diesem Moment geht es nur um eines: Wen von uns beiden er zuerst umarmt.

Heute bin ich erst aus dem Keller gekommen, als ich schon das Brummen der Kaffeemaschine gehört habe. Wer so verzweifelt ist, dass er zwei Mal putzen muss, der hat’s wohl bitter nötig. Und ich bin kein Unmensch.

Beim Abendessen hat Papa von seinem Flug erzählt. Von diesem spanischen Minister, der so große Flugangst hat, dass er drei doppelte Schnäpse kippen muss, bevor Papa überhaupt den Motor anlassen darf. Mama und ich haben zugehört, gelacht, Fragen gestellt. Kommunikation Mama-Papa, Nono-Papa. Schweigen Mama-Nono. Alles wie immer. Alles in bester Ordnung. Doch dann kommt die Rede auf diese Flugbegleiterin in Papas Team, die Nette, mit dem Wuschelkopf.

„Im September kommt sie zurück“, erzählt Papa. „Da geht ihr Mann in Karenz.“

„Ein Jahr vergeht so schnell“, meint Mama.

Und plötzlich schauen sie sich ganz komisch an. Und Papa nimmt Mamas Hand. Und Mama nickt. Und dann lassen sie die Bombe platzen:

„Nono“, sagt Papa. „Du bekommst ein Geschwisterchen.“

Ich hab zuerst nicht kapiert, was er meint. Ja, ich weiß, die Wörter an sich sind jetzt nicht so kompliziert, aber – HÄ?!

Mama, ganz säuselig: „Ich bin schwanger.“

Und dann steht sie tatsächlich auf, geht ins Badezimmer und kommt mit diesem Ding zurück, das aussieht wie eine Füllfeder oder ein Skalpell. Nur dass es natürlich kein Skalpell ist. Es ist ein SCHWANGERSCHAFTSTEST. So einer, auf den man PINKELN muss. Und sie legt ihn auf den ESSTISCH, damit ich die zwei STREIFEN sehen kann!!! WIE GRAUSIG KANN MAN SEIN? HALLO?????!!!!! So etwas gehört in den MÜLL!!!!!

Sie ist im VIERTEN Monat.

Trommelwirbel,

Rosenregen,

Schnurrbartzwirbel,

Kindersegen.

Noch einmal für den Taschenrechner: vierter Monat.

Das heißt, sie wissen es schon drei Monate lang. Na ja, mindestens zwei. Und NIEMAND hat mir etwas gesagt. KEIN WORT. Sie wollten „auf Nummer sicher gehen“.

Damit ich „nicht enttäuscht bin“, falls es „doch nichts wird“.

Noch mal: HÄ?!

Es wundert mich ja nicht, dass Mama nichts gesagt hat. Aber Papa war in dieser Zeit schon mindestens zwei Mal zu Hause. Jedes Mal für zwei ganze Woche. Und er hat nicht ein Mal den Mund aufgekriegt. Nicht ein einziges Mal!

Dafür redet er jetzt plötzlich wie ein Wasserfall. Dass sie sich so freuen. Dass das so schön ist, „wieder was Kleines daheim zu haben“. Dass ich mich sicher auch freue. Dass er so froh ist, dass ich schon so „groß und vernünftig“ bin, dass ich Mama unterstützen kann, wenn er nicht da ist … Ich war kurz davor, Verli anzurufen, in Amerika, koste es, was es wolle. Aber dann würde sich Verli Zeit nehmen und das Thema mit mir durchdiskutieren und sich ständig melden, wie es mir geht … das lasse ich schön bleiben. So viel Platz kriegt Mamas Bauch nicht in meinem Leben. Verli gehört mir. Ich brauche eine Insel. #for.me.only. Und Verli wird es noch früh genug erfahren.

Immerhin kriegen meine Eltern ein Ersatz-Kind. Ein liebes, süßes, kleines Gugugaga-Baby. Und ich bin draußen.

Schwester sein

Ich hab noch einmal nachgedacht.

Fakt #1 Was da in Mamas Bauch schwimmt, ist mein Bruder oder meine Schwester.

Es kann ja gut sein, dass Mama das Baby lieber hat als mich. Dass die beiden einen besonderen Draht zueinander haben werden. So wie ich und Papa, oder zumindest so, dass man sich nicht beim Frühstück schon auf den Zeiger geht, nur weil man unterschiedliche Auffassungen darüber hat, ob Butter unter die Nutella ein Verbrechen am Gesundheitssystem ist oder ob Nutella ohne Butter drunter Kalorien ohne Geschmack sind. Kann sein, dass Mama endlich das Kind kriegt, das sie sich immer gewünscht hat. Ein Spross, der mit ihr die Buchhaltung durchgeht und den perfekten Soundtrack für den Urlaub zusammenstellt und einen Plan macht, was aus dem Hochbeet in welcher Form in welches Einmachglas kommt. Trotzdem: Wir müssen zusammenhalten, das Baby und ich. Von wem soll der/die/das Kleine sonst etwas über die Welt lernen?

Denn, Fakt #3 Eltern haben doch in Wirklichkeit keinen blassen Schimmer vom richtigen Leben.

Okay. Heute Morgen dachte ich noch, das mit dem Baby war die Bombe. Alter Schwede, da hat sich jemand gründlich getäuscht.

Unser Urlaub, drei Wochen Norwegen, mit dem Wohnwagen? – Gestrichen.

Der Grund? – Mama.

Und das sagen sie mir noch so locker, beim Frühstück, als wäre nichts dabei, als hätte ich mich nicht schon wochenlang, monatelang, ein Leben lang darauf gefreut.

Offizielle Begründung: Risikoschwangerschaft. Weil sie schon 35 ist. Als würden wir nicht in einer Zeit leben, in der sechzigjährige Amerikanerinnen in aller Ruhe Achtlinge zur Welt bringen. Ich bin aufgestanden und gegangen. Sonst hätte es Verletzte gegeben. Oder kaputtes Geschirr. Oder beides in Kombination. In der Garderobe bin ich über Papas gepackten Koffer gestolpert. Das hat mich noch wütender gemacht. Papa ist mir hinterher (war einkalkuliert), hat mir die Hand auf die Schulter gelegt, mich massiert, so mit zwei Fingern – da bin ich explodiert. Nein, implodiert. Es hat mich innerlich zerrissen. Zwei Wochen war ich sauer auf Papa, war hart, habe nur das Notwendigste mit ihm geredet, seinen treuherzigen Dackel-, nein, Cockerspaniel-, nein, haha, Cockpitspanielblick ausgehalten, Mamas Bauchgetätschle, den Getreidekaffeegeruch. War im Recht. Wurde belächelt wie ein bockiges Kleinkind. Und ganz plötzlich erzählt Papas Hand, dass es ihm leidtut, und binnen einer Sekunde läuft das Fass über und schwemmt mich weg und ein Tsunami verschluckt mich, ausgerechnet eine Stunde, bevor Papa sich wieder auf den Weg macht. Und ich treibe ganz alleine zwischen den Trümmern meines Sommers.

Mitbringsel

Auf dem Regalbrett über meinem Bett steht mein Weltenbummlerschatz. Da ist zum Beispiel Boris, der kleine hölzerne Bär mit dem grün-weiß gestreiften Pulli und der Anstecknadel am Rücken (Moskau). Daneben hockt der Stoffelefant im wilden Batik-Look (Kuala Lumpur). Da ist der hölzerne Füller, für den man ein richtiges Tintenfass braucht (Barcelona), die Mini-Kaffeetasse mit dem Lorbeerkranz drauf (Rom) und natürlich der funkelnde Eiffelturm, der im Dunkeln leuchtet (guess where from).

Wo immer Papa hinfliegt, das erste, was er macht, ist, mir ein Mitbringsel zu besorgen. Okay – das zweite, falls er dringend aufs Klo muss. Aber mein Mitbringsel ist auf jeden Fall wichtiger als Papas heiliger Cappuccino, selbst wenn er nur eine Stunde Zeit hat.

Alle vier Wochen ein Mitbringsel. Wenn Papa mitten in der Nacht heimkommt, schleicht er sich immer noch in mein Zimmer, egal zu welcher Uhrzeit. Ich bin noch kein einziges Mal davon aufgewacht. Ich weiß nur, dass er da war, weil ein kleines Päckchen auf meinem Nachtkästchen steht. Und da bleibt es dann, bis er wieder fährt. Ich packe es erst aus, wenn die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen ist. Denn dann brauche ich ein Stück von ihm, das bei mir bleibt. Damit ich die nächsten zwei Wochen aushalte. Auch wenn ich im Moment so wütend auf ihn bin, dass ich schreien könnte, 24/7.

In Wirklichkeit sind Papas Geschenke gar keine Mitbringsel.

Es sind Dableibsel.

Dieses Mal ist es ein Paket in DIN A4. Mein Herz hat richtig geflattert beim Aufmachen. Es ist ein Schatz aus wunderschönem, griffigem Papier. Zu dünn für ein Buch, zu Natur für eine Illustrierte. Zu unförmig für irgendetwas, das ich kenne.

Es ist ein Ferienbuch.

Seite für Seite gefüllt mit schönen Dingen zum Durchlesen, Auffalten, Anschauen, Raustrennen, Nachmachen. Do It Yourself vom Allerfeinsten. Schöne Dinge von kreativen Leuten und Artikel über kreative Leute, die schöne Dinge machen. Die davon LEBEN, sich ihre Gedanken und Gefühle von der Seele zu zeichnen. Sie verbringen ihre Tage damit. Sie haben eigene ATELIERS dafür. Sie verdienen ihr GELD damit. Wie sich das wohl ausgeht? Haben die so viele Gefühle, dass sie am laufenden Band Bücher und Stoffe und Postkarten damit gestalten können? Oder gibt es Menschen, bei denen der Stift auch ohne Emotion tanzt?

Ich versinke in die magische Welt zwischen den naturfarben bedruckten Seiten. See you later, alligator. (In a while crocodile. – Das werde ich dem Baby als Allererstes beibringen. Es wird das coolste Kind im Kindergarten sein, mit Rie-sen-ab-stand. Ein bisschen retro, aber cool.)

Sieht so aus, als wäre ich wieder aufgetaucht. Aus der Versenkung. Aus dem Versunkensein. Was rede ich – aus dem Paradies! Gerade beginnt das Nachmittagsprogramm im Radio. Rock Classics. Mit Peter Kurz. DIE Idee des Radio-Kreativ-Teams. (Peter – Petrus – der Fels? ROCK Classics? Na ja. Es gibt Leute, die behaupten, ich neige zur Überinterpretation. Trotzdem: Ein Mitarbeitsplus in Religion würde mir zustehen, falls jemanden meine ganz persönliche Meinung interessiert.)

Bis Peter Kurz’ rockige Stimme den Nachmittag eingeläutet hat, habe ich nicht einmal bemerkt, dass das Radio überhaupt eingeschaltet ist. (Gut so. Highway to Hell ist wohl kaum der richtige Soundtrack fürs Paradies …)

Mama hat mich nicht zum Mittagessen gerufen. Entweder sie schläft oder sie zelebriert ihren Abschiedsschmerz. Als wäre sie die Einzige, der Papa fehlt. Als hätte sie das „Ich-vermisse-ihn-Monopol“.

Oder sie hat einfach auf mich vergessen.

Ganz egal. Alles egal, Leute.

Ich bin plötzlich glasklar im Kopf. Ich weiß, wie ich diesen Sommer überlebe. Steht alles auf Seite 23:

Staycation heißt das Zauberwort.

STAYCATION.

Danke, Papa. Ich hab dich lieb.

Staycation

Staycation, die.

Ein großartiges Wort. Simply the best. Es steht nicht im Wörterbuch und es ist trotzdem richtiges Englisch. (Perfekt, um es im ersten Englisch-Aufsatz nach den Ferien zu verwenden. Damit sich unser rotschopfiger Lieblingsprof gleich wieder daran erinnert, was er an mir hat.)

Definition Bleibe-Urlaub | Ferien zu Hause | Daheim-Sein mit Ferienprogramm

Procedere Alle Regeln ignorieren, so wenig Vertrautes wie möglich machen, so wenig Zeit wie möglich im eigenen Zimmer verbringen. Spaß haben. Wege gehen, die man im Alltag nicht geht. Dinge tun, die man als Tourist sofort machen würde, die man aber trotzdem noch nie ausprobiert hat, einfach weil man hier WOHNT.

Das ist der Plan. Erstens wegen des nicht verleugenbaren … nicht leugbaren … wegen des nicht zu verleugnenden … Also wegen des Witz-Faktors, des zweifelsfrei vorhandenen. Zweitens mangels Alternativen. Alle anderen sind auf Wegcation. (Vacation – WEGcation – check? My English is really the yellow from the egg!)

Ich stopfe Wasserflasche, Schirmkappe, Sonnenbrille, den winzigen Rest Taschengeld und das Ferienbuch in meinen Rucksack. Schreibe Mama eine kurze Nachricht, schwinge mich aufs Rad und sause los.

Bis zur Kreuzung.

Dort drehe ich um und bringe das Rad zurück in die Garage.

Ich bin auf Staycation. Kein Mensch macht Sightseeing mit Fahrrad, hier, in einer hügeligen Mini-Stadt mit Kopfsteinpflaster.

I’m a tourist, baby, so why don’t you kill me

Ich hole meine Sonnenbrille aus dem Rucksack und schiebe sie mir in die Frisur. Touristinnen haben immer Sonnenbrillen auf. Quasi ungeschriebenes Gesetz des Sommerurlaubs.

Im Gemeindeamt ist es angenehm kühl. Gleich über der trockengelben Stechpalme beim Eingang hängt ein riesiger Schaukasten. Fahrpläne für Bus, Zug und Müllabfuhr, Grünschnitt-Ablieferungszeiten, Öffnungszeiten des Altstoffsammelzentrums … Nichts von Interesse für eine Touristin, die gerade all ihre Sorgen für eine Woche in ihr verlassenes Schlafzimmer gesperrt hat.

Schräg gegenüber ist das Glasfenster für den Parteienverkehr. Zwei Schreibtische sind zu sehen. Einer hinten an der Wand, wo die mittelalterliche Sekretärin des Bürgermeisters mit lackierten Fingernägeln in die Tastatur hämmert. Als ich sehe, wer am zweiten Schreibtisch sitzt, eingedeckt mit Ordnern, Trennblättern und Klarsichtfolien, würde ich am liebsten den Rückwärtsgang einlegen, bevor mich irgendjemand außer der Überwachungskamera an der Decke entdeckt hat. Aber da hebt Theresa schon den Kopf. WIE VIEL Glück kann EIN Mensch haben? Da will man Urlaub spielen – und wer spielt Touristen-Info? Aus-gerech-net die stilbewussteste Dame der Schule (um das Wort „Obertussi“ elegant zu umschiffen).

„Hi!“, zwitschert Theresa. „Wie kann ich dir helfen?“

Das frage ich mich auch.

„Ist das dein Ferialjob?“ – Ein lahmer Versuch, Zeit zu gewinnen. „Korrekt“, strahlt Theresa. „Und was führt dich hierher?“

Okay. Ich brauche eine neue Strategie. ‚Ich bin auf Urlaub hier und möchte mich gerne über Ihre Angebote informieren‘ scheint mir ir-gend-wie nicht mehr der richtige Einstieg zu sein, angesichts der Personallage hier.

„Ich wollte mich gerne informieren“, zäume ich das Pferd vorsichtig von hinten auf. „Haben wir Angebote für Touristen?“

„Aber selbstverständlich“, nickt Theresa.

Aha. Der muss man aber auch wirklich alles aus der Nase ziehen. Wahrscheinlich kriegt sie pro Satz im Ich-helfe-einer-Kundin-Dialog bezahlt.

„Gibt es dazu vielleicht auch Unterlagen, die man jemandem geben könnte, der hierher auf Urlaub fahren möchte?“

„Natürlich“, lächelt Theresa.

Meine Fresse.

„Dann würde ich diese Unterlagen liebend gerne mitnehmen, wenn es dir keine zu großen Umstände macht.“ Hinter meinem liebenswürdigsten Zahnpastalächeln knirschen die Zähne, dass es meinem Zahnarzt im Herzen wehtun würde.