Ich träum von dir... - Ellen Sommer - E-Book

Ich träum von dir... E-Book

Ellen Sommer

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Beschreibung

"Die ganze Zeit hatte ich krampfhaft versucht, mich an den blöden Unfall zu erinnern. Jetzt, wo ich es tat, wünschte ich mir, alles ganz schnell wieder zu vergessen. Lille würde durchdrehen und da wollte ich nicht dabei sein…" Im 2. Band der Trilogie sind Lille und Chris endlich ein Paar. Das Glück scheint perfekt... Doch warum träumt Lille immer wieder von dem Mädchen im Koma und was verschweigt Chris? Wird sich Lilles Oma weiter in das Leben der beiden einmischen? Das Geheimnis der Schicksalsweberinnen wird endlich gelüftet und es kommt zu einem überraschenden Finale...

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Ich träum von dir…

Voll erwischt 2

Ein Roman von Ellen Sommer

Von Ellen Sommer gibt es schon als eBook: Voll erwischt (Band 1)

Inhaltsverzeichnis

Ich träum von dir…

Von Ellen Sommer gibt es schon: Voll erwischt

Inhaltsverzeichnis

Für Chris und Lille und alle anderen Verliebten…

Prolog

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Epilog

Hat Dir das Buch gefallen?

Danksagung

Leseprobe Judys Story

Über die Autorin

Für Chris und Lille und alle anderen Verliebten…

Prolog

Chris

Ich hatte ein Problem – und zwar so was von eins! Die ganze Zeit hatte ich krampfhaft versucht, mich an den blöden Unfall zu erinnern. Jetzt, wo ich es tat, wünschte ich mir, alles ganz schnell wieder zu vergessen. Lille würde durchdrehen und da wollte ich nicht dabei sein… Den ganzen Tag strahlte sie mich an, wenn ich zu ihr rüber schaute. Mir wurde ganz flau im Magen, wenn ich daran dachte, dass ich ihr einiges zu beichten hätte… Heute würde da nichts draus werden. Das wollte ich ihr nicht antun. Außerdem wollte ich selber erst einmal meine Gedanken sortieren und mit ihrer Oma müsste ich wohl auch reden. Es hätte so schön sein können!

-1-

Lille

Ich dachte vorhin, mein Herz setzt aus, als ich erkannte, dass Chris mit seinem Motorrad fast einen Unfall hingelegt hätte. Er hatte so was von Glück gehabt, dass der Bus gerade dabei war, zu beschleunigen. Es hatte nicht viel gefehlt und er wäre hinten in den Bus reingekracht. Sara und ich hatten auf der Rückbank quasi „in der ersten Reihe“ gesessen und ganz genau mitbekommen, wie Chris mit seinem Motorrad fast in den Schulbus gekracht wäre, in dem wir saßen. Als der Bus vor der Schule hielt, sprang ich sofort raus und rannte auf Chris zu, der gerade von seiner Suzi stieg und warf mich in seine Arme. Ich merkte, dass meine Knie ganz weich wurden und war froh, mich an ihm festhalten zu können. Er hielt mich richtig fest und flüsterte mir ins Ohr: „Alles wird gut!“ Oje, wie musste es ihm erst gehen, wenn mir schon vom Zusehen ganz schlecht war, fragte ich mich und suchte nach Zeichen eines Schocks in seinem Gesicht. Er sah blass aus – aber das tat er ja eigentlich immer, diesmal hatte er nicht ganz so starke Augenringe, wie sonst – eigentlich könnte man fast meinen, er sähe besser aus als sonst… Wortlos löste er die Umarmung, nahm meine Hand und ging mit mir die Treppen zur Schule hoch. „Hey, ihr zwei, wartet auf mich“, hörten wir Sara hinter uns rufen, die etwas gebraucht hatte, um sich durch die Menge zu schieben. Im nächsten Moment war sie neben uns und sog erstmal tief die Luft ein. „Mensch, Chris“, keuchte sie atemlos. „Was war denn das für ein Stunt! Bist du des Wahnsinns?“ Er zuckte zusammen und zog mich weiter die Treppe hoch. „Die blöde Bremse hat nicht gegriffen“, knurrte er sie an und beschleunigte seine Schritte, sodass ich auch einen Zahn zulegen musste, um nicht hinterhergeschliffen zu werden. Mehr war für den Moment nicht aus ihm herauszubekommen und ich hoffte, dass sich später in der Pause die Gelegenheit ergeben würde, mit ihm in Ruhe darüber zu sprechen. Wenn ich mittlerweile eine Sache über Chris gelernt hatte, war es, dass man ihn nie zu was drängen durfte, sonst blockte er komplett ab, oder er ließ einen, einfach so, kommentarlos stehen. Diese Erkenntnis hatte Sara nicht, denn sie belagerte uns weiter und fragte: „Hast du die Suzi eigentlich beim TÜV überprüfen lassen?“ Chris kniff die Augen zusammen, blinzelte kurz und rollte dann mit den Augen: „Nee, weißt du, ich habe sie einfach zusammengebastelt und bin dann gleich losgefahren…“ Sein Satz triefte vor Sarkasmus. Sara seufzte theatralisch. „Du hast diesmal jedenfalls ziemliches Glück gehabt. Bin ich froh, dass dir nichts passiert ist!“ Da klingelte schon der Gong zur ersten Stunde und wir sahen zu, dass wir ganz schnell ins Klassenzimmer verschwanden.

Chris

Die Mädels huschten ins Klassenzimmer zum Deutschkurs und ich wollte mir gar nicht ausmalen, was für einen Aufstand die Maier machen würde, nur, weil sie ein paar Sekunden zu spät kamen. Ich selber überlegte, ob ich es in weniger als 30 Sekunden zu Erdkunde schaffen würde und startete durch. Vom Lehrerzimmer kam mir Herr Lehmann entgegengeschlurft und ich witschte gerade noch so eben vor ihm ins Klassenzimmer, sodass ich mir einen Eintrag ins Klassenbuch ersparte. So langsam merkte ich, dass mich der „Beinahe-Unfall“ von vorhin doch mehr geschockt hatte, als gedacht. Meine Hände zitterten dermaßen, dass ich zweimal ansetzen musste, um den Rucksack zu öffnen. „Wenn Herr Berg dann auch seine Unterlagen zusammen hätte, könnten wir mit den Referaten starten“, hörte ich Herrn Lehmanns schnarrende Stimme. Ich kramte den Ordner raus und drehte mich nach vorne um. Wie ich diese 45 Minuten überleben sollte, war mir schleierhaft. Herr Lehmann gönnte mir keine 10 Minuten zum Nachdenken, sondern löcherte mich gleich zum Referat von Hannah, von dem ich – ehrlich gesagt – keinen Piep mitbekommen hatte. Selbst das Thema wusste ich nicht. Es war ja wohl auch wichtiger, einen Schlachtplan zu entwerfen, wie ich Lilles Oma dazu bringen konnte, mit mir über den Unfall zu reden. Das wäre nicht einfach, so wie sie geschrien hatte, als sie mich vor zwei Wochen in Lilles Zimmer entdeckte. Zuzutrauen wäre ihr, dass sie mich noch nicht einmal ins Haus lassen, geschweige denn ein Gespräch mit mir führen würde. Ich war am Ende der Stunde völlig erledigt. Das war jetzt ganz schlecht. Entsprechend übel fiel meine mündliche Note für heute aus und ich war froh, als die 45 Minuten endlich vorbei waren und ich lossprinten konnte, um nicht bei Miss Ibben in Englisch zu spät zu kommen. Auf Liedersingen im Altenheim am kommenden Wochenende hatte ich definitiv keine Lust. Ich schaffte es sogar, vor Lille und Sara im Klassenzimmer zu sein. Auch wenn ganz tief im Bauch mein schlechtes Gewissen an mir nagte, freute ich mich auf Lille. So ganz verstand ich nicht, woran ich mich erinnerte. Aber jetzt war wieder nicht die Zeit, dass ich mir Gedanken dazu machen konnte und ich versuchte, halbwegs aufmerksam dem Unterricht zu folgen und mir vor Lille nichts anmerken zu lassen. Sie warf mir zwischendurch allerdings immer wieder fragende Blicke zu, sodass ich mir sicher war, dass ich mit meinen schauspielerischen Leistungen heute bestimmt keine Oscarnominierung bekäme. Aber sie sagte nichts und schrieb auch keinen Zettel. Vielleicht hatte ich Glück und konnte sie noch eine Weile hinhalten wegen des „Nachschocks“ durch den Fast-Unfall. Das würde meine heutige Strategie sein, entschied ich und verdrängte mein schlechtes Gewissen noch ein bisschen weiter. Mir war total klar, dass ich irgendwann mit ihr sprechen musste, aber sie wusste ja noch gar nicht, dass ich mich jetzt an den vorangehenden Unfall so glasklar erinnerte, als wäre er heute passiert und sie konnte nicht ahnen, was mich die ganze Zeit so beschäftigte. „Dear Christopher, please let us know, why you are looking so moody today“, riss mich Miss Ibben aus meinen Gedanken. Ich hätte mich innerlich ohrfeigen können, dass ich schon wieder nicht aufgepasst hatte. Also setzte ich mein freundlichstes Lächeln auf und versuchte herauszufinden, worum es diesmal in der Englischstunde ging. Lille tippte netterweise auf den letzten Satz in der Lektüre und ich sah, dass wir heute den Part in Romeo und Julia hatten, in dem er sich umbringt. „Ähm, ich habe nur grad gedacht, dass es ja komplett irre ist, sich einfach umzubringen“, versuchte ich auf gut Glück eine Ausrede für meinen „finsteren Blick“ zu finden. Miss Ibben strahlte mich an, denn offensichtlich hatte sie genau dieses Thema gerade besprochen. Puh, das war knapp… Lille lächelte ganz süß von der Seite und ich riss mich zusammen und passte jetzt richtig auf, was mir aber extrem schwerfiel. In der Pause kamen wir nicht dazu, über irgendwas Persönliches zu sprechen, weil Jack wohl irgendwie mitbekommen hatte, dass ich heute Morgen fast mit dem Schulbus kollidiert wäre und mich dazu genau befragte. Kann man mich nicht einfach mit Lille in Ruhe lassen? Irgendwie nervten mich heute alle und ich wäre am liebsten gleich heimgefahren. Ging aber natürlich nicht. Lille fauchte Jack schließlich an: „Mensch Jack, merkst du nicht, dass es Chris total unangenehm ist, jetzt ständig dran erinnert zu werden, dass er fast wieder einen Unfall hatte? Jetzt reicht´s langsam!“ Ich wusste gar nicht, dass sie so zickig sein konnte. Und dann zog sie mich aus der Pausenhalle und ging mit mir hinter den Pavillon, wo sie mich gleich in ihre Arme nahm und küsste. So sah der Tag doch gleich viel netter aus. Viel zu kurz war unsere Pause und wir rannten die Treppen zu Kunst hoch. Ich hatte irgendwie ein Déjà-vu, als wir wieder Mal zu spät kamen und Herr Späth uns erstaunt anblickte, wie an Lilles erstem Schultag vor 2 Monaten. Diesmal hatte ich spontan keine Ausrede parat und auch Lille musste erst einmal Luft schnappen, nach dem Sprint ins 6. Stockwerk. Schlussendlich brummte uns Herr Späth eine Zusatzhausaufgabe auf, die wir bis Mittwoch fertig stellen sollten. Wir hätten uns vielleicht besser vorab eine Ausrede einfallen lassen sollen. Unsere Portraits hatten wir letzte Woche ja schon abgegeben und jetzt stand Linoldruck auf dem Plan. Wir sollten ein Mehrfarbenbild erstellen. Lille wählte das „blaue Pferd“ von Franz Marc. Ich schwankte zwischen einem Bild von Paul Klee oder Matisse. Vermutlich wäre beides, wegen der vielen kleinen Teile und unterschiedlichen Farben, extrem schwer zu schnitzen. Doch jetzt hatte mich der Ehrgeiz gepackt und ich legte los.

Lille

Chris legte sich in Kunst so richtig ins Zeug und ich merkte, dass er jetzt wirklich was brauchte, um seine Hände und den Kopf zu beschäftigen. Ich freute mich schon beim Zusehen, dass sich seine Laune im Laufe der Kunststunde deutlich besserte. Während ich die Umrisse von dem Pferd abpauste, hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich überlegte mir, wie ich seine Laune noch weiter bessern könnte, wenn wir nach der Schule noch Zeit füreinander hätten. Da fiel mir plötzlich ein, dass heute Nachmittag ja schon wieder einer von Omas legendären Einkaufstagen auf dem Plan stand, weil sie Adventsdeko brauchte. Nächste Woche wollte ich mit Chris zum Amykonzert nach Düsseldorf fahren, da würde es nicht gehen. So was Blödes! Wo Chris doch jetzt endlich ein eigenes Zimmer hatte und es gestern so schön bei ihm war. Ob er da auch noch dran dachte? Ich linste zu ihm rüber, aber er war so konzentriert bei seiner Zeichnung, dass er das gar nicht mitbekam. Von mir aus könnte gleich wieder Wochenende sein. Ich musste wohl ziemlich dämlich geguckt haben, denn Sandy kicherte über meinen Gesichtsausdruck und das Nächste, was ich mitbekam, war Herr Späth, der neben meinem Tisch stand und mein Bild anstarrte. „Das ist aber ein einfaches Bild, das sie sich da ausgesucht haben. Das könnte man auch von einem Sechstklässler erwarten“, war sein Kommentar. Ich wurde auf der Stelle rot. Konnte ja nicht jeder so ein Malgenie sein wie Chris. Das fand ich jetzt richtig fies. Chris blickte hoch, strich sich seine schwarzen Haare aus dem Gesicht und starrte ihn kurz mit zusammengekniffenen Augen an und widmete sich wieder seinem Kram während er leise vor sich hinbrummte: „Nee, in der 6. Klasse mussten wir ein schwarz-weiß Bild machen – da wären mehrere Linolbildchen zeitlich gar nicht drin gewesen.“ Herr Späth fiel auf die Schnelle keine Antwort ein und ich war überrascht, wie schnell er heute aufgab – sonst hatte er doch immer das letzte Wort. „Danke“, flüsterte ich Chris zu und erntete nur ein schiefes Lächeln. Er war wirklich hochkonzentriert bei seinem Bild. Wie er die vielen kleinen Kästchen akkurat ausschnitzen wollte, war mir ein Rätsel. Ich hätte mir garantiert schon mindestens zwölf Mal den Finger abgesäbelt mit dem Schnitzmesser. Linolschnitt mochte ich noch nie. Allein der Geruch der Platten machte mir Kopfschmerzen, von diversen Schnitten und Kratzern an den Fingern abgesehen. Was ich wiederum mochte, war es, die Farbe auf die Platte zu rollen, das gab so witzige Schmatzgeräusche. Ich fand es außerdem immer wieder spannend, wie dann am Schluss das gedruckte Bild aussah. Zum Glück war die Doppelstunde heute schneller um, als gedacht und auch der Rest des Schultages zog sich nicht so, wie sonst. Leider musste Chris heute kurzfristig wieder im Restaurant aushelfen und verschwand gleich nach der Biostunde, nachdem er mir einen kurzen Abschiedskuss vor dem Klassenzimmer gab. Ich hoffte, dass es jetzt draußen nicht mehr so glatt war. Nicht, dass ihm doch noch was passierte! Oma wartete daheim schon mit einem Imbiss, damit wir gleich losfahren konnten, um die Adventsdeko zu besorgen. War mir ganz recht, vermutlich würde sie zum Abendessen dann doch wieder reichlich auftischen, aber jetzt schaffte ich den Imbiss schon nur mit Mühe, weil mir etwas schlecht war. Ich machte mir ziemliche Sorgen um Chris und das schlug mir auf den Magen. Wir fuhren zu einem ganz speziellen Bastel- und Dekogeschäft. Ich würde selber nie noch ein zweites Mal dorthin finden, denn es war in einem ziemlich abseits gelegenen Kaff. Oma kannte die Inhaberin seit Jahren. Wir wurden erst einmal mit einem Adventstee und selbst gebackenen Plätzchen empfangen. Hier sah es schon richtig weihnachtlich aus. Frau Holler hatte ihren Bauernhof drinnen und draußen schon auf Weihnachten dekoriert und es fehlte eigentlich nur noch der Schnee. In jedem Zimmer hatte sie andere Farben für die Deko verwendet. Es gab ein rot-weißes, „klassisches“ Weihnachtszimmer mit schwarzem Klavier und einem geschmückten Tannenbaum. Das fand ich dann doch etwas übertrieben – wir hatten gerade Mal Mitte November. Aber Frau Holler hatte sich wirklich überall ausgetobt, von einem weißen Zimmer, über gold-kitschigem Wohnzimmer, silbern dekoriertem Esszimmer und knallbuntem Kinderzimmer mit mehreren neonfarbigen Lichterketten. Mir wurde langsam schlecht vom Umsehen. Es blinkte und leuchtete aus allen Ecken und dazu kam der Zimtgeruch der Weihnachtskerzen. Ich musste ganz schnell hier raus. Eigentlich mochte ich Weihnachten sehr – aber nicht in kitschig und schon gar nicht bei Plusgraden. In Landshut hatten wir ziemlich oft weiße Weihnachten und ich liebte unsere Weihnachtsengelchen auf dem Kamin und die selbstgebastelten Strohsterne. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich dieses Jahr gar nicht mit meinen Eltern in Landshut feiern würde und dass der Weihnachtsbrunch bei Judys Eltern auch ausfiel. Plötzlich hatte ich einen ziemlichen Kloß im Hals und ich nahm meine Jacke vom Ständer und trat vor die Haustür. Zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu nieseln - meine Laune sank noch mehr. Jetzt bloß nicht losheulen, dachte ich, als mir spontan doch die Tränen in die Augen schossen. Was war heute nur mit mir los? Eigentlich musste ich mich doch freuen, dass ich jetzt Chris endlich offiziell als Freund hatte und es auch mit Oma gut lief. Trotzdem fehlte mir Judy sehr. Ich schämte mich, dass ich mich nach ihrer Mail immer noch nicht bei ihr persönlich gemeldet hatte. Entschlossen stapfte ich die Treppe runter und ging ums Haus herum. Es wurde schon dämmrig und auf einmal gingen im ganzen Garten die Lichterketten in den Hecken und den Buchsbäumen an, sodass ich fast geblendet war. Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte Judys Nummer. Nach ein paar Mal Klingeln ging ihre Mailbox dran. So ein Pech, jetzt war sie nicht erreichbar. Oder hatte sie mich mit Absicht weggedrückt? Ich begann, eine SMS zu tippen, denn hier hatte ich ja kein WLAN, sodass ich ihr nicht per WhatsApp eine Nachricht schicken konnte. Da hörte ich Oma rufen: „Lille, wo steckst du?“ „Hier bin ich, Oma!“ „Kannst du mir bitte beim Tragen helfen, ich bin so weit.“ Ergeben steckte ich das Handy wieder in die Jackentasche und trabte zum Haus zurück, wo Oma mit einem Arm voll Tannenzweigen und drei riesigen Tüten voller Deko in der Tür stand. Ich schleppte ihr die Tüten zum Auto, nachdem wir uns noch ausführlich bei Frau Holler bedankten und verabschiedeten. „Willst Du die Sachen heute noch alle aufhängen?“, fragte ich sie leicht entsetzt, während ich ihr Radio anschaltete. Diesmal hatte ich den richtigen Knopf erwischt und ich klopfte mir innerlich auf die Schulter, dass ich nicht wieder den Sender verstellt hatte. „Nein, die Sachen kommen erst einmal ins Gartenhäuschen. Morgen, während du in der Schule bist, kann ich dann loslegen.“ „Ja, dann hast du freie Bahn und kannst dich so richtig austoben“, antwortete ich. „Machst Du das jedes Jahr so, oder ist das jetzt nur wegen mir?“ „Ich mache es nur alle 5 Jahre so, denn ich wechsele mich mit Selma, Luise und den anderen ab. Jedes Jahr ist eine andere dran mit der Weihnachtsfeier. Und dieses Jahr bin ich wieder mal an der Reihe. Die Damen kommen am Heiligen Abend und bleiben bis zum 26.12.“ „Wie jetzt, wir kriegen Besuch zu Weihnachten? Und die schlafen auch bei uns?“ „Du klingst jetzt völlig entsetzt. Hattet ihr nicht sonst auch Weihnachten mit den Eltern deiner Freundin gefeiert?“ „Ja, aber nicht am 24., sondern immer nur am ersten Weihnachtsfeiertag. Und Judy und ihre Eltern kamen nur zum Brunch, wenn wir nicht bei ihnen waren.“ Das hätte ich Oma nicht zugetraut. Ich fragte mich, wo die Damen alle schlafen sollten. „Selma und Luise schlafen nicht bei uns, die wohnen ja gleich um die Ecke, aber Maria und Helena werden im Gästezimmer übernachten, denen kann ich in ihrem Alter nicht zumuten die weite Reise mehrmals zu machen.“ OK, das musste ich jetzt ganz in Ruhe verdauen. Ruhig würde es jedenfalls nicht werden. Das wusste ich mittlerweile von den Kaffeekränzchen mit den Damen, die teilweise schon recht schlecht hörten und entsprechend laut sprachen. Das Weihnachtsfest nahm ganz neue Dimensionen an und ich überlegte, ob ich Oma bitten sollte, mir zu Weihnachten nur ein Heimfahrticket nach Landshut zu schenken, damit ich in Ruhe mit Judy und ihren Eltern feiern konnte. Doch da fiel mir ein, dass ich unmöglich Chris alleine lassen konnte, der sicher nicht mit seiner Tante feiern würde. Apropos Tante! Er hatte mir gar nicht erzählt, wie die Schlüsselübergabe heute war. Vor lauter „Fast-Unfall“ hatte ich vergessen, ihn zu fragen. Schade, jetzt war ich ganz neugierig und musste bis morgen warten, denn er ging bei der Arbeit definitiv nicht ans Handy. Daheim versuchte ich noch einmal, Judy zu erreichen, aber wieder ging sie nicht ans Handy. Ich setzte mich also an den Rechner und schrieb ihr eine richtig ausführliche Mail. Hoffentlich las sie die wenigstens durch. Judy konnte ziemlich nachtragend sein, wenn sie sich über jemanden geärgert hatte und ich war mir nicht so ganz sicher, ob sie sauer auf mich war, oder einfach nur so viel um die Ohren hatte. Oma rief zum Abendessen und ich musste schneller aufhören, als gedacht. Nach dem Abendessen schickte ich Chris noch eine kurze SMS, erwartete aber keine Rückantwort und ging mal ganz früh ins Bett.

-2-

Lille

Chris wartete in Mathe schon auf mich, denn heute hatte der Schulbus Verspätung. Sara und ich schlichen ziemlich betreten in den Klassenraum und erwarteten ein riesiges Donnerwetter von Herrn Heitmann. So wie es aussah, fehlten aber noch eine ganze Menge aus der Klasse und er machte gar keinen großen Aufstand. Glück gehabt! Ich sank schweigend neben Chris in die letzte Reihe und kramte erst einmal mein Schreibzeug und die Hausaufgaben raus. War klar, dass sowohl Sara als auch ich gleich drankamen. Sie hatte nur die Hälfte der Aufgaben richtig und Herr Heitmann notierte sich gleich ein dickes Minus auf seinem Plan. „Oh, je, die arme Sara“, dachte ich und überlegte, ob ich ihr fürs Wochenende eine gemeinsame Lernrunde anbieten sollte, aber sie würde bestimmt wieder ihr ganzes Wochenende mit Jack verbringen wollen. Chris nickte mir kurz zu, als ich mit meinem Teil fertig war und ich fragte mich, wieso dieser Mensch sowohl in Mathe als auch in Kunst so gut sein konnte. Das war doch fast schon ungerecht. Letztendlich kam ich mir bei dem Gedanken aber gleich fies vor, denn Chris hatte sicherlich bisher schon so einiges mitgemacht, worum ihn niemand beneidete und man konnte fast sagen, dass es doch so was wie ausgleichende Gerechtigkeit gab, dass er so viele Talente abbekommen hatte. Ich lächelte zu ihm rüber, achtete aber genau drauf, dass Herr Heitmann das nicht sah. Sara hatte mich im Schulbus gelöchert, wie es eigentlich bei dem Laternenfest in Chris WG gewesen sei und ich hatte versucht, möglichst wenig zu erzählen. Ging ja eigentlich niemanden was an, dass Chris und ich einen mehr als netten Nachmittag gehabt hatten. Selbst Oma hatte nichts Genaueres wissen wollen und das rechnete ich ihr hoch an. Momentan lief es ganz gut. Vor uns erklärte Nils gerade Sara die nächste Aufgabe und sein Kopf berührte fast ihren, damit er nicht zu laut sprechen musste und Herr Heitmann mitbekam, dass er ihr was erklärte, was in Stillarbeit erledigt werden sollte. Seitdem Chris mich drauf angesprochen hatte, dass Nils was von Sara wollte, fiel es selbst mir auf. Nur Sara merkte nichts davon, die sah momentan nicht anderes als ihren „Super-Jack“. Ich würde sie wohl darauf in einer ruhigen Minute ansprechen müssen. Nach Mathe kam ich aber nicht dazu, denn in der Pause war sie wieder komplett mit Jack beschäftigt. Chris und ich gingen gleich raus, um nicht wieder in ein Kreuzverhör zu geraten. „Da habe ich heute gar keinen Schnief drauf“, erklärte mir Chris und ich überlegte, was er mit „Schnief“ meinte, bis mir klar war, dass er keine Lust auf ein Gespräch mit Jack hatte. Wir gingen wieder an unseren Stammplatz hinter dem Pavillon und hofften, dass diesmal auch niemand auf die gleiche Idee kam. „Wie war eigentlich die Schlüsselübergabe mit deiner Tante?“, fragte ich ihn gleich, bevor er mich in seine Arme nehmen und küssen konnte. Chris ließ sich Zeit mit der Antwort und küsste mich ausführlich. Das war sehr nett, stillte meine Neugier aber nicht. „Du bist ganz schön neugierig, weißt du das?“, fragte er anschließend. Ich nickte. „Wurde mir schon das eine oder andere Mal gesagt, langsam glaub ich dran“, erwiderte ich lachend und küsste ihn kurz. „Kurz und knapp war es. Sie sieht mich so schnell nicht mehr wieder“, war alles, was er zu dem Thema sagte und ich war etwas enttäuscht, dass er nicht mehr dazu erzählte. Aber so war Chris. „Mr. Verschwiegen“ persönlich. Was soll es, so hatten wir dann mehr Zeit zum Knutschen und ich wollte mich nicht wirklich beschweren. „Wie wäre es, wenn ich morgen nach der Schule mit zu dir komme?“, fragte er mich plötzlich und ich war ganz überrascht, wie er jetzt zu dem Themenwechsel kam. „Ehm, tja, ich weiß nicht, wie Oma das fände, aber ich fände es super.“ „Wir könnten es ja als Lerngruppe für Bio tarnen“, bot Chris gleich eine Ausrede an und ich fand die Idee wirklich gut. Wie sich herausstellte, hatten wir tatsächlich bis zum nächsten Mal ein Referat auszuarbeiten und Herr Hofmann lieferte uns sogar die beste Ausrede der Welt. Noch nie hatte ich mich über ein Referat so gefreut. Chris grinste auch übers ganze Gesicht, als wir die Gruppeneinteilung erfuhren. Das war doch jetzt wirklich eine sehr nette Aussicht und Oma könnte ja wohl nichts dagegen haben, wenn uns der Direktor persönlich in die gleiche Gruppe eingeteilt hatte… Trotz allem beschloss ich, sie morgen einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen und sie nicht vorher zu fragen. Wer fragt, kassiert womöglich noch ein nein, das war bei Oma durchaus denkbar. Nach der Schule ging es wieder einmal zum Handballtraining. Ich war nach den zwei Stunden so was von erledigt, dass ich zu Hause erst einmal die Füße hochlegte und bis zum Abendbrot schlief. Oma war ganz entsetzt, als sie hörte, dass ich nach dem Essen noch die ganzen Hausaufgaben machen musste.

-3-

Chris

Ich war so was von aufgeregt, dass ich heute mit Lilles Oma sprechen würde, dass ich vom Vormittag eigentlich nichts mitbekam. Irgendwie schaffte ich es aber, heute etwas geschickter unter dem „Lehrerradar“ zu bleiben und versuchte zumindest, wissend zu erscheinen. Die Doppelstunde Kunst brachte mir viel Zeit, um mir meine Strategie für heute Nachmittag zurecht zu legen. Ich hoffte, dass Lilles Oma mich wenigstens ins Haus ließ, ohne gleich los zu kreischen, wie beim letzten Mal, als sie mich gesehen hatte. Ich konnte ihr in der damaligen Situation nicht verübeln, dass sie einen Anfall bekommen hatte. Wäre mir in ihrer Situation vielleicht genauso ergangen. Man möchte ja nicht den Freund der Enkelin in deren Bett erwischen – ob angezogen oder nicht. Ich war froh, dass ich wenigstens meine Sachen angehabt hatte und nicht direkt in ihrem Bett gewesen bin, sondern nur davor, sonst wäre es doppelt peinlich gewesen. Bei dem Abgang durchs Fenster hatte ich mir die Hände an einer der Dachpfannen aufgeschürft und es hatte ein paar Tage gedauert, bis es beim Händewaschen nicht mehr gebrannt hatte. Davon war jetzt zum Glück nichts mehr zu sehen. War schon peinlich genug gewesen, beim Handball mit zwei Bandagen um die Handflächen aufkreuzen zu müssen. Ich war mir bis heute nicht sicher, ob Holger mir meine Entschuldigung abgekauft hatte oder ob er doch ahnte, dass was anderes dahintersteckte, als ich ihm gesagt hatte. Lille lächelte mich von der Seite immer wieder lieb an und ich wäre am liebsten mit ihr rausgegangen. Sie mühte sich ganz schön ab mit dem Linolschnittmesser und man sah genau, dass sie diese Kunsttechnik nicht mochte. Immer wieder schlich Herr Späth um unseren Tisch herum und suchte nach Fehlern. Zum Glück schnitze Lille so langsam, dass nicht viel schiefging und die erste Platte trotzdem schon fast fertig war. „Ich habe die ganze Zeit Schiss, dass ich mir das doofe Messer in die linke Hand ramme und den Finger abschneide“, raunte sie mir zu, als Herr Späth außer Hörweite war. „Na, so schnell geht der Finger nicht ab“, flüsterte ich zurück. „Ich habe einmal meinen Daumenballen erwischt: Es hat Wochen gedauert, bis der wieder zugeheilt war. Das will ich nicht noch mal erleben“, teilte sie mir mit. Ich musste grinsen. Manchmal übertrieb Lille es maßlos. Aber ich fand genau das süß an ihr. Wie eigentlich alles andere auch. Nach Kunst hatte sie Mädchensport und ich brachte sie noch bis zu den Umkleiden. „Ich warte dann nach der Schule an der Treppe auf dich. Ich habe den zweiten Helm immer noch.“ Das fand sie gut. Und ich freute mich irgendwie schon auf heute Nachmittag.

Lille

Chris und ich stiegen von seinem Motorrad. Er hatte die Suzi extra etwas weiter die Straße runter geparkt, damit Oma nicht mitbekam, dass ich bei ihm mitgefahren war. Ich gab ihm den Zweithelm und drehte mich zu Omas Haus um. Es war nicht so ganz klar, ob sie ihn reinlassen würde, immerhin waren die Zusammentreffen der beiden bisher nicht besonders prickelnd verlaufen. Chris sagte nichts, als ich meinen Schlüssel aus der Jackentasche zog und die Haustür aufschloss: „Hallo Oma, ich bin wieder da!“, rief ich. Keine Reaktion. Komisch, es roch auch nicht nach Mittagessen. War sie ausgerechnet heute nicht da, wo Chris dabei war? Sie war doch sonst immer da, wenn ich mittags aus der Schule kam. Wir gingen in die Küche. Dort sah alles noch so aus wie heute Morgen. Nur der Frühstückstisch war abgedeckt. „Seltsam“, murmelte ich und suchte nach einer Nachricht auf dem Küchentresen. Wenn sie weggefahren wäre, hätte sie mir doch einen Zettel hinterlassen. „Sie scheint nicht da zu sein“, stellte Chris fest und zog mich kurz an sich, um mir einen Kuss zu geben. Für einen Moment lenkte er mich damit ab, aber irgendwie hatte ich eine komische Vorahnung. „Chris, ich habe so ein mulmiges Gefühl…“, flüsterte ich. Ich weiß nicht, warum mir plötzlich die Stimme wegblieb. Ich zog ihn ins Wohnzimmer, auch dort war sie nicht. Als nächstes schaute ich in ihrem Schlafzimmer nach. Chris blieb derweil im Flur stehen. Dort hing auch noch ihre Jacke. „Vielleicht ist sie im Garten?“ Wir gingen durch die Hintertür raus. „Oma?“ – es kam keine Antwort. „Ihr wird doch nichts passiert sein?“ Chris zuckte mit den Schultern und legte seinen Arm um mich: „Hat sie ein Büro, oder so?“ Ja, hatte sie, aber sie hatte mir beim Einzug strengstens verboten, hineinzugehen, wenn sie nicht da war. Tja, jetzt war sie offensichtlich nicht zu Hause oder sie war genau dort und hatte uns nicht gehört. „Ja, dort können wir noch nach ihr suchen.“ Wir gingen wieder rein. Auf der Kommode im Flur sah ich jetzt ihr Handy, es war mir vorhin gar nicht aufgefallen. Anrufen fiel also auch flach. Ich ging mit ihm den Flur runter. Gleich neben der Küche war Omas Arbeitszimmer und ich klopfte vorsichtig an. Keine Antwort. Ich drückte die Klinke herunter und war froh, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Wir traten leise in den Raum und schauten uns um. Er schien leer zu sein. Durchs Fenster kam wenig Licht rein, die Vorhänge waren fast zugezogen. Ich ging durch das Zimmer und zog erst einmal die Vorhänge komplett auf. Jetzt war es schon mal deutlich heller. „Oma?“, rief ich fragend. Auch jetzt kam keine Antwort. Ich ging um das Sofa herum, weil ich dachte, sie schläft vielleicht und hört uns nicht. Doch auch auf dem Sofa lag sie nicht – mein Blick fiel zum Webstuhl in der Nische und dort, vor dem Webstuhl lag Oma auf dem Boden, das Schiffchen noch in der Hand. Ich keuchte erschrocken auf. Chris und ich kamen gleichzeitig bei ihr an und stießen fast zusammen, als wir auf die Knie gingen und nach ihrem Puls fühlen wollten. Dabei berührte ich das Schiffchen. Ein plötzlicher Lichtflash ließ mich zurücktaumeln und auf einmal flackerten Bilder vor meinen Augen auf, ruckartig, wie bei alten schwarz-weiß Filmen aber in grellbunten Farben. Ich schloss die Augen und ließ das Schiffchen fallen. Trotzdem hörte die Bilderflut nicht auf. Da waren Bilder von Oma, mir, meiner Mutter und ganz vielen unbekannten Frauen, die webten und alles Mögliche machten. Und zwischendrin flackerten immer wieder Bilder von Chris auf. Chris, wie er lachte, wie er ernst schaute und wie er mit Motorradkluft auf dem Boden lag. Daneben seine komplett zerstörte Suzi. Ich war entsetzt – wie konnte ich Bilder von Chris Motorradunfall sehen, der vor meinem Einzug bei Oma gewesen war? Ich schrie auf, hoffte, dass die Bilder aufhörten, aber es ging weiter. Ich sah MICH, blass, kalt und mit Verband um den Kopf in einem Krankenhausbett. Die Augen geschlossen, verschiedene Maschinen und Schläuche um mich rum und in meinem Gesicht. Ich schrie noch einmal auf und dann merkte ich, wie plötzlich alles ganz schwarz um mich herum wurde…

Chris