"Ich träume von einer Kirche als Mutter und Hirtin" - Paul M. Zulehner - E-Book

"Ich träume von einer Kirche als Mutter und Hirtin" E-Book

Paul M. Zulehner

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Beschreibung

Papst Franziskus hat in wenigen Jahren die Pastoralkultur der katholischen Kirche tiefgreifend verändert. Unter dem großen Vorzeichen des Erbarmens soll die Kirche in der Nachfolge des Heilands Heil-Land für die Menschen sein, oder wie der Papst sagt: ein Feldlazarett, um die Wunden der Menschen wie der Menschheit zu heilen. Akzente verlagern sich: von der Sünde zur Wunde, vom Gerichtssaal zum Hospiz, vom Moralisieren zum Heilen, vom Gesetz zum Gesicht, vom Ideologen zum Hirten. Trotz aller Widerstände wirbt der Papst unentwegt für diesen Kurswechsel zu einer Kirche, von der er sagt: "Ich träume von einer Kirche als Mutter und als Hirtin." Paul M. Zulehner folgt Franziskus bei seinem Versuch, dadurch die Pastoralkultur der Kirche zu kräftigen, indem er an die Wurzeln geht und das Handeln der Kirche am Erbarmen Gottes ausrichtet. Das wird Leben und Wirken der Kirche verändern.

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Paul M. Zulehner

„Ich träume von einer Kirche als Mutter und Hirtin“

Die neue Pastoralkultur von Papst Franziskus

Patmos Verlag

Inhalt

Vorspiel

Pastoralkultur

Quellen

Gott und die Welt

Vorgehen

Teil 1: Vater des Erbarmens

Gott suchen und finden

Gott sucht und findet

Bilder von Gott

Gott ist Erbarmen

Kirche: Wie der Vater werden

Teil 2: Wie der Vater werden

Von der Sünde zur Wunde

Vom Moralisieren zum Heilen

Vom Gesetz zum Gesicht

Vom Ideologen zum Hirten

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorspiel

Wenn die Kirche so werden wird, wie er sie denkt und will, wird sich eine Epoche ändern. (Eugenio Scalfari1)

Seit dem 13. März 2013 ist er im Amt. Gemeint ist der von weither geholte Bischof von Rom, Papst Franziskus. Das sind nur wenige Jahre. Dennoch hat er in dieser kurzen Zeit die katholische Weltkirche tiefgreifend verändert. Es ist die Pastoralkultur, die eine neue Grundmelodie bekommen hat. In dieser verwirklicht sich des Papstes Vision von der Kirche. Wörtlich sagt er in seinem ersten großen Interview mit dem Jesuiten Antonio Spadaro: „Ich träume von einer Kirche als Mutter und als Hirtin.“2

Pastoralkultur

Pastoralkultur: Sie ist, was profan als Organisationskultur3 gilt. Eine solche hat mehrere Ebenen.

An der Oberfläche zeigt sie sich in Personen, was diese mit den Menschen tun, wie sie mit ihnen umgehen, wie sich die Organisation präsentiert. Leitbild, Rituale und Erzählungen zählen dazu.

Eine Ebene tiefer liegt das „Gefühl, wie die Dinge sein sollen“ und welches Gefühl die Menschen bei der Begegnung mit der Organisation haben sollen. Solche Gefühle können sein: ehrlich, freundlich, flexibel, traditionstreu.

Schließlich hat eine Organisationskultur eine Tiefen­ebene. Diese umfasst das, was als unausgesprochen selbstverständlich gilt. Es sind „basic assumptions“, die Grundannahmen, die nicht hinterfragt und diskutiert werden. Sie können freilich so tief abgesunken sein, dass die beiden anderen Ebenen sie nicht mehr erreichen.

Papst Franziskus ist auf allen drei Ebenen der kirchlichen Organisationskultur – also ihrer Pastoralkultur – präsent. Er personifiziert diese in der Art, wie er spricht, was er tut, wie er wohnt, wie er mit Menschen umgeht, wo er hinreist und wem er dort begegnen will. Er hat das Gefühl der Menschen zumindest gegenüber seinem Amt, ein wenig auch gegenüber der Kirche, merklich verändert. Papst Franziskus zählt zu den beliebtesten und geachtetsten Persönlichkeiten der Menschheit. Die meisten halten ihn für ehrlich und glaubwürdig: wofür die Kirche hierzulande seit geraumer Zeit nicht unbedingt steht. Ihm nimmt man ab, dass er hinter dem steht, was er tut und sagt, auch wenn nicht alles gleich gefällt.

Die nachhaltigste Wirkung aber hat in den wenigen Jahren seines Pontifikats Papst Franziskus auf die Tiefenstruktur der Pastoralkultur ausgeübt. Für diese verwendet er selber gern den Begriff der Logik, den er aber inhaltlich anders füllt, als dies in der profanen Diskussion geschieht. Für ihn gibt es also mehrere „Logiken“, solche der Kultur und kontrastierend zu diesen solche der Pastoral.

Eher beschreibend bis negativ erscheint bei Papst Franziskus die Logik der gegenwärtigen Kultur: Es ist eine globalisierte Logik, die Logik der aktuellen Wirtschaft, des Marktes und der vermeintlich hilfreichen unsichtbaren Hand, die Logik medialer Möglichkeiten, die harte Logik der technischen Mittel, des Finanzwesens, der instrumentellen Vernunft, die Logik von Herrschaft, Gewalt, Ausnutzung, Egoismus, der Herrschaft über den eigenen Körper und über die Schöpfung; es ist die Logik eines verwerflichen „Einweggebrauchs“; Logik kann aus seiner Sicht pervers sein.Neben diesen weltlichen Logiken formuliert der Papst eine Logik der pastoralen Barmherzigkeit. Diese hat viele Facetten: die Logik des Evangeliums, der Inkarnation, des Empfangens, des Mitgefühls, der barmherzigen Aufnahme, der christlichen Liebe; sie ist eine Logik, die nicht wie bisher eher ausgrenzt, sondern wiedereingliedert, eine Logik der Integration also, eine Logik, die viel Gefühl und Fantasie benötigt.

Hinsichtlich der Logik der pastoralen Barmherzigkeit liegt dem Papst daran, über lange Zeit verschüttete jesuanische Grundannahmen wieder freizulegen und diese mit neuer Kraft in die Gefühle des kirchlichen Personals und damit letztlich in die sichtbare Oberfläche der Kirche, in ihr Leben und Wirken einsickern zu lassen. All das versucht er in einem geduldigen Prozess, indem er zuhört, wahrnimmt, betet, um schließlich die Geister zu unterscheiden, wie er sagt.

Papst Franziskus irritiert damit nicht wenige. Es sind vor allem jene, denen die Tiefenschicht der Kirche fremd geworden ist. Dazu gehören manche Verantwortliche in kirchlichen Positionen und auf Lehrstühlen. Diese sind mehr um den Kirchenbetrieb besorgt. Sie erwarten sich eine Zukunftsfähigkeit der Kirche inmitten eines epochalen Wandels der Kirche von einer Änderung der Strukturen der kirchlichen Organisation. Es sind die Ideologen, denen das Kirchenrecht wichtiger ist als das Evangelium, das von der Tiefenschicht in unverbrauchten Bildern und Gleichnissen erzählt. Insgeheim sind wohl manche derart unruhig, dass sie sich ein absehbares Ende der Amtszeit von Papst Franziskus herbeiwünschen. Manche Getaufte, darunter auch Ordinierte in allen Rängen, verweilen in ihren spirituellen Lehnstühlen, schauen skeptisch zu und warten ab. Es sind jene, denen Papst Franziskus in seiner Regierungserklärung Evangelii gaudium ungeduldig zuruft: „Und wir, worauf warten wir?“ (EG 120).

Die Überlegungen dieses Buches folgen Franziskus bei seinem Versuch, die Pastoralkultur der Kirche dadurch zu kräftigen, dass er die Tiefenstruktur der Kirche und ihrer Pastoralkultur freilegt und in sein alltägliches Leben, Reden und Tun einfließen lässt. Sein Bestreben ist es in erster Linie, diese jesuanische Tiefenschicht aufzudecken. Sie soll mit neuer Kraft den pastoralen Alltag der Kirche durchfluten.

Quellen

Dieses Buch versucht annähernd dieses Anliegen des Papstes zu umreißen. Dazu werden seine bisher wichtigsten Dokumente analysiert. Dazu zählen, zeitlich geordnet:

das für die Jesuitenzeitschriften gegebene Interview, erstveröffentlicht online4 am 19.8.2013 in den „Stimmen der Zeit“5; [IV Spadaro]6das Interview, das Eugenio Scalfari von der Mailänder Zeitung La Repubblica geführt und Anfang Oktober 2013 anhand seiner Notizen veröffentlicht hatte7; [IV Scalfari]das Apostolische Schreiben Evangelii gaudium vom 24.11.20148; [EG]die beiden Papstreden vor dem Europarat und dem Europaparlament am 25.11.2014; [EU Rat; EU Parlament]die Bulle Misericordiae vultus zur Eröffnung des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit vom 11.4.2015; [MV]die Enzyklika Laudato si‘ vom 24.5.20159; [LS]Rede von Papst Franziskus nach der Bischofssynode für die Familie vom 24.10.2015; [SYN]die Apostolische Exhortation Amoris laetitia vom 19.3.201610; [AL]das Interview in DIE ZEIT vom 9.3.2017. [IV Zeit]

Alle diese Texte wurden computergestützt einer Inhaltsanalyse unterzogen, Worthäufigkeiten wurden festgestellt, die vielfältigen Texte mit wichtigen Schlüsselwörtern codiert.

In diesen Analysen hat sich eröffnet, was Franziskus bewegt. Viele Themen haben sich aufgetan. Diese haben aber keinesfalls alle dasselbe Gewicht für ihn. Er mahnt nicht nur für die Verkündigung der Kirche die vom Konzil11 umrissene Hierarchie der Wahrheiten im Kosmos des christlichen Glaubens ein:

„Wenn wir uns auf die Überzeugungen konzentrieren, die uns verbinden, und uns an das Prinzip der Hierarchie der Wahrheiten erinnern, werden wir rasch auf gemeinsame Formen der Verkündigung, des Dienstes und des Zeugnisses zugehen können.“ (AL 246)

Gott und die Welt

Wir finden diese Hierarchie von Wahrheiten auch im Kosmos seines gläubigen Denkens und Handelns. Allein das von allen Texten erstellte gemeinsame Wörterbuch macht das deutlich sichtbar – hier in der Form von zwei Wordclouds (siehe die folgenden Abbildungen):

Im Zentrum aller untersuchten Aussagen des Papstes steht das Verhältnis zwischen dem „Bereich Gottes“ und jenem der Welt. Gott und die Welt sind wie die zwei Zentren einer Ellipse. Zum göttlichen Bereich zählen die Begriffe Gott (829) und Jesus Christus (265); zum Bereich der Welt diese Erde/dieser Planet (466), die Gesellschaft (185), die Menschen (699), das Leben (741), die Armen (185), die Familie (473) und die Kinder (170). Es geht dem Papst dabei immer um die Welt von heute (164).

Beide Sphären der Wirklichkeit sind aufeinander bezogen. Diese Beziehung ist bestimmt durch Liebe (645) und Barmherzigkeit/Erbarmen (87). Im Mittelpunkt steht also die schöpferische und heilende Beziehung zwischen Gott und der Welt.

ABBILDUNG 1: Zwei Wordclouds der häufigsten Wörter

Um diese heilende Beziehung geht es im Evangelium (222), das der Kirche (542) anvertraut ist und an der sich diese auszurichten hat. Deren Aufgabe ist es, eine dienende Kirche in der Welt von heute zu sein. Damit stehen die Positionen von Franziskus eindeutig auf dem Boden des Zweiten Vatikanischen Konzils und deren Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (Kirche in der Welt von heute). Dieses Konzil hat Papst Franziskus nicht mitgemacht, wohl aber führt er es entschlossen weiter. Das Schreiben Evangelii gaudium ist diesem Anliegen eines Aufbruchs der Kirche im Geist des Konzils gewidmet. Die Umsetzung des Konzils geht dem Papst zu schleppend, zu langsam voran. In einer Predigt zu einem Geburtstag seines Vorgängers Papst Benedikt XVI. klagte er sogar12:

„Der Heilige Geist drängt zum Wandel, und wir sind bequem … Um es klar zu sagen: Der Heilige Geist ist für uns eine Belästigung. Er bewegt uns, er lässt uns unterwegs sein, er drängt die Kirche, weiterzugehen. Aber wir sind wie Petrus bei der Verklärung, ‚Ah, wie schön ist es doch, gemeinsam hier zu sein.‘ Das fordert uns aber nicht heraus. Wir wollen, dass der Heilige Geist sich beruhigt, wir wollen ihn zähmen. Aber das geht nicht. Denn er ist Gott und ist wie der Wind, der weht, wo er will. Er ist die Kraft Gottes, der uns Trost gibt und auch die Kraft, vorwärtszugehen. Es ist dieses ‚Vorwärtsgehen‘, das für uns so anstrengend ist. Die Bequemlichkeit gefällt uns viel besser.“

Wir seien heute viel zu zufrieden mit der angeblichen Anwesenheit des Heiligen Geistes, und diese Zufriedenheit sei eine Versuchung. Das gelte zum Beispiel mit Blick auf das Konzil:

„Das Konzil war ein großartiges Werk des Heiligen Geistes. Denkt an Papst Johannes: Er schien ein guter Pfarrer zu sein, aber er war dem Heiligen Geist gehorsam und hat dieses Konzil begonnen. Aber heute, 50 Jahre danach, müssen wir uns fragen: Haben wir da all das getan, was uns der Heilige Geist im Konzil gesagt hat? In der Kontinuität und im Wachstum der Kirche, ist da das Konzil zu spüren gewesen? Nein, im Gegenteil: Wir feiern dieses Jubiläum und es scheint, dass wir dem Konzil ein Denkmal bauen, aber eines, das nicht unbequem ist, das uns nicht stört. Wir wollen uns nicht verändern und es gibt sogar auch Stimmen, die gar nicht vorwärts wollen, sondern zurück: Das ist dickköpfig, das ist der Versuch, den Heiligen Geist zu zähmen. So bekommt man törichte und lahme Herzen.“

In diesem weiten theologischen Rahmen der Beziehung von Gott und Welt entwickelt Papst Franziskus die Pastoralkultur der Kirche, die er für heute erneuern und vertiefen will.

TABELLE 1: Die häufigsten verwendeten Wörter in den analysierten Texten

GOTT

829

JESUS CHRISTUS

265

Leben

741

EVANGELIUM

222

MENSCHEN

699

Gesellschaft

185

Liebe

645

ARM

185

Kirche

542

Kinder

170

FAMILIE

473

heute

164

WELT, ERDE, PLANET

466

BAMHERZIGKEIT, ERBARMEN

87

Sind Wörter großgeschrieben, dann sind einzelne Positionen addiert worden, z.B. Gott und Gottes.

Vorgehen

Schon diese ersten Ergebnisse der Textanalyse eröffnen einen gangbaren Weg, auf dem in diesem Buch jene Pastoralkultur erschlossen wird, die Papst Franziskus vorschwebt und in die er selbst die Kirche einübt.

Zuerst wird anhand der Textanalysen das Gottesbild von Franziskus vorgestellt: Wer, genauer, wie ist Gott für ihn, wie sieht er dessen Handeln in der Welt? Franziskus taucht bildlich gesprochen zunächst in das göttliche Geheimnis ein (Teil I).

Von dort her taucht er in der Welt, bei den Menschen, deren Leben und Zusammenleben/Gesellschaft auf. Auf die Welt blickt er nicht nur mit den scharfsichtigen Augen kundiger Wissenschaft, sondern vor allem mit den Augen Gottes (Teil II). Das lässt ihn eine höchst wunderbare und zugleich zutiefst verwundete Welt sehen, in der zugleich der Lobpreis Gottes wie der Schrei der Armen ertönen.

In diesem weltgeschichtlichen Schauspiel zwischen Gott und seiner Welt, die er als Heilsgeschichte versteht, verortet er die Kirche und ihr Handeln. Die Art des kirchlichen Tuns wird einerseits von den Freuden und der Trauer der Menschen, vorab der Armgemachten, sowie den Leiden der Natur, andererseits vom heilenden Erbarmen Gottes geformt. Die Kirche soll, so ein markanter Satz, wie der Vater (Gott) handeln: Sie ist berufen, „in der Welt das lebendige Zeichen der Liebe des Vaters“ (MV 4), also „barmherzig wie der Vater“ (MV 13) zu sein.

Gott selbst wird somit zum Maßgeblichen der kirchlichen Pastoralkultur für heute. Daran hat sie sich zu messen – und zu erneuern. Daher lautet die erste und wichtigste Frage an die Texte: Wer und wie ist Gott für Papst Franziskus?

Teil 1: Vater des Erbarmens

It is not necessary to be perfect, but to be connected. (Richard Rohr)

Gott suchen und finden

Im Gespräch mit Eugenio Scalfari von der Mailänder La Repubblica macht Papst Franziskus deutlich, dass er sein ganzes Sein unerschütterlich an Gott festmacht. Er ist der Dreh- und Angelpunkt nicht nur seines Lebens, sondern auch seines Pontifikats:

„Und ich glaube an Gott. Nicht an einen katholischen Gott, es gibt keinen katholischen Gott, es gibt Gott. Ich glaube auch an Jesus Christus, seine Menschwerdung. Jesus ist mein Lehrer und mein Hirte, aber Gott, der Vater, Abba, ist das Licht und der Schöpfer. Dies ist mein Sein. Haben Sie den Eindruck, dass eine große Distanz zwischen uns besteht?“ [IV Scalfari]

Für den Jesuiten Jorge Mario Bergolio ist dieses feste Setzen auf Gott die Frucht eines langen Glaubensweges, der auch manche Umwege kannte. Auf diesen haben ihn nicht nur seine von ihm hoch verehrte Großmutter Rosa und seine frommen Eltern geführt. In der Schule seines Ordensvaters Ignatius hat er gelernt, „Gott in allen Dingen zu suchen und zu finden“. Diese Überzeugung tönt in vielen seiner Aussagen durch: „Gott begegnet man im Heute“, „Gott ist im Leben jeder Person. Gott ist im Leben jedes Menschen“ [IV Spadaro]. Gott lässt sich selbst gerade in Misserfolgen finden:

„Da wir nicht immer diese aufkeimenden Sprossen sehen, brauchen wir eine innere Gewissheit und die Überzeugung, dass Gott in jeder Situation handeln kann, auch inmitten scheinbarer Misserfolge, denn ‚diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen‘ (2 Kor 4,7). Diese Gewissheit ist das, was ‚Sinn für das Mysterium‘ genannt wird.“ [EG 279]

Gott ist für den Papst kein Besitz. Es geht nicht primär darum, was wir von ihm wissen, sondern ob wir mit ihm verbunden sind, er mit uns im Leben – zeitweise unerkannt – unterwegs ist und unser Leben trägt:

„Daher begegnet man Gott beim Gehen, auf dem Weg. Hier könnte einer sagen: Das ist Relativismus. Ist es Relativismus? Ja, wenn man ihn schlecht versteht wie einen verschwommenen Pantheismus; nein, wenn man ihn im biblischen Sinn versteht, für den Gott immer eine Überraschung ist. Daher weißt du nie, wo und wie du ihn triffst. Nicht du fixierst Zeiten und Orte der Begegnung mit ihm. Man muss daher die Begegnung erkennen, ausmachen. Dafür ist die Unterscheidung grundlegend.“ [IV Spadaro]

Dieses Suchen und Finden Gottes ist aber ein nicht immer einfacher Vorgang. Es ist mehr ein Tasten und Annähern, manchmal mehr ein Nichtwissen13 denn ein Wissen. Es bleiben Zweifel und Unsicherheiten.14 Viele Fragen lassen sich nicht beantworten und bleiben offen. An Gott zu glauben, ist mehr verbunden sein, denn zu wissen. Es ist vor allem eine existentielle Entscheidung, eine Art „Sprung in den Brunnen“15, ohne zu wissen, ob es unten einen festen Boden gibt, doch fest zu hoffen, aufgefangen zu werden:

„Ja, bei diesem Suchen und Finden Gottes in allen Dingen bleibt immer ein Bereich der Unsicherheit. Er muss da sein. Wenn jemand behauptet, er sei Gott mit absoluter Sicherheit begegnet, und nicht berührt ist von einem Schatten der Unsicherheit, dann läuft etwas schief. Für mich ist das ein wichtiger Erklärungsschlüssel. Wenn einer Antworten auf alle Fragen hat, dann ist das der Beweis dafür, dass Gott nicht mit ihm ist. Das bedeutet, dass er ein falscher Prophet ist, der die Religion für sich selbst benutzt. Die großen Führer des Gottesvolkes wie Mose haben immer Platz für den Zweifel gelassen. Man muss Platz für den Herrn lassen, nicht für unsere Sicherheiten. Man muss demütig sein. Die Unsicherheit hat man bei jeder echten Entscheidung, die offen ist für die Bestätigung durch geistlichen Trost.“ [IV Spadaro]

Fundamentalistische Alles- und Besserwisser warnt der Papst vor theologischer Arroganz und falscher Sicherheit:

„Das Risiko beim Suchen und Finden Gottes in allen Dingen ist daher der Wunsch, alles zu sehr zu erklären, etwa mit menschlicher Sicherheit und Arroganz zu sagen: ‚Hier ist Gott.‘ Dann finden wir nur einen Gott nach unserem Maß. Die richtige Einstellung ist die von Augustinus: Gott suchen, um ihn zu finden, ihn finden, um ihn immer zu suchen. Und häufig findet man nur tastend, wie man in der Bibel liest. Das ist die Erfahrung der großen Väter des Glaubens, die unser Vorbild sind. Man sollte das 11. Kapitel des Briefes an die Hebräer lesen: Abraham ist aufgebrochen, ohne zu wissen, wohin er gehen soll im Glauben. Alle unsere Vorfahren im Glauben starben im Blick auf die verheißenen Güter, aber immer von Ferne… Unser Leben ist uns nicht gegeben wie ein Opernlibretto, in dem alles steht. Unser Leben ist Gehen, Wandern, Tun, Suchen, Schauen… Man muss in das Abenteuer der Suche nach der Begegnung eintreten und in das Sich-suchen-Lassen von Gott, das Sich-begegnen-Lassen mit Gott.“ [IV Spadaro]

Dieser lebendige, die Welt und jede und jeden von uns tragende Gott kann, wie etwa „im sogenannten Westen, in Vergessenheit geraten“ [EU Parlament]. Das kann den Menschen veranlassen, sich im Umgang mit der Welt an Gottes Stelle zu setzen und zu vergessen, dass ihm diese Welt zum behutsamen Hegen und Pflegen anvertraut ist. „Wir sind nicht Gott. Die Erde war schon vor uns da und ist uns gegeben worden“ [LS 67], ruft Papst Franziskus in diese Gottvergessenheit hinein, ein Wort, das er von seinem Vorgänger Papst Benedikt XVI. übernommen hat.16

Besorgt macht Papst Franziskus auch, dass manche von einem falschen Gott reden oder – wie man zugespitzt formulieren könnte – dass sie aus einem unpassenden Gott einen uns passenden modellieren:

„In der heiligen Absicht, ihnen die Wahrheit über Gott und den Menschen zu vermitteln, geben wir ihnen bei manchen Gelegenheiten einen falschen ‚Gott‘ und ein menschliches Ideal.“ [EG 41]

Gott sucht und findet

Papst Franziskus macht es also weder sich selbst noch uns mit Gott leicht. Wer Sicherheit sucht, findet Gott nicht. Im Suchen kann aber die tiefe Gewissheit wachsen, von Gott selbst gefunden zu sein.

Er stellt damit die Aufforderung, wir sollten „Gott in allen Dingen suchen und finden“, gleichsam auf den Kopf. Denn letztlich sind nicht wir es, die Gott suchen. Vielmehr ist es, so ist Papst Franziskus überzeugt, Gott selbst, der uns unablässig sucht und verlässlich findet.

Die Initiative liegt immer bei Gott. Er erschafft die Welt, in ihr die Menschen. Sein Ziel ist, sich mit der Welt und in ihr mit jedem Menschen17 zu vereinen. Dazu schließt er einen Bund mit seinem Volk [IV Spadaro]. „Die Barmherzigkeit macht die Geschichte Gottes mit Israel zu einer Heilsgeschichte“ [MV 7], und das mit der ganzen Menschheit [AL 318]. In der Menschwerdung hat er mit der Einung begonnen. Am Ende wird er „alles in allem“ sein. Hier zeigt Papst Franziskus sich jenen suchenden Mystikern und Mystikerinnen (wie etwa Hildegard von Bingen oder Meister Eckhart, aber auch seinem Ordensbruder Teilhard de Chardin) nahe, nach denen die gesamte Schöpfung auf den „kosmischen Christus“ zureift:

„Das Neue Testament spricht zu uns nicht nur vom irdischen Jesus und seiner so konkreten und liebevollen Beziehung zur Welt. Es zeigt ihn auch als den Auferstandenen und Verherrlichten, der mit seiner allumfassenden Herrschaft in der gesamten Schöpfung gegenwärtig ist: ‚Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut‘ (Kol 1,19–20). Das versetzt uns ans Ende der Zeiten, wenn der Sohn dem Vater alles übergibt und Gott alles in allem ist (vgl. 1 Kor 15,28).“ [LS 100]

Franziskus ist also bei aller Gottessehnsucht und Gottsuche der Menschen überzeugt: „Gott kommt unserem Tun mit seiner Gnade zuvor.“18 In diesem Entgegenkommen schenkt Gott nicht nur „Gnaden“-Gaben, sondern ist selbst die „ungeschaffene Gnade“. In seiner Liebe zieht Gott jeden Menschen an sich, sucht ihn wie ein Hirte.

Mit wenigen Worten bündelt Papst Franziskus seine Theologie der Offenbarung, aber auch der Gnade. Gott „spricht zu uns19, offenbart sich und seine unermessliche Liebe im gestorbenen und auferstandenen Christus [EG 11]20, kommt uns zuvor21, bietet uns an; Gott zieht uns an“:

„Das Heil, das Gott uns anbietet, ist ein Werk seiner Barmherzigkeit. Es gibt kein menschliches Tun, so gut es auch sein mag, das uns ein so großes Geschenk verdienen ließe. Aus reiner Gnade zieht Gott uns an, um uns mit sich zu vereinen. Er sendet seinen Geist in unsere Herzen, um uns zu seinen Kindern zu machen, um uns zu verwandeln und uns fähig zu machen, mit unserem Leben auf seine Liebe zu antworten. Die Kirche ist von Jesus Christus gesandt als das von Gott angebotene Sakrament des Heiles. Durch ihr evangelisierendes Tun arbeitet sie mit als Werkzeug der göttlichen Gnade, die unaufhörlich und jenseits jeder möglichen Kontrolle wirkt. Benedikt XVI. hat dies treffend zum Ausdruck gebracht, als er die Überlegungen der Synode eröffnete: ‚Daher ist es wichtig, immer zu wissen, dass das erste Wort, die wahre Initiative, das wahre Tun von Gott kommt, und nur indem wir uns in diese göttliche Initiative einfügen, nur indem wir diese göttliche Initiative erbitten, können auch wir – mit ihm und in ihm – zu Evangelisierern werden.‘ Das Prinzip des Primats der Gnade muss ein Leuchtfeuer sein, das unsere Überlegungen zur Evangelisierung ständig erhellt.“ [EG 112]

Gott erhält somit uneingeschränkt Priorität im gläubigen Leben des Menschen und im Handeln der Kirche:

„In jeglicher Form von Evangelisierung liegt der Vorrang immer bei Gott, der uns zur Mitarbeit mit ihm gerufen und uns mit der Kraft seines Geistes angespornt hat. Die wahre Neuheit ist die, welche Gott selber geheimnisvoll hervorbringen will, die er eingibt, die er erweckt, die er auf tausenderlei Weise lenkt und begleitet. Im ganzen Leben der Kirche muss man immer deutlich machen, dass die Initiative bei Gott liegt, dass ‚er uns zuerst geliebt‘ hat (1 Joh 4,19) und dass es ‚nur Gott [ist], der wachsen lässt‘ (1 Kor 3,7).“ [EG 12]

Bilder von Gott

So sehr Franziskus davor warnt, Gott begrifflich in den Griff zu bekommen, nähert er sich dessen unbegreiflichem Geheimnis mit Bildern an. Dabei steht für den Papst fest, dass Gott zu uns gesprochen und sich geoffenbart hat:

„Wir tappen nicht in der Finsternis und müssen nicht darauf warten, dass Gott sein Wort an uns richtet, denn ‚Gott hat gesprochen, er ist nicht mehr der große Unbekannte, sondern er hat sich gezeigt‘.“ [EG 175]

„In Wirklichkeit ist das Zentrum und das Wesen des Glaubens immer dasselbe: der Gott, der seine unermessliche Liebe im gestorbenen und auferstandenen Christus offenbart hat.“ [EG 11]

„Dreifaltig“ Liebender

Gott wird von Papst Franziskus als der „dreifaltige“ Gott gepriesen. Dreifaltig meint, dass Gott in sich Gemeinschaft und Beziehung ist. Der Mystiker Richard Rohr spricht von einem innergöttlichen „circle dance“.

„Gott ist Gemeinschaft: Die drei Personen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes leben seit jeher und für immer in vollkommener Einheit.“ [AL 212]

Staunen und Lobpreis prägen die Grundbeziehung des Menschen zu Gott. Das Anbeten, nicht das Bitten hat Vorrang. Franziskus bewundert die Schönheit Gottes, die sich in der Schönheit der Welt spiegelt.

„Wenn wir also voller Bewunderung das Universum in seiner Größe und Schönheit betrachten, müssen wir die ganze Dreifaltigkeit loben.“ [LS 238]

Häufig gebraucht Franziskus das Wort Liebe, wenn er über Gott spricht. Im Gebet am Ende der Enzyklika Laudato si‘ ruft er ihn als „Gott der Liebe“ an [LS 248]. Diese „Liebe Gottes ist der fundamentale Beweggrund der gesamten Schöpfung“ [LS 77]. „Alles ist eine Liebkosung22 Gottes“ [LS 82]. Die Gottesbeziehung hat für ihn viel an Innigkeit und Erotik – was eine lange biblische Tradition hat.

Gottes Liebe malt der Papst als facettenreich: Sie ist heilbringend [EG 4, 36, 44, 121; IV Spadaro], stets größer [EG 79], tröstend [MV 3]. Es ist jene eine Liebe, die er in uns wachruft und uns so mit Gott vereint [AL 123]. Noch mehr: „Die Art, wie Gott liebt, wird zum Maßstab menschlicher Liebe.“ [AL 70] Gottes Liebe, so in seinem Schreiben über die Freude der Liebe, kommt (auch) in der ehelichen Liebe zum Vorschein:

„Die Liebe Gottes drückt sich ‚auch in den persönlichen Worten aus […], mit denen Mann und Frau einander ihre eheliche Liebe konkret kundtun‘.“ [AL 321]

Alle Verkündigung der Kirche soll um diese Liebe kreisen und sie bezeugen [AL 63]. Das geht aber nur, wenn jene, die verkündigen, diese Liebe auch selbst erfahren haben:

„Unerlässlich ist für den Prediger, die Gewissheit zu haben, dass Gott ihn liebt, dass Jesus Christus ihn gerettet hat und dass seine Liebe immer das letzte Wort hat.“ [EG 151]

In seinen Texten präsentiert Franziskus noch weitere Bilder, die unser Gottesverhältnis prägen sollen. Die Rede ist vom göttlichen Licht23, von Gottes Unermesslichkeit24, seiner Transzendenz, für welche die Welt offen ist [LS 79], seinem unerschöpflichen [LS 86] Reichtum, den er an die Welt sowie an seine Kirche verschenkt hat [LS 321].