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Die Schauspielerin Marianne Sägebrecht liebt das Leben in all seinen Facetten, begeistert sich leidenschaftlich für andere Menschen, für Geschichten und die großen und kleinen Fragen des Lebens. Eigenwillig, unbestechlich und bodenständig schildert sie in ihrem neuen Buch ihre eigene Sicht auf die Dinge. Mit ihren feinsinnigen Beschreibungen kommt sie den Leserinnen und Lesern ganz nah und verzaubert sie durch ihre besondere Wahrnehmung in einer eigenen Sprache voller poetischer Farben.
Es ist ihr persönlichstes und wichtigstes Buch, erwachsen aus den Erfahrungen in der Sterbebegleitung als junges Mädchen und ihrem langjährigen Engagement in der Hospizbewegung. Unerschütterlich vertritt sie ihren Glauben an Gott, an die Unsterblichkeit der Seelen, an das Gute im Menschen und an die Kraft der Liebe. Und ermutigt, das Sterben wieder ins Leben zu holen.
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Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2019
MARIANNE
SÄGEBRECHT
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagfotos: Sabine Hermsdorf-Hiss
ISBN 978-3-641-24422-4V002
www.gtvh.de
Dieses Buch widme ich
meiner geliebten Familie
Tochter Daniela, Enkeltochter Alina, Schwiegersohn Carmelo, Schwester Renate
und meinen Seelenbrüdern
Robert, Thomas, Albin, Lenny, Josef, Erik,
sowie dem gesamten hochmotivierten Team
des Christophorus Hospiz Vereins München.
(Abb.: www.pixabay.com)
Lasst uns dankbar sein gegenüber Menschen,
die uns Gutes tun.
Sie sind die liebenswerten Gärtner,
die unsere Seelen zum Blühen bringen.
Marcel Proust
INHALT
PROLOG
Auferstehung
KAPITEL 1
Kind der Stunde Null
KAPITEL 2
Mädchen an himmlischer Quelle
KAPITEL 3
Was Gott verspricht, muss das Leben halten
KAPITEL 4
Pflanzen, Kunst und Bombenschall
KAPITEL 5
Die Blaue Hose
KAPITEL 6
Ein Wesen vom anderen Stern
KAPITEL 7
Ich bin Seele – ich habe einen Körper
KAPITEL 8
Müd‘ vom Leben
KAPITEL 9
Das letzte Lächeln
EPILOG
DANK
ANMERKUNGEN
noch ist er unbewohnt
mein tod
wenn einst engel
über mir auffliegen
und mein leben forttragen
werde ich es mir bei ihm
gemütlich machen
Josef Brustmann
(Text: © Josef Brustmann)
(Abb.: © olga250 – Fotolia.com)
PROLOG
Auferstehung
Erkennt der Mensch
aber die Freude, die ihm
von einem anderen entgegenkommt,
dann empfindet er in seinem
Herzen ein großes Entzücken.
Denn dann erinnert sich die Seele,
wie sie von Gott geschaffen ist.
Hildegard von Bingen
Es geschah, dass in einem Schoß Zwillingsbrüder empfangen wurden. Die Wochen vergingen, und die Knaben wuchsen heran. In dem Maße, in dem ihr Bewusstsein wuchs, stieg die Freude: »Sag, ist es nicht wunderbar, dass wir leben?!« Die Zwillinge begannen, ihre Welt zu entdecken. Als sie aber die Schnur fanden, die sie mit ihrer Mutter verband und die ihnen die Nahrung gab, da sangen sie vor Freude: »Wie groß ist die Liebe unserer Mutter, dass sie ihr eigenes Leben mit uns teilt!« Als aber die Wochen vergingen und schließlich zu Monaten wurden, merkten sie plötzlich, wie sehr sie sich verändert hatten.
»Was soll das heißen?«, fragte der eine. »Das heißt«, antwortete der andere, »dass unser Aufenthalt in dieser Welt bald seinem Ende zugeht.«
»Aber ich will gar nicht gehen«, erwiderte der eine, »ich möchte für immer hier bleiben.«
»Wir haben keine andere Wahl«, entgegnete der andere, »aber vielleicht gibt es ein Leben nach der Geburt!«
»Wie könnte das sein?«, fragte zweifelnd der erste, »wir werden unsere Lebensschnur verlieren, und wie sollen wir ohne sie leben können? Und außerdem haben andere vor uns diesen Schoß verlassen, und niemand von ihnen ist zurückgekommen und hat uns gesagt, dass es ein Leben nach der Geburt gibt. Nein, die Geburt ist das Ende!«
So fiel der eine von ihnen in tiefen Kummer und sagte: »Wenn die Empfängnis mit der Geburt endet, welchen Sinn hat dann überhaupt das Leben im Schoß? Es ist sinnlos. Womöglich gibt es gar keine Mutter hinter allem.«
»Aber sie muss doch existieren«, antwortete der andere, »wie sollten wir sonst hierhergekommen sein? Und wie könnten wir am Leben bleiben?«
»Hast du je unsere Mutter gesehen?«, fragte der eine. »Womöglich lebt sie nur in unserer Vorstellung. Wir haben sie uns erdacht, weil wir dadurch unser Leben besser verstehen können.«
Und so waren die letzten Tage im Schoß der Mutter gefüllt mit vielen Fragen und großer Angst. Schließlich kam der Moment der Geburt. Als die Zwillinge ihre Welt verlassen hatten, öffneten sie ihre Augen. Sie schrien.
Was sie sahen, übertraf ihre kühnsten Träume.
Verfasser unbekannt
(aus Amerika, überliefert von Pfarrer H. Hoffmann, Hannover, gefunden bei Klaus Berger, Wie kommt das Ende der Welt, Stuttgart 1999, S. 227f.)
KAPITEL 1
Kind der Stunde Null
(Abb.: © Yolande Paulette Beck)
Alle Wege
führen zu dir
Yolande Paulette Beck
Einem befreienden Schrei, der sich zu einer besorgten Zimmerdecke empor rankt, folgen gurrende Schmerzensschreie einer neuerkorenen Mutter, die urplötzlich vom ersten Schrei einer gelandeten Weltenbürgerin übertönt werden.
Die Hebamme Annegreth notiert sich gerade ins Stundenbuch den 27. August 1945, Zeit der Ankunft: 3:10 Uhr, Ort des Geschehens: Domizil der Hebamme, Possenhofenerstraße, Starnberg, Geschlecht: weiblich. Das war in dieser Woche nach zwei Knaben schon das dritte Wesen, ein wohlgeformtes weibliches Geschöpf, das sich nach den unsäglichen Verlusten von Menschenkindern im blutigen, bombenverhagelten Dunstkreis des in seinen Ausmaßen unvorstellbaren Zweiten Weltenkrieges auf den Weg in die irdische Arena des Weltenrunds aufgemacht hatte. Ja, die biologische Mama war, als es nach nicht enden wollenden fünf Jahren im November 1944 langsam dem Kriegsende zuging, mehr als fleißig im Einsatz, denn all diese Neugeborenen wurden ja in diesem tristen November-Monat von den vielen heimkehrenden Soldaten gezeugt. Das sind die im Sommer geborenen sonnengeküssten, hochenergetischen Wesen, die für eine Wiedererstehung einer in sich zusammengebrochenen Gesellschaft von großen Nöten sind, sinniert die altgediente Hebamme mit einem verschmitzten Lächeln in sich hinein.
Und wenn sie sich nun schön langsam auch mal wieder um mich und meine erschöpfte Mutter Agnes kümmern würde, auf deren großem Bauch ich immer noch blutverschmiert mit meinem Bäuchlein nach unten liege, wäre uns sehr geholfen. Mit »Wir warten jetzt noch auf die Nachgeburt, Agnes, das kann aber noch ein paar Stunden dauern« hat sich Annegreth, deren schöner Name schon während der schweren Presswehen, eingepfercht im Geburtskanal, in meine kleinen Wuzzi-Ohren drang, mir vorgestellt. »Annegreth, mein Popo ist am Erfrieren«, mosere ich jetzt, so kräftig ich nur kann. So habe ich mir diesen sprachlosen Zustand gleich nach der Geburt nicht vorgestellt! Darüber wurden wir in unserem Seelendelta-Tal nicht in Kenntnis gesetzt. Der wohlbekannte Herzschlag meiner Mutter schickt mir warme Gefühle und tröstende Gedanken. Mein Köpflein liegt seitlich, so kann ich das ersehnte Antlitz meiner Mutter noch nicht dingfest machen. »Hilfe, hilfe, ich friere«, rufe ich in die neue weite irdische Welt hinaus, um dann plötzlich von einem tröstlichen Schläflein übermannt zu werden.
Von zwei kräftigen Händen, die wohl wissen, was sie tun, finde ich mich immer noch nackt, wie Gott mich schuf, und immer noch schlotternd mit einer verlorengegangenen Nabelschnur – »Aua, da tat was weh an meinem jungen Bäuchelein« – in Richtung der schummrigen Deckenleuchte emporgehoben. Die Geburtenstation hatte unsere gewiefte Hebamme übrigens mit Genehmigung der Übergangsregierung der Stadt Starnberg in ihrer 4-Zimmer-Wohnung etablieren dürfen.
»Hui«, mittlerweile hatte ich auch schon den Namen meiner Mutter verinnerlicht, »lass mich sie doch endlich ins Auge fassen«, moserte ich wieder, nun Auge an Auge mit Annegreth. Ein liebevoller Blick aus ihren gütigen blaugrauen Augen umflort meine zierlichen Rundungen, die ich schon leicht fühlen kann. Die Ankunft von Mutters Placenta, meiner Ex-Luxusküche, so die Worte der Hebamme, habe ich wohl verschlafen.
»Aua, mein Nabelstummel brennt ja lichterloh, und ich bin jetzt hungrig nach der langen Reise. Bitte Mama, nimm mich doch an deine Brust«, mosere ich und verziehe mein Näschen, als plötzlich, während meiner Talfahrt auf dem Handteller in Richtung Mutterbrust, ein lebendiger Schwamm aus Annegreths Hand in meinem Gesicht herumspringt, sich blutverschmiert aus dem Staube macht und mir damit urplötzlich den Schleier vom wunderschönen, aber vor Schweiß triefenden Gesicht meiner auserwählten Mutter zieht. Die Brustzitze wird jetzt zum Üben von der Hebamme in mein hungriges Mäulchen gesteckt. An dieser Bar ist allerdings heute nur kalte Luft zu ergattern. Also weitersaugen, während der runzelige Finger von Annegreth zu Saugübungen mit ins Spiel kommt. »Igittebah, das schmeckt ja noch placentarisch! Finger, Finger, nimm du gleich mal deinen Hut«, versuche ich den Eindringling humorvoll von mir zu weisen. Nach meinem Würgelaut zieht sich dieser runzelige Zeigefinger tatsächlich zurück. Ob sie mich wohl verstehen konnte? Aber das war wohl eher ein Zufall.
Wie gut, dass uns der Schöpfer die Hebamme Annegreth mit ihrer großen Fürsorge und einem Herzen aus Gold zur Seite gestellt hat. So kuschel ich mich halt hungrig, aber glücklich und zufrieden an meine Agnes. »Da hat man uns jetzt aber ein aufgewecktes Kerlchen geschickt. Fehlt nur noch, dass dieser Säugling gleich anfängt, aus der Bibel zu zitieren«, entfleucht es einem schmunzelnden, kräftigen Mund, der sich aus den Augenwinkeln der frisch gekürten Mutter Agnes zu dem lachenden Augenpaar der Hebamme gesellt. Mein linkes Händchen greift sich flugs eine von Annegreths silbernen Haarsträhnen, die ich zur Strafe für die verweigerte erste Mahlzeit erst mal nicht mehr loszulassen gedenke.
»Aber ich habe mir doch zusammen mit dem Vater Georg so sehr ein Mädchen gewünscht! Marianne sollte sie heißen, das hat er mir schon Ende April im Traum übermittelt. Ist denn wenigstens alles dran an dem Kerlchen?«, ertönt zaghaft die Stimme von Agnes. »Ich bin’s doch, eure Marianne, keine Sorge«, versuche ich mich wieder bemerkbar zu machen, beschließe aber, doch lieber erst meine überlebenswichtigen Saugübungen zu absolvieren. Und da, ein Wunder – die Pforte meiner Milchstraße wird urplötzlich eröffnet, aber das werde ich jetzt erst mal sehr weise für mich behalten. Halleluja. »Das Fläschchen mit dem Kamillentee bekommt unser Wuzzi morgen früh, eventuell ist ja bis dahin schon die Milch eingeschossen, wir brauchen jetzt alle drei unseren verdienten Schlaf, und morgen macht er endlich seinen Antrittsbesuch«, murmelt Annegreth, nebst einem lauthalsen Gähnen in den kleinen Altfrauenbart ihrer klimakterischen Oberlippe. Wie tröstlich, dass Mutter Agnes schon eingeschlafen ist und nichts von den Prophezeiungen der Hebamme mitbekommen hat. »Oh, du Schreck der ersten Nacht auf meinem gerade ins Visier genommenen Erdenrund, ich hab alles vernommen. Kommen denn morgen früh die Milchmänner auf ihren Panzern und schießen zu uns herein? Der Krieg ist doch, Gott sei es vergeben, seit dem 8. Mai vorbei, Annegreth«, murmel ich brubbelnd vor mich hin und schmiege mich sattgetrunken an meine Nahrungsquelle, während mein linkes Händchen die andere Brust umfasst. »Ja, du schöne neue Welt, ich bin als Linkshänderin angetreten, ein Problem, Frau Geburtshelferin?«, argumentiere ich frech in mich hinein. Madame hört mich ja nicht, und so ziehe ich mir jetzt noch zum Nachtisch den mir so wohlbekannten, beruhigenden Geruch meiner Mama in die Nase, als Agnes plötzlich mit unkontrolliertem Schreien »Keine Panzer, keine Soldaten, bitte!« aus ihrer für mich bis dahin kuscheligen Liegeposition schreckensbleich hochschreckt. Für mich ist nun die erste Körperrolle meines jungen Lebens angesagt, die ich durch Hochstemmen über die Kniehügel bis hinunter zu den Zehen meiner Mutter tapfer absolviere. Meine bis dahin an Mutters Bauch angestemmten Beinchen beginnen plötzlich Schmerzsignale zu senden. Annegreth, schon in ein grobleinernes Nachthemd gewandet, hat ihren aufgelösten Haardutt kokett auf ihre kräftig geformten Schultern verteilt.
Die angstvollen Schreie von Agnes lassen sie wieder sorgenvoll im weißlackierten, abgeblätterten Türrahmen erscheinen, der über die Jahre sicherlich schon einiges zu erzählen hätte. Aus meinem Traumland im Regenwald, mit einem Flussbett voll Milch und Honig, werde ich durch die Schreie meiner Mutter zurückgeordert und von meinem Schutzengel Annegreth gerade noch vor einem neuerlichen Absturz aufgefangen und in mein Korbwägelchen neben Mutters Bett gelegt, was ich mit bitterlichem Weinen quittiere. Meine Füßlein tun so weh. Eine kleine Wärmflasche samt selbstgenähter Kuscheldecke aus Kaninchenfell wird von Annegreth beauftragt, stoische Ersatzmutterpflichten zu übernehmen. Agnes, immer noch am ganzen Körper zitternd, bekommt drei Suppenlöffel voll Baldrianelixier, ein selbstgebrautes Hausrezept, mit ordentlichem Alkoholanteil angesetzt – versteht sich in Zeiten wie diesen. Bei einer kräftigenden Wurzelsuppe, die Annegreth noch für Agnes in Hitzewallung versetzt hat, streicht sie zart über den verschwitzten Haaransatz ihrer Anbefohlenen. »Es ist ein Madl, Agnes. Euer Mariandl, ein ganz besonders G’wachs. Du, die kummt von weit her, vielleicht sogar von der Venus, du, des gibt’s. Die wird dir, deinem Georg, wenn er jetzt bald aus’m Krieg heimkommt, und den Menschen noch viel Freud’ machen, da hob i ein G’spür dafür«, höre ich Annegreths brüchige Stimme sagen.
»Ein Mädchen haben wir bekommen, Georg, ein Mädchen, wie du es dir so sehr gewünscht hast«, rieselt es über die blassen Lippen von Agnes, während sie mit einem befreiten Lächeln ihr Schlafdefizit wieder aufzufüllen scheint. Das alles kann ich von Annegreths Schoß aus erspähen, sie hat mich aus meinem Korbwägelchen genommen und in eine Decke eingehüllt, wo ich bis zu meinem Einschlafen verbleiben darf. »Ach, mein Kleines, fast hätt ich’s vor lauter Aufregung verschwitzt, meiner Agnes die frohe Botschaft mitzuteilen, dass sie heute einem so sehnsüchtig erwarteten Mädchen das Leben geschenkt hat. So wie es sich abzeichnet, werde ich dich und Agnes noch mindestens vier Wochen hier bei mir behalten müssen. Die Bäuerin hat gestern für Agnes einen Brief abgegeben, wo sie ihr kündigt, während sie mit dir in den Wehen lag, mein Sonnenschein. Sie hat euer Zimmer und die Arbeitsstelle von Agnes schon wieder vergeben. Wir müssen zum Sozialamt, aber das mach ich schon für euch als Fürsprecherin«, richtet sie ihre Worte mit liebevoller Stimme in Richtung ihres großen Sorgenkindes und streicht gleichzeitig zärtlich über mein Köpflein mit den reichlich schwarzen Haaren.
»Ich bin hundemüde und doch überwach«, sagt meine Mama, doch ich stelle mich schlafend, als mich Annegreth nun endgültig in das unvermeidliche Korbwägelchen niederlegt, eingewickelt in die wärmende Decke. Mein kleines Herz fängt wieder angstvoll an zu klopfen, wie so oft in den letzten vier Monaten im Domizil eines schützenden Herzensgrundes. »Was versteckt sich da für uns im dunklen Dornenbusch, Mama? ›Er‹ würde morgen kommen«, hat Annegreth heute angedeutet.
Meinte sie etwa meinen Vater Georg, der sich jetzt, Ende August 1945, seit dem Kriegsende Anfang Mai, längst auf dem Heimweg befinden müsste. Aus halboffenen Äuglein behalte ich Annegreth durch die Schlitze im Wagen im Visier, als sie noch einmal eine kleine Runde dreht, um sich dann mit einem schweren Plumps in ihren in brüchiges Gobelin gewandeten Rundsessel fallen zu lassen. Eine halbvolle Flasche Cognac hat bei ergrauendem Morgen versprochen, unverzichtbare tröstende Dienste zu leisten.
Nach einem kräftigen Schluck, an dem sich Annegreth auch noch verschluckt, öffnet sie mit zitternden Händen den Umschlag für Agnes, der sich mit zwei weiteren auf der fein gehäkelten Tischdecke des runden Barocktischchens für Agnes eingereiht hat. Als Absender tituliert sich ein Lazarett in Korbach, im Ortskreis Kassel.
Annegreth nuschelt vor sich hin. Ich kann nichts verstehen. Annegreth liest leise, aber da tönt es plötzlich messerscharf aus ihrem Mund an mein kleines Ohr und ich erschrecke fast zu Tode. »Georg Deil ist am 14. April 1945 im Dienst während der Bewachung des Lazaretts Korbach nach einem Schuss aus dem Hinterhalt den Heldentod für sein Vaterland gestorben.«
Langsam macht sich die Nachricht über das Fußende des Bettes auf den Weg, um zu Agnes zu gelangen, die sich tief in geheimen Zonen ihres Schlaflabyrinths aufzuhalten scheint. Ein greller Aufschrei aus Annegreths Mund pfeift das unfassbare Gefilde wieder zurück. »Nein, ich werde es Agnes jetzt nicht sagen«, entscheidet sie schluchzend, um dann ganz klar und unmissverständlich zu entscheiden, dass diese tieftraurige Nachricht nicht jetzt und auch nicht in den nächsten Wochen an Agnes weitergegeben wird.
Ein kräftiger Schluck direkt aus des Cognacs Flaschengrund bekräftigt diese Meinung. »Eine dringliche Botschaft an Großvater Franz-Xaver Steiger ist nötig, um für Agnes und ihre kleine Tochter um existenzielle Hilfe zu bitten«, blieb nun Gevatter Cognac, nach einem zweiten größeren Schluck, mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.
Ich bin die ganze Zeit hellwach in meinem kleinen Körperkerker und von großer Trauer überwältigt, nun ohne die Fürsorge meines Vaters aufwachsen zu müssen. Ich werde meiner geliebten Mutter von dem gerade Vernommenen nicht einen Funken pantomimisch zu übermitteln versuchen, rattert es durch meinen Kopf, als ich plötzlich vom Bett meiner Mama ein Weinen vernehme, das zum Schrecken von Annegreth immer lauter anschwillt. Agnes konnte keinen Schlaf finden und hatte alles haarklein vernommen. »Verrat nichts an meine kleine Tochter«, jammert sie inbrünstig, während ihr schluchzender Körper von den warmen Armen Annegreths herzlich umfangen wird. »Ach, die kleine Maus, die versteht ja noch gar nix, mach dir da mal keine Sorgen«, lässt sie nun Agnes tröstend wissen. »Stimmt nicht«, versuche ich lauthals zu kontern, kann mich aber wieder nicht ausdrücken. Stattdessen schreie ich aus Leibeskräften, bis mich unsere Schutzpatronin wieder an die warme, trinkbereite Brust anlegt, eine Ablenkung, die sie als agierende Hebamme just in diesem Moment dankbar annimmt.
Ich spüre, wie meine Mama durch unsere Nähe und unsere tiefe Verbundenheit getröstet und ruhiger wird. »Jetzt sind wir zwei frisch ernannte Kriegswaisen im Dienst für das Vaterland, Mama«, versuche ich ein ironisches Späßchen zu brabbeln. »Kein Anschluss unter dieser Nummer«, da ist wohl noch Geduld für meine ungeduldige alte Seele angesagt.
Meine bei Geburt schwarzen Haare transformieren sich innerhalb der nächsten drei Tage zum Schrecken von Agnes und Annegreth in einen Weißton, denn ich verliere wohl unter Schock und aus dem Bewusstsein heraus, hinfort ohne leiblichen Vater aufwachsen zu müssen, meine Farbsegmente.
In dieser Zeitperiode weine ich viele Tränen und bin gar nicht mehr zu beruhigen, bis ›Er‹ kommt, um sein Versprechen, das er seiner Tochter Agnes gegeben hatte, einzulösen. Mein Großvater Franz-Xaver, der eine Gärtnerei in Ebenhausen als Familienbetrieb leitet, bietet uns nach der positiven »Sieben-zu-Eins-Abstimmung« seiner Großfamilie Wohnung und Verpflegung gegen die Mitarbeit meiner Mama in der Gärtnerei an. Nach vier Wochen holt er uns, wie versprochen, zu sich. Er besteht darauf, mich zu tragen. Als ich meine Äuglein öffne, tauchen in meinem Blickfeld tränenumflorte grüne Augen eines Indianerhäuptlings auf. Mit diesem Blick startet eine große, tiefe Liebe zwischen Opa Franz-Xaver, Gärtner und Schamane aus Leidenschaft, und seiner ersten lernbegierigen, siebengescheiten, wie man später oft zu sagen pflegte, Enkeltochter Marianne, einem »Kind der Stunde Null«.
Ein weiteres Kind, sein 16-jähriger Sohn Xaver, war in den letzten Kriegsmonaten noch eingezogen worden, konnte aber die »Stunde Null« nicht mehr mit geschöpftem Leben erfüllen. Der dritte Brief, den Opa von Annegreth bei unserer rettenden Abholung in das Domizil der Gärtnerei erhält, setzt ihn über den sinnlosen, tragischen Heldentod seines Sohnes in Kenntnis, der noch in der ersten Maiwoche sein Leben unter einem französischen Panzer verloren hatte.
Vier Monate vorher, am 30. April, ergießt sich Unruhe über das bayerische Land, der zweite Weltkrieg nähert sich seinem Finale zu. Die amerikanische Armee ist über den Rhein gekommen, was meinem Vater bei einer schützenden Patrouille um das deutsche Lazarett in Korbach durch einen gezielten Heckenschützenangriff das Leben nimmt. Meine Mutter Agnes dient zu dieser Zeit, mit mir schwanger im fünften Monat, bei einer Bäuerin auf der Westseite des Starnberger Sees. Ihre Aufgabe besteht darin, für die Familie zu kochen, die Tiere zu füttern und den kriegsgefangenen Waldarbeitern aus Polen, Ungarn und Frankreich täglich einen Korb voll Essen zu bringen, derweil sie sich mutig entscheidet, von den Gefangenen heimlich Briefe an ihre Lieben als Lebenszeichen mitzunehmen. Das Porto bezahlt sie von ihrem kargen Lohn.