Ich unter anderem - Fritz Meyer - E-Book

Ich unter anderem E-Book

Fritz Meyer

0,0

Beschreibung

Aus Fritz Meyers Roman, der im Zürich der frühen vierziger Jahre und in einer Stadt am Meer spielt, spricht ein Suchender. Ein Skiunfall mit kompliziertem Beinbruch fesselt den Erzähler, elternlos und Lehrling bei Spörri & Co, ein paar Monate ans Krankenhausbett. Bald empfindet er die regungslose Rückenlage als Zustand des Glücks. Der Blick nach oben, ins Offene, begünstigt das Denken, und er begibt sich in das Labyrinth des eigenen Selbst. Da warten die rückbezüglichen Tätigkeitswörter, die ihn schon immer verwirrten, Erinnerungen an Kindernächte in der Höhle des Elternhauses, die Entdeckung der Welt. Und die der Liebe. Wenn sie erwacht, braucht sie einen Gegenstand, sonst ist sie für nichts. Allein, Katharinas Anrufe sind ausgeblieben. Die junge Frau aus besseren Kreisen, die wie er Kurse an der Volkshochschule belegt und engagiert über Eros diskutiert, sieht er erst am Tag seiner Entlassung wieder – ein denkwürdiger Tag, an dem nichts mehr ist, wie es vorher war. Ich unter anderem zieht mit langen, atmenden Sätzen, die an Camus erinnern, in den Bann. Die Modernität in Ton und Erzählung des erstmals 1957 erschienen Romans versetzt in Erstaunen, und man stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass eine solch hochinteressante literarische Stimme vollends in Vergessenheit geraten ist?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 251

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fritz Meyer | Felix E. Müller

Ich unter anderem

Roman

Mit einem Nachwort von Felix E. Müller

atlantis

I

Am Anfang des Jahres habe ich bei der Abfahrt von Haggenegg, kaum war ich am Kreuz vorbei, den linken Unterschenkel gebrochen. Auf dem Röntgenbild, wenn ich es gegen das Licht hielt, sah ich deutlich die beiden Knochen, das Schienbein und das dünnere Wadenbein, die sich der spiralförmigen Bruchfläche entlang um etwa zwei Zentimeter verschoben, wahrscheinlich durch Muskelzug, sodass an einen Gipsverband vorerst nicht gedacht werden durfte, sollte das Bein nicht kürzer bleiben, sondern der Fersenknochen mit einem rostfreien Draht durchbohrt werden musste, an den vermittels einer sinnreichen Vorrichtung, die dem erfindenden Chirurgen zu Ehren mit dessen Namen benannt ist, »Kürschner« oder »Kistner«, ich erinnere mich nicht, Gewicht angehängt werden kann, das den Zug der Muskeln ausgleicht und das Bein so lange streckt, bis die Knochenenden richtig zueinander stehen. So lag ich einige Wochen meist unbeweglich auf dem Rücken, das Bein von einem Gestell in der Höhe getragen, über die hinweg ich nicht sah, weil das Federbett weiß und steil vor meinem Gesicht sich aufrichtet.

Jener Tag war ein Sonntag gewesen, neblig und kalt, schon als ich frühmorgens aus der Stadt wegfuhr seltsam zögernd oder gar schleppend, als wolle er nicht werden, lange noch dunkel, und man saß bei der trüben Beleuchtung elektrischer Birnen schläfrig im warmen Abteil. Strich draußen ein Licht vorbei, beim Passieren eines Bahnhofs etwa, dann leuchteten am Fenster die Eisblumen auf, und man hatte alle Zeit, während der darauffolgenden Fahrt sich ihre Formen ins Bewusstsein zu rufen, um bei nächster Gelegenheit mit denen des Fensters sie zu vergleichen; stimmen die Bilder nicht überein, so ist der Grund hierfür auch darin zu suchen, dass, bis draußen das nächste Licht erscheint, die Blumen in der Winterluft sich wohl verändert haben.

Die Reise dauerte nahezu zwei Stunden; es wurde Tag unterdessen; der Kondukteur drehte die Lampen aus, einige spannten Seehundfelle unter ihre Skis oder klebten solche auf die Gleitfläche, solange man noch an der Wärme war und das Wachs sich verreiben ließ; die Scheiben blieben undurchsichtig, und nur wenn man dagegen hauchte oder die Fingerbeeren eine Zeit lang daranhielt, konnte man durch solche Taulöcher feststellen, dass draußen noch immer ein dichter Nebel stand.

Von einer bösen Vorahnung will ich nicht reden, obschon, wie ich später mit verdrehten Schenkeln im Schnee lag, ich mich darob nicht weiter verwunderte und diesen Unfall als durchaus programmmäßig empfand, umso mehr, als ich keinerlei Schmerzen verspürte und hingestreckt war wie zu einer freiwilligen Rast. Ganz ahnungslos, nur etwas verdrießlich über das unfreundliche Sonntagswetter stieg ich in der langen Kolonne, deren Spitze zu erreichen ich mich vergeblich bemühte, gegen den Berg, und auch jetzt schien mir, es wolle nicht werden, woran vor allem der Nebel Schuld trug, der jede Aussicht verschloss; man meinte, an Ort zu gehen. Eingeengt zwischen Vorder- und Hintermänner, konnte ich meinen gewohnten Schritt nicht finden und stolperte mehr, als dass ich voranglitt; so verließ mich ein gewisses Unbehagen während des ganzen Aufstieges nie, und wie nun der Wind mit zunehmender Höhe heftiger wurde, dass man zuweilen gar anhalten musste und sich abwenden, um den Atem zu finden, wodurch die Kolonne noch ärger ins Stocken geriet, der Hintere auflief, man gegen den Vorderen stieß, da wäre ich doch lieber zu Hause geblieben und am Nachmittag mit Katharina ins Kino gegangen, wo ich im Dunkel sie hätte umarmen können und abends dann heimbegleiten; an einen Unfall aber dachte ich nicht, nicht einmal bei dem Sturz, den ich, kaum war der Gipfel verlassen, über einen nur dünn verschneiten Baumstamm tat, wo ich doch sonst sturzfrei zu fahren gewohnt bin, da ich von Kindsbeinen an auf Skiern stand.

Auch andere stürzten; ich sah sie, während ich lag, aus dem Nebel auftauchen, ihre gespannten Gesichter, als blickten sie scharf nach gefährlichen Punkten, an mir vorbei in die Tiefe fahren und im Nebel wieder verschwinden; ich hörte Skis über Eisflächen kratzen und Rufe Hep! Hep!, von denen ich nicht wusste, woher sie kamen; zudem wurde die Sicht durch den beginnenden Schneefall noch schlechter. Ich beeilte mich, der Weg war mir wohlbekannt, er führte nun mäßig steil bis zum Kreuz, teils durch Pulverschnee, teils über verblasene Stellen, wo man die Kanten einschlagen musste, dann ging es in lichtem Wald talwärts, an Heuschobern vorbei, zwischen Zäunen hindurch; ich fuhr schnell und überholte die Zögernden, denen die Route unbekannt war, und fühlte, wie sie im Rücken sich in meiner Spur in den Nebel einwarfen. Und dann fiel ich vornüber, als ich für einen Augenblick zweifelte, ob rechts oder links (gradaus schien etwas Dunkles im Wege, es war ein Stall), und lag darauf mit verdrehten Skiern im Schnee, wusste auch sogleich, dass ich den linken Schenkel gebrochen hatte. Ich löste die Bindung, nahm den schweren Schuh in die Hände und legte ihn richtig; dann hatte ich nur noch zu warten, bis einer hinter mir aus dem Nebel kam. Es dauerte nicht lange; er fiel, ohne sich zu verletzen, wollte mir aufhelfen, aber das ließ sich nicht machen, und ich bat ihn, den Bewohner des nächsten Hauses zu benachrichtigen, den ich gut kannte, da ich jedes Jahr, nicht nur im Winter, ein paar Tage bei ihm verbrachte. Andere kamen vorbei, erkundigten sich und tauchten langsam und vorsichtig in den Nebel hinab; ich erkaltete mehr und mehr, auf dem Rücken liegend und mit dem zunehmenden Schneefall im ungeschützten Gesicht. Ich erinnere mich nicht, an Katharina gedacht zu haben, aber ich weiß noch, dass mich nach einem Körper verlangte, dass meiner vielmehr nach einem anderen unruhig wurde, nach einem tierischen, warmen, der ihn geborgen hätte.

Es dauerte nur zwanzig Minuten, wie ich später erfuhr, bis Helge mich holte, auf einen Schlitten lud und mich zum Haus hinab zog; nun schmerzte das Bein sehr, und als er mich auf den Armen die enge Treppe hinauftrug, da konnte ich es nicht mehr verbeißen und schrie. Helge legte mich auf ein Feldbett, das er im kleinen Zimmer neben der Stube für sich aufschlug, wenn über das Wochenende Gäste da waren, gab mir Zigaretten und löste den Schuh, während ich den Rauch so tief in mich einzog, dass mich ein leichter Schwindel befiel; später kam er mit einer hölzernen Schiene aus der Werkstatt zurück und band mit Schnüren das Bein daran fest. Essen mochte ich nicht, nur rauchen, und so lag ich eine unbestimmte Zeit zwischen Wachen und Schlaf; Helge fuhr ins Tal und telefonierte um einen Krankenwagen. Mittlerweile war aber ein Sturm losgebrochen, und man könne mich heute nicht mehr transportieren, sagte er, die Straßen seien verweht; er hätte mit den Bauern verabredet, dass für den nächsten Tag ein Pferdefuhrwerk bereitstehe und ein paar Männer mit Schaufeln; in Einsiedeln werde man mich in die Bahn verladen, und in Wädenswil stehe das Krankenauto bereit. So geschah es; am Montag um die Mittagszeit trug man mich in den Operationssaal unter den mitleidigen Blicken weiß gekleideter Schwestern; man entfernte die Schiene, fuhr mich ins Röntgenkabinett, und aufgrund des Bildes wurde dann der Draht durch den Fersen gebohrt und Gewicht angehängt.

Über Helge, der damals in den Vierzigern stand und schon seit Jahren dort in den Bergen hauste, ist viel gemunkelt worden. Niemand wusste genau, warum er aus Norwegen flüchten musste. Er lebte ganz allein in einem der Bauernhäuser, wie sie an jenen Hängen verstreut sind, trieb etwas Handel, hauptsächlich mit Petrol, das er fassweise kaufte und das von den Nachbarkindern in Bierflaschen bei ihm abgeholt wurde, sammelte Beeren und Pilze und führte eine Privatpension, die starken Zulauf fand, besonders im Winter, denn das Umgelände ist für den Skilauf günstig. Vorab junge Leute kamen dahin, um die Nacht auf den Sonntag in den kleinen Schlafzimmern zu verbringen, in die Helge mit ein paar Brettern das obere Stockwerk abteilte; am Morgen gab es eigen gebackene Brötchen und Konfitüre aus Bergbrombeeren; es war billiger als im Hotel und ungestörter. Katharina ist nie mit mir zu Helge gekommen; einmal war ich mit Gertrud hier über Nacht und bekam das Doppelbett, doch wir wussten beide nicht wie und vermieden am Sonntag, uns in die Augen zu schauen. Sonst schlief ich bei Helge, wenn ich da hinaufkam, um in den Felsen zu klettern oder Ski zu laufen; er hat nie etwas Böses an mir getan.

Das war in meinem achtzehnten Jahr, als meine Eltern schon gestorben und ich bei Spörri & Co. eben die Lehre antrat, abends auf der Volkshochschule Vorlesungen besuchte und dabei mit Katharina Bekanntschaft schloss. Ihr Vater war Bibliothekar, und sie gehörte den besseren Kreisen an, während ich aus armen Verhältnissen stammte, jedoch voll guten Willens, mich zu ihrer Höhe heranzubilden, nach der ich aufschaute. Was die Beziehung der Geschlechter betrifft, so hatte ich einiges von Helge vernommen, doch zeigte Katharina sich dermaßen abwehrend, wenn ich etwa auf dem Heimweg von der Volkshochschule im Schatten der Kastanien sie an mich zu drücken versuchte, dass ich bald davon abließ und nur weiter aufschaute zu ihr, sie begleitete bis ans Tor, im Kino einen Arm um ihre Schultern legte und in den Nächten, da ich mit Helge im Bett lag, mir vorzustellen versuchte, wie es sein müsste mit Katharina, jedoch mir nicht einmal ein Bild machen konnte davon, so wenig erfahren war ich. Nur was man im Strandbad, in Reklamen, reproduzierten Kunstwerken oder jenen meines früh verstorbenen Onkels an Weiblichem sah, war mir bekannt, und wenn ich auch aus belauschten Gesprächen bei Spörri & Co. oder früher, in der Schule, einiges gehört, dessen ich noch niemals ansichtig geworden, so blieb mir diese Beziehung doch voller Rätsel; selbst in der Gesellschaft von Helge ward ich nicht inne, worum es ging.

Nachdem er mein Bein auf der Schiene befestigt hatte, ließen die Schmerzen nach, aber essen mochte ich noch immer nicht; der Tag nahm schon bald wieder ab, und mir schien, er sei überhaupt nicht hell geworden, als Helge nun das Petroleumlicht anzündete und den Radio neben mich rückte. Der Empfang war schlecht, vielleicht wegen des Sturmes, der so heftig ums Haus fuhr, aber etwas Musik hörte ich doch, ein Werk für Orchester, es hätte Mozart sein können. Ich träumte dann bei geschlossenen Augen, schlief aber nicht, da ich über mein gebrochenes Bein glaubte wachen zu müssen, und, das weiß ich genau, ich war beinahe glücklich dabei. Mehr will ich nicht sagen davon, denn jene Nacht ist lange vorbei, und ich könnte mich täuschen; das Glücksgefühl hingegen spüre ich heute noch, wenn ich mich zurückversetze dorthin. Es entsprang vielleicht der plötzlichen Ruhe, der des Winters und die aus Winden gemacht war, aus gelbem Lampenlicht und Helges Händen, wenn sie ein Kissen mir unter den Rücken schoben, immer mehr aber auch aus innigem Andenken an Katharina, je länger ich unbeweglich und nach oben gerichtet lag. Die Nacht ist vergangen, und ich habe manches Mal ihren Namen still vor mich hin gesagt, als könnte ich sie derweise rufen; am Morgen, noch immer im Sturm, trug Helge mich behutsam die Treppe hinunter und band mich mit Stricken auf einem Schlitten fest, fuhr zu Tal damit bis zur Straße, wo man ein Pferd vorspannen konnte, und dann wurde ich stundenlang durch hohen Schnee gezogen und geschüttelt, dass ich vor Schmerz in die gefrorene Decke biss.

Was mich in jener Zeit beschäftigte, schon, ich erinnere mich, in früher Kindheit beschäftigt hatte und seit Kurzem, angeregt durch das, was ich in der Volkshochschule hörte, noch mehr, das waren rückzielende Tätigkeitswörter: sich waschen, sich freuen. Im Ganzen lag ich vierzehn Wochen im Spital, die Hälfte davon mit hochgelagertem Bein, aber auch nachher, durch den schweren Gipsverband gezwungen, fast regungslos auf den Rücken gestreckt, und diese Lage war meiner überlegenden Beschäftigung günstig. Ich glaube auch, dass sie verstärkt und dringender wurde, nicht länger ein bloßes Gedankenspiel hätte genannt werden können, sondern so tief in mein Leben einging und aus ihm herauskam, wie in der frühesten Zeit, durch meine Bekanntschaft mit Katharina. Noch heute aber ist es mir kaum möglich, davon zu berichten; nicht nur, weil meine Bemühungen resultatlos verliefen, sondern eben des Anteiles wegen, den mein ganzer Körper, das Eingeweide nicht ausgenommen, an jenen denkerischen Versuchen nahm. Ich müsste Fotografien hier einkleben von mir, besser noch unterbrechen und zum Besuch einer Filmvorführung einladen, deren Held mein Körper während jener gedanklichen Vorgänge wäre; aber auch das würde letztlich ungenügend bleiben, selbst wenn es sich um einen tönenden, farbigen, plastischen Film einer Röntgenkamera handeln könnte.

Die Rückenlage nun war insofern günstig, als ich dadurch, während längerer Zeit unverändert, zur Welt in einem besonderen Verhältnis stand. Tote, kleine Kinder und Kranke werden so gebettet; außerdem kommt diese Lage der Frau als klassische Stellung beim Liebesakt zu, die eine Empfängnis begünstigt. Man liegt in der Mitte, so etwa meint man, in der Mitte von allem, ist selber die Mitte; der Blick ist nach oben gerichtet, nach der Decke, dem Himmel oder weiter dann: ins Offene, dem man allein noch gegenüber ist; auf der anderen Seite, spürt man, geht es ebenso weit ins Offene, der Erde, der Unterwelt zu; so lebt man rücklings, sieht von der Umwelt ab und schaut empor, ist bereit, in die Gruft versenkt zu werden (wie der Tote) oder aufgehoben (wie das Kind) oder (wie die Frau) zu empfangen, auf- und niederzugehen wie ein Ding in der Schwebe. Sodann, und nicht nur das kleine Kind, das die Zehe zum Mund bringt, die in der Liebe innig hingegebene Frau – jeden ergreift die Bewegung gegen den Zeiger der Uhr, wenn er so ausgestreckt liegt, und er rollt rückwärts, wieder ein in den Schoß. Das habe ich wochenlang getan, und verstanden hat es wohl nur Schwester Veronika, die mich pflegte; obschon sie noch jung war, noch nicht einmal in den Orden aufgenommen, musste sie dieses Rollen schon öfters erfahren haben, und ich meinte zu wissen, dass sie derweise manchen empfing und so ihre Erfüllung gefunden. Von allen, die mich besuchten, hatte ich nur zu ihr ein solches Verhältnis, über das niemand sprach (es brauchte so wenig der Worte wie das kleine Kind, der Tote und die Frau) – ich, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht sprechen konnte, da ich in meiner Unerfahrenheit kein anderes kannte, sie schweigend an mir das Unangenehme verrichtete, das Schwestern an ihren Kranken tun müssen, mich aber eingehen ließ dabei und sie täglich erfüllen.

Wer sonst an mein Bett trat, der stand über mir; so habe ich die Augen vieler gesehen, wenn sie auf mich niederschauten, und in allen war etwas, das man sonst nie gewahrt, als läge es in den Menschen verborgen und tauchte nur auf, wenn sie sich über einen Liegenden beugen. Es war immer das Gleiche, obschon es in den verschiedenen Augen verschieden aussah; in langen Wochen lernte ich es kennen; es war eben der Anblick jener um sich kreisenden Mitte, die der auf dem Rücken darbietet. Angst, Triumph, Zärtlichkeit, Ekel, Mitleid, Grausamkeit – ich meine, wenn ich vollständig sein wollte, müsste ich alles nennen, was je schon benannt worden ist von den inneren Dingen, die nun in den niederblickenden Augen erschienen, da sie nach mir auf dem Rücken schauten.

Trotz der mannigfachen Benennung aber war es nur eines, das eben bei solchem Sich-Neigen in den Augen auftaucht, ein Namen- und Bodenloses, jenem verwandt, von dem ich sagte, dass es mich damals besonders beschäftigt und das in reflexiven Verben verborgen liegt: sich waschen, sich freuen. Worum es sich handelt, ist klar: um zwei, den Handelnden und den Leidenden, den einen und den anderen, um Subjekt und Objekt. Als Kind war mir nichts lieber, als diesen Kreis immer aufs Neue zu schlagen; es war ein unermüdliches Spiel, wobei bald der erfand und jener tat, bald umgekehrt, einer den anderen wusch und kleidete, einmal dieser, einmal der andere freute oder freuen ließ, und alles konnte der andere sein, irgendeines die Stelle vertreten, und stundenlang stand ich am Fenster, mich freuend, und nichts blieb ohne Anteil dabei, alles war eingeschlossen in diesem kindlichen Kreis. Gegen andere Spiele, wie man sie nach grammatikalischen Regeln treibt oder nach denen der Philosophie, wo denn Subjekt »das Daruntergeworfene« genannt wird, auch »das Darunterliegende«, Objekt aber »das Entgegengesetzte«, »Gegenliegende« oder kurzum »der Gegenstand« – gegen solche Begriffe und mit ihnen veranstalteten Spiele lässt sich nichts einwenden; jedes Spiel darf sein. Das gestand ich auch Katharina zu, die gleich ihrem Vater, dem Bibliothekar, eine Vorliebe hatte für alle Art von Begriffen und geschickt mit ihnen umzugehen verstand, wenn wir nach der Volkshochschule dem Fluss nach heimwärts gingen und ich sie gern schweigend sich an mich schmiegen gespürt hätte, als läge ich mit Helge im Bett, oder Veronika, die Schwester, würde wortlos an mir Dinge verrichten. »Wie du meinst«, sagte ich, oder: »Wenn du willst«, und schaute wohl auch zu dem empor, was sie und ihr Vater trieben, da ich solches noch nie gesehen und als etwas annehmen musste, das einer besseren Gesellschaft eigen war.

Für Katharinas Mutter, wenn ich jetzt daran denke, muss ich ein Glücksfall gewesen sein, elternlos wie ich war und aus niederen Verhältnissen stammend, dabei dem Höheren zugetan und, nicht nur während meiner Spitalzeit, auf dem Rücken liegend, empfänglich für alles, was auf mich zu kam. Ließ sie mich, wenn ich Katharina etwa nach Hause begleitete und dort zum Nachtessen geladen ward, nur still auf das Schickliche aufmerksam werden bei Tisch, so sah ich von meinem Krankenbett auch in ihren Augen das eine, das sich vor allem als Mitleid ausgab, jedoch eines schwerfasslicher Art, verschieden sowohl von dem, das Helge, als er mich aufhob, mir zeigte, als auch von jenem, das mich in den Schwestergesichtern bei der Einlieferung in das Spital empfing: Es war darein etwas wie Neid gemischt, dass ich und nicht sie den Anblick der Mitte darbot, und etwas wie Rache für später, wenn ich nicht mehr mich einrollen könnte, sondern heraustreten müsste, um in den Schoß zu gelangen, in den Katharinens, schicklicherweise, in den ihren, wohin sie im Geheimen mich wollte, aus dem Katharina kam, den aber niemand, auch der Bibliothekar nicht, je hat ausfüllen können, denn eine Krankenschwester, wie Veronika, war die Mutter von Katharina nicht. Damals begann ich zu fühlen, was in vertauschter Lage in meinen Augen auftauchen würde, wenn ich sie, ein schamloses Weib, auf dem Rücken liegend erblickte.

Ich hatte während meines Krankenlagers die Reproduktion eines indischen Gottes aus dem Museum zu Patna auf den Nachttisch gestellt und hielt ihn oft über mich, wenn ich Stunde um Stunde bewegungslos aufwärts blickte, dass er anwuchs und größer wurde, bis ich wie unter dem Himmel unter ihm lag. Das war eine einsame Träumerei, vielleicht aber nicht so verschieden von dem, was mein Zimmergenosse, ein Greis aus altem Zürchergeschlecht, den eine Erkrankung der Harnwege schon mehr denn ein halbes Jahr ans Spitalbett gefesselt hielt, seine Meditationen nannte, bei welcher Gelegenheit er von der Schwester den Wandschirm vorschieben ließ und die Seligpreisung, ich weiß nicht mehr welche, von der gegenüberliegenden Wand ablas. Wenn er, was selten geschah, zu mir sprach, so überschritt er in seinen Erzählungen sein dreißigstes Altersjahr nie, und ich erfuhr nur von Ausritten des Jünglings und Mensuren in Heidelberg, glaub ich; von den zwölf Kindern, die er später erzeugte, besuchte ihn nur der Koch eines hiesigen Restaurants, wie ich von der Schwester Veronika wusste; sie sagte mir auch, dass er niemehr gesund werden könne, und las ihm zuweilen einen biblischen Text, den auch ich hören konnte, obschon sie ihn nicht für mich meinte, da unser Verhältnis ein anderes war, in der Nacht, wenn der Alte schlief, sie leise zu mir kam, eine Orange brachte und so lange bei mir blieb, bis wir sie aufgegessen. Und dennoch glaube ich, dass meine Träumerei nicht sehr verschieden war unter dem Himmel des reproduzierten Gottes in tiefer Versunkenheit. Da war er denn über mir, wie sonst keiner, der auf mich blickte, wie was? Er saß mit untergeschlagenen Beinen, war unbekleidet aber behangen mit reichem Schmuck, die Gelenke der Hände und Füße von Spangen umschlossen, über Brust und Bauch fielen Ketten, gewunden wie Schlangen, er lächelte. Die Hüfte zierlich, mädchenhaft weich, und rundlich die Brust, davor die rechte Hand mit auswärts gekehrter Fläche gehalten. Das Träumen bewegte ihn; ich habe nun auch den Ton im Ohr, nach dem seine Glieder, als zöge ein Wasser um sie, sich zu lösen begannen und der Zeit meines Lebens tief in mir drinnen ohne Unterbruch schwingt; über meinen erhobenen Augen schwimmt nun der Gott, und ist ein Fisch jetzt, und jetzt eine aufbrechende Blume, immer lächelnd, was er auch sei. Dann geschieht, was ich durchaus unglaubwürdig heißen muss: Wir tauschen, vertauschen einander, er lächelt von unten, da ich weit wie der Himmel über ihm schwebe; was würde uns scheiden? Unglaubwürdig, aber wahr, wenn auch nicht mitzuteilen, auch jetzt, mich dessen erinnernd nicht, denn es ist Träumerei und hier darum sehr wenig am Platze, wo es ausschließlich um Mitteilung geht. Und doch musste dies angetönt werden, damit, was ich von meiner Beschäftigung durch rückzielende Verben sagte, zum Übereinstimmen kommt. Denn der kindliche Kreis (sich waschen, sich freuen) und das In-den-Schoß-Zurückrollen im Bett, was wäre das anderes gewesen, als ein ahnender Umgang mit Avalokitesvara, dem lächelnden Gott?

Vielleicht ist im Vorigen etwas viel untereinander gekommen, und ich wiederhole nochmals, denn ich will nichts unterlassen, was zur Klarheit beitragen kann. Ich habe in jenen Spitalnächten nicht oft den Schlaf finden können; dann kam Veronika leise ins Zimmer, drehte die blaue Lampe an, dass mein Nachbar ungestört bleibe, und brachte mir eine Orange.

Nun muss ich an Kindernächte erinnern. Sie begannen früh, mit der ersten Dämmerung; die Mutter schloss die Tür hinter sich, und im Dunkel, bevor ich einschlief, lag ich so wach wie den ganzen Tag hindurch nicht und lauschte. Es gab manches zu hören, und das Verschiedenste, doch müsste ich lügen, wenn ich hier aufschreiben wollte, was es gewesen ist. Um aber wenigstens Vorstellungen zu wecken, wie es hätte zugehen können in jenen dämmrigen Stunden, sei das Folgende wiedergegeben: Nebenan war die Mutter mit Handarbeiten beschäftigt, ich hörte eine Schere klingen, eine Stricknadel fallen, das Geräusch von geschränztem Tuch und unablässig den Ton des Perpendikels, das etwas hinkte; manchmal las der Vater ihr aus der Zeitung vor, nicht laut genug, dass ich es verstanden hätte, und die Mutter antwortete kurz. Das spielte sich rechts von mir ab, im trauten Schein einer Lampe, war begreiflich und warm, sichergestellt und Abend für Abend vorhanden, und wie ich es belauschte, tat sich eine Höhle auf in der Nacht, darin ich mich wohlgeborgen fühlte; ich machte mich rund und zog die Knie bis ans Kinn; so war mir nichts anzuhaben, und ich lag ohne Blöße, wie ein verschaltes Ei. Hier wäre Gelegenheit, von Welt zu reden, diese als Ordnung verstanden, Anordnung im vorhandenen Raum, ebenso aber auch als erst in Bildung begriffen; das rechts von mir, woher die vertraulichen Töne kamen, eine unverrückbare Welt des Elternhauses, die mich geboren hatte, ans Licht eben dieser anderen Welt gebracht, die um mich erst im Entstehen war, da ich heranwuchs – doch wer wagte es, die Verantwortung für solcherlei Reden auf sich zu nehmen von Kosmos, Mundus und Welt, welche dann wieder heißt Menschenzeitalter und nicht mehr denn eine Zeitspanne meint zwischen Riesen und Göttern? Damals wusste ich weniger von alldem als heute, und so will ich es denn dabei bewenden lassen: Rechts von mir war die Stube, darin saßen Vater und Mutter, und was von ihnen her zu mir in die Dunkelheit drang, das höhlte den sicheren Raum, in dem ich mich barg und der eine Welt für mich war. So eingerollt nun in ihr liegend, betete ich daraus zu dem ihr zugehörenden Gott: Mach, dass ich im Kopfrechnen schneller bin! Mach die Seite im Geographiebuch wieder ganz! Mach, dass ich den Mann wieder antreffe, der mir die Fotografie eines nackten Mädchens zu zeigen versprach – um solcherlei Dinge betete ich, unter die meine Eltern mich in die Welt gesetzt hatten. Zur Weckung einiger Vorstellungen mag dies genügen.

Von welcher Art nun waren die Nächte im Spital? Ich entsinne mich noch gewisser Momente. Aber alles kommt aufs Gleiche heraus, auf die Rückenlage im Bett, von der ich sagte, sie sei meiner Beschäftigung günstig gewesen. Ich zweifle, ob Katharina jemals verstanden hat, worum es ging, wenn ich sie begleitete am Abend und Acht hatte, wie sie sich auszudrücken versuchte. Jetzt, nach so vielen Jahren, ist mir manches klarer, was bei jenen Gängen an ihrer Seite erst ahnend empfunden wurde. Schon die Spitalnächte brachten einiges Licht in die Sache. Rechts war nun nicht mehr die Stube der Eltern, sondern das Fenster eines Balkons, der bis zu den Bäumen einer Gartenanlage führte, wo ich, auf zwei Krücken gestützt, in der fünfzehnten Woche die ersten Gehversuche anstellte, von Schwester Veronika begleitet. Als ich aber noch unbeweglich im Bett lag, sah ich im Fensterausschnitt nur eine kahle Baumkrone, an der ich bei seitwärts gedrehtem Kopf die Augen wohl hängen ließ, von wo mir aber nichts Derartiges entgegenkam, wie ich es in Kindernächten erfuhr: keine raumschaffenden Töne; dort draußen war eine Welt, die mich nicht mehr ansprach. Alle Nachricht, die ich empfing, kam von links her, durch die Türe, hinter der ein weißer Spitalgang lag. Daraus hervor traten zu bestimmten Zeiten Besucher, trugen Blumen in Seidenpapier gewickelt herein und neigten sich über das Bett, wobei dann jenes Namenlose in den Augen erschien; Ärzte kamen von dorther, konstatierten und gingen wieder hinaus; die Schwester Veronika, wenn sie Orangen brachte; Töne von Sterbenden im Innern des Hospitals. Nun war ich ja durchaus nicht krank, nur verunglückt, und dem Rande des Todes nicht näher als sonst; dennoch war alles anders, besonders, da ich seit meiner Kindheit keine solch hellwachen Nächte erlebte, jene aber im Schutze der elterlichen Wohnung standen, diese hingegen mir allein und ohne Unterstützung oblagen. So befand ich mich in einer großen Verlassenheit, obschon mir, als dem Beinbruch auf Zimmer 24, mancherlei Aufmerksamkeit erwiesen ward; nicht einmal der Pfarrer bei seinem wöchentlichen Rundgang vermochte meine Lage ganz zu erfassen: Er richtete nicht mehr denn ein paar nichtige Worte an mich, dass es mit mir zum Besten stehe und wir auch bald wieder draußen sein würden, wir, das heißt die Gesunden, zu denen er uns beide zählte, nicht aber meinen Nachbarn, mit dem er sich über die Farbe des Harns unterhielt. Was mich hingegen erreichte und oftmals ergriff, kam in Tönen zu mir durch die Türe; Schwester Veronika, als ich sie fragte, gab nur zögernd und ausweichend Auskunft darüber. Der Türe schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges, nur wenige Meter entfernt, lag das Badezimmer, wohin man aus Raummangel die Sterbenden fuhr. Als nach mehreren Wochen der Gipsverband von meinem Bein gelöst war, brachte man mich für das erste Bad dorthin; Schwester Veronika war mir behilflich und saß neben der Wanne, während ich nackt und verschämt im durchsichtigen Wasser lag. Da hörte ich denn in gewissen Nächten fremdartige Rufe, die oft durch Stunden hindurch sich wiederholten; sie galten niemandem und waren, so meinte ich, als bloßer Ausruf zu verstehen, als Geräusche des Sterbens, so beiläufig wie das Knarren eines Fensterladens im Wind, gingen dann auch in ein kaum vernehmliches Schnurren über, und ich stellte ihn mir unter der grellen elektrischen Birne vor, eine Schwester an seiner Seite, vielleicht auf dem Rand der Wanne, die leer war, so sterbend, und sah sein Fleisch liegen bleiben wie auf der Bank des Metzgers, als er, ein sauberes, trockenes Knochengerüst, dann auferstand.

Es war in jenen Nächten, dass ich anfing, was in mein Blickfeld trat, zu durchschauen, und so lernte ich die Leere einsehen und Wohnung finden in ihr, wie einstmals in der nächtlichen Höhle neben der Elternstube. Durchschauen aber bis auf Haut und Knochen, auf Gründe oder gar Hintergründe führt den Blick an seinen Ausgangspunkt zurück; solcherlei Wege gingen auch die Gedanken, wenn sie mit rückzielenden Tätigkeitswörtern (sich waschen, sich freuen) beschäftigt waren. Ich mich selber! – ist dieser Punkt in der Mitte ersichtlich, der sich schwebend verhält? Es ist irgendeiner, ist irgendwer und irgendwo, röchelnd im Badezimmer, mit strotzendem Geschlecht beschämt in der Wanne liegend, oder am Himmel, wenn gegenüber Avalokitesvara die Erde bedeckt …; deutlicher kann ich jene Nächte nicht zur Darstellung bringen, in denen von links her Schwester Veronika mit der Orange eintrat.

Manchmal beginn ich zu zweifeln, ob mein linker Unterschenkel bei jener nebligen Abfahrt wirklich zerbrach und ich darauf wochenlang im Spital regungslos auf den Rücken gestreckt war. Es ist schon so lange her, und zudem: Von wie vielen Gefahren sind wir nicht ständig umgeben! So könnte es sein, dass alles, was ich so mühsam hier niederzuschreiben versuche, mir vorige Nacht im Traume zustieß, oder in einem viel älteren auch, den ich mit auf diese Welt gebracht habe, der mich erinnert und dessen ich mich entsinne, als wäre es gestern gewesen. Indessen fehlt es nicht an Beweisen: Mein linkes Bein ist krumm und verkürzt; doch gehe ich aufrecht wie jedermann, nichts ist mir geblieben, nichts mir anzumerken von jenem Unfall und der nachfolgenden Zeit, wenn ich bekleidet bin; und selbst nackt – ebensowohl hätte ich doch krummbeinig zur Welt kommen können! Und ist es denn so gänzlich abwegig zu sagen, dass uns viel häufiger, als wir auch nur vermuten, Unfälle zustoßen, die nur deshalb unbemerkt bleiben, weil das Gebot der Stunde uns daran verhindert, ihretwegen das Bett aufzusuchen und während Wochen, bis zur völligen Heilung, ruhend auf dem Rücken zu bleiben, wo sich der Blick dann nach oben richtet, nächtens die Schwester eine Orange bringt und immerfort gegen den Zeiger der Uhr in den Schoß gerollt wird?

Nichts ist abwegig. So bleibe ich denn bei der ersten Annahme, dass, nachdem Helge das gebrochene Bein notdürftig geschient, es längere Zeit auf einem Gestell gelagert von Gewichten auseinandergezogen wurde, während ich rücklings mich vor allem mit Tätigkeitswörtern wie: sich waschen, sich freuen abgab.

Katharina besuchte mich weniger oft, und ich will ihre Abwesenheit dazu benützen, ein mögliches Bild zu entwerfen von ihr, wie ich es auch damals häufig versuchte, wenn der Alte hinter dem Wandschirm in die Seligpreisung vertieft war.