Ich war Dora Suarez - Derek Raymond - E-Book

Ich war Dora Suarez E-Book

Derek Raymond

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Beschreibung

Ein Killer veranstaltet mit seiner Axt in einem Apartment des Londoner Stadtteils South Kensington ein abscheuliches Massaker. Eine schwere Aufgabe für die FACTORY und das zuständige Dezernat für ungeklärte Todesfälle, denn bei der anschließenden Ermittlung ergeben sich weder Anhaltspunkte noch Zusammenhänge. Trotz vieler Bedenken macht man die Suspendierung eines ehemaligen Mitarbeiters des A14 rückgängig, der diesem Fall als einziger gewachsen zu sein scheint. Doch gerade bei ihm hinterläßt der Anblick der ermordeten DORA SUAREZ tiefe psychische Wunden. Auf der Suche nach dem Killer bohrt er sich wie besessen in die Schattenbereiche einer degenerierten Gesellschaft, die sich jenseits unserer Vorstellungskraft befinden. Dieses Buch ist ein radikaler Meilenstein des brit Noir, ein literarischer Amoklauf, der künstlerisch und moralisch neue Grenzen im gesamten Genre definierte.

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Derek Raymond
Ich war Dora Suarez
R. I. P.
Nachruf auf ein Genre von Gunter Blank.
»Langweiler und Killer sind fast dasselbe«, schreibt Derek Raymond in Dora Suarez. Der Serienmörder, den Raymonds namenloser Sergeant jagt, ist ein banales Arschloch, eine kleine Mafia-Charge mit zu kurzem Pimmel. Das war 1989, und damals war es an der Zeit den Hype um die Figur des Serienkillers geradezurücken, der im Begriff war kultische Ausmaße anzunehmen. Leider hat niemand auf den egozentrischen Briten gehört, der 1996 im Alter von 65 Jahren gestorben ist. Zur Strafe haben wir heute Serienmörder, die aussehen wie Hannes Jaenicke und Götz George und von Nietzsche, deSade und schlimmen Kindheiten faseln, bevor sie auf SAT 1 und Pro 7 blonde Models meucheln.
Als Dora Suarez 1990 beim PULP MASTER-Vorläufer Black Lizard erschien, schrieb ich in einer Rezension:
»Raymond hat der Welt mehr zu erzählen, als diese gemeinhin zu verdauen bereit ist. Damit meine ich weniger die grotesken Blutorgien, sondern die selbstzerstörerische Verzweiflung, mit der er sich weigert, mit der Welt einen Waffenstillstand zu schließen, ohne in die Weinerlichkeit der Chandler-Epigonen zu verfallen. Die gelegentliche Unbeholfenheit, mit der er seine Abscheu vor der englischen Gesellschaft mit der Entwicklung eines stringenten Plots zu vereinen sucht, gibt den Blick auf das Wesen des Genres frei. (...) Raymond versetzt sich in die Lage des Opfers und vermittelt eine sehr viel deprimierende und wenig faszinierende Ohnmacht.«
Keiner seiner Killer zeichnet sich durch überragende Intelligenz aus, sie entstammen alle jener dumpfen britischen Normalität, die es Maggy Thatcher gestattet hat, ganz nach oben zu kommen. In Er starb mit offenen Augen ist es das Mörderpärchen Barbara und Harvey, das seine schlimme Kindheit als Rechtfertigung mißbraucht, einen gescheiterten Schriftsteller zu Tode zu hämmern, in Der Teufel hat Heimaturlaub der Söldner und Auftragskiller Billy McGruder, der seine ihm in den Belfaster Straßen eingetrichterte Freude am Quälen zum Beruf gemacht hat, in Wie die Toten leben der Immobilienmakler Baddley und sein Faktotum Prince, die das Elend anderer Leute zu Geld machen und in Dora Suarez schließlich der verstoßene Sprößling der Mafia, der nicht damit klar kam, dass er beim ersten Mal keinen hoch bekam. (Solche bores sind ihm der Inbegriff der englischen Gesellschaft, deren Klassensystem er von oben nach unten durchlaufen hat.)
Robert Cook, wie sein Name jenseits der Buchdeckel lautet, kam 1931 als eines von fünf Kinder eines englischen Texilfabrikanten, des ersten bore in seinem Leben, und einer polnisch-jüdischen Mutter, die ihre Herkunft aus Klassendünkel verheimlichte, mit einem reichlich angelaufenen Silberlöffel im Mund zur Welt. Der Leere des großbürgerlichen Daseins entzog er sich, als er mit 16 Jahren von der Nobelschule Eton nach London floh, wo er vorzeitig sein Erbe verspielte. Er ging zur Armee, schrammte knapp an einem Marschbefehl nach Korea vorbei — die Erinnerung an Freunde, die weniger Glück hatten, blitzt noch immer in seinen Romanen auf —, strandete in Spanien und kehrte Mitte der Fünfziger nach London zurück. Dort feierte er erste mäßige literarische Erfolge, machte für die Londoner Unterwelt ein paar Mal den Strohmann, schrammte ein paar Mal knapp am Knast vorbei, fand Zeit für diverse Ehen und weitere Bücher, bevor er England endgültig den Rücken kehrte, als Landarbeiter nach Frankreich ging und anfing die Romane zu schreiben, die ihn in die Nachfolge seiner Vorbilder David Goodis, Jim Thompson und Ted Lewis stellen.)
Damit unterschied sich Raymonds Auffassung vom Serienmörder grundlegend von der ambivalenten Faszination, die von den hochintelligenten Charakteren James Ellroy’s und Thomas Harris’ ausging. Deren Ro­mane explodierten Anfang der Achtziger in einer zynischen und desillusionierten Subkultur, die nach Punkrock eine neue Methapher für den Zustand der Welt suchte.
Als der Serienmörder 1981 die Welt des Kriminalromans revolutionierte, war die Popkultur längst von Psychopathen gesättigt. Jim Thompson hatte 1952 mit The Killer Inside Me die Blaupause eines Phänomens geliefert, das der Öffentlichkeit bis dahin noch nicht einmal be­kannt war. Erst als Eddie Gein und Charlie Starkweather in den Fünfzigern landesweite Schlagzeilen machten, begann sich der psychopathische Killer in der amerikanischen Folklore einzunisten, wenn auch erst einmal als Indiz dafür, dass zurückgebliebene Hillbillies und rebellische Rockabillies eine ernste Bedrohung für die Reihenhausidylle der amerikanischen Suburbs darstellten. Charlie Manson (ein Psychopath zwar, aber so wenig wie Gein ein Serienkiller) ruinierte dann auch die Alternativversion des amerikanischen Traums und führte einer Generation blumenverliebter Hippies drastisch vor Augen, dass ihr Love & Peace-Geschwätz nur die Kehrseite der God-Bless-America-Parolen ihrer Eltern war. In den Siebzigern verdeutlichten Serienkiller wie Son of Sam Berkowitz, Ted Bundy, Carlton Gary, John Wayne Gacy, die Hillside Strangler Kenneth Bianchi & Angeleo Buono sowie ein paar Dutzend andere, dass der amerikanische Alptraum in Trailerparks genauso zuhause war wie in Bostoner Villenvierteln.
Ein paar durchgeknallte Regisseure wie Micheal Findlay, Terrence Malik und Abel Ferrara erkannten als erste das Potential des Serienmörders und verarbeiteten es zu mehr oder weniger zynischen Statements zur Lage der Nation.
Trotzdem dauerte es bis 1981, bis ein junger erfolgloser Autor das Potential für den Kriminalroman entdeckte. Joe R. Landsdale veröffentlichte mit Akt der Liebe den ersten Serienkillerroman. Stuart Woods Chiefs und Thomas Harris’ Red Dragon folgten kurz darauf, und damit war der Prototyp des Serienkillers als Kultfigur schon ziemlich gut umrissen.
Es fehlte nur noch James Ellroy, der ihm mit Blood on the Moon und Silent Terror eine Seele verpasste, in der sich die Verwüstungen der spätkapitalistischen Gesellschaft spiegelten. Der Serienmörder wurde als Menetekel des Reaganzeitalters interpretiert, in dem sich die verdrängten und unterdrückten Affekte der Kontrollgesellschaft entluden.
Trotz der Masse der Krimis und B-Pictures, die in den Achtzigern die Subkultur überschwemmten, brauchte es drei Megaereignisse, und ein paar kosmetische Korrekturen, um die Figur auch dem Mainstream schmackhaft zu machen. Brett Easton Ellis holte ihn 1991 aus der Pulpecke in den literarischen Salon und etablierte den American Psycho als postmodernes Zeichen, dessen Inszenierung des Yuppies als sinnentleertes und konsumgeiles Monster so banal war wie die Beipackzettel der Fältchencremes, mit denen er die zugegebenermaßen hübsch ausgedachten Grausamkeiten auflockerte. Thomas Harris Schweigen der Lämmer oder besser gesagt Anthony Hopkins in Jonathan Demmes Verfilmung verwandelte ihn 1988/1992 in einen fast sympathischen, dem bürgerlichen Zivilisationsverlust eine Stimme gebenden Co­nais­seur, und Oliver Stones Natural Born Killers provozierte endlich die große Medienkontroverse, zu der vom Sozialpädagogen bis zum Philolsophieprofessor alle ihren kulturkritischen Senf dazugeben konnten. Was folgte war langsames Siechtum, Kinderpsychologen und Rechtsanwältinnen fühlten sich berufen, ihre dilettantischen Schreibversuche mit einem psychopatischen Killer aufzumotzen. Insofern war es nur konsequent, dass Thomas Harris in seiner schlicht Hannibal betitelten Fortsetzung den Serienmörder in einem schmachtenden Vampir verwandelt, dessen ritterliche Manieren und enzyklopädisches Wissen ihn kaum mehr vom Chefarzt eines Lore-Romans unterscheiden. Hannibal, the Cannibal entpuppt sich am Ende als blaublütiger Sohn eines litau­i­schen Grafen und einer italienischen Adligen, der im zarten Alter von acht mit ansehen musste, wie seine geliebte Schwester von hungrig-marodierenden Wehrmachtssoldaten aufgefressen wurde. Die bestialischen Verbrechen dagegen werden inzwischen von seinen ehemaligen Opfern begangen, ehemalige Kinderschänder, Pornoproduzenten, korrupte Polizisten und Tierquäler, Typen also, bei deren geschmacksicherer Entsorgung auch die konsumfreudigen Citoyens der Berliner Republik ihre klammheimliche Freude nicht verhehlen brauchen. Der Serienkiller als Barbiepuppe — sanfter wurde noch kein Alptraum in Zuckerwatte ­ge­­packt.
Deshalb ist es nur zu begrüßen, dass PULP MASTER nach Akt der Liebe jetzt auch Dora Suarez noch mal auflegt, um zu demonstrieren, dass es vor dem Ausverkauf des Genres ein paar Autoren gab, denen es beim Schreiben um mehr ging als den billigen Thrill und die schnel­le Kohle. Denn Derek Raymond hat sich die Seele aus dem Leib gesoffen, um das alltägliche Elend der Welt ertragen zu können; sich zusammengerissen und es zu Romanen verabeitet, die auf jeder Seite davon künden, dass die Welt endgültig aus dem Ruder gelaufen ist. Dafür gebührt ihm Respekt und das Verdienst, den letzten Serienmörderroman geschrieben zu haben, der diesen Namen verdiente.
The tragedy of help is that it never arrives
For Gisèle, Chopin, Claude, and Marie-Pierre.
1.
Durch sie gestört — er war gerade dabei, das Mädchen fertigzumachen — ging der Killer wortlos auf die alte Frau los, die hereingekommen war, um zu sehen, was ne­ben­an vorging. Er packte sie, als wäre sie eine Fuhre Müll von letzter Woche, und schleuderte sie mitten in ihre Standuhr, die direkt hinter der Wohnungstür stand, dabei setzte er Kräfte ein, von denen nicht einmal er gewusst hatte, dass er sie besaß. Er sah, dass es gut funktioniert hatte: sie starb durch den Aufprall. Nach dem splitternden Krachen, das ihr Körper beim Zerschmettern der Uhr verursacht hatte — das schreckliche, plötzliche Zerbersten, Blut spritzte in das Innere der Standuhr —, seufzte sie noch einmal und hauchte ihr Leben aus. Der Laut, als sie starb, den Kopf in der Uhr verborgen, er­stickte jeden anderen Laut in der Wohnung.
Jedenfalls hörte der Killer nichts. Gut eine Minute lang stand er teilnahmslos da, wie gebannt, geistesabwesend und entstellt durch Ekstase und Erregung, ausgelöst durch die beiden Morde, die er gerade verübt hatte. Es war eine lange, öde Zeit, für die er sich entschädigen musste; Monate, mitleidlos aneinandergereihte Tage und Nächte, angefüllt mit scheußlichen, harten Kämpfen, eisernem Training und Strafen. Es hatte Nächte gegeben, in denen er — seine Hände hielten die schwarzen Fensterrahmen umklammert — durch sein zerbrochenes Fenster in die Nacht von College Hill hinaus gejammert und geschrien hatte, dabei hatte er sich gefragt, ob er jemals wieder in Aktion treten werde.
Was sein zweites Opfer an diesem Abend betrifft: Betty Carstairs war sechsundachtzig, und so starb sie in jener Nacht. Sie hatte sich niemals wirklich gefragt, ob sich ihr langes und mühsames Leben gelohnt, ob es tatsächlich überhaupt irgendeinen Sinn gehabt hatte. Aber sie hatte zumindest angenommen, dass sie ein Recht auf ihren eigenen Körper hatte, ihn hingeben oder verweigern konnte, solange er noch ansehnlich war, und dass sie weiter in ihm leben durfte, sogar als er es nicht mehr war. Sie hatte zwei Kriege miterlebt, in beiden hatte sie den Verlust ihr Nahestehender Menschen ak­zeptieren müssen, das bringen Kriege so mit sich. Sie hatte weniger Angst vor den Bombardements gehabt als vor dem Nachdenken darüber, warum so viele jener Menschen, die ihre persönliche Welt bildeten, offenbar willkürlich umkommen sollten und warum sie sich jedes Mal Ge­duld ab verlangen sollte — und sie auch aufbrachte —, wenn ihr Mann, der schon seit langem tot war, in ihren Körper eingedrungen war — denn sie war Schottin und niemals besonders scharfsinnig gewesen. Nur Spaziergänge hatten ihr wirklich Freude bereitet. Und dann, als sie schließlich ernsthaft herzkrank geworden war und wusste, dass sie am Ende war, fragte sie sich, wenn sie mal keine Schmerzen hatte, verwundert, warum sie sich so ängstlich und allein fühlen musste.
Nun, jetzt war sie ermordet worden, in ihrer eigenen Uhr, das war’s dann wohl. Das war das erbärmliche und traurige Ende von Betty Carstairs. Später, nach der Autopsie wurde sie den Dieselflammen eines Londoner Krematoriums übergeben, ein geschnitzter Engel, der einen Augenblick durchs Feuer ging, preisgünstig arrangiert durch ihren Großneffen Valerian, der ein paar Leute kannte und der mit einem Kumpel durch die Wohnung gegangen war, direkt nachdem wir fertig waren. Dabei hatte er solche Sachen aufgelesen, die er in zwei ihrer Koffer nach Chelsea schaffen konnte. Fortschritte bei den Ermittlungen waren ihm scheißegal.
Hier war also einer dieser vielversprechenden Burschen, die glauben, von allem eine Ahnung zu haben. Er ahnte aber nicht, dass ich ihn später mal ins Gefängnis bringen würde, indem ich ihm einen anderen Fall in die Schuhe schob, was ihm dann zwei Jahre einbrachte. Irgendwie mochte ich Valerian nicht. Warum, war mir scheißegal.
Jedenfalls war das Bettys Ende in unserer Welt.
*
Als er wieder zu sich kam, sah der Killer geistesabwesend zur Uhr; sie war für ihn bedeutungslos. Er atmete schwer, war angespannt, bereit zu weiteren Taten, und es war enttäuschend und beunruhigte ihn, dass es in der Wohnung jetzt so still war. Er fuhr mit dem Handrücken über seine Lippen; überzogen mit einer Kruste aus Anstrengung und Begierde, öffneten sie sich klebrig. Sie öffneten sich lustvoll, nur wusste er das nicht.
Die Vorderseite der Standuhr zeigte eine Ansicht der Themse, Windsor Castle im Hintergrund; der Fluss sah aus, wie er 1810 ausgesehen haben musste. Es war eine einfache Uhr. Sie war nie wertvoll gewesen, jetzt war sie nur noch ein Trümmerhaufen. Ganz gleich, aus welchem Grunde sie hier auch gestanden, welches Können auch ihre Herstellung verlangt haben mochte — die römischen Ziffern auf dem weißen Emaillezifferblatt, die Flussszene — jetzt war all das zerstört. Ohne das staubige Glas, das der Killer zerschmettert hatte, war jedes Detail jenes kleinen Ruderbootes ziemlich deutlich zu sehen, das auf ein separates Kupferstück gemalt und dann mit dem An­triebsrad des Sekundenzeigers verzahnt worden war, mit dem es sich drehte. Die drei Zeiger der Uhr — Stunden-, Minuten- und Sekundenzeiger —, das winzige Boot und die beiden Menschen darin, das alles war so angefertigt worden, dass es das Verstreichen der Zeit so anzeigte, wie es zu jener Zeit erfahren wurde — langsam und unabänderlich. Aber jetzt war auch das vorbei — der Zeiger war von der Welle abgebrochen, der dünne Stahl aus der Halterung gerissen.
Doch die Zeit, die immer streng konstruiert und formal über das Zifferblatt geschritten war, hatte sich, obwohl sie jetzt aufgehalten wurde, nicht wirklich verändert; denn das gemalte Ruderboot, eins von denen, die sie auf der Themse Perfect nannten, war immer noch da, ruhte weit hinten auf dem Fluß, der dem Wechsel der Gezeiten unterworfen war. Dieses schaukelnde Spielzeug beförderte ein Miniatur-Paar aus vergangenen Zeiten über das Zifferblatt, einen Jungen und ein Mädchen. Beide saßen dort, einander bis in alle Ewigkeit an­blickend, jeweils einen Arm über ein Ruder gelegt. Ein Liebespaar, das sich mit so inniger Liebe in die Augen sah, die auch durch hundertachtzig Jahre nicht verwischt werden konnten. Allerdings waren die abblätternden Gesichter nicht mehr ganz klar zu erkennen — entweder weil der kleine Pinsel sie nicht ganz eingefangen hatte oder weil die Sonne unterging oder weil der Maßstab zu klein war — jedenfalls konnte man die Umrisse der Liebenden nur teilweise wahrnehmen. Aber die bewegungslosen Ruderblätter wurden immer noch in die weißen, schnörkeligen Wellen getaucht, das Boot lag in der langsamen Flussströmung — und wenn die Uhr wieder hätte in Gang gesetzt werden können, dann hätte das Boot seine träumende Fracht zum Ticken der Uhr wieder befördert, sie im Takt des Pendels hin- und hergewiegt. Doch das war jetzt für immer vorbei. Denn die Kraft des Killers war so gewaltig gewesen, dass Betty Carstairs Kopf durch die Tür der Uhr geschossen war und sie in zwei Teile zertrümmert hatte, und das ließ sich nicht mehr rückgängig machen.
Dann, nach einer scheinbar langen Pause, löste sich plötzlich das Gewicht der Uhr und fiel auf Betty Carstairs Kopf. Als Reaktion darauf strebte das ganze Ge­häuse der Uhr bedenklich nach außen, und das spitz zulaufende Oberteil glitt langsam aus den Fugen und krachte auf Betty Carstairs Beine, so dass sie, nachdem dieser neuerliche Krach vorüber war unter Holz und Glas begraben lag. Auch rundherum hatte es eine große Schweinerei gegeben. Da waren zum Beispiel die Scherben ihres Nachtgeschirrs, das sie gerade zum Badezimmer getragen hatte, als sie im anderen Zimmer den Krach gehört und hinein gesehen hatte, er hatte es ihr in dem Augenblick aus der Hand geschlagen, als er sie tötete. Und dann der Gestank. Er hielt sich die Nase zu. Denn wenn es etwas gab, was der Killer verabscheute, dann war es der Geruch der Pisse anderer Leute.
Außerdem war da ihr Blut. Alles, was er getan hatte, löste sich in widerwärtige, kleine Details auf: zum Beispiel hatte sie in ihrer letzten Zuckung ihre obere Zahnprothese halb durch die Lippen gespuckt, was ihr das Lächeln einer Verrückten verlieh, die ein schlechtes Theaterstück kritisiert.
Jetzt hielt sich der Killer die Hände vor den Mund. Es war kalt in der Wohnung, und er blies kräftig gegen seine Finger. In einem vergoldeten Spiegel betrachtete er seine Lippen, für die er eine Leidenschaft hatte, und er war hocherfreut zu sehen, dass sie genauso voll und rot waren wie immer, darauf vorbereitet, jede Frau anzuziehen. Nur mit seinen Händen war er unzufrieden. Trotz der Handschuhe, die er für einen Augenblick auszog, waren die Handflächen von dem Abflussrohr der Re­genrinne gezeichnet, das er erklommen hatte. Sie waren trocken und rostfarben, und das passte nicht zusammen. Schnell zog er wieder die Handschuhe an: »Es ist verdammt kalt hier!« kreischte er. »In diesen beschissenen Baracken gibt’s die verdammte Heizung wohl nur zum Spaß.« Mit dem Zeigefinger drohte er dem Raum, als hätte dieser Anstalten gemacht, sich zu wehren. Aber das sekundenlange Vergnügen, das er empfunden hatte, als er sich um die Alte gekümmert hatte, war schon vorüber: sie war abgemeldet, und wer würde auch nur eine verschissene grüne Banane gegen sie eintauschen? Die alte Vettel hatte den Fehler begangen, ihre dämliche Nase ins Wohnzimmer zu stecken, um zu sehen, was der Lärm sollte, als er das Mädchen fertigmachte. Sonst hätte er nicht mal gewusst, dass sie überhaupt existierte. Aber sie hatte zu viel gesehen. Logisch. Er konnte es sich nicht leisten, Grannie am Leben zu lassen, und außerdem hasste er es, unterbrochen zu werden, wenn er sich ganz seiner Arbeit widmete, das hatte auch dazu beigetragen, dass die alte Kuh abtreten musste.
»Es wird Zeit, dass du dich aus dem Staub machst«, sagte er laut. Seine Stimme prallte wie ein Schrei von der Wand zurück.«
Doch da wir schon mal vom Schreien reden, das Mäd­chen hatte sich fast die Seele aus dem Leib ge­schrien, diese dumme, kleine Nutte — aber schließlich hatte sie immer übertrieben, egal, worum es ging, erinnerte er sich — und es war gut, sie los zu sein. Aber er begann sich wirklich zu fragen, ob er die gegenwärtige Situation in den Griff bekommen würde. Er wusste, dass er sich irgendwie reinigen musste, um sauber rauszukommen. Aber obwohl er wusste, was ›rauskommen‹ hieß, wusste er nicht, was ›sauber‹ bedeutete, so dass er einen Augenblick vor einer Art Problem stand. Er hatte keine Vorstellung von dem Begriff ›Schuld‹. Er ge­horchte nur seiner Kraft, den Eingebungen. Er konnte diese Eingebungen nicht in Worte fassen, sondern setzte sich fast automatisch in Bewegung, wenn die Eingebungen es ihm befahlen. Und es war diese Unberechenbarkeit, die ihn so gefährlich machte. Geräuschlos drehte er sich auf superdünnen Sohlen um; für den Job hatte er ein leichtes Paar brandneuer Wettkampfschuhe angezogen. Wenn er irgendwie an Frauen dachte, versetzte ihn das sofort in einen vitalen, fast krankhaften Zustand und erfüllte ihn mit dem dringenden Wunsch, sich selbst durch Wichsen zu bestrafen. Prüfend schlug er gegen seinen Schwanz, der noch vom letzten Mal schmerzte. Vor kurzem hatte er ihn während des Trainings raffinierter verletzt, weil er nicht wollte, dass dieser freche (weil offensichtlich von ihm unabhängige) und aufgeblasene Teil von ihm ihn bei der Arbeit störte; mit der Zeit würde er ihn langsam ermorden. Aber so wie er jetzt auftauchte (so wie ein Bulle beim Verhör auftauchte), bedeutete es, dass das Ding bald wieder ziemlich lang sein würde und dass es wie immer zur Rechenschaft gezogen werden musste. Er berührte es, fühlte, dass es blutete, und überließ es vorübergehend sich selbst, indem er es zurück in seine Sporthose steckte. Dann ging er ins Zimmer zurück, wo die Leiche des Mädchens lag.
Er lehnte sich gegen den Türpfosten, sein schwarzes Haar bildete einen intensiven Kontrast zur leblosen, gelben Wand. Von dort aus musterte er seine Hauptarbeit, warf nur einen schnellen Blick in den Spiegel, um seine Augen zu bewundern, in denen sich die gestillte Gier widerspiegelte. Er musste zugeben, dass sie — als er sich dem feierlichen, absurden Ritual, sich selbst zu fragen, ob es wahr sei, unterzogen hatte — ziemlich schrecklich aussahen. Niemals erkannte er die Wahrheit über seine Augen, denn er war es gewohnt zu glauben, dass ihr beherrschendes Starren einzigartig sei; doch tatsächlich waren sie überhaupt nicht so, wie er sie sich vorstellte. Sie waren weit davon entfernt. Waren überhaupt nicht anziehend, so wie er sie sich vorstellte, sondern fielen anderen als Augen auf, die Jahrhunderte zuvor gewalttätig vernichtet worden waren, und außerdem hatten sie eine Art Überzug, der ihnen den ausdruckslosen Blick verlieh, den man in den Augen von Toten sieht.
Während er auf das hinunterschaute, was er angerichtet hatte, flüsterte er: »Du hättest etwas ordentlicher sein können, Kumpel — wirklich viel ordentlicher.«
Natürlich war niemand da, um ihm zu antworten, und es war wieder keine Frage, dass er recht hatte.
Wohlgemerkt, das Zimmer hatte sowieso schon schlimm genug ausgesehen, schon bevor er dort gewütet hatte. Der hohe, eisige, alte Raum, in dem er stand, war durch Vernachlässigung und die verlorenen Kämpfe seiner Bewohner zu dem verkommen, was er jetzt war: ein verfallendes, dreckiges Relikt schimmelnden Putzes, mit Tapeten, die durch die Feuchtigkeit zu Boden rutschten — tatsächlich war es dort so kalt und feucht, dass der Atem des Killers als Nebel auftauchte und bewegungslos in der feindseligen Luft hing, bis er schließlich langsam von ihm weg zur Wand waberte, so wie schlechte Witze aus dem Mund einer Comic-Figur kommen.
 Zwei schmuddelige Betten, auf denen Teller mit Resten von Mahlzeiten lagen, standen in fünfzig Zentimeter Entfernung voneinander, jeweils bedeckt mit indischen Steppdecken aus rotem Gobelinstoff, der mit kleinen aufgenähten Glasperlen verziert war, und in der Lücke zwischen diesen Betten, auf einem schmierigen Teppich, hatte er Suarez niedergestreckt. Dort lag sie, die linke Seite ihres Kopfes war halb abgetrennt, und ihre linke Brust, exakt vom Brustkorb geschnitten, war vorn aus dem tief ausgeschnittenen Kleid gerutscht und lag nicht weit von ihr entfernt, teilweise in ihrem Blut, teilweise im BH.
»Yeah, das war wirklich Scheiße, nicht wahr?« schrie der Killer. »Ein richtig tolles Abschlachten! Das hättest du besser machen können, mein Freund — unglaublich viel besser, nicht wahr, du Scheiß-Amateur?«
Ja, das hätte er natürlich, doch er war total ausgeflippt, als sie eine Hand ausgestreckt hatte, um mit ihm zu reden. Sie begann zu sagen: »Ich liebe dich trotzdem.« Aber nur die Erwähnung des Wortes in Verbindung mit seinem Vorhaben machte ihn krank, so dass er ungeduldig die Schneide der Axt in die Schulter des Arms ge­schlagen hatte, der sich ihm entgegengestreckt hatte. Wie ein Musikliebhaber verfolgte er hingebungsvoll den Klang des sauberen Stahls, als dieser den feuchten, roten Knochen spaltete. Aber die Wunde hatte sie natürlich schreien und jammern lassen, so dass es für ihn schwieriger geworden war, sie in die Position zu bringen, in der er sie bei seinem Hauptschlag haben wollte — und außerdem blutete es zu früh, während er sich wie jeder Liebhaber Zeit lassen und langsam den Höhepunkt erreichen wollte. Aber, verdammt noch mal, warum sollte er sich andererseits das anhören, was sie zu sagen hatte, wenn er nur Erleichterung von seiner rasenden Erregung such­te, den reinen Duft ihres Blutes in seiner Nase wahrnehmen wollte, sein Gesicht, seinen Mund, seinen Schwanz in sie stoßen wollte?
Und darum, übererregt durch ihre Angst und ihre mitleidsvollen Versuche, ihm auszuweichen, ließ er die kurze, solide Feuerwehraxt, die er in der vor Wut und Erregung schwitzenden Hand hielt, auf sie niedersausen, gab aber dem Mädchen den Bruchteil einer Sekunde, den die Klinge bis zu ihr brauchte, Zeit, sich zu drehen — und obwohl sein Trick fehlschlug, schien er sich zu beruhigen. Mit einem leichten Lächeln sagte er zu ihr (indem er einen Akzent der Midlands imitierte, weil er sich an eine Gelegenheit in Nottingham erinnerte, wo das sehr gut geklappt hatte): »Lass uns ganz ruhig sein, wollen wir uns nicht beruhigen?« Wie ein Pferdeknecht, der sich einer aufgeregten, jungen Stute besänftigend nähert, versuchte er, sie zu beruhigen, indem er zerstreut und freundlich vor sich hin murmelte. Doch sie wollte die Axt nicht akzeptieren, als er sie ihr wieder zeigte, sie ihrem weißen Nacken rituell präsentierte — so dass er sie am Ende mit einem seiner weitausholenden, schnellen Hiebe erledigen musste. Die dumme, kleine Nutte versuchte immer noch, ihm zu entkommen, trotzdem es nichts mehr gab, wohin sie gehen konnte. Sie erzählte ihm wieder und wieder, dass sie ihren Frieden mit der Welt ge­macht habe, was ihn herrlich in Rage brachte — durch die Panik, in die er sie versetzt hatte, erreichte er, dass sie über den Läufer zwischen den beiden Betten stolperte, und das gab einen erstklassigen Kampfplatz ab, denn dort fiel sie mit dumpfem Knall zu Boden. Aber etwas später, als sie es schließlich geschafft hatte, sich wieder aufzurichten, hatte sie ihren dummen, kleinen Kopf in einer für ihn vollkommen falschen Stellung, so dass er irgendwie zu verwirrt war, um ihr den Kopf sauber abzuschlagen, ihn einzupacken und zu verschwinden. Und jetzt sieh dir dieses verdammte Zimmer an, eine Sauerei, Scheiße! Weder das Blut, das überall war, noch der Gestank ihrer Eingeweide in dem eiskalten Raum regten ihn so auf wie die Schweinerei, die er mit ihr veranstaltet hatte. Sie war traurig anzusehen. Die verschiedenen Teile von ihr, die überall herumlagen, hinterließen in ihm ein Gefühl der Leere, am liebsten hätte er die ganze Szene gestrichen und noch einmal von vorn angefangen.
Natürlich würde er sich dafür bestrafen — doch in der Zwischenzeit, whow!
Am Ende machte er sich über sie her, doch dabei biss er sich fast die Oberlippe ab. Der Schmerz, den er empfand, der Zustand, in dem er war, machte es ihm nicht leicht. Trotzdem, als er in College Hill die Tür hinter sich zugeknallt und seine Tasche auf die Schulter gehievt hatte, dann die South Circular Road entlanggehastet war, war er ziemlich sicher gewesen, dass er es schaffen würde, sie zum Schluss richtig kriegen würde. Ja, natürlich, es war schmerzhaft für ihn zu kommen, aber blick nur hinunter, dann siehst du, dass es geklappt hat! Es war verdammt hart gewesen, und er hatte sich weit über sie beugen und das Fleisch wegreißen müssen, aber als die Erleichterung kam, konnte man im wahrsten Sinne des Wortes sehen, wo er sie bespritzt hatte. Mein Gott, welche Potenz er immer noch hatte!
Und dann, als er sie zum ersten Mal angegriffen hatte, als seine Axt einfach so in ihren rechten Arm fuhr, fast wie zufällig — und sie hatte geschrien und geblutet, wich ihm aus wie eine kleine Braut, während sie sich an ihre klaffende Wunde klammerte, die ihn schon erregt hatte und wie ein Schwein quieken ließ —, und dann tanzten die beiden fast wie Liebende geschwind herum, vor und zurück, prallten gegen Möbel und andere Sachen. Er war einfach gehobener Stimmung, so dass er wieder zu ihr auf den Boden und noch einmal ihr Blut lecken musste, dann starrte er in ihre Wunden, die er sanft mit den Fingern öffnete, um zu sehen, wo sein Sperma geblieben war und wie er und sie sich vereinigt hatten, dabei flüsterte er ihr Liebesworte zu, denn sie lebte noch. Dann, als er endlich genug hatte, zog er sie zu sich herauf, ihr blutendes Gesicht an seins und erzählte ihr: »Ich bin jetzt fertig, Dora, das war’s, Liebling.« Und er schnitt ihr mit der falschen, stumpfen Seite der Axt die Kehle durch, während sie sich an ihren verstümmelten Arm klammerte wie ein schlechter Schwimmer an den Rand des Pools, und dabei starrte er auf die Spermaflecken auf ihrem neuen Kleid. Dann, nachdem sie gestorben war, enthauptete er sie träge, aber da sie nicht mehr reagieren konnte, langweilte ihn das Spiel ziemlich. Doch bald erwachte sein distanziertes Interesse: machten diese Leu­te nicht außergewöhnliche Geräusche, wenn man es richtig anpackte? Mein Gott, ja, das war noch etwas aus seinen Erinnerungen — heute Nacht hatte er wirklich ge­siegt! Es war mehr ein gurgelndes Quäken als ein wirklicher Schrei, was sie von sich gaben; und dann gab es einen leisen Laut, der wie ein Keuchen klang, als sich der Hals in lächelnde, triefende Lippen verwandelte. Das Geräusch klang so, als hätte sein Vater ein Huhn geköpft, nur viel lauter.
Jetzt wich er zentimeterweise und einer Ratte nicht un­ähnlich — unerschrocken, aber vorsichtig — zu der Stelle am Fenster zurück, wo er seine Schultertasche liegengelassen hatte, und dort lauschte er, aber in den Wohnungen war kein Laut zu hören. Als er aus seiner alten Adidas-Tasche einen Fetzen Stoff zog und damit begann, seine Axt abzuwischen, achtete er darauf, sich nicht zu schneiden. Mein Gott, war die scharf! Die Stille in den Wohnungen überraschte ihn überhaupt nicht, denn sie lagen in einem erstklassigen Wohngebiet, wo die großen Immobilienfirmen wirklich nur sehr wenige Häuser vergessen hatten und wo sie den Alten und Reichen etwas boten, denen es egal war, welche Mieten und Abgaben sie zu zahlen hatten, solange sie dafür nicht von Arbeitslosen, ethnischen Minderheiten, Behinderten oder ähnlich störenden Personen belästigt wurden. Da die Be­wohner von Empire Gate von unangenehmen Dingen nichts wissen wollten, konnte sich der Killer tatsächlich mehr oder weniger wie zu Hause benehmen. Genau wie Axel’s servants lebte The Times von diesen Bewohnern, und die sklavische Notwendigkeit Zeitungen an sie verkaufen zu müssen, die jenseits ihrer intellektuellen und anderen Ambitionen lagen, bedeutete, dass die wirklich dreckige Wäsche nur auf irgendeinem Hinterhof oder sonst wo landete, wo all diese widerlichen Dinge auch hingehörten. Denn Empire Gate war eine Adresse für tatterige, alte Millionäre, deren Brieftaschen zu den Säulengängen und Fassaden ihrer Häuser passten. Darum war das ganze Viertel schon am frühen Abend wie ausgestorben, und es waren keine Taxis zu finden, außer für gewisse Treffen, die in den japanischen und arabischen Hotels stattfanden, deren Türsteher die Wagen für ein Trinkgeld riefen. Die Wohnung, in der der Killer jetzt war, war von Betty und Billy Carstairs für neunundneunzig Jahre gemietet worden, als sie während der risikoreichen Tage des Jahres 1940 geheiratet hatten (zu Zeiten, als vernünftige Menschen, so wie sie es wieder in dieser Straße gab, nirgends zu finden waren, weil sie vor deutschen Bomben Angst hatten und ›bedauernd nach Kanada gezogen‹ waren, wie die Formulierung damals lautete, bis die armen, dummen Bastarde, die geblieben waren, die Kohlen aus dem Feuer geholt hatten). Betty Carstairs Wohnung war deshalb die einzige in dem Block, die die Sanierer wegen der langjährigen Vermietung gezwungenermaßen hatten auslassen müssen.
 Außerdem lag sie eingepfercht zwischen den Botschaften zweier verrückter Länder, deren Revolutionen mit den Abendzeitungen kamen und gingen — aber wer kümmerte sich schon darum? Es gab ja die gute, alte britische Polizei, nicht wahr? Und die kostet genug!
In der Zwischenzeit stand der Killer frierend in der Wohnung, seine Gegenwart wurde von den Bewohnern nicht wahrgenommen — was für ein Glück für ihren Schlaf, der von Träumen von der konservativen Partei, erpresserischen Ex-Schwiegertöchtern und ähnlichem geplagt wurde. Dank seiner jüngsten Aktivitäten fühlte er sich zum Platzen voll, endlich mal ein hungriger Mann mit einem vollen Bauch mitten in diesem Haufen selbstsüchtiger, alter Leute am Ende ihres Lebens, in dem sie nie etwas anderes getan hatten, als ihr Geld zu investieren und den Kopf einzuziehen. Er kannte diese Sorte Leute, denn er hatte sie mehrere Wochen lang von dem verwilderten Garten aus beobachtet und konnte sich den Aufschrei vorstellen, der durch ihre Reihen gehen würde, wenn dies hier entdeckt werden würde. Und zweifellos würde es bald entdeckt werden — denn es war regnerisch und ziemlich warm, und unpräparierte Leichen machten auf ihre Verwesung in Kensington ganz sicher genauso schnell aufmerksam wie in College Hill.
Der Killer wusste, dass er jetzt besser verschwinden sollte, aber er brachte es nicht fertig, sofort zu gehen. Wie hätte er es ertragen können, einem wahren Fest an frischem Blut wie diesem hier so nachlässig den Rücken zuzuwenden, als würde er einfach ein Bier ablehnen? In seinen Augen besaß diese Szene — ihre Fleischfetzen, ihr Blut überall — alle Attribute einer Hochzeit. Soeben hatte man sie gefeiert. Er, der Bräutigam, hatte gerade rituell ihr Blut getrunken, war darin herumgetrampelt und hatte auf Stücke ihres warmen Fleisches onaniert, sie so endlich besessen. Nein, es war keine Frage, er konnte seine Braut nicht einfach so zurücklassen — das wäre eine Beleidigung gewesen! Hinzu kam, dass die Zwangsvorstellung einer Hochzeit auf ihn wirkte wie fließendes Wasser auf einen vor Durst sterbenden Mann — schließlich alles perfekt zu machen bildete einen wichtigen Teil seines Nervenkitzels. Jetzt, nach den Monaten der Vorhölle in College Hill, die er wie eine aus dem Verkehr gezogene Fledermaus, die sich im Winter im Schlaf mit dem Kopf nach unten an einen Balken klammert, verbracht hatte, war er wieder aktiv geworden. Als er sich in der Wohnung umsah, das Blut sah, die Leichen der beiden Frauen, ja, da fühlte er sich wie ein verheirateter Mann, wie das Oberhaupt einer Familie, das von den Frauen richtig versorgt worden war, reichlich gegessen und getrunken hatte, gut bedient worden war und jetzt eine Zigarette genoss, während man auf den Kaffee wartete. Worauf er jetzt wirklich Appetit hatte, war eine Tasse Schokolade mit Sahne. Wie andere Mehrfachmörder auch setzte er die negative Sprache des Todes einfach in ein Verlangen nach Nahrung um. Der Abend war beinahe ein Meisterstück, so dass er sich zum Schluss wirklich wie der kräftige, ausgepumpte, junge Liebhaber fühlte — für den er sich halten musste —, der vorsichtig aus dem Bett stieg, um den Kühlschrank zu plündern, während die Frau schlief. Nicht einen Augenblick glaub­te er, dass er erwischt werden könnte, und er hätte jede Belehrung oder Bestrafung für seine abendlichen Taten so verächtlich abgelehnt wie ein Mann, dem man wegen eines Ficks mit einer Gefängnisstrafe drohen würde.
Natürlich gab es da eklatante Unterschiede.
Alles wäre gut gewesen (wirklich herrlich, sagte er sich), wenn er bei dem Mädchen nur nicht alles durcheinander gebracht hätte. Natürlich machte er sich nicht über das Mädchen selbst Gedanken (sie gehörte ihm), sondern über etwas mehr Verworreneres. Irgendwie war der Abend schiefgelaufen. Er war nicht hundertprozentig befriedigt, und seiner Meinung nach war das die Schuld des Mädchens: es lag an ihrer dummen Halsstarrigkeit, an ihrem Versuch, ihn davon abzubringen, das zu tun, was er mit ihr machen musste. Denn der Killer war wirklich wie der schlimmste Soldat, den jede Armee fürchtet: er empfing Befehle von oben, egal woher, die buchstabengetreu ausgeführt werden mussten. Er hatte dem niemals entrinnen können. Er hatte nicht die Fähigkeit zur Analyse (er glaubte, dass er seinen Begierden gehorchte, wenn er das Mädchen umbrachte, denn er war wirklich ein As der Torheit, dieser mordende Narr).  Jedenfalls, irgendein Hirn hatte er. Das musste er ja, als eine Art ein-Mann-Armee. Er war der Stratege im Haupt­quartier — aber er war genauso der Mann im Schützengraben mit der Granate und dem Gewehr. Der Killer glich einem verrückt gewordenen Angestellten, der eine Waffe hatte, deren Handhabung er durch einen schrecklichen Zufall erlernt hatte. Indem er sie benutzte, fühlte er sich nützlich, irgendwie half es ihm, seine einzigartigen, kleinen Erschütterungen loszuwerden, so dass er spätabends in sein kaltes, kleines Zuhause zurückkehren konnte — nachdem er eiskalt und logisch dem Plan gehorcht hatte, den er von irgendwoher erhalten hatte. Zuhause rieb er sich die Hände und lächelte seine Frau mit einer Wärme an, die er aus der Freude über die großartige Ordnung zog, die in seinen Akten herrschte, was nur anderen absurd vorkam. Die Bedürfnisse anderer bedeuteten solchen Leuten nichts. Für solche Menschen ist nur eins wichtig: der von oben vorgelegte Plan muss, egal welchen Inhalt er hat, buchstabengetreu ausgeführt werden, egal, was es kostet. Das ist der einzige Orgasmus, den so ein Mensch jemals erleben wird. Denn jeder autoritative Plan sichert die Existenz derjenigen, die keinen haben, darum lieben und kämpfen so viele. Wenn man das ausführt, was einem gesagt wird, verschafft einem das heutzutage sogar einen Scheck am Ende des Monats. Killer oder Angestellter — wenn man tot geboren wird, ist das Leben sowieso nichts wert. Diese unglücklichen Menschen (Killer, An­gestellte, irgendwie gestörte Leute) wären lächerlich, wenn sie nicht so viel Schaden anrichten würden. Und weil wir über sie lachen, weil wir den Fernseher ausstellen, wann immer sie dort erscheinen, und so weiter — deshalb richten sie Schaden aus einer Verzweiflung he­raus an, die sie sich nicht eingestehen können.
Der Killer war gedanklich jetzt an einem Punkt in seinem Innern angelangt — blickte auf den blutbesudelten Boden hinunter, auf die Leiche des Mädchens —, wo ihn sein Selbstverständnis (auf das er ungeheuer stolz war) irgendwie beunruhigte. Er fühlte, dass irgendetwas in ihm seine Aufmerksamkeit auf die falsche Seite der Stahltür lenken wollte — ein Wesen, das hungerte, ausgeschlossen und ignoriert wurde. Natürlich war er es selbst, aber er hatte nicht die Fähigkeit, das zu erkennen. Er hatte immer ernsthafte Probleme mit sich auf praktisch jedem Niveau gehabt und würde sie auch weiterhin haben, denn er war nicht in der Lage, irgendein Problem als solches zu identifizieren. Er erkannte ein Problem nicht als Problem, genau wie die Bewohner einer Irrenanstalt, die aus diesem Grund in der Anstalt sind. Sie selbst sind das Problem, und es ist für sie zu groß, um es zu lösen — diese Sucht, diese undefinierbare Traurigkeit, der plötzliche Verlust der Gefühle oder der wilde Wunsch zu töten oder die Nase eines anderen abzureißen oder in einen überfüllten Zug zu scheißen. Nun, wenn man keine Ahnung hat, was ein Problem ist, dann ist es äußerst unwahrscheinlich, dass man es lösen kann. In diesem Fall zeigte der Killer das klassische Syndrom der Langeweile: er klammerte sich buchstäblich an das Leben, indem er sich nicht an sein Leben erinnerte — oder besser, indem er sich genau an die Gegenwart und überhaupt nicht an die Vergangenheit erinnerte. Das bot ihm, aber nur ihm, die Illusion des Lebens. Jeder, der herausfand, dass es in Wahrheit nichts weiter als eine Illusion war, musste verschwinden, und das war der Moment, in dem der Reiß­verschluss der Sporttasche aufgezogen wurde. Der einzige Weg, wie er diese Lücke füllen und überhaupt existieren konnte, war sein genaues Gegenwartsgedächtnis und die fehlenden Erinnerungen an die Vergangenheit, was ihm die Illusion des Lebens vermittelte, wäh­rend er geistesabwesend litt und Leid verursachte. Jedenfalls gab es keine Möglichkeit, dass er sich änderte, und schon gar nicht, dass sich sein Zustand irgendwie besserte — denn wie kann jemand hoffen, aus einer Situation befreit zu werden, die er überhaupt nicht versteht?
Langweiler und Killer sind fast das gleiche. Langeweile und Verzweiflung erklären die meisten Morde. Killer töten, weil sie zu viel Energie dafür aufwenden, auf eine Art und Weise höflich zu sein, wie es normale Menschen niemals sind. Die meisten Killer sind bürgerlicher Herkunft oder, noch schlimmer, wurden im Arbeitermilieu gezwungen, bürgerliche Verhaltensweisen nachzuahmen.  Während meiner ganzen Zeit im Al4 habe ich nicht einen einzigen anregenden Killer getroffen, und wenn man dort keinen trifft, dann bezweifle ich stark, dass man irgendwo sonst einen trifft.
Dieser Killer hatte sehr, sehr ernste sexuelle Probleme, deren Ursprung er natürlich nicht kannte, da er nicht in der Lage war, sie zu analysieren. Ein Teil seiner Schwierigkeiten äußerte sich (wenn es dabei nur geblieben wäre!) in dem abgrundtiefen, doch unbewussten Hass, den er gegen das Körperteil hegte, über das er, obwohl es mit ihm verbunden war, keine Kontrolle hatte: seinen Schwanz. Aus diesem Grund hatte er schon in sehr jungen Jahren angefangen, ihn zu bestrafen — tatsächlich seit er beim ersten Mal, als er von einer Frau herausgefordert wurde, versagt hatte. Er hatte ihn wie ein platter Reifen im Stich gelassen, als er ihn zum ersten Mal mit fünfzehn ausprobieren wollte, in diesem ersten, gefürchteten Augenblick im Leben eines jungen Mannes, als, durch die hartnäckige und völlige Weigerung hochzukommen, ihm ein Teil seines Körpers bewies, dass er nicht das überlegene Wesen war, für das er sich immer gehalten hatte. Ganz im Gegenteil: dieser schlaffe, doch lebendige kleine Teil von ihm baumelte mit einer negativen, doch kontrollierenden Überheblichkeit gegenüber der Situation schlaff gegen seine Oberschenkel — so wie es seitdem immer gewesen war — zwinkerte ihm mehr oder weniger hinterhältig zu und forderte ihn heraus, etwas dagegen zu unternehmen. Schließlich hatte er ihm so einen kräftigen Schlag versetzt, dass er vor Schmerzen schrie und das Mädchen vor dem negativen Glanz seiner Impotenz floh, darum war das erste Strafblut, das er vergossen hatte, sein eigenes gewesen. Das Wesen, das er schon zu besitzen glaubte, eilte vernünftigerweise aus dem Zimmer und aus jenem billigen Hotel in der Caledonian Road.
Er machte den Fehler und weinte mit dem nächsten Mädchen, nachdem er, psychisch wie betäubt, fast ein Jahr gewartet hatte. May war fett und trug eine Brille, deren Gläser ständig beschlagen waren — ihre sehr wenigen Freunde nannten sie Preshy, ihre vielen Feinde Fleshy, seit sie als Klatschmaul bekannt war und schon eine ordentliche Tracht Prügel bezogen hatte, weil sie über die falschen Leute hergezogen hatte. Ihr neuer Fehler bestand darin, etwas mit diesem Sportsfreund anzufangen, denn trotz seines guten Aussehens wollte ihn sonst niemand, aber sie war scharf auf einen Fick. Doch nach und nach bemerkte sie, dass dieses gute Aussehen bei näherer Betrachtung irgendwie verschwand, außerdem musste sie bald mit anderen Problemen fertig werden, zum Beispiel mit seinen plötzlichen Wutausbrüchen, die sie in dieser Form noch nie erlebt hatte. Ihr eigenes Problem war, dass sie hinterhältig war und Ärger provozierte, und sich dann zurücklehnte und ihn genoss. Sie war zu dumm, um jemals zu erkennen, dass er sich in den Kneipen, in die sie gingen, nur deshalb ruhig und gesittet benahm, weil er zu verstehen versuchte, was normales Benehmen bedeutete, indem er — aus dem gleichen Grund und mit der gleichen Intensität — wie ein schlechter Schauspieler die Leute um sich herum beobachtete, um das zu kopieren, was er niemals werden würde.
Als sie sich jedenfalls beide nach einem Abend mit reichlich Bier zum ersten Mal auf einem Hotelbett wiederfanden, entledigte sie sich erfahren ihres BHs und ihres schwarz gepunkteten Slips und schleuderte ihre flachen Schuhe mit dem Fuß in eine Ecke. Halbbekleidet fingen sie an zu fummeln, aber das Vorspiel schien ihr furchtbar lange zu dauern, und es deprimierte sie. Er tat ihr immer noch leid, aber physisch veranlassten sie seine Bemühungen, sich von ihm zurückzuziehen. Sie dachte, dass es in einem Desaster enden werde, wenn der Kerl nicht bald mal zur Sache käme, und er ist so langweilig — doch da sie dumm war, war sie auch naiv und hatte keine Ahnung, womit sie buchstäblich spielte, sie hatte keine Ahnung, wie wichtig es ihm war, sie zu erobern. Ihre Ignoranz war wirklich sehr gefährlich — tatsächlich war sie tödlich, denn als er nach Stunden in der Dunkelheit weinend zusammenbrach und klagte, dass er es trotz stundenlanger, schweißtreibender Bemühungen nicht schaffte, beging sie einen schwerwiegenden Fehler. Sie schwang sich von der Matratze und ließ ihn abblitzen, weil sie erschöpft und unbefriedigt war und die Nase voll davon hatte, sich unter ihm abzukämpfen.