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An Hand meines Lebenslaufes schreibe ich über mein Leben in der DDR. Ich habe mich bemüht, auf der Grundlage meiner Erfahrungen und Erlebnisse in DDR meine ehrliche Meinung preiszugeben; so wie ich die DDR erlebt habe. Denn jeder, der die DDR seine Heimat nannte, hat seine eigene Geschichte. Ich habe bei meinen Aufzeichnungen damalige und heutige politische Erkenntnisse gegenüber gestellt und verglichen. Genauso wenig wie ich die DDR pauschal als Unrechtsstaat bezeichnen würde, genauso befinde ich die Bundesrepublik nicht immer als Rechtsstaat. Die jungen Leute müssen sich darauf verlassen, was wir ihnen über die DDR erzählen. Man sollte ihnen nicht nur die vergiftete Seite des Apfels übergeben, sondern die gesunde Seite dazu reichen.
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Margarithe W. Mann
Ich war ein Kind der DDR
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Kinderzeit
Mädchenjahre
Erwachsen sein
Voll berufstätig
Wie nun weiter?
Impressum neobooks
In meinem Dreiteiler „Stehaufmännchen - Die Kraft zu leben“ habe ich mein Leben in Form einer sehr ausführlichen Autobiografie dargelegt. Allerdings habe ich dabei die Politik und damit verbundene Ereignisse nur am Rande, der Vollständigkeit halber, gestreift.
Meine Enkelkinder sind bereits in einem Alter, indem sie nicht nur in der Schule mit dem Thema DDR konfrontiert werden. Fragen tauchen auf. „Oma, wie war das denn nun mit der DDR und dem Sozialismus? War das gut, oder war es schlecht? Wir sollen für den Schulunterricht über die DDR schreiben, über Frauen, das Leben und Berufstätigkeit in der DDR“. Als ich ihre Frage mit: „Es war nicht alles gut damals, aber es war auch nicht alles schlecht,“ beantwortete und mich gleichzeitig darüber wunderte und mich fragte, warum sich die Kinder zu Dingen äußern sollen, die sie selber nicht miterlebt haben, mache ich mich daran und nehme die Jahre 1953 bis 1989, nicht nur für meine Enkelkinder, noch einmal ein wenig genauer unter die Lupe. Ich werde dabei verschiedene positive, als auch negative Erlebnisse und Eindrücke aus schon sehr lange vergangenen Tagen, die mein Leben geprägt haben zur Darstellung bringen. Natürlich richte ich dabei ein besonderes Augenmerk auf politische Begebenheiten, die ich in meiner Biographie wie schon gesagt nur hier und da beiläufig erwähnt habe. Ich möchte darauf hinweisen und betonen, dass das alles, was ich hier zu Papier bringen werde, keine geschichtliche Abhandlung über einen deutschen Staat werden soll, den es heute nicht mehr gibt. Diese Ereignisse kann man in Geschichtsbüchern oder im Internet nachlesen. Ich beschränke meine Erzählung, in chronologischer Reihenfolge, auf mein ganz persönliches Leben in der DDR. Ich lege dabei ausschließlich meine eigenen, ganz persönlichen Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen zu Grunde, denn jeder Mensch, der in der DDR geboren und aufgewachsen ist, kann dazu seine eigene Geschichte vorbringen. Jeder einzelne Mensch, der die DDR seine Heimat nannte, hat diese individuell erlebt und betrachtet dieses Thema demnach auch aus seiner persönlichen Perspektive und mit den damit verbundenen Gedanken. In Folge dessen fallen die Beurteilungen über diesen einst existierenden deutschen Staat sehr unterschiedlich aus. Ich werde ganz objektiv meine Meinung zu allen Erinnerungen, Erfahrungen und Begegnungen äußern, mit denen ich im Laufe meines Lebens in der DDR konfrontiert wurde, wie ich persönlich diesen Teil Deutschlands erlebt habe und wie ich damit umgegangen bin. Verschiedene spezifische Kriterien, die das Leben in der DDR geprägt haben werde ich der heutigen Zeit gegenüber stellen. Dazu habe ich folgenden Grundgedanken, den ich meiner Darstellung vorausschicken möchte, bevor ich mich den Einzelheiten zuwende:
Genauso wenig wie ich die ehemalige DDR pauschal als Unrechtsstaat bezeichne, wie es vielfach in den Medien interpretiert wird, genauso wenig nenne ich die heutige Bundesrepublik Deutschland immer und in jeder Situation einen Rechtsstaat, wobei für mich diese Bezeichnung mehr denn je in Frage gestellt wird. Unsere jungen Leute, die nach der Wende geboren sind müssen, bzw. können sich nur darauf verlassen, was wir, die ältere Generation, ihnen über die DDR berichten. Ich finde, man sollte den jungen Leuten nicht nur die vergiftete Hälfte des Apfels präsentieren, sondern ihnen ebenfalls die gesunde, dazugehörige Hälfte reichen.
Meine Wenigkeit wurde am 3. April 1953 in Saalfeld geboren. Meine Mutter berichtete mir später, dass dieses Ereignis genau an einem Karfreitag mit herrlichem Frühlingswetter gewesen sein soll. Ich kam nicht im Krankenhaus zur Welt, sondern in einer kleinen Privatklinik meiner Heimatstadt Saalfeld in Thüringen. Diese kleine Klinik befand sich in der Oberen Straße, etwa da, wo ein paar Jahre später unser Zahnarzt Dr. Baumgärtl seine Praxis inne hatte. Ebenfalls zu DDR – Zeiten praktizierte dort unter anderem der Allgemeinmediziner Dr. Alexej, und auch gegenwärtig betreuen Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen an dieser Stelle ihre Patienten. Man kann dieses Gebäude auf Grund seiner Umstrukturierung, nach dem Bau des städtischen Krankenhauses, als Ärztehaus bezeichnen.
Der erste Spatenstich für das Krankenhaus in Saalfeld erfolgte am 19. November 1953. In späteren Jahren, am 16. März 1961 bekam es den Namen: „Agricola – Krankenhaus“. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sich seit der Wende die genannte Einrichtung „Thüringenklinik“ nennt. Im Jahr 2013 begann man dort mit dem Anbau eines neuen Traktes für Neurologie und Psychatrie als Ergänzung des Klinikums, der am 5. Juni 2015 eröffnet wurde.
1962 wurde für das damalige Personal des Krankenhauses ein Schwesternwohnheim in unmittelbarer Nähe erbaut. Es existiert gegenwärtig noch immer und gehört meines Wissens in einer Form zum Komplex der Altenpflegeeinrichtung der AWO am Rainweg.
Die Frau des damaligen Chefarztes Dr. Kraus, eben dieser vorhin genannten früheren kleinen Privatklinik in der Oberen Straße, hat zu besagter Zeit für die Wöchnerinnen gekocht und gebacken. Meine Mutter spricht noch heute davon, wie schön diese individuelle Betreuung gewesen ist. Wenn man bedenkt, dass der 2. Weltkrieg erst am 2. September 1945 zu Ende gewesen ist, waren bis zum Jahr meiner Geburt, also 1953, gerade einmal 8 Jahre vergangen. So kann man die Zeit in der ich zur Welt kam durchaus noch als Nachkriegsjahre bezeichnen. Also eine Zeit, in der die Versorgung der Bevölkerung nicht gerade üppig war. Die DDR wurde wie man weiß am 7. Oktober 1949 gegründet, nachdem zuvor im September 1949 der westdeutsche Separatstaat errichtet wurde. Die Verfassung der DDR trat in Kraft und Wilhelm Pieck wurde am 11. Oktober 1949 zum Präsidenten der DDR gewählt und blieb in diesem Amt bis zu seinem Tod am 7. September 1960.
Meine Großeltern und auch meine Eltern erzählten mir später von diesen schweren Jahren nach dem Krieg und vom Wiederaufbau des Landes. Es fielen die Worte, wie Ruinen, Trümmerfrauen und der Satz: Viel Arbeit hatten sie und wenig Brot. Männer und Söhne kamen ausgemergelt und krank aus Krieg und Gefangenschaft zurück, … wenn sie überhaupt zurückkehrten. Junge Mädchen und Frauen, die durch die Zeit des Krieges viel entbehren mussten, wurden nun als junge Mütter gut versorgt. Der Aufenthalt in dieser kleinen Klinik war im Gegensatz zu Heute relativ lang, den Müttern wurde viel Ruhe verordnet. Heute verfolgt man nicht nur dahingehend andere Richtlinien.
Gewohnt haben wir nach meiner Geburt zusammen mit den Großeltern mütterlicherseits in der Leninstraße, die nach der Wende wieder ihren alten, ursprünglichen Namen Knochstraße erhielt. Dieses Haus in der Leninstraße steht übrigens noch heute, es befindet sich vom Oberen Tor kommend, in etwa auf halber Länge dieser Straße auf der linken Seite. Das alte Haus hat noch heute den original gemauerten Balkon in Richtung Straßenseite.
Mein Opa, der wie meine Oma aus Johannesthal ( Polen )stammte, war zu dieser Zeit Kreistuberkulosearzt und arbeitete in der Tuberkuloseberatungsstelle am Promenadenweg, genau da, wo heute das Polizeikreisamt ist. Allerdings hat man es vorgezogen, dieses Polizeikreisamt dem schönen alten Gebäude, eben dieser Tuberkuloseberatungsstelle, vor die „Nase zu setzen“, warum auch immer. Wahrscheinlich spielen ungeklärte Besitzansprüche eine Rolle, wie so oft. Ich habe mir vorgenommen, mich diesbezüglich einmal genauer zu informieren und nach dessen Erfolg dazu ein paar Zeilen ergänzen.
Sehr oft fuhr mein Opa auch in seine Praxis nach Lobenstein und Lauscha, wo er sich ebenfalls intensiv um seine Patienten kümmerte. Ich habe mir sagen lassen, dass mein Großvater ein sehr guter Arzt gewesen ist, der jeden einzelnen Patienten liebte und dem der Eid des Hippokrates noch etwas bedeutete. Damals stand noch der Mensch im Vordergrund, heute ist es der Profit, aber dazu komme ich später noch. Als angehender junger Mediziner versorgte und betreute er während des ersten Weltkrieges verletzte Soldaten auf dem Schlachtfeld und im Lazarett. Nach dem Krieg nahm er seine verantwortungsvolle Aufgabe als Landarzt auf. Auch nach dem 2. Weltkrieg, (als Lagerarzt verpflichtet), setzte er seine Tätigkeit als Landarzt fort und erarbeitete sich später den Titel Medizinalrat um als Kreistuberkulosearzt zu fungieren. Während seiner damaligen Dienstjahre als Landarzt waren die Bedingungen äußerst erschwert, besonders im Winter. Oft musste er seinen Weg zu Fuß oder auch mit den Skiern fortsetzen, wenn der Schnee so hoch war, dass selbst der Pferdeschlitten stecken blieb. Dennoch gab es für meinen Opa niemals ein: Das geht nicht. Auch in den fünfziger Jahren, als er dann mit dem Auto fahren konnte, es war zu dieser Zeit ein alter BMW, endete die Fahrt nicht selten auf freiem Feld in einer Schneewehe. Als beliebter „ Herr Doktor“, wie ihn die Leute nannten, schaffte er sich eine gewisse Position, die ihm einen äußerst guten Ruf einbrachte. Natürlich gab es im Krieg und auch in den Jahren danach sehr viele Menschen, besonders bei der Landbevölkerung, die zwar durch ihre Landwirtschaft genug zu essen, aber kein Geld hatten, um einen Arzt bezahlen zu können. Sie entlohnten meinen Opa mit Naturalien, die er dann an die ärmsten Patienten weitergab, wenn er zu ihnen zum häuslichen Arztbesuch gerufen wurde und er sie besuchte. Er brachte ihnen also noch etwas mit, anstatt entlohnt zu werden. Seine Hosentaschen waren stets gefüllt mit Bonbons für die Kinder. Vom erzählen meiner Mutter weiß ich, dass meine Oma dann immer sagte: „Meine Güte Gottfried, so wirst du nie zu etwas kommen“. Aber er antwortete nur: „Ach lass` nur Wally, wir haben doch immer noch genug“.
Meine Großmutter Walburga war in meinem Geburtsjahr 1953 als Lehrerin für die Fächer Mathematik, Musik und Handarbeiten bereits in Rente. Sie war übrigens so ziemlich die einzige in unserer Familie, die gut singen und rechnen konnte. Alle anderen Familienmitglieder sind bis in die heutige Zeit hinein als total unmusikalisch und als „Mathematikkünstler“ zu bezeichnen.
Die Eltern meines Vaters und seine älteste Schwester stammten ursprünglich aus Oldenburg in Niedersachsen, zogen später nach Osterburg (Altmark) und bauten ein Haus, indem mein Vater 1928, geboren wurde, so wie auch noch zwei weitere Schwestern meines Vaters. Mein Opa väterlicherseits war Schneidermeister und besaß seine Werkstatt im Hof. Die Mutter meines Papas durfte ich leider nicht mehr kennenlernen. Wie gesagt bin ich zu Ostern 1953 geboren und die Oma verstarb plötzlich zu Pfingsten des gleichen Jahres, bevor sie uns besuchen und mich in Augenschein nehmen konnte. An meinen Großvater väterlicherseits kann ich mich nur sehr wage erinnern, er heiratete nach dem Tod meiner Oma noch einmal. Nach den Berichten meiner Mutter soll dessen Wahl nicht so recht im Sinne der übrigen Familie gewesen sein, wohl auch, weil der Opa sich so schnell entschied, ein zweites Mal zu heiraten. Mir selber kommt es nicht zu darüber zu urteilen. Mir ist nur der letzte Besuch in Erinnerung geblieben, an dem ich meinen Opa im Krankenhaus Osterburg mit den Eltern besucht hatte. Seine Haut war ganz gelb, heute weiß ich, dass er eine Lebererkrankung hatte, 1960 ist er verstorben.
Mein Papa, 1928 geboren, war zu der Zeit, als ich in das weltliche Dasein eintreten durfte, Leiter der Konsumgenossenschaft in Saalfeld und meine Mutter Waldheide, 1923 geboren, war mit mir ein Jahr zu Hause. Das war zu dieser Zeit nur möglich, weil sie von meinem Opa finanziell unterstützt werden konnte.
Die Eltern meiner Mutter, sowie meine Mutter selber, stammten wie schon gesagt aus Oberschlesien und gelangten 1948 während der Flucht über Brünn (Tschechien) nach Pirna (ehemalige russische Besatzungszone). Von da aus zogen sie, bedingt durch die Tätigkeit meines Großvaters über Eggesin nach Neubrandenburg, um schließlich 1950 in Saalfeld sesshaft zu werden. Meine Mutter hatte noch eine Schwester, Sieglinde, die in diesen Jahren im Harz wohnte und auch wie ihr Mann Theo im Gesundheitswesen arbeitete, beide waren sie Apotheker.
Im Sommer 1953 zogen meine Großeltern, sowie auch meine Eltern mit mir in der Sonneberger Straße in ein Mehrfamilienhaus. Gemeinsam mit uns wohnte dort auch noch der Bruder meiner Oma, mein Onkel Josef, der, um es vornehm auszudrücken, etwas speziell war. Gegenüber auf der anderen Straßenseite befand sich über viele Jahre hindurch die naturkundliche Sammlung des Forschungsreisenden Emil Weiske.
Habt Ihr eigentlich schon gewusst, dass ich bereits als Baby in der Regionalzeitung von mir zu hören machte? Nein? Dann will ich es euch verraten: Ich war das erste Kind, welches in diesen Jahren in Saalfeld und Umgebung gegen Tuberkulose geimpft wurde. Was glaubt ihr wohl, wer mich geimpft hat? Genau, es war mein Opa als Kreistuberkulosearzt persönlich.
Als ich etwa ein Jahr alt war zogen meine Eltern mit mir nach Lauscha. Wir hatten dort eine Wohnung im gleichen Haus, in der sich auch die Dienststelle meines Großvaters und ein Labor befand. Man könnte es auch als kleines Ärztehaus bezeichnen. Es war ein großes Mehrfamilienhaus im oberen Lauscha in der Friedensstraße. Wie gesagt hielt dort mein Opa einen Teil seiner Sprechstunden mit integrierter Röntgenabteilung ab. Meine Mutter nahm als Laborantin im gleichen Haus ihre Arbeit auf. Mein Vater bekleidete das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters im Rathaus der Stadt Lauscha. Und ich? … ich sollte natürlich in der Kinderkrippe untergebracht werden. Allerdings machte ich meinen Eltern damit einen Strich durch ihre Rechnung, … ich war ein ständig kränkelndes Kind. Also suchte mein Opa für mich ein Kindermädchen und hatte dann endlich beim dritten Anlauf Glück damit. Das erste Mädchen war unehrlich und wurde beim Stehlen erwischt. Das andere Mädchen, welches sich um mich kümmern sollte, hatte für mich kleine Mohnsäckchen angefertigt und mir diese wie einen Nuckel in den Mund gesteckt, damit ich schlafen sollte. Sie wollte nicht so viel Arbeit mit mir haben.
Während wir in dieser Dienststelle wohnten, prägten sich erste Erinnerungen in meinem Leben ein. An alle einzelnen Begebenheiten meiner ersten Lebensjahre, sowie an diese Wohnung kann ich mich natürlich nicht mehr im erinnern. Ganz wage tauchen noch Bilder vor mir auf, von einer relativ großen Küche zum Beispiel, in der ein Tisch in der Mitte stand. Ich weiß aber noch, dass mein Opa öfter mit uns an diesem Tisch saß, sicher immer dann, wenn er zwischen seinen Sprechstunden eine Pause gemacht hatte.
Es ist natürlich klar, dass ich als Kleinkind von den wirtschaftlichen Verhältnissen im Land nichts mitbekommen habe, sondern diese Dinge später von meinen Eltern erfragen musste. So berichtete man mir unter anderem, dass es zu dieser Zeit noch Lebensmittelkarten gab. Das heißt, jeder Haushalt hatte nur ein bestimmtes Kontingent an Waren zur Verfügung, jeder Einkauf musste sorgfältig bedacht werden. Diese Karten waren in bestimmte Rubriken eingeteilt, die bei jedem Einkauf vom Verkäufer abgeschnitten wurden. So gab es zum Beispiel Abschnitte für Süßigkeiten, es konnte gewählt werden zwischen Zucker oder Schokolade. Erst im nächsten Monat gab es dann eine neue Karte. Man musste also genau überlegen, wie man diese Dinge einteilte, oder ob es vielleicht gerade ein Monat war, in dem jemand Geburtstag hatte und man deshalb diese Karte für den Kuchen, für Schokolade oder Kakao benötigte. Wie für die Lebensmittel gab es Karten für Textilien, auch Windeln gehörten zur Bekleidung. Die Eltern mussten sich entscheiden, entweder gab es etwas zum Anziehen für Mama oder Papa, … oder Windeln für mich. Man erzählte mir, dass eine Schwester meiner Oma den Stoff für die Windeln aus Westdeutschland schickte und meine Oma nähte für mich die Windeln daraus. Die Kleider – und auch die Lebensmittelkarten wurden erst 1958 abgeschafft.
Staatsoberhaupt der DDR war in diesen Jahren als Präsident des Landes Wilhelm Pieck (1949 – 1960). Eigenen Erinnerungen zur Folge lebt in mir die Tatsache, dass ich immer genug zu essen hatte. Ich glaube, dass das ein Kriterium ist, was sich im frühsten Kindesalter manifestiert. An Zeiten, in denen man hungern musste, an die erinnert man sich mit Sicherheit, die vergisst man auch als Kind nicht. In diesem Zusammenhang ist mir in Erinnerung geblieben, dass meine Mutter immer in einem großen Geschäft einkaufte. Am Abend klingelte es an der Tür und jemand brachte die große Einkaufstasche zu uns nach Hause. Das gibt es wohl heute auch noch, aber nicht mehr unentgeltlich, … damals gehörte das noch zum Service.
Ich weiß noch ganz genau, dass ich nicht so sehr gerne in meinem Kinderwagen, in der Sportkarre wie man sagte, gesessen habe, sondern diese lieber selber schieben wollte. Jedes mal sagte dann meine Mutter: „Wenn ich dich jetzt aus dem Wagen nehme weil du laufen willst, kannst du aber nicht mehr zurück in deinen Wagen, deine Schuhe sind dann ganz schmutzig! “. Sie hob mich meistens doch heraus, ich hielt mich links und rechts an der Lenkstange der Karre fest und watschelte genau vor den Füßen meiner Mutter weiter. Manchmal stolperte sie über mich und stöhnte, sicher ging es ihr nicht schnell genug.
Irgendwann kam das Kindermädchen nicht mehr und ich war viel bei meinen Großeltern in Saalfeld, vorwiegend bei der Oma, denn der Opa war noch vollauf beschäftigt mit seinen Patienten. Ich war sehr gern in Saalfeld bei Oma und Opa, … ich bin nie gern in so eine Kindereinrichtung gegangen. Das war für mich eine äußerst leidige Angelegenheit, an die ich mich nicht gewöhnen konnte und die ich noch heute deutlich vor Augen habe. Wenn ich nicht bei den Großeltern sein durfte oder konnte, dann „schleppte“ man mich eben dort hin. Die einzige „Tante“, die ich in meiner Zwangslage ein wenig mochte und die mir den Aufenthalt dort erträglich machte war die Tante „Mietzi“, vielleicht weil sie ganz oft mit uns gesungen hat. Ich glaube, nur ganz wenige Kinder kennen heute noch das Lied:
„Hänschen klein, ging allein in die weite Welt hinein,
Stock und Hut steht ihm gut, er ist Wohlgemut,
aber Mama weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr...“
oder das Kreisspiel:
„Petersilie, Suppenkraut wächst in unserm Garten,
Unser Hannchen ist ne Braut, soll nicht länger warten!
Roter Wein, weißer Wein
morgen soll die Hochzeit sein“.
Oder wie wäre es mit:
„Häschen in der Grube saß und schlief,
armes Häschen, bist du krank, dass du nicht mehr
hüpfen kannst?
Häschen hüpf, Häschen hüpf“.
Ich weiß nicht mehr, wie die Tante Mietzi mit richtigen Namen hieß, ich erinnere mich nur an eine bunte Strickjacke die sie immer trug. Bestimmt weil ich eben so schrecklich ungern in den Kindergarten ging, war ich auch weiterhin sehr oft krank und mein Opa holte mich zurück nach Saalfeld. Auf einmal war dann die Welt wieder für mich in Ordnung. Es war nie langweilig bei Oma und Opa. Ich weiß noch wie heute, dass eines Tages ein fremder Mann kam, der einen großen Kasten mitbrachte und im Wohnzimmer meiner Großeltern auf einen Schrank stellte. Der Mann beschäftigte sich eine ganze Weile damit und meine Oma stand dabei und sah ihm zu. Auf einmal wurde der geheimnisvolle Kasten vorne ganz hell, es war ein Bild zu sehen und das bewegte sich sogar: Ein Fernseher. Ich habe noch genau die Worte meiner Oma im Ohr, die zu mir sagte: „Schau mal, wie die Manneln umherlaufen, alle nur hinter einem einzigen Ball her, wenn jeder so einen hätte, dann brauchten sie nicht so arg zu laufen!“. Ich war fasziniert, schließlich hatte ich zuvor noch nie so etwas gesehen. Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und versuchte hinter den Kasten zu schauen, ich konnte mir nicht erklären, wie diese Manneln, wie sie meine Oma nannte, in den Kasten hinein gekommen waren. Der Mann, der diese tolle Sache mitgebracht hatte lächelte auf mich herab und meine Oma begleitete ihn zurück zur Tür. Bestimmt hat sie auch über diesen Kasten gestaunt, denn sie hielt noch immer den großen Kochlöffel aus Holz in der Hand und eilte damit zurück in die Küche. Die Manneln, wie sie meine Oma bezeichnete waren Fußballspieler. Obwohl eben diese Fußballer das erste war, was ich in meinem Leben im Fernsehen gesehen hatte, blieb das Thema Fußball bis heute für mich so ziemlich das langweiligste was es im Leben überhaupt gibt. Aber dafür besaß meine Oma in der Küche etwas, womit ich am liebsten den ganzen Tag zugebracht hätte: Ein richtiges, echtes, großes Huhn. Ihr glaubt das nicht? Wenn ich es euch doch sage, ihr könnt es mir ruhig glauben, es war tatsächlich so. Es war groß, dick und braun und saß in einem richtigen Nest aus Stroh unter der Abwäsche. Früher, also zu meiner Kinderzeit gab es noch keine Anbauküchen, so wie sie heute modern sind, na und Geschirrspüler schon garnicht. Alle Schränke standen einzeln, sie waren nicht miteinander verbunden. Es gab einen großen Küchenschrank, einen Herd und einen Kühlschrank. Dieser hatte nur ein ganz winzig kleines Gefrierfach wo vielleicht gerade einmal ein Eis darin platz gefunden hätte. Einen Gefrierschrank kannten wir zu der Zeit noch nicht und ich ließ mir sagen, dass damals nicht einmal alle Leute in Besitz eines Kühlschrankes waren. Ich erinnere mich aber daran, dass der Kühlschrank mit einem Schlüssel abgeschlossen werden konnte. Neben dem Kühlschrank befand sich die eben genannte Abwäsche. Ihr wisst nicht, was das ist? Heute sagt man Spüle dazu, nur dass diese beiden Spülbecken nicht verkleidet waren und dadurch der Blick auf die Abflussrohre freigegeben wurde. An so etwas wie einen Geschirrspüler dachte wie schon gesagt zu dieser Zeit noch niemand. Mein Opa ließ von einem Handwerker ein Schränkchen mit zwei Vordertüren um diese Abwäsche bauen, … und in diesem Schränkchen wohnte das dicke Huhn, eine Glucke. Ich fand das genial, damals als Kind. Meine Oma legte Eier in das Strohnest, damit die Glucke Küken daraus machen sollte, … so jedenfalls waren meine kindlichen Gedankengänge. Ich war natürlich sehr neugierig und machte dauernd die Türen des Schränkchens auf, um zu sehen, ob die Küken schon da sind. Meine Oma meckerte dann immer und sagte, dass die Glucke gestört wird, wenn ich dauernd den Schrank auf und zu mache, aber ich musste doch sehen, was das Huhn den ganzen Tag da macht. Sobald meine Großmutter die Küche verließ, ging ich sofort zum Schränkchen zurück, öffnete die Türen und schaute nach. Aber die dumme Glucke gackerte jedesmal ganz laut und verriet dadurch mich und meine Neugier. Meine Oma kam dann sogleich herbei geeilt, ich machte schnell die Tür wieder zu und versuchte an den Luftlöchern an der Seite des kleinen Stalles etwas zu erkennen. Endlich war es soweit, eines Morgens hüpften piepsende, allerliebste kleine gelbe Bälle im Nest umher. Nach ein paar Tagen wurde mein Onkel Josef damit beauftragt, die ganze Hühnerfamilie nach unten in den Hof zu bringen.
In diesen Jahren stand, so wie bei meinen Großeltern auch, in den meisten Haushalten ein Sofa in der Küche. Die Küchen waren meist geräumig und fungierten als Wohnraum, wo sich so gut wie das ganze Familienleben abspielte, man bezeichnete es allgemein als Wohnküche. Im Wohnzimmer, in der so genannten „guten Stube“ hielt man sich seltener auf, meist war das nur zu Feierlichkeiten. Erst später, als es Den Fernseher in den meisten Familien gab, „zog“ man dann am Abend von der Wohnküche ins Wohnzimmer. Natürlich gab es auch noch keine moderne Heizung an der Wand oder gar im Fußboden. Ein Kohleherd musste angefeuert werden, wie man das nannte, damit es schön warm war in der kalten Jahreszeit. Man konnte auch sehr gut das Essen darauf warm stellen, zudem befand sich immer eine Kanne mit Malzkaffee auf der hinteren Seite des Ofens. Lange vor meiner Zeit wurde ausschließlich auf dieser Ofenplatte gekocht, aber nun gab es bereits dafür einen Gasherd neben diesem Ofen. Diese Kombination von Gasherd und Kohleherd war, so finde ich, eine geschickte Sache. Heute vermisst so mancher den alten Ofen nicht nur wegen der Kartoffeldetscher, die eben nur schmecken, wenn sie auf der guten alten Ofenplatte gebacken werden. Unter dem Kohleofen waren zwei Schubfächer, in einem davon lagen die Kohlen und in dem anderen das Holz, um das Feuer in Gang zu bekommen. Später nahm mein Opa ein Schubfach heraus und so bekam der schwarzbraune Kurzhaardackel Seppl seine Unterkunft. Links neben der Küchentür war ein altes kleines Ausgussbecken aus Emaille. Das benötigte man, als es vor meiner Zeit noch ganz alte Abwäschen gab, die noch keine Becken hatten, in die man zum Reinigen des Geschirrs das Wasser einlassen und dann danach wieder ablassen konnte. Das Geschirr wurde in Schüsseln abgewaschen. Dazu gab es Schränke mit zwei großen Schüsseln zum Einhängen. Ähnlich wie bei einer Besteckschublade zog man sie heraus, füllte die eine mit heißem Wasser und nutzte die zweite Schüssel zum Ablegen für das gesäuberte Geschirr. Es waren jene Jahre, in denen es auch noch keine Wasserboiler gab, die mit Hilfe des elektrischen Stromes heißes Wasser produzieren konnten. Das Wasser, auch zum Waschen, musste in großen Töpfen auf dem Kohleherd erhitzt werden, denn in den meisten Wohnungen gab es noch kein Badezimmer und nicht selten war die Toilette im Flur, eine Etage tiefer oder auf dem Hof.
Dieses kleine, eben genannte Ausgussbecken wurde von den Großeltern nicht entfernt, weil es zum Beispiel noch gute Dienste leistete, wenn man die Kartoffeln abgießen wollte, … oder einfach, um sich schnell einmal die Hände zu waschen. Neben der Küche war eine Speisekammer, alle Lebensmittel, die nicht unbedingt im Kühlschrank aufbewahrt werden mussten, konnten dort gelagert werden. Ich weiß noch, dass es schon damals reichlich Ameisen gab, mit denen meine Oma immer zu kämpfen hatte, sicher angelockt durch angebrochene Marmeladengläser, die meine Oma dann immer auf Teller mit Essig stellte. Die Wohnung in der Sonneberger Straße war für mich als kleiner Zwerg riesig und für damalige Verhältnisse schon fast so etwas wie eine Luxuswohnung. Warum? Weil diese Wohnung bereits ein gefliestes Bad hatte. Allerdings brachte dieses Bad einmal ein Schreckenserlebnis für mich mit sich. Als ich einmal hinein auf die Toilette geschickt wurde, da hing an der Seite, wo sonst immer die Handtücher am Haken zu finden waren ein toter Hase ohne Fell. Das war für mich so grauenvoll, dass ich bis heute keinen Hasenbraten essen mag. Sicher hatte ihn der Onkel Josef umgebracht, so formulierte ich es jedenfalls damals. Ich fand das voll gemein, dass man die Häschen erst fütterte, … und dann so etwas. Es bereitete mir immer viel Freude, gemeinsam mit meiner Großmutter im Hof die Hühner und die Hasen zu füttern.
Außerdem gab es bei Oma und Opa eine Seltenheit die Telefon hieß. Mein Opa benötigte dieses Telefon, damit er für seine Patienten erreichbar sein konnte. Zu dieser Zeit hing das Telefon an der Wand in der geräumigen Diele und hatte eine große Wählerscheibe. Es gab das „Fräulein vom Amt“. Die junge Dame war dafür zuständig, den einen Gesprächspartner mit dem anderen zu verbinden. Schade, dass das Telefon so hoch hing, dass ich es nicht erreichen konnte. Ich hätte es zu gern einmal ausprobiert und herausgefunden, wer sich hinter diesem Ding versteckt.
Mein Großvater ließ die Verbindungstür zwischen der Küche und der großen Diele entfernen und stattdessen wurde eine Schaukel für mich aufgehängt. Das fand ich natürlich super. Allerdings raubte ich damit meiner Oma oft den letzten Nerv, wie man so sagt. Manchmal zwängte sie sich an mir vorbei und stöhnte dabei vor Verzweiflung auf, während sich mein Opa darüber freute. Bestimmt war er zufrieden, weil ich meinen Spaß hatte. Als Kind glaubte ich allerdings, dass er sich freut, weil meine Oma beim sich an mir Vorbeizwängen stöhnt und meinte, sie könne wegen mir nicht hintereinander ihre Arbeit machen.
Ich habe mir sagen lassen, dass mein Opa sogar für mich in der Wohnung einen Sandkasten aufstellen lassen wollte, damit ich auch im Winter im Sand spielen könne. Neben der Küche war eine Veranda, dort sollte der Sand aufgeschüttet werden. Das allerdings machte dann meine Oma doch nicht mit „Du bist doch wohl nicht ganz gescheit“, soll sie gesagt haben.
Ein ganz besonderes Ereignis war es immer für mich, wenn ich mit meinem Opa hinaus auf die Straße gehen durfte, sobald es draußen dunkel wurde. Ich ging mit meinem Großvater die Straße entlang und beobachtete den „Laternenmann“, wie ich ihn bezeichnete. Er lief von einer Laterne zur anderen und zündete mit einem langen Stock das Licht an. Mein Opa war ein großer und kräftiger Mann und ich musste, wenn wir gemeinsam spazieren gingen, immer meinen Arm weit nach oben strecken, damit er mich an der Hand fassen konnte. Manchmal blieb er neben dem Laternenmann stehen und hob mich zu sich hinauf, damit ich alles noch besser sehen konnte. Ich wollte immer gar nicht nach Hause gehen und sagte: „Ach Opaaaa, … bitte, bitte, … nur noch ein ganz kleines bisschen dem Laternenmann zuschauen“. Mein Opa konnte nicht anders als zu antworten: „Na, gut, … Puppilein, aber dann müssen wir nach Hause gehen, die Oma wartet schon auf uns“. Es gab damals noch keine elektrische Straßenbeleuchtung so wie wir sie heute kennen. Die Zeit brachte es mit sich, dass es den Laternenmann nun schon lange nicht mehr gibt, aber es bleibt für mich eines der schönsten Erlebnisse mit meinem Großvater.
Während mir mein Opa nichts abschlagen konnte, machte meine Oma nicht einfach so alles mit, wie man sagt. Sie sorgte gern für mich wenn ich mich bei den Großeltern aufhielt, aber sie sagte auch bisweilen etwas lauter und energisch, wenn in ihren Augen etwas nicht richtig war. So zum Beispiel, wenn ich mal wieder für meinen Opa „gekocht“ hatte, eine grausige Mischung aus rohen Linsen, Bohnen, Reis und Grieß. Manchmal, wenn ich es irgendwo in einer Ecke gefunden hatte, zierte ich das Ganze mit einem klebrigen Bonbon. Und was soll ich sagen? Er hat auch noch gegessen was ich „zubereitet“ hatte, … zum totalen Unverständnis meiner Großmutter. Wenn sie dann immer vor Entsetzen aufschrie: „Um Gottes Willen, das kann man doch nicht wirklich essen!“, meinte mein Opa immer nur: „Lass` nur mein Puppilein, das schmeckt sehr gut“. Wenn meine Oma über etwas besonders entsetzt gewesen ist, dann streckte sie ihre Arme hoch in die Luft und fuchtelte dabei mit einem Kochlöffel oder Holzquirl herum, um ihre Verzweiflung über bestimmte Geschehnisse zu unterstreichen. Wenn sie „unbewaffnet“ war, schlug sie im wahrsten Sinne des Wortes die Hände über ihrem Kopf zusammen. Um diesen Gesten noch einen nachhaltigen Ausdruck zu verleihen rief sie jedes Mal: „Jesses Maria!“. Sie meinte: „Jesus Maria“ und fügte dann oft: „ … und Josef“ dazu.
Einmal habe ich meine Oma geärgert, allerdings ist es mir als Kind nicht bewusst gewesen. Ich besuchte sehr oft und gern den alten Mann, der unter uns im Haus im Erdgeschoss wohnte. Ganz dunkel kann ich mich an ihn erinnern. Alle Leute im Haus sagten Onkel Mundus zu ihm, aber ich weiß heute nicht mehr, ob er tatsächlich so hieß oder nicht. Ich wusste aber, welche Klingel ich bedienen musste, damit er mir die Tür öffnen konnte. Ich stellte mich dabei auf meine Zehenspitzen und „angelte“ nach der Klingel. Es dauerte immer eine ganze Weile, bis er mit seinem Rollstuhl an der großen Tür ankam und sie aufmachen konnte. In seiner Küche angekommen, steuerte er immer zuerst in Richtung Herd und füllte seine Tasse mit Kaffee, dann rollte er damit zum Küchenfenster und sah hinaus. Dort stand ein Stuhl, auf den ich immer kletterte, um mit dem Onkel Mundus gemeinsam aus dem Fenster schauen zu können. Er freute sich immer über meine Gesellschaft und erzählte mir Märchen von Hänsel und Gretel und vieles andere mehr. Ich habe nie jemanden gesehen bei diesem alten Mann, er war wohl viel allein. Ich sagte einmal zu ihm: „Du, Onkel Mundus, ich habe auch Durst“, als ich sah, dass er sich Kaffee in seine große Tasse füllte. Er schüttelte mit dem Kopf und meinte: „Nein, mein Kind, das ist Kaffee, den kannst du leider nicht bekommen, ich habe keine Milch und auch keinen Saft, den ich dir geben könnte, du musst zu deiner Oma hinauf gehen, die hat sicher etwas zu trinken für dich, du kannst ja nachher wieder kommen, wenn du möchtest“. Also ging ich hinauf zu meiner Oma: „ Oma, … ich habe Durst, gibst du mir bitte etwas zu trinken?“. „Du warst doch die ganze Zeit bei dem Onkel Mundus, lasse dir doch von ihm etwas geben!“, erklärte sie. „Der Onkel Mundus hat keine Milch, hat er gesagt“, antwortete ich. „Dann kann ich es auch nicht ändern“, äußerte meine Oma etwas mürrisch. „Wenn Du mir nichts gibst, dann fahre ich nach Lauscha zu meiner Mama!“, sagte ich daraufhin. „Dann musst du eben fahren“, entgegnete meine Großmutter und war sich sicher nicht bewusst, dass ich ihre Worte für bare Münze nehmen würde und sie meinte erneut zu mir: „ Ja, dann musst du eben fahren, dann kann ich es auch nicht ändern“. Ich besaß als kleines Mädchen einen winzigen roten Koffer mit weißen Punkten, in dem ich meine Habseligkeiten aufbewahrte. Ich zog meine Jacke an, schnappte diesen Koffer und sagte: „Oma, … ich fahre jetzt los“. Meine Oma antwortete nicht, also ging ich mit meinem Koffer hinaus auf die Straße. Als ich schon ein ganzes Stück des Weges auf dem Bürgersteig gegangen war, holte mich meine Oma ein. Sie fasste mich ein wenig schroff an der Hand und brachte mich stöhnend wieder zurück in die Wohnung. „Oma du hast doch gesagt, dass ich fahren soll“, gab ich zu verstehen. Sie stöhnte erneut auf, aber sie sagte nichts mehr. Ich begutachtete sie von der Seite und kann mich während dieser erinnernden Gedanken noch genau an sie erinnern, so dass ich sie sofort malen könnte, wie man sich manchmal ausdrückt. Meine Oma war eine kleine, schlanke Frau. Sie hatte dunkle, zum Teil ergraute Haare, die sie in Zöpfen geflochten um den Kopf gewickelt und festgesteckt hatte. Sie trug immer einen Rock, der meistens grau gewesen ist und darüber eine Schürze, die man hinten zusammenband. Ich habe meine Oma nie in einem bunten Kleid gesehen oder gar mit einer Hose, aber das ist in diesen Jahren wohl so üblich gewesen. Heute sieht man wenig ältere Leute, dessen Bekleidung darauf schließen lässt, dass es sich um eine Oma oder auch um einen Opa handelt, … ganz anders eben. Auch meine Mutter habe ich als Kind meistens nur mit einem Rock bekleidet gesehen, seltener mit einer Hose. Wenn wir gerade beim Thema anziehen sind, weiß ich sehr genau, dass ich als kleines Mädchen noch Leibchen besaß. Später sagte man Strumpfhaltergürtel dazu. Wenn ich die heutige Bezeichnung dazu nenne und „Strapse“ sage, dann weiß jeder was damit gemeint ist, weil diese Wäschestücke mittlerer Weile der erotischen Bekleidung zugeordnet werden. Allerdings zog man damals lange Schlüpfer darüber, um die „Strapse“ zu verdecken. Im Winter waren diese Schlüpfer „Schlüpfer mit langen Beinen“, wie sie auch genannt wurden, oft aus Wolle und selber gestrickt. Ich weiß hundertprozentig, dass auch ich solche gestrickten Schlüpfer hatte! Lustig was? Das war halt so, … aber soll ich euch etwas sagen? Warm waren diese gestrickten Schlüpfer im Winter! Das könnt` ihr mir glauben, auch wenn sie nach häufigen Wäschen am Hintern gekratzt haben.
Während der Jahre, in denen ich ein kleines Mädchen war, ist mir ein Garten mit einem grünen Holzhäuschen in deutlicher Erinnerung geblieben. Unmittelbar vor der kleinen Hütte blühte immer eine gelbe Kletterrose. Ein Stück links daneben stand eine große Tanne und unter ihr eine alte rostige Regentonne. Hinter dem niedlichen Gartenhäuschen gab es für mich eine Schaukel und einen Sandkasten. Mein Großvater hockte viel mit mir in diesem Buddelkasten und wir haben gemeinsam Kuchen aus Sand gebacken. Meine Oma spottete dann immer: „Na, willst du den Kuchen nicht auch noch essen Gottfried?“. Manchmal ging ich auch mit meiner Oma allein in den Garten, ich weiß noch, dass wir dann mit einem Körbchen nach Hause zurückkehrten, in dem sich Obst und Gemüse befand. An den Wochenenden kamen auch meine Eltern mit in den Garten, der auch von uns liebevoll Gärtchen genannt wurde. Wenn ich nicht mit meinem Opa im Sandkasten spielte, dann ließ ich mich auf der Schaukel aus. Meine Oma schrie dann immer: „Um Gottes Willen, … Jesses Maria, ich kann das gar nicht sehen, Heidi, sag` dem Mädel, sie soll nicht so hoch und so wild schaukeln, … sie wird noch herunter fallen!“, … und natürlich schlug sie erst die Hände über ihrem Kopf zusammen und hielt sich anschließend die Augen zu. Wenn es schön warm war und die Sonne schien, füllten meine Eltern oder Oma und Opa eine kleine Blechwanne mit Wasser und ich konnte den ganzen Tag planschen oder auch das Wasser zum Sandkuchen backen in den Sandkasten schleppen, … bis irgendwann das Wasser alle und die Wanne leer war. Auch meine Tante Lindi, also die Schwester meiner Mutter war hin und wieder mit bei uns im Gärtchen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich daran, dass man mich einmal austricksen wollte. Außer Blumen und Gemüse gab es auch einen Kirschbaum und ich erschluckte versehentlich beim Kirschen naschen einen Kern. Wie bei allen Kindern war das natürlich ein echtes Malheur. Meine Mutter schenkte dieser „Tragik“ wenig Beachtung und meinte nur: „Irgendwann wird der Kern schon wieder hinten heraus kommen“. So recht zufrieden bin ich wohl nicht mit dieser Antwort gewesen. Meine Tante meinte: „ Komm´, setze dich im Häuschen auf deinen Topf, dann wird der Kern bestimmt in dein Töpfchen fallen“. Das tat ich dann auch. Nach einer Weile kam meine Tante herein und sagte: „Ich schaue jetzt mal nach, ob der Kern schon in dein Töpfchen gefallen ist“. Sie half mir hoch und ich habe ganz genau mitbekommen, dass sie einen Kirschkern hinein „zauberte“ und freudig rief: „Na siehst du, da ist er doch schon, der Kern, den du verschluckt hast!“. Die Erwachsenen wollten mir allen Ernstes glauben machen, dass der Kern allein den Weg aus meinem Po gefunden hätte. He Leute! So klein war ich ja nun nicht mehr, dass man mir so etwas „weiß machen“ konnte. Trotzdem danke, Tante Lindi!
Meine Mutter machte nicht unnötig viel „Ruß“ mit mir, wie man es bezeichnen könnte. Manche Erinnerungen bleiben hängen, auch wenn man klein ist. Ich hatte irgendwann in diesen Jahren einmal Nasenbluten, weil ich mich beim Herumtollen heftig gestoßen hatte, natürlich heulte ich laut. Meine Tante hob mich auf einen Stuhl und meine Mutter brachte einen nassen Lappen und fummelte mir im Gesicht herum. Ich wollte Trost suchen bei meiner Mutter und mich an sie lehnen. Ich werde nie vergessen, dass sie mich von sich weg drückte, sanft, aber dennoch schob sie mich beiseite. „Du schmierst alles voll“, sagte sie. Meine Tante säuberte mich und zog mir einen frischen Pullover an.
Meine Mutter war immer „reserviert“, wenn ich es so bezeichnen darf, das ist jetzt kein schlecht machen meiner Mutter, aber es war eben so. Sie nahm mich auch kaum einmal hoch auf den Arm und sehr selten saß ich auf ihrem Schoß. Also ging ich lieber zu meinem Papa. Auch mein Opa schleppte mich oft umher, auch dann, wenn ich bequem hätte laufen können. Auch in späteren Jahren, als ich ein junges Mädchen war und auch noch später als Erwachsene wich meine Mutter immer irgendwie aus, wenn ich ihr zu Nahe kam und ich sie aus welchem Grund auch immer umarmen wollte. Das ist jetzt natürlich kein Indiz dafür in der DDR gelebt zu haben, aber es gehört zu meinem Leben dazu, ob nun in der DDR oder anderswo, also halte ich auch diese Dinge, so wie sie mir gerade einfallen, fest.
Auch im Winter war es nie langweilig bei den Großeltern, ich war ja nun nicht mehr so klein, dass ich nicht auch mal allein im Hof spielen durfte. Zudem war ich dort nie wirklich allein, es gab Nachbarskinder mit denen man spielen konnte. Entweder kamen sie zu mir herüber oder ich war bei ihnen auf dem Hinterhof, wie man sagte. Ich erinnere mich an eine Brigitte und einen Henri, zu dem alle immer der „Upsi“ gesagt haben, warum, das weiß ich allerdings heute nicht mehr.
Von heute auf morgen wurden die Tage in Saalfeld, für mich grundlos, plötzlich unterbrochen und ich musste mit meinen Eltern zurück nach Lauscha fahren und den „Leidensweg“ Kindergarten fortsetzen. Vielleicht wollte man ausprobieren, ob ich nun nicht mehr so oft krank sein würde, so dachte ich jedenfalls. Ich freute mich immer, wenn meine Mutter sagte: „So, jetzt geht es los, jetzt fahren wir zu Oma und Opa“.
Ich meine, mich daran erinnern zu können, dass ich eines Tages auf einer Fahrt von Saalfeld nach Lauscha mit meinem Opa und meinem Vater allein im Auto saß, ohne Mama, das war im Frühjahr 1957. In der Wohnung, in der Friedensstraße angekommen, lief ich in das Zimmer, wo sich meine Spielsachen befanden, und auch mein Bettchen stand dort, … aber was war denn das? Mein Bettchen war besetzt, etwas lag darin. Ich stieg auf den Rand des Gitterbettes und zog mich ein Stückchen hoch, um über das Gitter schauen zu können. Es sah aus wie eine Puppe, aber auf einmal fuchtelte diese Puppe mit den Armen in der Luft herum und fing an zu schreien bis sie ganz puterrot im Gesicht war. Ich war so intensiv mit diesem schreienden Bündel beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass mein Papa zu mir ins Zimmer trat, … und wo war Mama? Ich wurde erst aus meinem Erstaunen gerissen, als ich die Hand meines Papas auf meinem Kopf spürte. „Das ist dein Brüderchen, es liegt in deinem Bettchen, weil du jetzt die Große bist und es nun ein anderes, neues Bett für dich gibt“. Ich sah zu meinem Vater hinauf, er lächelte und nickte mir zu. Ich war stolz, weil er zu mir Große gesagt hatte. Das Bündel, welches sich mein zukünftiger Bruder nannte schrie indessen unentwegt und lautstark weiter bis meine Mutter hereinkam. Sie lupfte das lärmende Paket regelrecht in die Höhe und verschwand mit ihm aus dem Zimmer. „Komm`, ich zeige dir dein neues Bett“, sagte mein Vater und wir verließen ebenfalls das kleine Zimmerchen. Also hatte ich von fort an einen Bruder, Holger, geboren am 21. April 1957, … und ich war nun die „Große“, … vier Jahre alt. Ich hatte von der Schwangerschaft meiner Mutter nichts mitbekommen, aber ich war noch zu klein, um mir darüber ernsthafte Gedanken zu machen, ich hatte nun einen Bruder und fertig.
Ein Jahr später zog ich mit meinen Eltern und meinem Bruder in eine andere größere Wohnung, „Am Alten Weg 3“. Es war ein Mehrfamilienhaus, welches auf einem Berg stand. Ein schmaler, steiler Weg führte hinauf. Wir wohnten unten im Parterre, in der Mitte lebte eine Familie mit einem kleinen Mädchen, Sibylle hieß sie und war bei unserem Einzug erst ein paar Monate alt. Oben im Haus wohnte eine Familie, die einen Sohn hatte, er hieß Rolf und war etwa vier Jahre älter als ich, er ging demzufolge schon zur Schule.
Es muss kurz nach unserem Umzug gewesen sein, als wir in der alten Wohnung, in der wir zuvor gewohnt hatten irgendetwas gefeiert haben. Ich weiß nicht was es war, nur dass viel Schnee lag und mein Vater nicht nach Hause gehen wollte. Wo mein Bruder war, kann ich natürlich auch nicht sagen. Jedenfalls befanden wir uns dann auf der Straße, um endlich heim zu gehen. Ich war sehr müde, aber mein Papa rutschte dauernd auf der glatten Straße aus und fiel auf seinen Hosenboden. Meine Mutter half ihm beim Aufstehen, dann ging es wieder von vorne los und mein Vater saß schon wieder auf der Straße. Wenn ihn meine Mama hoch gezerrt hatte, dann ballte er seine Faust und drohte auf die Fenster verschiedener Häuser an denen wir vorbei liefen. „Lass` das und komm` jetzt weiter“, sagte sie und zog an seinem Ärmel. „Ja, Papa, geh weiter, los jetzt“, gab ich meinen Senf dazu und schob ihn an seinem Hinterteil vorwärts. Jahre später klärte man mich auf. Es wurde der Geburtstag meines Großvaters gefeiert und mein Papa hatte wohl viel Spaß dabei. Er hatte ein wenig „über den Durst“ getrunken und war nicht dazu zu bewegen nach Hause zu gehen. Mein Papa war Mitglied der freiwilligen Feuerwehr und nur ein in die Geburtstagsrunde geworfenes lautes: „Es brennt, … es brennt“, ließ meinen Vater aufspringen und die Runde verlassen. Warum halte ich dieses, nicht unbedingt für andere interessantes Ereignis fest? Für mich ist es von Wichtigkeit, denn nie wieder habe ich meinen Vater so erlebt. Mein Papa war sein ganzes Leben lang ein sehr bescheidener und ruhiger Mann, der immer besonnen handelte, den ruhigen Pol in der Familie verkörperte und mein Anlaufpunkt war.
Und wie ging es mit mir weiter? Ich lebte nun wie gesagt mit meinen Eltern und meinem Bruder am „Alten Weg 3“. Mal war das Übel Kindergarten nicht vermeidbar, mal war ich auch während der Woche bei den Großeltern in Saalfeld. An den Wochenenden, besonders in der warmen Jahreszeit kamen dann meine Eltern mit meinem Bruder und wir gingen in den Garten mit dem kleinen grünen Häuschen. In den Wintermonaten war das Leben in Lauscha vorrangig. Mein Vater war noch immer Stellvertretender Bürgermeister der Stadt und meine Mutter setzte nach wenigen Wochen Babypause mit meinem Bruder ihre Arbeit im Labor fort. Mein Bruder wurde in die Kinderkrippe gebracht und ich hatte wieder das „Vergnügen“ Kindergarten. Ich erinnere mich sehr genau daran, denn irgendwie konnte ich mich einfach nie an den Aufenthalt im Kindergarten gewöhnen, nur an diese Tante Mietzi eben, von der ich schon einmal sprach. Als dann endlich meine Mutter kam, um mich abzuholen, zog sie mich hastig an, um mit mir noch meinen Bruder von der Kinderkrippe abzuholen. Manchmal stand auch der Wagen mit dem schreienden Bündel schon vor dem Kindergarten, dann gingen wir noch einkaufen.
Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir die Lauschaer Jahre durch den vielen Schnee in jedem Winter. Meine Mutter blieb mit dem Kinderwagen oft im hohen Schnee stecken, obwohl dieser wie ein Schlitten Kuven hatte. Als mein Bruder etwas größer war, nahm sie dann lieber den Schlitten und zog uns in Decken eingepackt hinter sich her. Unser Wohnhaus am „Alten Weg“ in Lauscha stand wie schon gesagt auf einem Berg, ein langer, schmaler Steg führte hinauf, der im Winter mühselig freigeschaufelt werden musste. Auch die Kohlen zum Heizen mussten mit Hilfe eines Buckelkorbes hinauf geschafft werden.