Ich weiß, was du gestern gedacht hast - Sarah Mlynowski - E-Book

Ich weiß, was du gestern gedacht hast E-Book

Sarah Mlynowski

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Beschreibung

Du has(s)t Geheimnisse? Jetzt nicht mehr!

Eine Impfung hat Nebenwirkungen, ganz klar. Doch was Olivia und einigen ihrer Freunde nach der jährlichen Grippeimmunisierung an der New York City Highschool widerfährt, ist dann doch etwas unerwartet: Plötzlich können sie hören, was die Menschen, mit denen sie täglich zu tun haben, denken. Ihre Eltern, ihre Lehrer, ihre Mitschüler – keiner, der irgendetwas vor ihnen verbergen könnte. Nach dem ersten Schock freuen sie sich zunächst darüber, wie einfach das Leben auf einmal ist: Bei Prüfungen müssen sie nichts anderes tun, als sich neben den Klassenstreber zu setzen und seine klugen Gedanken aufzufangen. Sie können ihre jeweiligen Freunde und Freundinnen abservieren, ehe diese das tun. Und die geheimsten Wünsche und Sorgen der anderen zu kennen verleiht Macht. Doch wollen sie wirklich wissen, dass Tess schon lange in ihren besten Freund Teddy verliebt ist? Dass Mackenzie ihren Freund Cooper betrogen hat und nicht drüber hinwegkommt? Dass die Schulschwester früher als Stripperin arbeitete? Mehr und mehr wünschen sie sich ihre Ahnungslosigkeit zurück.

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Seitenzahl: 338

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Das Buch

Eine Impfung hat Nebenwirkungen, klar. Doch was Olivia und einigen ihrer Freunde nach der jährlichen Grippeimmunisierung an der New York City Highschool widerfährt, ist doch etwas unerwartet: Plötzlich können sie hören, was die Menschen um sie herum denken. Ihre Eltern, ihre Lehrer, ihre Mitschüler – keiner, der irgendetwas vor ihnen verbergen könnte. Das Leben ist auf einmal ganz einfach: Die geheimsten Wünsche und Sorgen der anderen zu kennen, verleiht Macht. Doch wollen sie wirklich wissen, dass Tess schon lange in ihren besten Freund Teddy verliebt ist? Oder dass die Schulschwester früher als Stripperin arbeitete? Mehr und mehr wünschen sie sich ihre frühere Ahnungslosigkeit zurück …

Die Autorin

Sarah Mlynowski ist in Kanada geboren und aufgewachsen. Bereits während ihrer Studienzeit schrieb sie Kolumnen für ein Wochenmagazin. Sie arbeitete zunächst im Bereich Marketing, bevor sie nach New York übersiedelte und Schriftstellerin wurde. Ihre Romane wurden bislang in 22 Sprachen übersetzt. Wenn Sarah Mlynowski sich nicht gerade ihren nächsten Roman ausdenkt, geht sie ihrer zweiten großen Leidenschaft nach, dem Tauchen (zumindest solange, bis sich Haie nähern).

Lieferbare Titel

Zehn Dinge, die wir lieber nicht getan hätten

Abby und Schneewittchen in Gefahr

Abby und Aschenputtels Geheimnis

Sarah Mlynowski

Ich weiss, was du gestern gedacht hast

Roman

Aus dem Amerikanischen von Bettina Spangler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Don’t even think about itbei Delacorte Press, Random House Children’s Books, New York

Copyright © 2014 by Sarah Mlynowski

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Sabine Kranzow

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München,

unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN: 978-3-641-14397-8V002www.heyne-fliegt.de

Für die Lounge-Ladys (die ab und an auch schreiben):

Courtney, Jess, Adele, Robin und Emily (und wenn ich ganz viel Glück habe Leslie, Joanna und Julia). Danke für die Gesellschaft und die Cupcakes.

1 Vorher

Wir waren nicht immer solche Freaks.

Klar, die meisten von uns fielen schon ab und an durch ihre Macken auf. Aber das ist nicht das Gleiche.

Olivia Byrne knibbelte ständig an ihrer Nagelhaut herum, bis ihre Finger blutig waren, wenn sie irgendwas beunruhigte.

Cooper Miller sang die ganze Zeit total schief vor sich hin. Wenn er den Flur entlangging, wenn er lernte, wenn er aß. Und dabei noch nicht mal was aus den Top 40 – nein, er erfand eigene Melodien und Texte über seinen banalen Alltag. Sein Weg zur Schule. Dass er zu spät in Mathe kam.

Mackenzie Feldman, Coopers Freundin, verabscheute Nadeln. Nicht dass irgendjemand von uns eine besondere Vorliebe diesbezüglich gehabt hätte, nein, aber Mackenzie hasste Nadeln, und zwar so richtig. Sie hasste sie so sehr, dass sie sich noch nicht mal Ohrlöcher hatte stechen lassen. Selbst zu ihrem eigenen »Sweet Sixteen«, also ihrem sechzehnten Geburtstag, wollte sie nur Ohrclips tragen. In Tribeca, unserer kleinen kuscheligen Ecke in Downtown Manhattan, hieß dieser Tag übrigens einfach »Sweet«.

Also klar hatten wir gewisse Spleens, aber vor dem zweiten Oktober – das war elf Tage vor dem Fest an der Bloomberg High und achtzehn Tage vor Mackenzies »Sweet« – waren Olivia, Cooper, Mackenzie und der Rest von uns im Grunde nichts weiter als ganz gewöhnliche Schüler im zweiten Jahr an der Highschool.

Selbst der zweite Oktober, der Tag, an dem alles anders werden sollte, fing relativ normal an.

Wir machten uns fertig für die Schule. Die meisten von uns wohnten in Tribeca, im Umkreis weniger Blocks um die BHS, die Bloomberg Highschool herum.

Tribeca ist eine der reichsten Gegenden Manhattans. Nicht dass wir alle wohlhabend gewesen wären, bestimmt nicht. Die eine Hälfte unserer Eltern besaß Eigentumswohnungen, der Rest wohnte zur Miete. Ein paar von uns mussten sich das Zimmer mit Geschwistern teilen. Wenn man in Tribeca lebte und die Eltern wirklich so richtig reich und berühmt waren – also wenn jetzt Beyoncé deine Mutter war oder dein Dad eine Investmentbank leitete –, dann ging man nicht wie wir auf die BHS, sondern auf eine Privatschule.

Aber egal.

Am zweiten Oktober kamen wir also wie immer zur Schule, der Großteil von uns sogar pünktlich. Wir verstauten unseren Krempel in den Schließfächern und machten uns auf zu Raum 203, in dem die Klasse 10B ihre erste Stunde hatte. Cooper kam nicht rechtzeitig – aber der war immer spät dran. Er sperrte auch seinen Spind nie ab, weil er sich kein Schloss zulegen wollte. Er konnte sich einfach keine Zahlen merken. Und er vertraute uns. Damals vertraute er noch so gut wie jedem.

Wir setzten uns auf unsere Plätze und quatschten mit unseren Freunden.

»Darren Lazar hat mich gefragt, ob du single bist«, sagte Renée Hinger zu Olivia, während sie sich mitten im Raum neben sie setzte. Renées Schal mit Leopardenprint wehte hinter ihr her. Sie trug dazu ein schwarzes Haarband, Ohrringe und ein silbernes Armkettchen, vollbehängt mit Charms. Sie war genau der Typ Mädchen für solche Accessoires. So eine, die es ganz wichtig hatte. Deshalb waren wir heilfroh, dass sie nicht zu uns gehörte. Wir hatten nämlich schon genug Wichtigtuer dabei.

Olivias Herz setzte einen kurzen Moment aus. »Was hast du zu ihm gesagt?«

Renée lachte. »Was denkst du denn, was ich gesagt habe? Natürlich hab ich ihm erklärt, dass du noch zu haben bist. Es sei denn, du hast heimlich was mit jemandem?«

Olivia hatte noch nie irgendwas mit irgendwem gehabt. Fünfzehn Jahre alt und noch ungeküsst. Sie hatte Angst, kotzen zu müssen, sobald sie jemand küsste.

Olivia war nicht sonderlich selbstbewusst, weder in der Gegenwart von Jungs noch gegenüber anderen Mädchen. Einer der Hauptgründe, weshalb sie sich mit Renée abgab, war der, dass Renée 99,9 Prozent des Redens übernahm.

Natürlich wussten wir damals noch nicht, wie schlimm es um ihr Selbstvertrauen bestellt war. Auch dass sie noch nie jemanden geküsst hatte, wussten wir nicht. Keiner wusste im Grunde irgendwas von den verborgenen Gedanken oder geheimen Wünschen der anderen. Ganz anders als jetzt.

»Glaubst du, er wird mich um ein Date bitten?«, fragte Olivia.

Renée wickelte sich ihren Schal ums Handgelenk. »Willst du das denn?«

»Weiß nicht.« Olivia überlegte, wie er aussah. Er hatte hellbraunes Haar und rote Bäckchen. Grüne Augen vermutlich. Gut gekleidet. Button-downs und korrekte Jeans. Er machte einen netten Eindruck. Niemand nannte ihn je beim Vornamen – er war für alle einfach nur Lazar. Sie waren zusammen im Rhetorikkurs. Beim Gedanken an den Unterricht drehte sich ihr der Magen um. Am folgenden Tag sollte sie ein Referat über das Thema Lyme-Borreliose halten, das vierzig Prozent ihrer Gesamtnote ausmachte. Nichts machte ihr mehr Angst, als vor anderen sprechen zu müssen.

»Ich finde, ihr beide würdet perfekt zusammenpassen«, fuhr Renée fort.

»Warum?«, wollte Olivia wissen. »Weil wir beide eher klein sind?«

»Nein, weil ihr beide so nett seid. Und klug. Und süß.«

Olivia sagte nicht Nein, aber auch nicht Ja. Es war nicht so, dass sie Lazar nicht gemocht hätte. Nur ein richtiges Date – bei der Vorstellung war sie wahnsinnig gestresst. Sie würde sich Gedanken machen müssen, was sie anziehen sollte, was sie essen sollte, was sie sagen sollte. Sie fing an, an ihrem Daumen herumzuknibbeln.

Endlich kam Cooper rein, leise vor sich hin singend. Wie immer sah er ein klein wenig zerzaust aus, als wäre er gerade erst aufgewacht und hätte sich nur schnell noch den grünen Hoodie und die Jeans übergezogen, die in einem Haufen auf dem Boden lagen.

Und genau so war es auch gewesen. Cooper hatte seine Yankees-Kappe auf. Die trug er die ganze Baseball-Saison hindurch, bis das Team aus dem Rennen war. Sie betonte das Blau seiner Augen besonders schön. Nicht dass er sich dessen bewusst gewesen wäre. Tja, da hätte er schon unsere Gedanken lesen müssen.

Cooper formte mit der freien Hand einen Trichter am Ohr. »Was ist los, 10B, krieg ich kein Boo-ya zu hören?«

»Boo-ya«, rief Nick Gaw aus einer Ecke des Zimmers. Nick war einer von Coopers besten Freunden.

Cooper seufzte theatralisch, als wäre er total enttäuscht. »Das war aber lahm, Leute. Lahm. Laaahm. Die Yankees haben gestern Abend gewonnen! Und ich sage, gebt mir ein Boo-ya!«

Jetzt antwortete Mackenzie mit einem Boo-ya. Sie konnte nicht anders. War ihr Job als Freundin, auch wenn sie Coopers Spielchen die meiste Zeit ziemlich peinlich fand, wie damals, als er sie unbedingt Huckepack den ganzen Flur entlang nehmen musste.

Cooper stand jetzt vor Olivias Tisch und drohte ihr mit dem Finger. »Livvie, von dir hab ich kein Boo-ya gehört. Warum hör ich von dir kein Boo-ya?«

Olivia lief knallrot an. Sie klammerte sich an der Tischkante fest. Sie mochte es gar nicht, wenn man sie derart in Verlegenheit brachte. Ihr Herz fing an zu rasen, ihr Mund fühlte sich staubtrocken an. Sie zögerte. Würde es bescheuert klingen? Würde sie das Boo-ya-Geräusch richtig hinkriegen? Würde es zu gewollt klingen? Nicht dass sie am Ende das Boo zu sehr betonte und das Ya zu schwach klang?

Aber sie mochte Cooper. Wenn er für sie nicht völlig unerreichbar gewesen wäre und er nicht schon eine Freundin gehabt hätte, wäre sie vermutlich in ihn verknallt gewesen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die immer lächelte. Stets nett und freundlich war. Er bezog immer alle mit ein. Wie jetzt, wie er sie dazu bringen wollte, auch Boo-ya zu rufen.

Sie würde es vielleicht schaffen! Das könnte sie! Dazu brauchte sie nur die Worte mit der Zungenspitze nach draußen zu befördern. »Boooo-ya?«

Cooper tätschelte ihr ein paarmal den Kopf, als wäre sie ein Häschen. Als Kind hatte er ganze zwei Wochen lang ein Kaninchen besessen, ehe sein Dad ihn zwang, das Tier in die Zoohandlung zurückzubringen. Stattdessen hatte er eine Schildkröte mitgenommen. Gerald. »Gut gemacht, Livvie. Danke für deinen Einsatz.«

Olivia lief wieder knallrot an.

Cooper achtete immer sehr darauf, dass er mit Olivia redete. Sie war schüchtern, doch Cooper wusste, dass es nicht viel bedurfte, um sie aus ihrem Panzer hervorzulocken. Genau wie Gerald. Als er den das erste Mal nach Hause gebracht hatte, hatte die Schildkröte sich kaum aus ihrem Terrarium rausgewagt. Jetzt stolzierte Gerald im Loft umher, als gehörte ihm ganz Tribeca.

Cooper brachte noch ein paar von uns dazu, »Boo-ya« zu rufen, während er sich im Zickzackkurs seinen Weg zwischen den Pulten hindurch zu dem leeren Platz in der letzten Reihe am Fenster bahnte, direkt neben Mackenzie und ihrer besten Freundin, Tess Nichols.

»Danke, Cooper.« Miss Velasquez schloss gerade die Tür hinter sich. »Und jetzt nimm bitte deine Kappe ab.«

Cooper schenkte unserer Lehrerin ein breites Lächeln. Er hatte einen leichten Überbiss, weil ihm seine Zahnspange einen Monat, nachdem er sie bekommen hatte, abhandengekommen war. »Aber Miss V, ich hatte doch heute Morgen keine Zeit, mir die Haare zu waschen.«

»Dann solltest du in Zukunft vielleicht etwas früher aufstehen«, meinte sie, während sie sich aus ihrem Blazer schälte und ihn über die Stuhllehne hängte.

Cooper nahm also die Kappe ab, hielt sie an die Brust gedrückt und setzte sich, sein Haar offensichtlich noch vom Schlaf zerzaust. »Dann geht die Party ja jetzt richtig los«, sagte er, während er sich mit dem Stuhl so weit zurücklehnte, dass er die Wand berührte.

»Wollen wir mal sehen, wer aller hier ist«, sagte Miss Velasquez und rief uns nacheinander auf. Als sie damit fertig war, setzte sie sich auf ihr Pult und ließ die Beine baumeln. »Ich habe gute und schlechte Neuigkeiten für euch«, sagte sie. »Ich fang mal mit den schlechten an.«

Wir warteten gespannt.

»Diejenigen von euch, die zur Grippeschutzimpfung wollten – und ich glaube, das sind die meisten –, ihr seid heute Mittag dran«, erklärte sie.

Wir stöhnten im Chor.

Miss Velasquez räusperte sich. »Nun, und die gute Nachricht ist …«

Cooper sorgte für den Trommelwirbel.

Unsere Lehrerin lächelte. »Ihr kriegt danach sehr wahrscheinlich keine Grippe mehr.«

Buhrufe unsererseits, klar.

»Was, wenn ich gern eine Grippe hätte?«, fragte Cooper.

»Wieso solltest du eine haben wollen?«, erkundigte sich Miss Velasquez.

»Dann dürfte ich daheimbleiben und Baseball gucken.«

»Ich hätte auch nichts dagegen, eine Woche die Schule zu versäumen«, sagte Nick.

Wir verstanden das. Seine Mom war Biologielehrerin an der BHS. Wenn unsere Mütter an unserer Schule unterrichtet hätten, wären wir bestimmt auch lieber daheimgeblieben.

»Ich lass mich nicht impfen«, verkündete Renée, die mit ihrem Haarband herumspielte. »Ich werde nie krank. Und außerdem hab ich in einem Artikel gelesen, dass die Impfung nicht mal was bringt. Dass die Pharmaunternehmen lediglich scharf sind auf unser Geld.«

Wir ächzten allesamt auf, woraufhin sie die Arme verschränkte und die Augen verdrehte. Renée war voll die Verschwörungstheoretikerin. Sie war der Ansicht, die Regierung hätte es auf uns alle abgesehen.

Neuerdings sind wir uns aber gar nicht mehr so sicher, ob sie damit so unrecht hat.

»Ich verzichte auch darauf«, meinte Mackenzie.

Mackenzie war als Frühchen zur Welt gekommen, mit sechsundzwanzig Wochen statt mit vierzig. Sie hatte Unmengen an Operationen über sich ergehen lassen müssen. An den Augen. An der Niere. Am Herzen. Sie konnte sich an nichts von alledem erinnern, doch sie wusste, dass sie jede Art von Nadel hasste, und sie ging davon aus, dass da ein Zusammenhang bestand.

»Willst du mich da jetzt allein hingehen lassen?«, fragte Cooper. »Wir machen das zusammen. Ich halte deine Hand. Das wird ein Spaaaaaß«, trällerte er in einem munteren Singsang.

Doch Mackenzie konnte beileibe nichts Spaßiges finden an etwas, das mit Nadeln zu tun hatte. Ihr Freund aber sah wie immer nur das Positive. Er fand stets den Silberstreifen am Horizont. Daran, zur Schule zu gehen. An der Grippe. An Impfungen.

Coopers Leben bestand aus endlosen Silberstreifen.

Miss Velasquez trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Denkt also alle dran. Meldet euch bei Schwester Carmichael im Büro. Heute Mittag. Und bringt die Einverständniserklärungen mit, falls eure Eltern sie nicht bereits zurückgeschickt haben.«

Während Miss Velasquez weitersprach, machte Olivia sich immer noch Gedanken. Nicht wegen der Impfung. Nadeln machten ihr nichts aus. Nein, sie war nervös wegen ihres Referats über die Lyme-Borreliose.

Sie knibbelte weiter an ihrem Daumen herum. Alles wird gut, redete sie sich ein. Gut, gut, gut.

Natürlich würde nichts gut werden. Rein gar nichts. Doch das konnte Olivia ja nicht ahnen. War ja nicht so, als könnte sie hellsehen.

Ha, ha, ha.

Noch nicht.

Vielleicht denkt ihr jetzt, Olivia erzählt diese Geschichte. Oder Mackenzie oder Cooper oder irgendjemand aus unserer Klasse, den ihr noch nicht kennengelernt habt.

Könnte jeder von uns sein. So ist es aber nicht. Wir alle zusammen sind es. Wir erzählen diese Geschichte gemeinsam. Nur so kriegen wir das hin.

Diese Geschichte erzählt davon, wie wir zu Freaks wurden.

Davon, wie eine Gruppe von vielen Ichs zu einem Wir verschmolz.

2 Als es geschah

Zu Beginn der Mittagspause standen wir also alle Schlange vor Schwester Carmichaels Büro.

Wir waren dreiundzwanzig. Der Großteil der Klasse 10B. Die von der 10A hatten ihren Schuss bereits am Tag zuvor abbekommen.

Adam McCall fehlte – vermutlich eine Mittelohrentzündung. Er hatte ständig Mittelohrentzündung.

Pi Iamaura ging rein und kam als Erste wieder raus. Ihr richtiger Name lautete Polly, nach ihrem Großvater Paul, doch alle nannten sie nur Pi, weil sie die ersten neununddreißig Stellen der Kreiszahl Pi auswendig aufsagen konnte. Nämlich 3,14159265358979323846264338327950288419, wenn ihr es genau wissen wollt.

BJ Kole ging als Nächster rein.

Ja, er nannte sich echt selbst BJ.

Sein vollständiger Name war Brian Joseph, doch er hörte schon seit der Mittelschule nur noch auf BJ. Das fand er irrsinnig komisch. Er war ein kleiner Perversling.

Jetzt eilte er ins Büro der Schulschwester und schloss die Tür hinter sich. Er fand Schwester Carmichael ziemlich scharf, deshalb versuchte er es ständig so einzufädeln, dass er sie rein zufällig begrapschen konnte. Er versuchte ständig, Leute zu begrapschen.

Die Nächste in der Reihe war Jordana Brohman-Maizner. Jordana überbrückte die Wartezeit, indem sie sich die Nägel feilte. Sie hatte ein ganzes Maniküre-Set in ihrem Schließfach. Grundierung, Überlack, Nagelclipper und Nagellacke in elf verschiedenen Farben, von Bliss (ein glänzendes Gelb) bis We Were Liars (Feuerwehrrot).

Hinter ihr standen Olivia und Renée. Renée wollte sich immer noch nicht impfen lassen. Sie wartete nur mit den anderen in der Schlange, damit sie nichts verpasste. Sie wollte immer genau wissen, was die anderen so trieben. Eine von der Sorte, die jedes Mal eine E-Mail-Benachrichtigung erhielt, sobald ein Freund seinen Facebook-Status änderte.

»Wusstest du, dass mehr Leute an der Grippeimpfung sterben als an der Grippe selbst?«, fragte Renée.

»Bin mir da nicht so sicher, ob das wirklich stimmt«, meinte Olivia. In Wirklichkeit war sie absolut überzeugt, dass da nichts dran war, weil sie die Seite der Gesundheitsbehörde CDC auf ihrem Laptop in der Favoritenleiste abgespeichert hatte, die besuchte sie regelmäßig. Denn Olivia war nicht nur ein ängstlicher Mensch, sie war noch dazu ein Hypochonder.

»Wird wehtun«, meinte Renée.

Ihre Worte machten Olivia keine Angst, dafür jagten sie Mackenzie, die direkt hinter ihr stand, einen gehörigen Schrecken ein. Sie hatte beschlossen, sich impfen zu lassen. Jetzt konnte sie es selbst kaum glauben, dass sie das tatsächlich durchzog.

Mackenzie wartete zusammen mit Cooper und Tess, wobei Tess schwer damit beschäftigt war, Teddy auf ihrem iPhone zu simsen. Teddy war Tess’ bester Freund. Aber blöderweise war sie auch total in ihn verknallt.

»Vielleicht lass ich mich doch nicht impfen«, meinte Mackenzie, die plötzlich ganz wacklig auf den Beinen war.

»Ach, komm schon«, sagte Cooper. »Ist doch nur ein kleiner Piks. Du willst dir doch keine Grippe holen.«

»Alle anderen lassen sich doch impfen. Da krieg ich schon keine Grippe.«

»Vielleicht doch. Das geht gerade um. Und bald hast du deinen Sweet. Da willst du doch nicht krank werden und die Feier abblasen müssen.«

Mackenzies Eltern würden sie umbringen, wenn sie sich eine Grippe holte.

War alles schon organisiert. Ihr Bruder und ihre Schwester kamen extra von Stanford hergeflogen. Ihre Eltern hatten ein halbes Vermögen für alle möglichen Kautionen ausgegeben. Keine Kosten und Mühen gescheut. Sie hatten den Ballsaal eines Hotels gemietet. Einen DJ angeheuert. Einen Eventplaner engagiert. Wunderschöne Einladungskarten per Post verschickt. Quadratisch, schwarz, mit silberner Kursivschrift.

Die wenigen von uns, die eingeladen waren, hatten ihre Teilnahme allesamt hochoffiziell bestätigt.

Mackenzie war schon ganz aufgeregt wegen der Party. Warum auch immer.

Sie musste sich ja um überhaupt nichts kümmern. Sie brauchte nur zu tanzen und hübsch auszusehen in ihrem neuen schwarzen Herve-Leger-Cocktailkleid.

Mackenzie war durchaus bewusst, dass sie hübsch war. Schon als Kind hatten die Leute ihr das ständig gesagt. Sie hatte aschblondes Haar, dunkelblaue Augen, eine Stupsnase und den Körper einer Athletin. Sie hatte jahrelang im NYC-Elite-Studio Kunstturnen trainiert. Früher hatte sie es in der Mittelschule auch mit Wettkämpfen versucht, musste jedoch feststellen, dass das nichts für sie war. Am Abend vor einem ihrer großen Wettkämpfe war sie mit ihren Freunden lange ausgeblieben, weit nach Sperrstunde heimgekommen, am nächsten Tag total erledigt gewesen und schließlich vom Schwebebalken geplumpst. Ihre Eltern waren stinksauer gewesen. Doch sie war nur erleichtert.

Vor dem Büro der Schulschwester legte Cooper nun den Arm um ihre Schultern und sang: »Die Nadel tut doch nur eine Sekunde lang weeeh.«

»Aber in dieser Sekunde tut sie so richtig weh«, fuhr Mackenzie ihn an.

Cooper küsste sie auf die Wange. »Ich komm mit dir da rein. Und sing dir was vor.«

Er war immer lieb zu ihr. Selbst dann, wenn sie alles andere als nett zu ihm war.

Ihr war klar, dass sie ihn besser behandeln sollte. Das verdiente er, keine Frage.

Mackenzie nickte entschlossen. Sie würde es tun. Sie würde es mit der Nadel aufnehmen. Sie würde es tun, weil er es so wollte. Das war sie ihm schuldig, selbst wenn er sich dessen gar nicht bewusst war. Die Nadel wäre ihre Bestrafung.

Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass sie sich selbst bestrafte, geschweige denn wofür.

Jetzt wissen wir alles. Selbst Dinge, die wir lieber vergessen würden. Vor allem aber Dinge, die wir jetzt mühsam zu verdrängen versuchen.

Cooper drückte Mackenzies Schulter. »Dann kriegst du von mir zur Belohnung einen Root Beer Float.«

In der Mittagspause durften wir das Schulgelände verlassen. Allerdings hatten wir nur fünfundvierzig Minuten, deshalb kamen wir nie weit.

»Könnten wir nicht stattdessen zu Takahachi gehen?«, fragte Mackenzie. »Ich hätte solche Lust auf Sushi.«

Japanisch war nicht unbedingt Coopers erste Wahl, weil seine Mom jeden Abend beim Japaner bestellte. Er litt an einer Glutenunverträglichkeit, weshalb er in Sachen Essen ziemlich eingeschränkt war – allerdings ließ er sich auch gern treiben, wie es sich gerade ergab. »Warum holen wir uns nicht was bei Takahachi und essen es dann bei dir daheim?«, schlug er vor, wobei er vielsagend die Augenbrauen auf und ab tanzen ließ. Sie wohnte nur einen Block entfernt. Und bei ihr war nie jemand zu Hause.

»Nach der Impfung schaffen wir auf keinen Fall mehr beides«, erwiderte Mackenzie. »Vielleicht morgen?«

Cooper hatte nichts dagegen, bis zum nächsten Tag zu warten. Allerdings hielt er es für fraglich, ob sie es dann tatsächlich machen würden. Seit er aus dem Sommercamp zurück war, waren sie so gut wie nicht mehr allein gewesen. Allmählich beschlich ihn das Gefühl, Mackenzie ging ihm aus dem Weg. Obwohl das keinen Sinn ergab – in der Schule waren sie doch auch die ganze Zeit zusammen. Warum sollte sie ihm also sonst aus dem Weg gehen wollen? Wollte sie etwa nicht mit ihm allein sein?

Die Tür zum Büro der Schulschwester ging auf. BJ kam heraus. Seine Grapsch-Mission war gescheitert.

Wir alle hofften, Schwester Carmichael hatte ihm die Nadel ganz fest in den Arm gerammt.

Jordana ging rein und sah dabei noch nicht mal von ihren Nägeln auf.

Wir warteten.

Ein paar Minuten später kam sie wieder raus und wirkte ein bisschen benommen. »Das war ja schrecklich«, verkündete sie. Sie hielt einen roten Lutscher in der Hand.

Olivia war dran. Entschlossen stürmte sie auf die Tür zu. Sie war eine überzeugte Verfechterin von Impfungen. Gegen Grippe. Gegen Typhus. Wenn es auch eine Impfung gegen Sozialphobie gegeben hätte, sie wäre sofort bereit gewesen.

»Du solltest es echt nicht tun«, sagte Renée zu Olivia.

»Das überleb ich schon«, erwiderte Olivia. Normalerweise ließ sie sich von Renée alles sagen, aber in dem Fall ging das einfach nicht.

Renée seufzte und wirkte ein wenig verwundert, dass Olivia nicht auf sie hören wollte. »Na gut. Wenn du darauf bestehst. Ich geh in die Cafeteria. Treffen wir uns dort, dann reden wir mit Lazar.«

Olivias Magen krampfte sich zusammen. Sie war sich nicht sicher, ob sie dafür schon bereit war. Trotzdem erklärte sie sich einverstanden und betrat das Büro der Schulschwester.

Mackenzie holte tief Luft. Sie war als nächste dran.

»Hey, Mackenzie«, flötete Tess. »Kannst du nach der Schule bei den Vorbereitungen für deinen Sweet irgendwie Hilfe brauchen?«

Anders als ihre beste Freundin war Tess keine Turnerin. Oder Tänzerin. Tess schrieb. Sie war zwar keine professionelle Autorin – noch nicht –, doch war sie überzeugt, dass sie eines Tages eine sein könnte. Bis dahin arbeitete sie ehrenamtlich für Bloom, das zweimal jährlich erscheinende Kunstmagazin der Schule. Tess hatte lockiges braunes Haar, einen olivfarbenen Teint und braune Augen, und sie war sich nur allzu bewusst, dass sie fünf Kilo – vier an den besseren Tagen – zu viel auf den Hüften hatte. Dessen war sie sich deshalb so bewusst, weil ihre Mutter es ihr jeden Tag sagte, und zwar nicht eben durch die Blume. »Warum gehst du nicht zu den Weight Watchers, Tess?« – »Bist du dir sicher, dass du dieses Eis unbedingt essen solltest, Tess?« – »Du solltest den Bagel aushöhlen, bevor du ihn isst, Tess.« – »Ich würde dir ja mein süßes Kate-Spade-Kleid überlassen, Tess, aber ich befürchte, es wäre dir zu eng.« Tess versuchte das ständige Genörgel ihrer Mutter auszublenden wie weißes Rauschen. Weißes Rauschen, das ihr eines Tages zusätzlichen Stoff liefern würde, über den sie schreiben konnte.

Doch vorerst freute Tess sich auf Mackenzies Sweet. Die Party würde einfach kolossal werden. Sie war so stolz, dass es ihre beste Freundin war, die als Erste in der Klasse ihren Sweet feiern würde. Mackenzie hatte vor allen anderen Geburtstag, weil ihre Eltern sie erst ein Jahr später eingeschult hatten, weil sie ja ein Frühchen gewesen war.

Das Ganze würde im SoHo Tower stattfinden, einem von diesen Celebrity Hotspots, die ständig in den Medien erwähnt wurden. Tess war total aufgeregt. Sie hatte sich bei BCBG bereits ein Kleid besorgt.

»Die Eventplanerin kümmert sich schon um alles«, sagte Mackenzie zu Tess und warf ihre Mähne zurück. »Aber du kannst gern auch so vorbeikommen, wenn du möchtest.«

»Klar«, antwortete Tess.

Ein paar Sekunden später kam Olivia wieder raus.

»Wir sind dran«, sagte Cooper, während er sich zu Mackenzie umdrehte. »Bist du bereit? Zeigen wir der Nadel, wer hier der Boss ist?«

Mackenzie zögerte.

»Komm schon«, sagte Tess. »Es tut nur eine Sekunde weh, und schon hast du es hinter dir.«

Mackenzie drehte sich zu Olivia um. »Hat es wehgetan?«

Olivia wurde rot.

Mackenzie wartete auf eine Antwort, bis ihr bewusst wurde, dass sie keine kriegen würde. Spinnerin. Sie wandte sich wieder Cooper zu. »Bringen wir es hinter uns«, sagte sie, ehe die beiden im Büro der Schulschwester verschwanden.

3 Autsch

Olivia betrachtete auf der Mädchentoilette im Erdgeschoss ihr Spiegelbild. Als Mackenzie sie gefragt hatte, ob die Spritze wehgetan hätte, da hatte sie schon den Mund öffnen und sagen wollen, es sei okay gewesen. Nein, eigentlich sogar toll! Doch dann merkte sie, wie verrückt das geklungen hätte. Klar mochte sie es, geimpft zu werden – das gab ihr ein Gefühl von Schutz und Sicherheit. Doch wollte sie das wirklich groß verkünden? Ein normaler Mensch machte so was nämlich nicht. Daher stand sie einfach bloß da und sagte lieber keinen Ton. Was in puncto normal verhalten auch nichts brachte.

Olivia seufzte.

Das Gute war, es war schön gewesen, Schwester Carmichael zu sehen. Olivia und Schwester Carmichael waren nämlich schon lange befreundet.

Okay, nicht so richtig befreundet. Die Wahrheit war, dass Olivia sich im Büro der Schulschwester wohler fühlte als in der Cafeteria.

Sie war oft im Krankenzimmer.

Also so richtig oft.

Mindestens zweimal die Woche.

Jedes Mal, wenn Olivia husten musste oder ihr der Bauch zwickte oder ihre Nagelhaut eingerissen war, marschierte sie schnurstracks zu Schwester Carmichael. Nur um sicherzugehen, dass es kein Krebs war. Oder ein Herzinfarkt. Oder Lymphangioleiomyomatose. Sicher, das traf nur einen von einer Million Menschen, doch es fing mit einem Husten an, und wenn man dieser eine aus einer Million war, war man binnen eines Jahres erledigt.

Olivias Vater hatte mit zweiundvierzig einen Herzinfarkt gehabt. Olivia war erst zehn gewesen. Im einen Moment waren sie noch die glückliche Familie beim Shoppen in der Roosevelt-Field-Mall, und im nächsten Moment griff er sich an die Brust und lag auf dem schmuddeligen Boden des Gastronomiebereichs. Bis sie im Krankenhaus ankamen, war er bereits tot.

Nach diesem Vorfall hatte Olivia um solche Fressmeilen einen großen Bogen gemacht. Und um Einkaufszentren. Genau wie um Long Island. Ihrer Mom erging es nicht anders – sie verkauften das Haus am Stadtrand und zogen in die Nähe ihres Arbeitsplatzes bei American Express in Downtown NYC.

Olivia fand Schwester Carmichaels Büro mit den sauberen weißen Wänden und den Plakaten, die vor den Gefahren einer Meningitis warnten, irgendwie tröstlich.

Als sie reingegangen war, um ihre Spritze zu bekommen, hatte sie erst mal gegrüßt, Schwester Carmichael hatte sich erkundigt, wie es ihr ging, und Olivia hatte erwidert, sie leide an leichten Kopfschmerzen, fühle sich ansonsten aber ganz okay. Dann hatte Olivia ihren Arm ausgestreckt, die Spritze bekommen, und Schwester Carmichael hatte ein Pflaster draufgeklebt und gesagt, dass sie sich gewiss bald wiedersehen würden.

Für Olivia bestand kein Zweifel daran, dass es so sein würde.

Dann hatte Olivia sich einen grünen Lutscher ausgesucht.

Sie wartete, bis sie sich in sicherem Abstand von Mackenzie und dem Rest von uns befand, ehe sie den Lutscher auspackte und in den Mund steckte. Sie hatte befürchtet, blöd auszusehen mit dem Lolli im Mund.

Doch als Olivia jetzt im Toilettenspiegel ihre grünen Lippen und die grüne Zunge betrachtete, wurde ihr klar, wie lächerlich sie aussah. Warum hatte sie sich bloß einen grünen ausgesucht? Warum, warum, warum? Sie sah aus wie ein Seemonster. Oder wie der unglaubliche Hulk.

Sie beugte sich vornüber und spülte den Mund mit Wasser aus. Die grüne Farbe ging nicht ab.

Auf gar keinen Fall würde sie in die Cafeteria gehen und mit Ihr-wisst-schon-wem reden. An diesem Tag würde sie mit überhaupt niemandem mehr reden. Wenn es sich vermeiden ließ, würde sie heute noch nicht mal mehr den Mund aufmachen. Und auch nicht am folgenden Tag.

Oh nein. Nein, nein, nein.

Am nächsten Tag würde sie ihn aber wieder aufmachen müssen. Sie musste ja ihr Referat halten! Um elf! Was, wenn die grüne Farbe bis dahin nicht verschwunden war? Was, wenn das nie wieder abging? Sie hielt sich am Waschbeckenrand fest, weil ihr schwindelig wurde, und wünschte sich, sie wäre überall, nur nicht hier.

Mackenzie sah zu, wie Schwester Carmichael mit der Riesennadel den Raum durchquerte und direkt auf sie zukam.

»Cooper, du musst als Erstes«, sagte Mackenzie.

Er zog seinen Ärmel hoch und machte es sich auf dem Stuhl der Schulschwester bequem.

Schwester Carmichael richtete die Nadel auf ihn. Sie war kurz davor, ihn zu stechen. Jede Sekunde würde es so weit sein. Sie kam näher.

Mackenzie wollte wegsehen. Sie musste wegsehen. Doch es ging nicht.

Sie hätte definitiv wegsehen sollen.

»AUTSCH!!!!!«

Das kam von Mackenzie, nicht von Cooper. Cooper spürte kaum was. Es war wie ein Mückenstich, wenn man wusste, dass man sich auf einen solchen einstellen musste. Und Mückenstiche machten Cooper rein gar nichts aus. Nichts machte Cooper etwas aus.

»Easy peasy«, sagte er, als die Schwester ihm ein Pflaster auf den Arm drückte.

Mackenzie merkte, wie der Raum vor ihren Augen verschwamm. »Ich fühl mich nicht gut. Wenn ich krank bin, kann ich mich doch nicht impfen lassen, oder?«

»Nicht, wenn du Fieber hast«, sagte die Schwester.

Mackenzie nickte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Fieber habe.«

Schwester Carmichael lachte. »Das überprüfe ich vorsichtshalber mal.«

Die Schulschwester zog das Infrarotthermometer aus der Tasche, das sie immer benutzte, eines, das man sich nicht in den Mund steckte, sondern das die Stirn scannte, und maß Mackenzies Temperatur.

Ein Piepen war zu hören.

»Kein Fieber«, verkündete Schwester Carmichael.

»Verdammt.«

»Du musst dich nicht impfen lassen, wenn du nicht willst«, meinte die Schulschwester. »Das Ganze ist freiwillig.«

Mackenzie hätte einfach aus dem Zimmer marschieren können.

Wir hätten alle einfach weggehen können. Jeder Einzelne von uns hätte sich umdrehen und direkt zur Tür rausmarschieren können ohne einen einzigen Blick zurück.

Hätte. Könnte. Sollte?

Doch keiner tat es.

»Nein.« Mackenzie atmete zitternd ein. »Jetzt verpassen Sie mir einfach diese bescheuerte Impfung.« Sie streckte ihren Arm aus.

Die Schwester krempelte den Ärmel von Mackenzies schwarzem Cashmere-Pullover hoch.

»Au!«

Die Schwester lachte wieder. »Das war doch nur Alkohol!«

Cooper drückte Mackenzies Knie. »Schließ die Augen. Stell dir was Schönes vor. Zum Beispiel die Mittagspause morgen.«

Das war für Mackenzie kein Problem. Sie schloss die Augen. Stellte sich Coopers Lippen vor. Er hatte tolle Lippen. Rosig. Als würde er Lippenstift tragen, obwohl er das natürlich nicht tat. Voll. Die Oberlippe etwas voller als die Unterlippe.

Doch dann drängte sich ein anderes Lippenpaar in ihr Bewusstsein.

Bennetts Lippen.

Sie verspürte ein Stechen im Oberarm. Autsch.

Sie verdiente es. Sie verdiente den Schmerz.

»Du hast es geschafft«, verkündete die Schwester.

Mackenzie wollte die Augen nicht aufmachen. Wollte Cooper nicht ansehen müssen.

»Babe?«, sagte Cooper. »Wir sind fertig.«

Ja, das wären wir ganz bestimmt, dachte sie, wenn du wüsstest, was ich getan habe. Aber das wirst du nie erfahren.

Sie schlug die Augen auf.

»Vergiss deinen Lolli nicht«, sagte Schwester Carmichael noch.

4 Der dritte Oktober

Heute war der Tag. Nicht dass Olivia gewusst hätte, dass es DER Tag war. Zu dem Zeitpunkt wusste sie nur, dass es der Tag ihres Referats war.

Noch drei Stunden und fünfundvierzig Minuten.

In der fünften Klasse, damals auf Long Island, hatte man Olivia für eine kleine Nebenrolle im Schultheater ausgewählt. Sie hatte nur eine Zeile zu sagen. Eine einzige Zeile. Diese Zeile übte sie unter der Dusche. In ihrem Zimmer. Im Garten. Doch an dem Abend, an dem diese eine Zeile fällig war, stand sie einfach nur auf der Bühne, während sie von unten aus dem Publikum erwartungsvolle Gesichter anstarrten. Sie hatte einen totalen Blackout. Ihr Gehirn war leer. Alles weg. Sie konnte nicht mehr atmen. Schwarze Punkte verschwammen vor ihren Augen. Die anderen auf der Bühne wollten ihr beim Abgang helfen, doch sie war unfähig, sich zu bewegen. Sie stand einfach nur da. Wie erstarrt. Wie ein jämmerliches Eis am Stiel, das in der Sonne schmolz.

Einen Oscar würde sie wohl nie im Leben bekommen, ganz klar.

Als würde sie jemals wieder freiwillig auch nur eine Bühne betreten. Nein danke.

Sie lernte ihr Referat unter der Dusche auswendig. »In Ridgefield, Connecticut, lief Jamie Fields ganz unschuldig barfuß über den Rasen, nicht ahnend, dass sie gleich an einer Lyme-Borreliose erkranken würde.«

Jamie Fields gab es wirklich. Ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut, der an der Lyme-Krankheit gestorben war.

Olivia hatte die Lyme-Borreliose als Thema ihres Referats gewählt, weil sie nach Jahren, in denen sie mit einem Hypochonder und als Hypochonder gelebt hatte, ein Meister darin war, zu Krankheiten zu recherchieren. Außerdem war das eine der wenigen Krankheiten, die sie sich nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit zuziehen würde, da sie mitten in Downtown Manhattan lebte.

Sie übte, während sie sich anzog.

Sie übte auf dem Weg in die Küche, die Unterlagen fest umklammert.

»Guten Morgen!«, rief ihre Mutter. »Alles in Ordnung mit dir, Liebes? Du wirkst blass.«

Ihre Mutter fand immer, dass sie blass aussah.

Sie war aber auch blass. Sie hatte glattes, dunkelbraunes Haar und einen hellen Teint. Bei der Ähnlichkeit hätte man ja erwarten können, dass ihre Lieblingsmärchenfigur als Kind Schneewittchen gewesen wäre, doch Olivia hätte sich unmöglich mit jemandem identifizieren können, der einfach so Essen von Fremden annehmen konnte.

»Mir geht’s gut!«, meinte Olivia fahrig, weshalb sie sich sofort mies fühlte. »Alles in Ordnung«, fügte sie hinzu, jetzt sanfter.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, erkundigte sich ihre Mom. »Manchmal machen sich nach so einer Impfung grippeähnliche Symptome bemerkbar.«

Olivias Mom war wie sie ein Hypochonder. Ihre Mutter hatte außerdem an einer ziemlich schlimmen Zwangsstörung und Panikattacken zu leiden. Sie wusch sich derart oft die Hände, dass ihre Knöchel davon blutig waren. Olivia hatte die hypochondrische Veranlagung sowie die Angstattacken von ihr geerbt, hatte jedoch bislang noch keine Anzeichen einer Zwangsstörung an den Tag gelegt. Blieb nur zu hoffen, dass sich das nicht erst mit dem Alter bemerkbar machte.

Olivia war schon am Überlegen, ob sie ihrer Mom erklären sollte, sie sei krank und müsse zu Hause bleiben. Allerdings hätte die sie garantiert in die Notaufnahme geschleift. Und ihr war klar, dass sie das Referat dann eben am Folgetag würde halten müssen. So würde sie noch einen ganzen Tag lang zusehen müssen, wie die Panik sich unaufhaltsam über ihren ganzen Körper ausbreitete wie ein Ausschlag. »Ich bin okay«, sagte Olivia noch einmal, ihre Stimme zittriger als beabsichtigt.

»Ich hab dir ein Glas Saft hingestellt«, sagte ihre Mom. »Und dir ein wenig Banane ins Müsli getan. Und auf deiner Serviette liegt eine Vitamintablette.«

»Danke«, sagte Olivia, auch wenn sie die Befürchtung hatte, sich übergeben zu müssen, ganz gleich, was sie aß.

Stattdessen ging sie ihr Referat noch einmal durch. In Ridgefield, New York …

Oh nein. Nicht New York. Ridgefield war ja in Connecticut! Sie hatte vergessen, wo die arme Jamie wohnte! Wenn sie sich noch nicht mal merken konnte, wo Jamie sich mit der Krankheit angesteckt hatte, wie sollte sie sich dann an den Rest erinnern?

Die Uhr zeigte acht Uhr zwei an.

Noch zwei Stunden und achtundfünfzig Minuten.

Es würde ein langer Vormittag werden.

Sie putzte sich die Zähne, peinlich darauf achtend, dass nichts Grünes mehr zu sehen war, schnappte sich ihre Tasche – und ihre Unterlagen! Sie durfte ihre Unterlagen nicht vergessen. Ridgefield, Connecticut! –, rannte zum Aufzug und schlüpfte in die Kabine. Drinnen stand bereits eine aus dem Abschlussjahrgang ihrer Schule. Emma Dassin. Emma sagte nicht Hallo, also tat Olivia es auch nicht.

Die Türen waren kurz davor sich zu schließen, als Olivia plötzlich jemanden rufen hörte. »Livvie! Livvie, warte!«

Olivia drückte auf den Knopf, damit die Türen schneller zugingen, doch es war zu spät.

Olivias Mom zwängte sich bereits dazwischen. »Du hast deine Mütze vergessen.« Sie hielt sie ihr hin.

»Wir haben Oktober«, grummelte Olivia.

»Aber es ist ganz schön windig! Und du fühlst dich nicht recht wohl. Nimm sie mit.«

Sie griff nach der Mütze. War weniger peinlich, wenn sie es schnell hinter sich brachte.

»Hab einen schönen Tag! Und sei vorsichtig, wenn du den Broadway überquerst!«

Endlich glitten die Türen zu.

Olivia starrte die graue Wollmütze an. Sie wollte sich keine Erkältung holen. Andererseits wollte sie aber auch nicht, dass ihr zu allem Überfluss noch das Haar statisch aufgeladen vom Kopf abstand.

Also steckte sie die Mütze in den Rucksack, gerade als sich die Türen zur Eingangshalle öffneten.

Erste Stunde. Noch zweieinhalb Stunden, bis Olivia ihr Referat halten musste.

»Was kann denn passieren, im schlimmsten Fall?«, meinte Renée zu ihr.

Im schlimmsten Fall? Sie sah zu, wie es sich in ihrem Kopf abspulte. Sie würde vor der versammelten Klasse stehen, sämtliche Blicke auf sie gerichtet. Ihr Herzschlag würde in die Höhe schnellen. Sie würde Mühe haben zu atmen. Sie würde Pünktchen vor Augen haben. Und sie würde ohnmächtig werden und dann vermutlich sterben.

Ja, sterben.

Olivia schüttelte lediglich den Kopf.

»Warum stellst du dir nicht einfach alle in der Klasse nackt vor?«, schlug Renée vor. »Vor allem Lazar.«

Olivia wollte sich Lazar nicht nackt vorstellen. Sie wollte überhaupt nicht an Lazar denken. Zu wissen, dass da ein Typ in der Klasse war, der sich für sie interessierte, machte alles nur noch schlimmer. Sie knibbelte an ihrem Daumen herum.

BJ drehte sich auf seinem Stuhl um. »Hast du was von ›nackt‹ gesagt?«

»Olivia muss heute in Rhetorik ihr Referat halten«, sagte Renée. »Ich finde, sie sollte sich alle in der Klasse nackt vorstellen.«

»Ich stelle mir immer alle nackt vor. Sogar in diesem Moment.« Er blickte von Olivia zu Renée. »Ihr seht beide nicht schlecht aus.«

»Ach, halt die Klappe«, sagte Renée, doch Olivia entging nicht, dass sie ihre Brüste ein Stück weit vorschob.

Cooper kam singend reinspaziert. »Was geht ab, 10B?«

»Wir stellen uns einander nackt vor«, erwiderte Renée.

»Ausgezeichnet«, meinte Cooper und nahm eine He-Man-Pose ein.

Olivia lächelte. Dann wünschte sie sich, er wäre in ihrem Rhetorikkurs. Nicht damit sie ihn sich nackt vorstellen konnte, nein, nur damit er sie zum Lachen brachte.

»Konzentrier dich doch einfach auf mich«, sagte Renée, die mit Olivia im Rhetorikkurs war. »Achte nicht auf die anderen.«

Olivia war sich ziemlich sicher, dass das nichts bringen würde. Renée war eine umwerfende Rednerin. Sie brauchte noch nicht einmal einen Zettel. Sie redete einfach drauflos. Und redete und redete und redete.

Miss Velasquez kam hereinspaziert. »Wer ist heute aller anwesend? Adam? Du bist also zurück. Gut.«

»Ich hab meine Impfung gestern verpasst – krieg ich die dann heute?«, fragte er.

»Ja. In der Mittagspause.«

Olivia sah auf die Uhr. Es war acht Uhr fünfundvierzig. Noch zwei Stunden und fünfzehn Minuten bis zu ihrem Referat.

Es war so weit. Ridgefield, Connecticut. Zeckenbisse. Wanderröte.

»Olivia Byrne, du bist an der Reihe«, sagte Mr. Roth. Es war nicht eben hilfreich, dass er der am meisten gefürchtete Lehrer an der ganzen Schule war, sowohl wegen seiner Einstellung als auch wegen seiner äußeren Erscheinung. Er wog gut und gern zweihundert Kilo, war über eins achtzig groß und schaute immer finster drein. Er sah aus wie ein Troll, nur ein riesengroßer.

Konzentrier dich. Referat. Lyme-Borreliose.

Sie stand auf. Ihre Beine waren wie aus Gummi. Ihr Herz raste in einem Affentempo. Sie war sich fast hundertpro sicher, dass alle es hören konnten.

Olivia fiel wieder ein, dass unregelmäßiger Herzschlag ein mögliches Symptom für die Lyme-Krankheit war. Ihr Herzschlag war zweifelsohne unregelmäßig. Vielleicht litt sie ja doch schon längst an der Lyme-Borreliose? Vielleicht hatte sie sich die Krankheit allein durch Willenskraft zugezogen? War das überhaupt möglich? War sie ansteckend? Vielleicht musste sie ja sofort in Quarantäne!

Die ganze Klasse redete wild durcheinander. Von allen Seiten Stimmengewirr. Ihr war übel – fast wie seekrank. Der Boden unter ihr wankte. Außerdem war ihr heiß. Sie schwitzte. Ihre Achseln waren klatschnass. Hatte sie heute Morgen Deo aufgelegt? Sie glaubte schon. Ja.