Zehn Dinge, die wir lieber nicht getan hätten - Sarah Mlynowski - E-Book

Zehn Dinge, die wir lieber nicht getan hätten E-Book

Sarah Mlynowski

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Beschreibung

Zwei beste Freundinnen, ein Schuljahr ohne Eltern – und zehn (un)verzichtbare Erfahrungen

Die ganze Nacht durchfeiern, Marshmallows zum Frühstück und einfach mal nicht aufstehen, wenn man keine Lust dazu hat – zu schön, um wahr zu sein? Nicht für die 16-jährige April, die nach dem überstürzten Jobwechsel ihres Vaters mitten im Schuljahr zu ihrer besten Freundin Vi zieht, offiziell unter der Aufsicht von Vis Mutter, in Wirklichkeit aber sind die beiden Mädchen allein und genießen ihre nahezu grenzenlose Freiheit. Dass der Traum auch Schattenseiten hat, wird April erst nach einer Weile bewusst. Und nicht nur weil es schön wäre, wenn der Kühlschrank mal wieder mit Essbarem gefüllt würde …

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Seitenzahl: 422

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Das Buch

Für die 16-jährige April wird ein Traum wahr, als es ihr durch eine kleine Notlüge gelingt, den Rest des Schuljahres mit ihrer besten Freundin Vi verbringen zu dürfen – allein, in Vis großem Haus mit Garten und Whirlpool, in dem offiziell noch Vis Mutter wohnt (die aber inoffiziell als Schauspielerin das ganze Jahr unterwegs ist). Unverzüglich machen sich die Mädchen daran, eine Liste all der Dinge abzuarbeiten, gegen die jede Aufsichtsperson ein sofortiges und nicht verhandelbares Veto einlegen würde. Als da wären: Schule schwänzen, Partys feiern (mit Alkohol und Jungs), sich endlich ein Haustier zulegen (auch wenn man eigentlich gar keine Zeit dafür hat), den ganzen Tag die Musik voll aufdrehen und das essen, worauf man gerade Lust hat ...

Dass es manchmal auch Momente gibt, in denen es schön wäre, wenn man jemanden mit mehr als anderthalb Jahrzehnten Lebenserfahrung an seiner Seite hätte, ahnt April schon bald (und das nicht nur, wenn der Kühlschrank sich immer noch nicht von selbst gefüllt hat und einem Fastfood zum Hals heraushängt ...). Bis sie es allerdings auch zugibt, vergehen einige verrückte Wochen mit vielen lustigen und einigen nicht ganz schmerzfreien Erlebnissen.

Die Autorin

Sarah Mlynowski ist in Kanada geboren und aufgewachsen. Bereits während ihrer Studienzeit schrieb sie Kolumnen für ein Wochenmagazin. Sie arbeitete zunächst im Bereich Marketing, bevor sie nach New York übersiedelte und Schriftstellerin wurde.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungDREI MONATE ZUVORDREI MONATE, EINE MINUTE UND DREISSIG SEKUNDEN ZUVORMINIMALE KOMPLIKATIONENDER VORFALLWARUM LUCY MICHAELS UNS VERPFIFFEN HATZURÜCK ZU CLEVELANDDIE REGELNFAST SO WAS WIE EIN ANTRAGNEUIGKEITEN FÜR NOAH
Copyright

Für Farrin Jacobs, brillante Verlegerin und echte Freundin.

DER MORGEN DANACH

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Sirenengeheul.

Die Polizei fuhr vor unserem Haus vor. Gleich würden sie mich verhaften, als Minderjährige bei einer Party erwischt, samt exzessivem Flirten und überfülltem Whirlpool.

Moment mal.

Jetzt schaltete sich mein Gehirn ein. Nein, keine Cops. Nur mein Handy – der Klingelton von meinem Dad.

Wenn das nicht viel schlimmer war.

Ich wühlte mich durch das Bettzeug auf dem Futon. Kein Telefon. Stattdessen ertastete ich ein Bein. Ein Bein von einem Kerl. Ein Bein, das um meinen Fußknöchel geschlungen war. Von einem Kerl, der nicht mein Freund war.

Oh Gott. Oh Gott. Was habe ich getan?

Uiiiuuuuiiiiuuuuiiiiuuuu!

Oben. Die Sirenengeräusche kommen eindeutig von oben, aus dem Erdgeschoss von Vis Haus.

Vielleicht sollte ich einfach weiterschlafen ... Nein! Telefon klingelt. Im Bett mit Nicht-Freund. Ich schaffte es, aus dem Bett zu klettern, ohne den Kerl zu wecken – äh, wo war nur meine Hose? Warum lag ich mit einem Typen im Bett, der gar nicht mein Freund war, und dann auch noch ohne Hose?

Wenigstens trug ich noch Unterwäsche. Und ein langärmeliges Shirt. Ich schaute mich nach irgendeiner Hose um. Das einzige Kleidungsstück in Reichweite war das rote Kleid von Vi, das ich gestern auf der Party angehabt hatte.

Das Kleid bedeutete Ärger.

Mit nackten Beinen rannte ich die Treppe hoch. Oben angekommen, wäre ich fast in Ohnmacht gekippt.

Da sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Leere Plastikbecher waren über die Holzdielen verteilt. In den langen Fransen des Teppichs hingen überall Reste von angebissenen Tortillachips, die sahen aus wie die Nadeln an einem Schwarzen Brett. Ein riesiger Fleck – Bowle? Bier? Was anderes, das ich besser nicht genauer identifizieren sollte? – hatte die untere Hälfte des hellblauen Vorhangs versaut. Ein weißer Spitzen-BH hing an dem hüfthohen Kaktus.

Brett lag in seinen Surfershorts mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa. Das lila Tischtuch diente ihm als Bettdecke. Zachary schlief auf einem der Esszimmerstühle, auf seinem nach hinten gekippten Kopf thronte ein Krönchen aus Alufolie. Die Verandatür stand offen – der Teppich klitschnass vom Regen.

Uiiiuuuuiiiiuuuuiiiiuuuu! Das Telefon wurde lauter. Näher. Aber wo steckte es bloß? Auf dem Küchentresen? Der Küchentresen! Zwischen einem Untersetzer voller Zigarettenkippen und einer leeren Schnapsflasche. Ich stürzte mich drauf. »Hallo?«

»Alles Gute zum Geburtstag, Prinzessin«, sagte mein Dad. »Hab ich dich geweckt?«

»Mich geweckt?« Dabei schlug mir das Herz bis zum Hals. »Natürlich nicht. Es ist ja schon« – ich sah auf die Uhr an der Mikrowelle – »neun Uhr zweiunddreißig.«

»Gut, denn Penny und ich sind auf dem Weg zu dir!«

Mich packte die nackte Panik. »Was meinst du damit?«

Mein Dad lachte. »Wir haben beschlossen, dich an deinem Ehrentag zu überraschen. War ehrlich gesagt Pennys Idee.«

»Moment. Im Ernst jetzt?«

»Klar mein ich das ernst! Überraschung!«

Mir drehte sich der Kopf, am liebsten hätte ich gekotzt, und das nicht nur wegen der vielen, vielen, definitiv viel zu vielen Becher Bowle letzte Nacht, die wir mit Alkohol aufgebessert hatten. Mein Vater durfte die Wohnung so nicht sehen. Nein, nein, auf gar keinen Fall.

Oh Gott. Ich hatte zu hundertzehn Prozent gegen Dads Regeln verstoßen. Die Beweisstücke lagen überall verstreut und grinsten mir hämisch ins Gesicht.

Das passierte jetzt alles nicht wirklich. Durfte es einfach nicht. Ich würde alles verlieren. Wenn ich nach gestern Nacht überhaupt noch was zu verlieren hatte. Ich machte einen Schritt, und ein Tortillachip ging zum Angriff auf meinen nackten Fuß über. Autsch.

Gottverdammte Scheiße.

»Das ist toll, Dad«, zwang ich mich zu sagen. »Also ... wo genau seid ihr jetzt? Seid ihr schon gelandet?«

Bitte, mach, dass sie noch am Flughafen sind. Dann bräuchten sie mindestens eine Stunde vom LaGuardia hierher. Eine Stunde würde mir reichen, um die Wohnung herzurichten. Und um eine Hose zu finden. Die Flaschen und Becher und Zigarettenstummel ab in den Müll, die Tortillachips würde ich einfach alle aufsaugen und vielleicht den BH dazu, möglicherweise sogar Brett und Zachary gleich mit ...

»Nö, wir sind gerade durch Greenwich gefahren. In zwanzig Minuten müssten wir in Westport sein.«

Zwanzig Minuten?!

Vom Sofa her war ein Grunzen zu hören. Brett drehte sich auf den Rücken. »Ist scheißkalt hier drinnen«, gab er von sich.

»April, du hast doch nicht etwa einen Jungen bei dir, oder?«, erkundigte sich mein Dad.

Ich fuchtelte mit der Hand durch die Luft, um Brett zu signalisieren, dass er verdammt noch mal die Klappe halten sollte.

»Was? Nein! Wo denkst du hin! Vis Mom hört Radio.«

»Wir sind gerade am Rock Ridge Country Club vorbei. Sieht ganz so aus, als wären wir schneller bei dir als gedacht. Ich kann’s gar nicht erwarten, dich zu sehen, Prinzessin.«

»Geht mir genauso«, würgte ich mit erstickter Stimme hervor und legte auf. Ich machte die Augen zu. Und dann wieder auf.

Im Wohnzimmer zwei halb nackte Jungs. Einer mit einem Krönchen auf dem Kopf.

Noch mehr halb nackte Jungs in den anderen Zimmern.

Leere Schnapsflaschen und kaputte Plastikbecher überall.

Und von Vis Mom weit und breit keine Spur.

Die Prinzessin war ja so was von tot.

DREI MONATE ZUVOR

»Hättest du nicht Lust, die Highschool in Cleveland zu Ende zu machen?«, fragte mein Dad mich völlig überraschend in den Weihnachtsferien. Es war mein vorletztes Jahr.

Okay. Vielleicht kam das nicht ganz so überraschend.

DREI MONATE, EINE MINUTE UND DREISSIG SEKUNDEN ZUVOR

»April, würdest du dich bitte setzen? Wir müssen uns über eine wichtige Angelegenheit unterhalten.«

Da hätte ich eigentlich schon wissen sollen, dass gleich was Blödes passieren würde. Doch in dem Moment war ich einfach mit viel zu vielen Sachen gleichzeitig beschäftigt, um das mitzukriegen. Es war Donnerstagabend, neun Uhr fünfundfünfzig, und Marissa hatte mich gerade noch rechtzeitig vor zehn nach Hause gebracht (echt lächerlich, selbst in den Ferien musste ich so früh daheim sein). Ich stand gerade vor dem Kühlschrank und konnte mich noch nicht so recht zwischen Trauben und einem Apfel entscheiden, während ich mir gleichzeitig überlegen musste, ob morgen Abend wohl der richtige Zeitpunkt war, um mit Noah zu schlafen.

Gerade tendierte ich in Richtung Apfel. Am liebsten wäre mir natürlich ein Stück Schoko-Karamell-Kuchen gewesen. Aber da Penny sich dem Junkfood verweigerte und ihr erst recht kein Schokoladenzeugs ins Haus kam, war die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Kuchen in unserem Kühlschrank vorzufinden, ungefähr so groß wie die Chance, dass in unserem Garten hinten ein Einhorn rumstand.

Und was die andere Sache betraf ... die Sache, wegen der ich mich am liebsten auf mein Bett geschmissen und mir die Decke über die Ohren gezogen hätte ... es war echt an der Zeit. Ich liebte Noah. Und er mich. Wir hatten lange genug gewartet. Eigentlich hatten wir vorgehabt, es während der Ferien zu tun, aber dann war mein Bruder Matthew die ganze Zeit über da gewesen, bis zum heutigen Morgen. Diesen Abend musste Noah mit seinen Eltern auf eine Party, und am Samstag würde er schon auf dem Weg nach Palm Beach sein.

Morgen war also die letzte Möglichkeit. Außerdem waren mein Dad und Penny zu einer Dinnerparty in Hartford eingeladen, eine ganze Stunde von hier entfernt, also hatte ich sturmfrei von sechs Uhr abends bis Mitternacht. Und für Sex würden wir ja wohl keine sechs Stunden brauchen. Oder?

Ich schätzte, es würde nicht länger als eine halbe Stunde dauern. Maximal. Vielleicht eine Stunde. Oder drei Minuten.

Ich war bereit. Im Ernst jetzt. Ich hatte Noah doch erklärt, ich wäre bereit. Schließlich hatte ich mich selbst davon überzeugt, dass ich bereit war. Bereit, mit Noah zu schlafen. Noah, der so süße Grübchen hatte, wenn er lächelte. Noah, der schon seit über zwei Jahren mein Freund war.

Ich schnappte mir einen Apfel, polierte ihn blank, dann biss ich herzhaft hinein.

Aber war es echt eine so gute Idee, es ausgerechnet an dem Abend zu tun, bevor er für eine ganze Woche nach Palm Beach entschwand? Was, wenn ich am nächsten Tag voll ausrastete, und dann wäre er am anderen Ende des Landes?

»Du tropfst«, sagte meine Stiefmutter, wobei ihr Blick zwischen der schuldigen Frucht und dem weiß gefliesten Boden hin und her huschte. »Bitte, meine Liebe, nimm dir doch einen Teller und setz dich hin.« Penny hatte echt einen krassen Sauberkeitsfimmel. Wie andere Leute ihr Handy hatte Penny in jeder Situation ihre Desinfektionstücher parat.

Ich nahm mir einen Teller und setzte mich an den Tisch, ihnen gegenüber. »Also, was ist los?«

»Und ein Tischset, bitte«, fügte Penny noch hinzu.

Dann kam der Beitrag meines Vaters: »Hättest du nicht Lust, die Highschool in Cleveland zu Ende zu machen?«

Die Frage klang für mich wie Chinesisch. Ich verstand nur Bahnhof. Ich würde garantiert nicht nach Cleveland gehen. Ich war noch nie in Cleveland. Warum sollte ich dort zur Schule gehen wollen? »Häh?«

Mein Dad und Penny warfen sich verstohlene Blicke zu, dann schauten sie wieder mich an. »Ich hab einen neuen Job«, sagte er.

Plötzlich schien es in der Küche zu brodeln. »Aber du hast doch schon einen Job«, erklärte ich langsam. Er arbeitete für ein Hedgefonds-Unternehmen hier in Westport, Connecticut.

»Der Job ist noch besser«, meinte er. »Ein sehr lukrativer Posten. Sehr.«

»Aber – wozu brauchst du denn zwei Jobs?« Im Nachhinein muss ich zugeben, dass ich ganz schön schwer von Begriff war. Aber die fuhren schon echt knallharte Geschütze auf und bombardierten mich mit Informationen. Cleveland! Neuer Job! Tischset!

»Ich brauche ja auch keine zwei Jobs«, meinte er langsam. »Deshalb hör ich ja auch auf bei Torso und übernehme den Posten bei KLJ in Cleveland.«

Mein Gehirn weigerte sich partout, diese Information zu verarbeiten. »Du ziehst nach Cleveland?«

»Wir ziehen nach Cleveland«, erklärte er, wobei er mit einer einzigen Geste uns alle drei einbezog. Dad, Penny. Und mich.

Fast hätte ich mich an einem Stück Apfel verschluckt.

Was? Ich? In Cleveland? Nein. Nein, nein, nein. Auf gar keinen Fall. Ich klammerte mich an die Armlehnen meines Stuhls. Ich würde mich nicht von hier fortbewegen. Sie würden – nein, sie konnten mich nicht dazu bringen, den Stuhl loszulassen.

»Wir ziehen alle gemeinsam nach Cleveland«, flötete Penny jetzt dazwischen. »Am dritten Januar.«

Noch neun Tage. Die wollten ernsthaft, dass ich in neun Tagen umzog? Moment mal. Aber. »Du hast doch gefragt, ob ich die Schule gern in Cleveland fertig machen würde. Meine Antwort lautet Nein. Will ich nicht.«

Sie warfen sich wieder einen Seitenblick zu. »April«, meinte Penny nun. »Meine Eltern haben schon ein paar ausgezeichnete Schulen ausfindig gemacht, von denen du ...«

Während sie weiterlaberte, packte mich die Panik direkt an der Gurgel und drückte fest zu. Ich würde nicht nach Cleveland gehen. Ich würde mein Leben hier nicht zurücklassen. Ich würde Marissa nicht allein lassen. Oder Vi. Noah würde ich niemals verlassen. Und ganz sicher nicht Westport mitten während des Schuljahrs. Keine Chance. Auf gar keinen Fall. »Nein, danke«, quetschte ich mit piepsiger Stimme hervor.

Penny kicherte nervös, dann sagte sie noch: »Wir haben ein sehr schönes Haus gefunden in ...«

Ich biss erneut von dem Apfel ab und überhörte geflissentlich, was sie da laberte. Lalalala.

Wenn ich Westport schon nicht den Rücken gekehrt hatte, um mit Mom und Matthew nach Paris zu ziehen, dann würde ich das jetzt garantiert nicht für Cleveland tun. Und warum eigentlich ausgerechnet Cleveland? Bloß weil Pennys Eltern da wohnten, mussten wir jetzt auch da hinziehen? Ging es bei der ganzen Sache um sie? Mir wurde ganz schwindlig.

»... wunderbar, weil du gerade rechtzeitig zum neuen Halbjahr kommst ...«

»Ich. Ziehe. Nicht. Um«, sagte ich mit so viel Nachdruck, wie mir möglich war.

Sie starrten mich wieder an. Offensichtlich wussten sie nicht so recht, wie sie reagieren sollten. Penny streckte die Hand aus und spielte mit der Ecke meines Tischsets.

Ich konnte hier nicht weg. Es ging nicht, es ging einfach nicht. Ich versuchte, die schwarzen Punkte wegzublinzeln, die plötzlich vor meinen Augen rumtanzten. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Irgendeinen Ausweg. »Ich bleib hier«, sagte ich schnell. »Ich kann doch hierbleiben, oder nicht?« Ja. Das war die Lösung. Sie konnten ja wegziehen. Aber ohne mich. Ta-da! Problem gelöst.

»Du kannst auf gar keinen Fall allein hierbleiben«, meinte Penny.

Oh doch, oh doch, oh doch. Darf ich?

Mein Dad beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Handfläche. »Wir werden das Haus vermieten, bis sich der Markt wieder erholt hat. Dann wollen wir es verkaufen.«

»Ihr dürft es nicht vermieten! Und wenn, dann an mich! Ich bleib hier!« Nicht dass ich auch nur einen Cent besessen hätte. Aber etwas anderes fiel mir gerade nicht ein.

»Du bleibst nicht ohne uns hier«, erklärte meine Stiefmutter. »Das ist lächerlich. Und viel zu riskant.«

Einen Moment bitte. Ich schöpfte wieder Atem, und Wut vertrieb nun die Panik. Ich fixierte diesen Verräter von einem Vater. »Das ist also der Grund, warum ihr vergangenen Monat in Cleveland wart?«

Er nickte, ein klein wenig betreten.

»Und ich dachte, ihr wolltet nur Pennys Eltern besuchen. Warum hast du mir nicht erzählt, dass du ein Vorstellungsgespräch hast?« Völlig ahnungslos hatte ich das Wochenende mit Marissa und ihrer Familie genossen. Lalala, ich dumme Kuh.

Wieder tauschte Dad einen schnellen Blick mit Penny. »Wir wollten nicht, dass du dir Sorgen machst.«

Klar, warum mir auch Zeit geben, damit ich mich etwa in Ruhe an den Gedanken gewöhnen konnte? Ist doch viel besser, mich damit zu überfallen wie ein Springteufel mit ’nem Messer in der Hand. »Aber jetzt ist alles fix?«

»Ja«, meinte er. »Ich habe gestern meine Kündigung eingereicht.«

Also hatten Penny, Pennys Eltern und sogar Dads Firma vor mir Bescheid gewusst. Schöne Art, einer Tochter zu zeigen, dass sie einem wichtig ist. Ob Matthew auch schon im Bilde war? Und Mom?

»Cleveland ist eine wunderschöne Stadt, April«, versicherte mir Penny und rieb sich die Hände, als wollte sie sie reinwaschen. »Ich hab gern dort gewohnt. Und kulturell gesehen sehr interessant. Wusstest du, dass die da eine Rock and Roll Hall of Fame haben?«

Jetzt war die Panik wieder im Anflug. »Ich kann nicht umziehen«, meinte ich, während ich um Atem rang. »Ich kann einfach nicht.«

»Ist es wegen Noah?«, erkundigte sie sich.

»Nein, es ist nicht wegen Noah.« Klar war es wegen ihm. Es war wegen Noah, der an meinem sechzehnten Geburtstag mein Zimmer mit fünfzig Heliumballons vollgestopft hatte. Noah, der mir geholfen hatte, die ganzen Koffer und schlecht verklebten Kisten vom Haus meiner Mutter zum Haus meines Vaters zu schleppen. Noah, der die zartesten Hände hatte, die ich je berührt hatte. Noah, der mich immer seine Süße nannte.

Aber es ging auch nicht ausschließlich um Noah. Es ging um Marissa und Vi und mein ganzes Leben. Ich konnte doch nicht alles – alle – zurücklassen. Mein Dad und ich waren uns zwar ziemlich nahe, aber jetzt hatte er Penny, und Penny und ich ... nun, wir hatten nicht gerade das beste Verhältnis. Sie gab sich ja wirklich Mühe, ich mir auch, und mein Vater tat sein Bestes, aber irgendwie war es immer so, als hätten wir drei jeder ein Walkie-Talkie, die auf verschiedenen Frequenzen funkten. Mit den beiden nach Ohio zu gehen, wäre eine einsame Angelegenheit. Viel zu einsam.

»Du wirst ganz viele neue Jungs kennenlernen«, meinte Penny.

»Es geht nicht um Noah«, wiederholte ich etwas lauter, um das Dröhnen meines pochenden Kopfes zu übertönen. Was sollte ich bloß tun? Ich konnte unmöglich in neun Tagen nach Cleveland ziehen, auf keinen Fall. Ich brauchte einen Plan. Und zwar schnell. Die waren kurz davor, mich ins Auto zu packen und mich durchs halbe Land zu kutschieren. »Ich habe Freunde hier. Ich habe ...« Was hatte ich eigentlich sonst noch? »Fußball. Die Schule.« Ich klammerte mich an jeden Strohhalm, irgendwie musste ich sie umstimmen. Ich hatte doch gerade erst angefangen, mich so richtig zu Hause zu fühlen. Ich konnte nicht schon wieder weiterziehen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen.

»Du wirst neue Freunde finden. Und die Fußballsaison ist vorbei«, erklärte Penny. Sie streckte ihre Hand nach mir aus, um meine zu tätscheln, überlegte es sich dann aber offensichtlich anders. »Nächstes Jahr kannst du in Cleveland in einer neuen Mannschaft spielen. Und mit den Leuten hier kannst du doch weiter in Kontakt bleiben.«

Ich wollte nicht in Kontakt bleiben. Ich wusste schon, wie das war mit dem In-Kontakt-Bleiben. Und hasste es. Jetzt sollte ich das also mit Noah und allen meinen Freunden tun? Waren Cleveland und Connecticut überhaupt noch in derselben Zeitzone? Wo lag Cleveland eigentlich genau?

Die schwarzen Punkte tauchten wieder am Rand meines Blickfelds auf. Wenn ich echt nach Cleveland ging, dann würde ich jeden Morgen aufwachen und mir wünschen, ich wäre immer noch in Westport. Ich würde jeden Morgen im selben schwarzen Loch wach werden. Das durfte ich nicht zulassen. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Ich konnte doch hier bei jemand anderem wohnen. Wie wär’s mit Marissa? Ich richtete mich auf. Ja! Vielleicht? Nein. Theoretisch würde ihre Familie mich mit Freuden aufnehmen, aber die hatten echt nicht den Platz dafür. Marissa musste sich ihr Zimmer eh schon mit ihrer Schwester teilen. Ich konnte ja schlecht den Rest des Jahres mit auf ihrem Ausziehbett schlafen.

Noah? Ha. Klar, ich liebte ihn, und mit seinen Eltern und Geschwistern verstand ich mich auch ganz gut, aber ich würde garantiert mit keinem von denen das Bad teilen wollen.

Blieb nur noch ... Vi.

Augenblick. Das ist es. »Ich kann doch bei Vi wohnen!« Ja, ja, ja!

»Du willst bei deiner Freundin Violet wohnen?«, hakte mein Dad nach.

»Ja!«, rief ich. Meine Rippen weiteten sich, als sich mein Brustkorb mit Hoffnung füllte. »Ich kann zu Vi ziehen.«

»Du kannst doch nicht bei einer Freundin wohnen«, entgegnete Penny, wobei sie das Wort Freundin betonte, als hätte ich stattdessen was von einer »Familie von Riesenschlangen« gesagt.

»Nicht bloß bei einer Freundin«, beeilte ich mich zu erklären. »Bei einer Freundin und ihrer Mom.« Das könnte funktionieren. Es könnte echt klappen. Vi wohnte in einem total irren Haus auf Mississauga Island, direkt am Long Island Sund. Von ihrem Wohnzimmerfenster aus sah man direkt aufs Wasser.

»Du kannst doch nicht einfach so bei einer anderen Familie wohnen«, meinte mein Dad. »Und ich bezweifle stark, dass Vis Mutter einverstanden wäre.«

Na, und sie konnten mich nicht einfach so mitten im vorletzten Jahr von der Schule nehmen, das war nicht fair. »Vis Mom hat bestimmt überhaupt kein Problem damit. Letztes Jahr wollten sie einen Austauschschüler bei sich aufnehmen, das hat dann bloß nicht geklappt. Suzanne ist echt voll lässig.«

Dad zog die Brauen hoch.

»Aber auch nicht zu lässig«, schob ich schnell nach. »Außerdem haben die eh schon ein Schlafzimmer eingerichtet im Keller. Mit eigenem Bad und allem. Ich könnte doch wenigstens fragen, oder? Und dann reden wir noch mal drüber? Wir könnten es doch zumindest mal ins Auge fassen?«

Penny zog die Nase kraus. »Du willst in einen Keller ziehen? Im Keller ist es kalt und es zieht.«

»Mir egal.« Ein Keller in Westport war besser als jedes Zimmer in Cleveland.

»Ich weiß nicht recht«, meinte Penny kopfschüttelnd.

Ist ja auch nicht deine Entscheidung, wollte ich am liebsten sagen, aber ich verkniff mir die Bemerkung. Demonstrativ schaute ich nur meinen Dad an und gab mein Bestes, möglichst vernünftig und erwachsen zu wirken. Betont langsam sagte ich: »Es bringt doch nichts, wenn ich jetzt nach Cleveland umziehe. Ich hab nur noch sechs Monate vor mir, dieses Schuljahr. Lass mich das hier fertig machen. An der Hillsdale. Ich liebe Hillsdale. Bei Vi wird es mir gut gehen. Sie nimmt mich sicher liebend gern bei sich auf.«

Eine Falte machte sich auf Dads Stirn breit.

»Bitte!«

»Aber was ist mit dem nächsten Jahr? Ist Vi da nicht schon fertig mit der Schule?«, wollte mein Dad wissen.

»Machen wir uns doch erst mal über dieses Jahr Gedanken. Wenn ich nächstes Jahr umziehen muss, dann ziehe ich eben nächstes Jahr um.« Natürlich würde ich auch nächstes Jahr auf gar keinen Fall umziehen. Aber wer konnte schon sagen, wie bis dahin alles aussah? Einst lebte ich mit meiner Mutter, meinem Vater und meinem Bruder in der Oakbrook Road Nummer 34, aber dann kam alles anders. »Wer weiß? Vielleicht hasst du Cleveland ja und willst hierher zurück. Oder vielleicht bleibt Vi ja nächstes Jahr auch noch da.« Klar, logo. Vi hatte große Pläne, und jedes College, das darin vorkam, war weit, weit weg von Westport. »Können wir es dieses Halbjahr nicht mit Vi probieren? Bitte?« Als ich dieses letzte Bitte äußerte, hatte ich Tränen in den Augen, und meine Lippen bebten.

Keiner sagte einen Ton.

Ich war mir auch nicht sicher, was ich erwartet hatte. Klar hatte ich irgendwo Zweifel, dass sie mich tatsächlich zu einer Freundin ziehen lassen würden. Als das Schweigen sich weiter in die Länge zog, dachte ich, ich wäre erledigt.

»Nun, ich denke, wir können wenigstens mit Violets Mutter reden«, sagte mein Dad schließlich.

Ich sprang von meinem Stuhl hoch und warf ihm die Arme um den Hals.

MINIMALE KOMPLIKATIONEN

Am Donnerstagabend hinterließ ich Vi zwei Nachrichten auf der Mailbox, aber sie rief nicht zurück. Vielleicht war sie im Feiertagsstress. Wir sind Juden, deshalb war das für mich einfach nur Als-Dad-mir-von-seinem-Umzug-erzählte-Tag, während für die meisten anderen Menschen auf der Welt Weihnachten war. Ich hatte ihr noch keine Details verraten, nur dass ich mit ihr reden müsste.

Am Freitagvormittag um elf rief sie mich dann endlich zurück.

»Alles okay bei dir?«, erkundigte sie sich. »Hab gerade erst meine Nachrichten abgehört. Meine Mutter hat sich gestern mein Handy ausgeliehen und weiß nicht mehr, wo sie es hingetan hat.«

Ich brachte sie auf den neusten Stand, dann hielt ich die Luft an. Was, wenn Vi mich nach dem ganzen Hin und Her überhaupt nicht haben wollte?

»Klar kannst du bei mir wohnen! Meiner Mom macht das sicher nichts aus! Ich kann dich doch nicht nach Cleveland ziehen lassen! Kommt gar nicht in die Tüte!«

Puh – erleichtert atmete ich aus.

»Dann sind wir Hausgenossinnen!«, quiekte sie vergnügt.

Ich selbst hätte ja eher Zimmergenossinnen gesagt, aber Vi war eindeutig die Sorte Mädchen, die Hausgenossin sagte. Hausgenossin klang viel kultivierter. Zimmergenossinnen waren was für Kinder. Außerdem gehörte Vi zu der Sorte Mädchen, die es hasste, als »Mädchen« bezeichnet zu werden. Sie war eine Frau, ganz klar. Sie trank Wein, trug ihr schwarzes Haar als Bob gestylt, trainierte jeden Morgen, war Redakteurin bei der Schülerzeitung und las jeden Tag die New York Times. »Mädchen« passte nicht zu ihr. Vi war einfach supercool.

Vi und ich waren zusammen im Kindergarten. Damals gab es noch gemischte Gruppen, die Drei- und Vierjährigen zusammen. Vi und ich hatten gleich einen Draht zueinander gehabt. Und unsere Mütter auch. Dann haben Suzanne und meine Mom sich aus den Augen verloren, aber Vi und ich blieben die ganzen Jahre Freundinnen, obwohl wir nicht in derselben Jahrgangsstufe waren und obwohl wir nicht dieselben Leute kannten. Manchmal gab es Überschneidungen – wie an dem Abend, an dem »Der Vorfall« passierte. Doch normalerweise hatten wir getrennte Freundeskreise. Auch wenn wir beide immer Freundinnen gewesen waren.

»Wir werden einen Riesenspaß haben«, fuhr sie fort.

Oh ja, Spaß würden wir haben. Mit Vi und Suzanne zusammenzuwohnen wäre etwas ganz anderes, als bei Dad und Penny zu leben.

Nehmen wir uns einen Augenblick Zeit für einen Vergleich, okay?

In unserem Haus sind die Laken auf jedem Bett militärisch straff gespannt. Wenn ich mich gegen das leinenbezogene Kopfende des Bettes lehnen will, soll ich doch bitteschön ein Kopfkissen benutzen. Vi und ihre Mom hingegen besaßen beide ein Wasserbett. Ich hab noch nie mitgekriegt, dass Suzanne ihr Wasserbett gemacht hätte. Bei Vi daheim roch es nach Zimtweihrauch. Bei uns roch es nach Desinfektionstüchern mit einem Hauch von Lysol. Wegen »Des Vorfalls« musste ich immer um spätestens zehn zu Hause sein. Suzanne hielt nichts von solchen Deadlines. Das ließe sich auch nur schwer durchsetzen, weil ihre Vorstellung normalerweise bis elf ging und sie selbst selten vor ein Uhr nachts daheim war.

Auf einen Unterschied zwischen Suzanne und meinem Dad möchte ich noch hinweisen: Suzanne war spontan. Sie lud in letzter Minute zum Abendessen ein, bei dem dann jeder was mitbrachte, und sie veranstaltete Marathon-Filmabende. Mein Dad und Penny stellten sogar einen Plan dafür auf, wann sie miteinander schliefen. Jeden Dienstag und samstags um elf. Ich versuchte dann immer schon im Bett zu sein und zu schlafen. Es stand zwar nicht unbedingt im Kalender, aber die Musik von Barry Manilow lief immer zur selben Zeit, da konnte man die Uhr danach stellen. Man stelle sich das vor ... Sex zu planen? Gibt es etwas Unromantischeres?

Okay, Noah und ich versuchten die Sache mit dem Sex auch zu planen – heute Abend vielleicht?! –, aber wir taten das ja eindeutig aus einem anderen Grund. Wir konnten uns auf die Schnelle ja schlecht eine eigene Wohnung suchen, in der wir ungestört waren.

»Das ist perfekt«, fuhr Vi fort. »Du weißt ja gar nicht, wie perfekt das ist. Die haben meiner Mutter soeben die Hauptrolle in Mary Poppins angeboten, sie geht damit auf Tournee.«

Ich musste lachen. »Deine Mutter spielt Mary Poppins?«

»Ja. Mir ist klar, wie ironisch das klingt.«

»Wie lange denn?«

»Der Vertrag geht über sechs Monate. Die Tournee beginnt in Chicago, dort bleiben sie sechs Wochen, dann ziehen sie weiter durchs ganze Land. Sie wird echt froh sein, wenn jemand bei mir ist.«

Heilige Scheiße. »Wir beide ... in eurem Haus?« Wir beide. In ihrem Haus am Strand. Und keine Eltern.

»Na klar! Ist das nicht perfekt?«

»Und deine Mom hat kein Problem damit, dich allein zu lassen?«

»Süße. Einen Job zu finden ist heutzutage echt voll schwer, und meine Mom wird auch nicht jünger oder schlanker. Sie ist inzwischen doppelt so dick wie früher. Wenn sie mit Mary Poppins auf Tournee gehen kann, dann geht sie mit Mary Poppins auf Tournee.«

Früher war Suzanne ein Broadway-Star mittleren Bekanntheitsgrads. Dann wurde sie von einem süßen Briten geschwängert. Anschließend verließ sie der süße Brite für eine süße Australierin. Suzanne zog zurück nach Westport, damit ihre Mom ihr mit der kleinen Violet helfen konnte, und Suzanne kellnerte und spielte nur noch auf der Provinzbühne. Als Vi auf die Highschool kam, fing Suzanne wieder an einem Theater in der Stadt an. Sie hatte dort nicht die tollsten Rollen bekommen. Eine Hauptrolle war schon etwas Besonderes. Also hätte ich mich eigentlich freuen sollen für Suzanne – und das tat ich auch –, aber wenn sie in Chicago als Mary Poppins auftrat ... dann wäre ich dazu verdammt, Le Misérable in Ohio zu werden.

Ich ließ mich zurück auf mein Bett plumpsen. »Vi, mein Dad wird mich nicht bei dir wohnen lassen, wenn deine Mom nicht auch da ist.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Warum denn nicht?«

»Mein Vater hält viel von Aufsichtspflicht.«

»Aber wir hätten so viel Spaß.«

»Viel Spaß«, bestätigte ich geistesabwesend. »Oh Gott,

ich werde nach Ohio ziehen müssen.« Die schwarzen Tupfen kehrten zurück. Ich hielt mir die Augen mit den Händen zu. »Warum muss mein Vater mein Leben ruinieren? Was sind das für Eltern, die einfach so Hals über Kopf in eine andere Stadt umziehen?«

»Na ja, wie meine.«

Ach ja, richtig. »Warum können wir eigentlich keine normalen Eltern haben?«

Wieder herrschte Stille. »Vielleicht kann meine Mom deinen Dad dazu überreden, es auf den Versuch ankommen zu lassen.«

»Vi, mein Dad lässt mich nie im Leben mit dir allein zusammenwohnen. Er lässt mich nirgendwo wohnen, wo nicht mindestens ein verantwortungsbewusster Erwachsener ist. Ich schätze, das ist außerdem gar nicht legal.«

»Ich würde meine Mom nicht unbedingt als verantwortungsbewusst bezeichnen. Gestern Nacht waren mindestens dreißig Schauspieler hier im Haus, allesamt betrunken, und haben irgendwelche Bühnensongs zum Besten gegeben.«

»Wenn wir das meinem Dad erzählen, hilft uns das auch nicht gerade weiter. Ich bin echt am Arsch.«

»Nein, jetzt komm schon. Erklär ihm einfach, dass da nichts dabei ist. Meine Mom ruft ihn an, sobald sie wach ist.«

»Es ist elf.«

»Sie ist spät ins Bett.« Dann stieß sie ein lang gezogenes, nachdenkliches Seufzen aus. »Vielleicht ist es andererseits nicht gerade der beste Schachzug, meine Mom und deinen Dad miteinander telefonieren zu lassen. Meine Mom plaudert immer viel zu viel aus. Wir machen es anders: Lass mich mit ihm reden.«

»Du wirst ihn nicht überzeugen können, Vi.« Sie war zwar gut, aber nicht so gut. Letztes Jahr hatte sie an der Schule den Wettbewerb gewonnen, wer den besten Vortrag hält. Ihr Thema hatte gelautet »Wie man den Wettbewerb um den besten Vortrag gewinnt«. Sie war eben sehr überzeugend.

»Was, wenn er mich für meine Mutter hält?«

»Tschuldige?« Mir bog es die Zehen in den Socken hoch.

»Wenn er hier anruft. Dann denkt er vielleicht, ich bin sie. Ich sag einfach, dass ich mich freuen würde, wenn du bei uns einziehst, und das mit der Theatertournee erwähne ich einfach nicht.«

Hm. »Wir verschweigen es ihm einfach so?«

»Genau. Was er nicht weiß ...«

»Ohmeingott, das ist irrsinnig. Das kann ich nicht bringen.« Ich bekam kaum mehr Luft. Ich war einfach nicht der Mensch, der so etwas tat.

»Dann zieh doch nach Cleveland.«

Ich konnte nicht nach Cleveland ziehen. Nicht jetzt. Nicht in acht Tagen, nachdem ich jetzt kurz davor war, es das erste Mal mit meinem Freund zu tun. Nicht mitten im Jahr. Nicht in einer Million Jahren.

Dann hörte ich mich selbst sagen: »Unter welcher Nummer soll er dich anrufen?«

DER VORFALL

Das zweite Highschooljahr hatte gerade erst begonnen.

Mir war noch nicht klar, wie stark eine Bowle sein konnte. Klar, das Zeug schmeckte wie Limonade, aber ehe man es sich versah, lag man im Sand und tat so, als wäre man eine Meerjungfrau.

Ich, Vi, Marissa und Vis Freundin Joanna hatten uns am Compo Beach betrunken. Lucy Michaels hatte uns dabei mit ihrem iPhone gefilmt und das dann ihrer Mom gezeigt.

Blöderweise war Lucys Mom die neue Vertrauenslehrerin an unserer Schule.

Nachdem Mrs Michaels alle unsere Eltern informiert hatte – und ihnen das Video gezeigt hatte –, passierte Folgendes:

Joanna wechselte auf die Andersen Highschool, also war die Sache für sie nicht weiter schlimm.

Marissa bekam eine Woche Hausarrest.

Vis Mom sagte nur: »Na und? Immerhin sind sie anschließend nicht mit dem Auto heimgefahren, oder?« (Sind wir tatsächlich nicht. Vis Freund Dean hatte uns abgeholt.)

Und ich? Ich bekam gleich zwei Wochen Hausarrest und musste von da an um zehn daheim sein – und zwar auf unbestimmte Zeit.

Ja, stimmt, ich war es, die sich im Sand gewälzt und behauptet hatte, sie sei eine Meerjungfrau. Und ich war diejenige, die Dean hatte bitten müssen, rechts ranzufahren, damit ich mich übergeben konnte. Von diesem pikanten Detail hatte mein Dad zum Glück keinen Videobeweis gesehen.

Es war vielleicht auch nicht gerade von Vorteil gewesen, dass ich erst sechs Tage zuvor zu meinem Dad gezogen war.

Er und Penny hatten endlose Gespräche hinter verschlossenen Türen geführt, ehe man schließlich beschloss, dass ich von nun an jeden Abend spätestens um zehn daheim sein müsste, auch an den Wochenenden, damit ich mir nicht noch mehr Ärger einhandelte. Als ob man sich ausschließlich nach zehn Uhr abends Ärger einhandeln konnte.

»Ist dir denn nicht klar, wie gefährlich es für ein Mädchen ist, wenn es betrunken durch die Gegend rennt?«, fragte mein Vater kopfschüttelnd. »Ich dachte, du wärst vernünftiger.«

»War ich«, meinte ich. »Bin ich.« Ich schlang die Arme um die Knie und zog sie an die Brust, um mich ganz klein zu machen.

In seiner Stimme lag tiefe Enttäuschung. »Ich kann nicht begreifen, warum du das getan hast. Ich weiß genau, dass du dich nicht so aufgeführt hast, als du noch bei deiner Mom gewohnt hast. Zumindest hoffe ich das.«

»Hab ich auch nicht«, sagte ich, und es stimmte. Ich war immer total brav gewesen. Klar hatte ich schon ein paarmal an etwas mit Alkohol genippt, aber dieser Abend da am Compo Beach war wirklich das erste Mal gewesen, dass ich richtig besoffen war.

»Und warum jetzt?«

Weil ich die Vorstellung an sich super fand? Strand! Bowle! Meerjungfrau! Außerdem war ich sauer auf Noah gewesen (wegen der Sache mit Corinne), deshalb wollte ich ihm beweisen, dass ich auch ohne ihn einen total krassen, witzigen Abend verbringen konnte. »Keine Ahnung«, meinte ich. »Tut mir leid, Dad.«

»Penny denkt, das ist die Trotzreaktion darauf, dass deine Mom weggezogen ist.«

Ich schüttelte den Kopf, aber ich ließ die Frage dennoch unbeantwortet.

WARUM LUCY MICHAELS UNS VERPFIFFEN HAT

Wer weiß? Sie lief dauernd allein durch die Gegend und starrte Leute an. Sie hatte riesige, tief dunkle Augen, die niemals blinzelten. Man konnte sie während des Unterrichts eine Viertelstunde lang beobachten, die Lider flatterten kein einziges Mal. Zu der Zeit, als »Der Vorfall« passierte, war sie im zweiten Schuljahr, genau wie ich, wobei sie gerade erst hierher nach Westport gezogen war und ich schon mein ganzes Leben hier verbracht hatte.

Dass sie uns in ihrer ersten Woche an der Hillsdale gleich verpetzte, war nicht gerade die brillanteste Strategie, um Freunde zu finden.

ZURÜCK ZU CLEVELAND

Dad und ich saßen im Wohnzimmer zu beiden Seiten der Wildledercouch, als er bei »Suzanne« anrief.

Ich wäre am liebsten näher an ihn rangerückt, um möglicherweise zu hören, was Vi sagte, doch dann entschied ich, dass ich vermutlich einen Herzstillstand erleiden würde, sollte ich das komplette Gespräch mitverfolgen.

»Hallo, Suzanne, hier ist Jake Berman, Aprils Vater. Wie geht es Ihnen?«, donnerte mein Dad los.

Auch ohne Vis Antwort zu hören, bekam ich einen Mini-Herzinfarkt.

»Schön, schön, gut zu hören ...«, fuhr er fort. »Ja, danke. Aber was April betrifft und dass sie bei Ihnen wohnen will ...«

Meine Hände fingen an zu zittern, als hätte ich zu viel Kaffee getrunken. Da sie nicht stillhalten wollten, beschloss ich, besser den Raum zu verlassen, ehe ich mich noch verriet. Sollte mein Vater Verdacht schöpfen, dass er mit Vi sprach und nicht mit Suzanne, dann wäre alles verloren.

Ich eilte in die Küche und versuchte, seine Stimme auszublenden.

»... in irgendeiner Weise Unannehmlichkeiten ...«

La, la, la.

»... sie erhält Geld für Lebensmittel ...«

Klang ja vielversprechend ...

»... ja, Verantwortung ...«

Hör einfach nicht hin. Lauf stattdessen auf und ab. Ja, genau das hab ich mir gesagt. Lauf auf und ab. Die Küche rauf und runter. Aber nicht zu geräuschvoll. Tu so, als wärst du total beschäftigt. Mach den Kühlschrank geschäftig auf und zu. Hallo, Kühlschrank. Hallo, ihr Äpfel. Hallo, ihr Trauben. Hallo, fettreduzierter Mozzarella. Vielleicht sollte ich mir die Hände waschen. Die Geräusche übertönen. Ich stellte das Wasser an, schön laut war das, dann seifte ich mir die Hände ein und wusch sie. Dann das Ganze noch einmal, einseifen und waschen. Ich konnte selbst nicht glauben, was ich da tat. Dass ich meinen Dad anlog. Aber bei Vi einzuziehen war doch das absolut Richtige, oder nicht? Was, wenn mein Dad Nein sagte? Was, wenn er Ja sagte? Als ich das Wasser wieder abstellte, herrschte Stille. Ich wäre am liebsten zurück ins Wohnzimmer gerannt, aber ich hielt mich gerade noch zurück.

»Dad?«, rief ich vorsichtig.

Nichts. Oh Gott. Er war dahintergekommen. Vi war eingeknickt. Ich war so was von tot. Ehe ich das Wohnzimmer betrat, raffte ich all meinen Mut zusammen.

Er tippte soeben etwas in seinen BlackBerry, doch als er mich bemerkte, hielt er inne. »Nun, Prinzessin« – er atmete aus, als wäre er ein wenig überrascht – »sieht so aus, als hättest du deinen Willen. Du kannst für dieses Schuljahr bei ihnen bleiben. Suzanne meinte, sie wäre am besten über E-Mail zu erreichen, also schicke ich ihr meine Kontaktdaten.«

Ist sie das? Schickst du?

»Sie tritt dieses Frühjahr in einer Produktion von Chicago auf – sie hat angeboten, uns Tickets zu besorgen, wenn wir wieder in der Stadt sind.«

»Wie großzügig«, sprudelte es aus mir heraus.

»Bist du dir wirklich sicher, dass du das so machen willst?«, fragte er nach und sah dabei zu mir auf.

Als unsere Blicke sich trafen, wurde mir klar, dass es jetzt wir waren, er und ich, die in Kontakt bleiben mussten.

Oje.

Aber ich konnte einfach nicht nach Cleveland ziehen. Es ging einfach nicht. Klar war es blöd, dass mein Dad fortging, aber in erster Linie empfand ich jetzt Erleichterung. Ich durfte bleiben. Während ich meine Hände betrachtete, sagte ich: »Ja, bin ich.«

DIE REGELN

Ich las Noahs Nachricht ein zweites Mal – Kann es gar nicht erwarten bis heute Abend ... Um wie viel Uhr soll ich denn rüberkommen? –, ehe ich antwortete: Bitte komm nicht. Es tut mir echt so was von leid, aber wir müssen das verschieben. Schon wieder. Alles geht grad drunter und drüber. Können wir uns irgendwo einen netten Abend machen? Im Burger Palace? Während ich noch das letzte Wort tippte, klopfte mein Dad, kam zur Tür herein und reichte mir ein Blatt Papier. DIE REGELN stand oben drüber.

Ich erklär dir das später, tippte ich rasch, dann klappte ich mein Laptop zu.

»Erstens«, las Dad aus seinem eigenen Exemplar der »Regeln« vor. »Deine Noten bleiben auf jeden Fall auf demselben Stand.«

»Noten«, wiederholte ich und drehte mich auf meinem Stuhl herum, damit ich ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. »Bleiben gleich. Kapiert.«

Klar würden meine Noten die gleichen bleiben. Ich stand auf einer glatten Eins plus, das würde ich mir garantiert nicht vermasseln. Nicht dieses Halbjahr, wo es am meisten zählte.

»Wenn dein Notendurchschnitt auch nur ansatzweise fällt, sitzt du im nächsten Flieger nach Cleveland.«

»Logisch, verstanden«, sagte ich.

»Nächster Punkt«, fuhr er fort. »Im Haus keine Jungs.«

Ich klimperte mit den Wimpern. »Soll ich jetzt etwa Vi – und Suzanne – verbieten, dass sie daheim Herrenbesuch empfangen?«

Er lachte. »Tu mal nicht so superschlau.«

»Schwer, da drüber zu bestimmen.«

»Noah hält sich nicht in deinem Zimmer auf. Und Noah und du, ihr seid nie allein im Haus.« Dieselben Regeln galten bei uns daheim.

»Die Regel gilt also nur für Noah. Ich darf ansonsten so viele Jungs zu mir einladen, wie ich will?«

Er hob die Brauen.

»Dad, ich mach Witze. Keine Jungs. Und schon gar nicht Noah. Red weiter.«

»Drittens. Kein Alkohol«, meinte er.

»Kein Alkohol«, wiederholte ich, wobei ich rot wurde. »Ich schätze, Meerjungfrau spielen ist auch tabu?«

Er lächelte. »Ja. Regel Nummer vier: Die Sperrstunde bleibt die gleiche.«

Wollte der mich verarschen? Er wollte, dass ich weiterhin um zehn daheim war, obwohl er in einer ganz anderen Stadt wohnte? »Dad, komm schon ...«

Er schüttelte den Kopf, sein Gesichtsausdruck blieb streng. »Ich mein’s ernst. Du bist um zehn zu Hause. Das hab ich mit Suzanne bereits besprochen.«

Ich war mir sicher, dass »Suzanne« das auch mit aller Strenge durchsetzen würde. »Okay«, gab ich mich geschlagen.

»Ich vertrau dir, April. Du hast dich in den letzten anderthalb Jahren echt von deiner besten Seite gezeigt.«

Ich nickte und gab mir alle Mühe, die aufkeimenden Schuldgefühle zu ignorieren, als ich das mit dem Vertrauen hörte.

Er legte mir die Hand auf die Schulter und drückte sie. »Nicht nur sein Erfolg sagt viel über einen Menschen aus, sondern auch, wie er mit Rückschlägen umgeht. April, ich bin sehr stolz auf dich, wie du das mit der Sperrstunde eingehalten hast. Ich glaube, du warst nicht ein einziges Mal zu spät dran.«

»Stimmt, war ich nicht«, sagte ich, weil es echt so war. Na ja, bis auf das eine Mal, als ich bei Marissa übernachtet habe. Die musste nicht zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein, solange sie sich regelmäßig alle paar Stunden per Handy meldete und ihren Eltern einen Gutenachtkuss gab, sobald sie heimkam. Ihre Eltern vertrauten ihr – und sie hielten engen Kontakt. Den hielten sie mit allen ihren fünf Kindern. Sie aßen jeden Abend zusammen. Freitagabend, zum Sabbatmahl, kamen die Großeltern, Cousins und Cousinen und die engsten Freunde. Ich durfte auch jederzeit kommen, und manchmal wünschte ich mir, Marissas Mom Dana wäre auch meine Mom.

Das war’s dann also? Ich musste weiterhin gute Noten schreiben, mich von Alkohol und Jungs fernhalten und die Sperrstunde einhalten? Das war doch machbar. Oder zumindest konnte man gut so tun als ob.

»Und wie mache ich das, wenn ich was kaufen will?«, erkundigte ich mich. »Wenn ich neue Klamotten brauche, zum Beispiel?«

Er räusperte sich. »Ich richte ein Konto für dich ein, da überweise ich jeden Monatsanfang Geld drauf. Zweihundert für Miete und noch mal zweihundert für Lebensmittel. Das Geld gibst du direkt an Suzanne weiter. Und dann kriegst du noch ein kleines Extrataschengeld für dich.«

»Oh«, sagte ich überrascht. »Wie viel dann insgesamt?«

»Tausend Dollar pro Monat.«

Heilige Scheiße. Machte der etwa Witze? Tausend Dollar im Monat? Ich wusste ja, dass mein Dad nicht schlecht verdiente ... aber das klang mir nach einem ganzen Haufen Asche.

Er lachte, als er mein überraschtes Gesicht bemerkte. »Das Geld ist nicht nur für überteuerte Designerjeans gedacht, April. Davon zahlst du Miete, Essen, Bücher, das Pausenbrot in der Schule, Freizeitvergnügungen, Benzin ...«

»Benzin? Wofür denn?« Moment mal. »Krieg ich etwa ein Auto?«, kreischte ich.

Wieder drückte er meine Schulter. »Es wäre doch nicht fair, wenn du ganz davon abhängig wärst, dass Violet und Suzanne dich rumkutschieren.«

»Ja! Ja! Danke, danke, danke, danke!« Ich sprang von meinem Stuhl hoch und warf ihm die Arme um den Hals.

»Danke nicht mir.« Er küsste mich auf die Stirn. »Das hast du Penny zu verdanken. Sie findet, du solltest nicht von anderen Leuten abhängig sein, wenn du irgendwo hinwillst. Sie hat angeboten, ihr Auto für dich hier zu lassen«, meinte er freudestrahlend. »Ich kauf ihr in Ohio dann ein neues.« Mein Dad wollte mir ständig beweisen, wie viel ich Penny bedeutete. Aber wenn ihr wirklich so viel an mir lag, dann würde sie meinen Dad nicht nach Cleveland schleifen.

Trotzdem. Wenn sie mir was Gutes tun konnte, konnte ich das auch.

»Danke, Penny«, meinte ich, und es war mir herzlich egal, dass sie einen nagelneuen Wagen bekam und ich ihren zehn Jahre alten Honda, den sie schon vor ihrer Hochzeit mit Dad besessen hatte. Ich war ja schon froh, überhaupt ein Auto zu kriegen. Auch wenn es knallgelb war und nach Desinfektionstüchern roch. Wenigstens war es sauber.

Ein eigenes Auto! Ein eigenes Bankkonto voller Geld! Ein eigener Keller! Und mein Zimmer grenzte an das von niemand anderem! Ich hatte das Gefühl, das glücklichste Mädchen der Welt zu sein, und wenn ich einen Anflug von Schuldgefühl verspürte, nun, dann verdrängte ich es ganz gut. Das schob ich ganz weit weg. Bis nach Cleveland.

»Ich erwarte dafür von dir, dass du mir jeden Monat eine Liste schickst, wofür du dein Geld ausgegeben hast. So wirst du unheimlich viel lernen. Du wirst dir angewöhnen müssen, eher praktisch zu denken.«

»Eine Liste. Okay. Das war’s dann also?«, fragte ich mit zappelnden Beinen. »Wir sind uns einig?«

»Ja, sind wir.«

Nachdem mein Vater endlich draußen war, klappte ich mein Laptop auf und sah nach, ob Noah geantwortet hatte, doch da war nichts. Ich hatte ja gewusst, er würde enttäuscht sein, dass heute nicht der Abend war, doch wenn er die Neuigkeiten erst mal hörte, wäre das vergessen. Ich hatte ihm noch nichts von Cleveland erzählt oder davon, dass ich bei Vi wohnen würde. Ich musste das erst alles in Ordnung bringen, weil ich nicht wollte, dass er sich unnötig Gedanken machte. Wie der Vater, so die Tochter, könnte man wohl sagen.

Ich rollte auf dem Stuhl vor und zurück. Ich konnte echt nicht fassen, dass das alles wirklich passierte. Dass mein Dad mich echt bleiben ließ. Mein Dad hatte Suzanne um ein Treffen gebeten, aber Vi hatte ihm erklärt, sie würde den Rest der Ferien in L.A. verbringen. Sie wäre aber rechtzeitig zurück für meinen Umzug, dann würde sie sich gern persönlich mit ihm unterhalten.

Ich konnte echt nicht fassen, dass er mich so ohne Weiteres bleiben ließ. Wenn ich Kinder hätte, würde ich ... na ja, keine Ahnung, was ich tun würde. Ich weiß zumindest, dass ich mich niemals scheiden lassen würde. Nicht dass ich meinem Vater das vorwerfen würde. Aber trotzdem. Wenn ich einmal heirate, dann sorg ich dafür, dass die Ehe funktioniert.

So eine Ehe ist was für immer, ganz gleich, was mein Mann macht.

FAST SO WAS WIE EIN ANTRAG

»Ich liebe es, auf dem Sofa rumzugammeln«, erklärte ich Noah.

Es war an einem Samstag im Januar, etwa vor einem Jahr, während unseres zweiten Jahrs an der Highschool. Draußen war es arschkalt. Wir lagen in seinem Zimmer im Untergeschoss auf dem braunen Wildledersofa, zugedeckt mit einer Häkeldecke. Ich hatte mich in seine Armbeuge gekuschelt. Sein Fleecesweater fühlte sich weich an an meiner Wange. Noah und ich hatten uns seit zwei Stunden nicht mehr bewegt.

Er spielte mit einer Strähne von meinem Haar. »Lass uns für immer so hier liegen bleiben.«

»Aber wir müssen doch irgendwann was essen«, meinte ich.

»Wir bestellen was.«

»Dann müssen wir aber die Tür aufmachen.« Ich deutete mit meinen Fingern das Laufen an.

»Meine Eltern machen auf und bringen uns das Essen.«

»Und was ist mit der Schule?«, erkundigte ich mich, während ich die Augen schloss.

»Wir lassen uns zu Hause unterrichten.«

»Mein Dad fragt sich sicherlich, wo ich stecke.«

»Dann sag ihm, wir wären durchgebrannt und hätten geheiratet.«

Ich lachte. »Er mag dich, aber so gern dann auch wieder nicht.«

Er zog mich ganz fest an sich. »Könntest du dir das vorstellen?«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich riss die Augen auf. »Durchbrennen und heiraten?«

»Klar.« Er drehte den Kopf und sah mich an. »Ich könnte jeden Tag mit dir zusammen sein. Genau hier. Auf dieser Couch.«

Mein ganzer Körper fühlte sich warm an. Und sicher. Geliebt. Ich ließ einen Finger von seiner Nase zum Kinn gleiten. »Ich liebe dich«, sagte ich. Ein Teil von mir hätte es sofort getan. Mit ihm durchbrennen und ihn heiraten. Doch ein anderer Teil ... etwas anderes in mir fragte sich, ob ich überhaupt irgendjemandem trauen konnte. Ob generell überhaupt irgendjemand irgendeinem anderen trauen konnte. Ob alle Beziehungen zum Scheitern verurteilt waren.

Doch davon konnte ich Noah schlecht was sagen.

»Aber ... da wäre noch die winzige Kleinigkeit, dass wir erst fünfzehn sind«, erklärte ich, wobei ich versuchte, die Stimmung etwas aufzulockern.

»Na und?« Seine Augen begannen zu leuchten. »Ich liebe dich auch. Deshalb sollten wir es echt tun. Wäre doch ein Spaß! Und total aufregend!«

»Und illegal. Ich glaube, zum Heiraten muss man achtzehn sein.« Ich hob die Hände über den Kopf und streckte mich. »Außerdem müssten wir dazu von diesem Sofa aufstehen.«

Mit Nachdruck legte er seine Hand in meine. »Ich wette, wir bringen einen Rabbi dazu hierherzukommen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich so gern in einer Yogahose heirate. Vielleicht wenn sie weiß wäre und nicht schwarz.«

»Okay, hast recht.« Er küsste mich auf die Stirn. »Aber ich würde es wirklich tun.«

Ich kuschelte mich an das weiche Fleece. »Ich ja auch«, murmelte ich, und ich wollte ihn nie wieder loslassen.

NEUIGKEITEN FÜR NOAH

»Du wirst nicht glauben, was passiert ist«, sagte ich, kaum dass ich in Noahs Wagen gestiegen war.

Sein dunkles Haar war feucht und wellig, genau wie ich es liebte. Heute Abend trug er graue Jeans und seine aufgeplusterte neongelbe Jacke, die irgendwie cool aussah an ihm. Er war total dünn und nicht so recht zufrieden mit seinem Körper – auch wenn es dafür absolut keinen Grund gab –, und er hätte gern etwas kräftiger ausgesehen. Er gab mir einen dicken Schmatz auf die Lippen. »Lass mich raten. Du willst mich auf dem Rücksitz verführen?«

»Hahaha«, sagte ich. »Nein. Tut mir leid. Ich kann heute Abend nicht an Sex denken. In meinem Leben steht momentan alles Kopf.«

»Okay«, meinte er, wobei er ein klein wenig verwirrt und auch enttäuscht klang.

»Gestern hat mein Dad sich vor mich hingesetzt und mir erklärt, dass wir alle nach Cleveland umziehen. Cleveland! Zwar nicht ganz so weit weg wie Frankreich, aber mal im Ernst! Was läuft bloß schief bei meinen Eltern?«

Sein Lächeln verschwand. »Du ziehst weg?«

»Denkst du etwa, ich würde dich verlassen? Auf keinen Fall.« Ich streckte die Hand aus und ließ meine Finger über sein Knie wandern. »Ich geh nirgendwohin.«

»Sie ziehen also nicht um?«

»Doch. Sie schon. Aber ich darf hier bei Vi bleiben!«

»Vi?« Er wirkte irgendwie schockiert.

»Ja!«

»Und was ist mit deinem Dad und Penny?«

»Sie ziehen weg!«

»Und lassen dich bei Vi. Für wie lange denn?«

»Den Rest des Schuljahrs. Mindestens bis zum Ende des Schuljahrs. Ich bleibe in Westport!«

»Du bleibst in Westport ... meinetwegen?«

»Ja!« Sekunde. Na ja, irgendwie schon. Ich hatte nur einen Spaß gemacht, aber ich wollte seine Gefühle nicht verletzen. »Hauptsächlich wegen dir. Aber auch wegen Marissa und der Schule und ... du weißt schon. Mein Leben ist eben einfach hier.«

Ihm fiel das Kinn runter. »Wow.«

»Ja, cool, nicht? Ich werde bei Vi wohnen!«

Er legte den Kopf schief. »April, mir ist klar, dass du Vi für eine Fleisch gewordene Göttin hältst ...«

Häh? »Tu ich doch gar nicht.«

»Doch. Tust du. Aber sie ist irgendwie anstrengend. Bist du dir sicher, dass du mit ihr zusammenwohnen willst?«

»Klar«, fauchte ich. »Sie ist eine meiner besten Freundinnen. Und außerdem ist die Auswahl in dem Fall eher bescheiden.«

»Ist Vis Mom nicht total schräg?«, wollte Noah wissen.

»Nein, sie ist cool, aber das ist ja auch egal. Weil das ist nämlich das Krasseste: Sie ist gar nicht daheim. Sie geht für eine Weile nach Chicago. Und anschließend nach Tampa oder so. Allerdings weiß mein Dad davon nichts.«

Verwundert schüttelte er den Kopf. »Häh?«

Ich erklärte ihm alles, wobei ich immer hibbeliger wurde.

»Also nur du und Vi?«, sagte er, als ich fertig war.

»Mhm.«

»Das ist ja ... echt erstaunlich«, meinte er, die grünen Augen weit aufgerissen.

»Ich weiß.«

»Wann ziehen dein Dad und Penny denn weg? Und wann ziehst du zu Vi?«

»Am dritten Januar wahrscheinlich. Der Tag, an dem du zurückkommst.« Ich fand es voll schrecklich, dass er wegfuhr. Echt Mist, dass er über Silvester weg war. An Silvester ließ er mich jedes Jahr allein.

»Das ist doch alles total verrückt«, meinte er und legte den Arm um mich. »Aber ich versteh immer noch nicht, warum wir nicht heute Abend bei dir daheim Sex haben können.«

Ich verdrehte die Augen. »Weil ich total durch den Wind bin. Weil meine Eltern, wenn sie uns aus irgendeinem Grund erwischen, mich zwingen würden, mit ihnen nach Cleveland zu gehen, und dann würde ich dich nie wiedersehen. Weil wir in gerade mal acht Tagen einen ganzen Keller für uns allein haben werden.«

Er lächelte. »Einen ganzen Keller, wie? Wir können es dann also überall in dem Keller tun?«

»Ja. Aber vielleicht tun wir es doch besser im Bett.« Ich

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Ten things we did (and probably shouldn’t have)bei Harper Teen, New York

Copyright © 2011 by Sarah Mlynowski

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: Sabine Kranzow Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München, unter Verwendung eines Fotos von © Frauke Fischer-Ikeda/Blaublut Edition Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

eISBN 978-3-641-08592-6

www.heyne-fliegt.de

www.randomhouse.de

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