Ich werde heute nicht an sie denken - Adelhard Winzer - E-Book

Ich werde heute nicht an sie denken E-Book

Adelhard Winzer

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Beschreibung

Ich werde heute nicht an sie denken ist ein tagebuchartiger Roman über einen Einzelgänger. Name: Leonhard Breidenbach. Alter: Mitte dreißig. Musikliebhaber, Zyniker. Sein Spruch lautet: Immerzu redet mir jemand drein. Das Geschäft, die Freundin, der Nachbar. Und immer nur in Gedanken. Das ist mein Problem. Ich lebe in den Gedanken anderer. Und sie in mir. Hin und her gerissen von dem Wunsch nach Unabhängigkeit und einem erfüllten Leben mit einer Frau, lernt Leonhard Martha kennen, die in Scheidung lebt, Motorrad fährt, nach außen hin unnahbar erscheint, damit jedoch ihre Unsicherheit nach der Trennung von ihrem Mann kaschieren möchte. Erste Annäherungsversuche scheitern an Leonhards ungestümer Art, entgegengesetzter Ansichten, Marthas Verschlossenheit. Leonhard wendet sich ab, sucht sein Glück bei anderen Frauen. Martha, noch fasziniert von seiner unkonventionellen Art, lädt ihn zum Essen ein. Beide kommen sich näher, sehen sich fast jeden Tag, planen eine Reise, glauben tatsächlich füreinander geschaffen zu sein. Die Aufzeichnungen enden mit Leonhards Umzug in Marthas Wohnung, einen Tag vor der geplanten Reise, mit der ihr gemeinsames Leben beginnt.

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„Ich werde heute nicht an sie denken“ ist ein tagebuchartiger Roman über einen Einzelgänger. Name: Leonhard Breidenbach. Alter: Mitte dreißig. Musikliebhaber, Zyniker. Sein Spruch lautet: Immerzu redet mir jemand drein. Das Geschäft, die Freundin, der Nachbar. Und immer nur in Gedanken. Das ist mein Problem. Ich lebe in den Gedanken anderer. Und sie in mir.

Hin und her gerissen von dem Wunsch nach Unabhängigkeit und einem erfüllten Leben mit einer Frau, lernt Leonhard Martha kennen, die in Scheidung lebt, Motorrad fährt, nach außen hin unnahbar erscheint, damit jedoch ihre Unsicherheit nach der Trennung von ihrem Mann kaschieren möchte. Erste Annäherungsversuche scheitern an Leonhards ungestümer Art, entgegengesetzter Ansichten, Marthas Verschlossenheit. Leonhard wendet sich ab, sucht sein Glück bei anderen Frauen. Martha, noch fasziniert von seiner unkonventionellen Art, lädt ihn zum Essen ein. Beide kommen sich näher, sehen sich fast jeden Tag, planen eine Reise, glauben tatsächlich füreinander geschaffen zu sein. Die Aufzeichnungen enden mit Leonhards Umzug in Marthas Wohnung, einen Tag vor der geplanten Reise, mit der ihr gemeinsames Leben beginnt.

Adelhard Winzer, geboren in Karlshuld, Donaumoos, lebt heute im Chiemgau. Erlernte das Bäckerhandwerk. Spielte mit sechzehn in der ersten Band. War Discjockey und als Berufsmusiker in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterwegs. Veröffentlichte ein Kinderbuch. Arbeitete in einer Großbank. Wurde zur Lesung in den Grünen Salon der Volksbühne Berlin eingeladen. Belegte den dritten Platz beim Fränkischen Kurzgeschichtenpreis. Widmete sich, nach dem Eintritt ins Pensionsalter, endgültig dem Schreiben und Zeichnen.

Immerzu redet mir jemand drein.

Das Geschäft, die Freundin, der

Nachbar. Und immer nur in Gedanken.

Das ist mein Problem. Ich lebe

in den Gedanken anderer.

Und sie in mir.

Inhaltsverzeichnis

MEIN NAME IST SCHMIDT

MINISTRANT

TRÄUME

DAS HÜNDCHEN

CRANS MONTANA

DER PREISTRÄGER

LA PALOMA

DIE VOLLMACHT

SABRINA

ANGST

VERTRETUNG

HANDSCHELLEN

KONTROLLE

ROSWITA

DER VERTRETER

SONDERMARKEN

ABLÖSE

DER WERTBRIEF

DIE BETRIEBSFEIER

GLÜCK

PLATTENSPIELER

SCHWARZE NYLONS

DAS NOTIZBUCH

HOTEL LEOPOLD

FREUNDE

ABLENKUNG

GELD IST NICHT ALLES

DIE VERABREDUNG

DIE ROTE LEDERJACKE

NAMEN

DAS HERBSTFEST

ALLEIN

DOPPELHAUSHÄLFTE

DAS NOTIZBUCH

SUPERVISOR

SOZIALE KONTAKTE

SCHULDGEFÜHLE

DER TRAUM

OHRRINGE

WEINTRAUBEN

DER VERGLEICH

DIE FAHRT

GEDULD

NACHT

DIE CHEFIN

LIEBE

ARABISCHE MUSIK

REGEN

BOEVES PSALM

AKUSTIK

DER UNFALL

WEIHNACHTEN

DAS ERWACHEN

DIE MÜTZE

ETWAS IST ZU ENDE

DAS NOTIZBUCH

EIN NEUER TAG

HIGH TIME WE WENT

SCHLAFTABLETTEN

DER SCHAUKELSTUHL

FASCHING

DIE MÖWE

ALLES ODER NICHTS

DER TRAUM

FRAU EPSTEIN

WETTERBERICHT

MEIN NAME IST SCHMIDT

Heute auffallend schnell aus dem Bett gekommen (gleich nach dem Weckerläuten.) Dann doch wieder nur getrödelt, vor allem im Bad. Das Wetter angenehm warm. Mit Jackett und Krawatte ins Büro. Schwarze Hose mit Bügelfalte! Die Kollegen reißen gleich Sprüche, wie sie mich so rausgeputzt sehen. „Alles in Ordnung?“, frage ich.

Layla, von der Zentralbank, blickt mich oft so erwartungsvoll und fragend an. Am Vormittag stolziert sie durch die Halle der Giro-Abteilung, dreht ihren Kopf zur Seite und sagt: „Sie sind ja noch ganz allein!“ – „Setzen Sie sich zu mir, dann bin ich es nicht mehr“, hätte ich antworten sollen. Das fiel mir aber erst hinterher ein.

Mittags gesehen, dass ein Neuer in der Expedition ist. Er schwitzt sehr viel und er reicht mir die Hand. Am Nachmittag bemerke ich, wie sich der kleine Müller freut, dass er ihm was sagen darf.

Zuhause die angenehme Kühle im Treppenhaus. Im Flur ein mir unbekanntes Frauenparfüm. Vor der Tür meiner Nachbarin ein Zet tel. Am Klingelknopf noch immer das Namenschild ihrer Vorgängerin.

Keine Lust wegzugehen, obwohl schönes Wetter ist. Ich sitze im Zimmer, blättere meine Notizbücher durch, denke dabei an die Frau von der Giro-Abteilung, die stets ohne BH erscheint (da bin ich mir sicher), sehr schnippisch ist und mich, weil ich manches in diesem Haus noch nicht verstehe, von oben herab behandelt. Ich sage meist nur: „Grüß Gott, schöne Frau!“, starre dabei absichtlich auf ihre kleinen Punkte und kann sehen, wie sie hart werden, während sie meine Papiere ordnet. Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Manchmal, wenn sie durch die Halle geht, pfeift sie. Ich muss zugeben, dass sie sehr selbstbewusst wirkt. Einmal habe ich gefragt, wie sie heißt: „Layla, aber das hat nichts mit der Bibel zu tun!“ Ich weiß nicht, ob sie verheiratet ist oder allein lebt. Vielleicht hat sie auch nur den falschen Mann erwischt.

Roswitha angerufen, die ich endgültig verlassen habe, aber die Leitung ist belegt. Beim zweiten Versuch so ein ungutes Gefühl, dass ich gleich wieder auflege.

Jemand läutet an der Tür. Ich weiß, das Klingelzeichen kommt von unten. Ich gehe auf den Balkon. Aber es ist dunkel vor der Eingangstür. Ich schalte die Beleuchtung ein, beuge mich weit übers Balkongeländer. Kein Mensch ist zu sehen. Auch nicht an der Wohnungstür.

Von Layla geträumt und Roswitha. Beide ergeben eine Person. Als ich sie berühren will, trennen sie sich wieder. Roswitha erzählt von einem Herrn Braun, der geliebt werden will von allen Frauen, nur nicht von ihr. Layla zieht sich in der Giro-Abteilung ein frisch gestärktes Herrenhemd an. „Das steht Ihnen aber gut!“, sage ich. „Sonst noch was?“, fragt sie.

Barfuß und ungewaschen gehe ich durch den Flur. Ich erwarte eine wichtige Nachricht, erkenne von weitem bereits, dass der Briefkasten leer ist. Trotzdem gehe ich hin und öffne.

Es stimmt gar nicht, dass ich Roswitha angerufen habe, es war Sabrina.

Ich ziehe den Vorhang zurück, blicke auf die Straße. An der Kreuzung ein ungleiches Pärchen. Der Mann, einen Kopf größer als die Frau, will anscheinend nicht größer sein. Leicht gebeugt geht er neben ihr her.

Ich könnte die Wohnung aufräumen, Bücher ordnen, einen langen Spaziergang machen. Vielleicht auch Sabrina anrufen. Aber die Redepausen sind immer so deprimierend. Wäre ich ein allseits bekannter Fotograf, würde ich rausfahren mit ihr, mich ein bisschen ausgeflippt geben. Ich weiß, das würde ihr schon gefallen. Wieder wäre sie auf der Titelseite und alle Frauen würden denken: „So wie die möchte ich sein!“

Eine Amsel singt auf dem Balkon. Ich gehe zur Tür und sehe, wie sie mit schnellen ruckartigen Schlägen ein paar Brotkrümel aufpickt, ihren Kopf hebt, wieder zu singen anfängt, sich plötzlich vom Balkon fallen lässt wie ein Kamikazeflieger, kreischend in hohem Bogen über dem Wohnblock verschwindet.

Wie stumm und verschwiegen die Leute hier aneinander vorbeigehen. Nur jene, welche einen Hund an der Leine führen, scheinen zu leben. Wie sie reden mit ihnen in ihrer Babysprache!

Der Apotheker, unten am Eingang, schaut neu gierig durchs Fenster, wenn jemand vorbeigeht an seinem Geschäft. Er hat den Zugang zum Wohnblock voll in seinem Blickfeld. „Der kontrolliert euch doch alle!“, hat Roswitha gesagt.

Als ich das letzte Mal bei ihr war, lag das Mühlebrett griffbereit auf ihrem Bett. Sie liebte es, Mühle zu spielen, eigentlich alle Arten von Spiele. Außer Schach. „Mühle geht schneller“, sagte sie. „Schach ist was für die Alten, und das bin ich nicht!“

Wenn sie spielte, dann mit leicht gebeugtem Oberkörper und angewinkelten Armen, so dass ich ihre Spielzüge nicht sehen konnte. Das war ihre Art. Ich weiß, keine Absicht, wir haben oft darüber gesprochen. Roswithas Mühle. Sie war sehr gewieft, gewann beinahe jedes Spiel. Nur verlieren konnte sie nicht. Ich auch nicht, das gebe ich zu. Wir waren beide schlechte Verlierer.

Unsere erste Begegnung fand in einem schäbigen Büro statt. Zwei Räume mit Tischen und Stühlen, Telefonapparate, damit machten wir Kundenfang. Ein Blatt aus dem Telefonbuch, und zehn bis zwölf Personen, jeder mit einem anderen Spruch: „Guten Tag, spreche ich mit Frau Maier, mein Name ist Schmidt, vom Wirtschaftskommunikationszentrum! Frau Maier, Sie wurden ausgewählt und haben die Chance, eine deutsche Tageszeitung zu testen, vierzehn Tage lang, völlig kostenlos und unverbindlich – im Anschluss daran erhalten Sie das Blatt zu einem einmaligen Vorzugspreis!“ So in der Art, und zwei Abonnenten am Tag war Pflicht. „Wer es nicht schafft, fliegt raus“, sagte der Personalchef. Die Arbeitsmoral war dementsprechend. Aber sie schaffte es. Sie fiel auf durch ihre ruhige Art, man hörte sie kaum am Telefon. Trotzdem hatte ihr Wesen etwas Überlegenes. Unauffällig ihre Kleidung, nichts überbetont. Ich dachte, so eine Frau gibt es nicht mehr. Wir sprachen nur wenig, und wenn, nur Alltägliches. Nie zuvor wurde mir das so bewusst!

Zwei Mädchen, sehr jung noch, spazieren über die Straße. Die eine fällt sofort auf mit ihren schwarzen Haaren, die ihr weit über die Schulter reichen. Sie schaut unentwegt geradeaus, spricht anscheinend dabei, während die andere mit hochgezogenen Schultern unterwürfig zu ihr hinüberblickt. Ihr Wesen hat etwas Verlorenes, Anbiederndes. Wie sie ihre Freundin hofiert! Sich selbst erniedrigt für ein Lächeln.

Die Tür zum Balkon bewegte sich im Wind, fiel aber nicht ins Schloss. Trotzdem hielt ich jedes Mal die Hand dazwischen.

Ich drehte das Radio auf, fand aber nichts. Ich ging wieder zur Tür. In der Küche bemerkte ich, dass die Kaffeemaschine eingeschaltet war. Ich öffnete den Behälter, fingerte den Beutel mit den feuchten Kaffeeklumpen heraus, warf ihn in den Müll. Ich ging ans Telefon, nahm den Hörer und wählte, legte ihn wieder auf. Ich betrachtete meine Fingernägel. Ich ging hinaus auf den Balkon, blickte durch die offene Tür ins Zimmer.

„Kannst du mich später mal anrufen“, fragte Roswitha. „Nein, kann ich nicht, es brennt in der Wohnung!“ – „Bloß keine Scherze, du wolltest doch, dass ich anrufe, also melde dich, wenn du was willst – oder warst du das nicht auf dem Anrufbeantworter?“ Ich ging nicht darauf ein, erzählte ihr etwas von der Kaffeemaschine. „Das ist nur ein Trick, um mich abzulenken.“ – „Nein“, sagte ich, „die hat richtig geglüht!“ – „Immerhin etwas!“, meinte sie und beendete das Gespräch.

MINISTRANT

In der U-Bahn ein Mädchen, sechzehn vielleicht, ist hergerichtet wie eine Nutte. Fetter Lippenstift, Rouge auf den Wangen, schwarze Netzstrümpfe, hochtoupiertes Haar. So ein kurzes Röckchen, dass man jetzt, wo sie mir gegenübersitzt, ihre weißen Strapse sehen kann. Sie geniert sich nicht. Kaugummi kauend, mich völlig ignorierend, blickt sie umher, hört plötzlich auf zu Kauen, starrt mit halb geöffnetem Mund auf meine Brust. Ich richte mich im Sessel auf. Sie leckt sich die Lippen, blickt haarscharf an mir vorbei.

Als ich Ministrant war, erschien mir dieses Mädchen oft im Traum. Ich wachte auf, und beschmutzte mir die Hände. Aus Angst vor meinem Vater begann ich zu lügen.

Ich stieg aus, wusste nicht wohin. Ich versuchte an nichts zu denken. Ich ging schneller. Ich brachte sie nicht aus dem Kopf. Ich dachte, sie hat einen kleinen Mund und angewachsene Ohrläppchen, daran werde ich sie wieder erkennen!

Ich blieb stehen, drehte mich um. Eine braune Katze saß auf der Treppe, lauernd, hinterhäl tig wie ein Mensch. Sie folgte mir.

Ich bemerkte eine Frau auf einem Balkon, die vorgab, ihr Fenster zu putzen. Wie sie innehielt, neugierig in meine Richtung blickte. Ich beobachtete sie mit gesenktem Kopf. Sie wechselte ihr Tuch, fuhr mit schwungvollen Bewegungen über die Scheibe. Ihr breiter Rücken dabei, ihr aufgestecktes Haar. Rückwärts ging sie ins Zimmer hinein.

Ein Obsthändler, der mit seinem Karren neben der Straße stand, rief: „Obst und Gemüse!“ Ich blieb stehen, kaufte zwei Orangen. Beim Weitergehen fiel mir eine schwarzgekleidete Frau auf, die, ihr Gesicht dem Obsthändler zugewandt, unentwegt lächelte. Als sie der Händler bemerkte, wurde ihr Lächeln zum Grinsen. Sie ließ ihren Kopf zurückschnellen, kam direkt auf mich zu. Nun trafen sich unsere Blicke. Da rief der Obsthändler: „Hallo, Sie haben ihre Orangen vergessen!“

Auf der Straßenseite gegenüber stand ein älterer Herr, Hand in Hand mit einem Kind. Nach dem Umschalten der Ampel überquerten sie die Straße. Allmählich wurde das Kind erwachsen, auf gleicher Höhe uralt, aber so zierlich und schlank, dass ich mich umdrehte. Der Mann bemerkte, dass ich sie beobachtet hatte, blieb stehen und flüsterte: „Ich weiß, was Sie denken.“

Ein Passant fragte mich nach einem Altersheim. „Sankt Anna“, sagte die Frau neben ihm. Ich blickte zur Seite. Kastanienblüten wirbelten über den Gehsteig, in den Baumkronen rauschte der Wind. Über den Wipfeln, weithin sichtbar, die Kuppel einer Kathedrale. „Ich bin nicht von hier“, sagte ich laut.

Wieder zuhause, ließ ich das Bad ein. Ich legte mir frische Handtücher parat. Ein Hemd (Geschenk von Roswitha), Jeans und Pullover. „Beeilung!“, rief ich, als würde jemand warten auf mich.

Ich spazierte im Zimmer umher, berührte ein paar Gegenstände, ging nochmal ins Bad. Das Wasser gurgelte in der Wanne. Es roch nach Brenn-Nessel und Mandelblüte. Ich öffnete das Fenster. Ich setzte mich, stand wieder auf. Ich ging ans Telefon. Auf dem Balkon fing eine Amsel zu singen an. Ich nahm den Hörer und wählte. Ich atmete tief. Mein Mund wurde trocken. Ich ging hinaus auf den Balkon. Ein Junge überquerte langsam die Straße, zielte mit einer Drehung aus der Hüfte auf mich. Aus einem weit geöffneten Fenster ertönte eine Stimme: „Vor Einbruch der Dunkelheit kehrst du zurück!“ Als Kind malte ich gerne mit Wasserfarben. Ich kannte jedes Tarzanheft. Ich schrieb einen Artikel für die Zeitung, wartete sehnsüchtig auf das Erscheinungsdatum. Nichts war erschienen. Mein Freund konnte Mundharmonika spielen. Er ging nach Amerika und hatte Erfolg. Mich gab es noch gar nicht. Mit neun Jahren wäre ich beinahe ertrunken. Dann wurde ich Ministrant. Früh raus und abends zum Gebetläuten. Ich versteckte mich oft im Wald. Gott sei Dank habe ich nie etwas unterschreiben müssen wie: „Das sehe ich ein, dass es so nicht weitergehen kann – meine Führung lässt zu wünschen übrig – habe einen schlechten Charakter – weiß ich – werde ich – muss ich!“ Der Hauptlehrer in unserer Schule hatte ein ernstes Gesicht, eine unsichtbare Narbe. Der Schulhof war der Paradeplatz. Blickte mir ein Lehrer in die Augen, bekam ich ein Schuldgefühl. Als Ministrant durfte man während der Unterrichtsstunden zum Messdienst. Glaubte man nun, der Schule entronnen zu sein, hatte man sich getäuscht, gleich setzte der Hauptlehrer mit dem Orgelspiel ein. Einmal haben zwei Halbwüchsige eine erwachsene Frau an einen Telegrafenmast gefesselt und nackt ausgezogen. Das Wirtshaus ist eine ähnliche Einrichtung wie die Schule. Bald folgte die erste Kirchturmbesteigung. Die Treppen knarrten wie im Film, geheimnisvolle Türen ohne Griff. Im Glockenstuhl hielten wir uns die Ohren zu. Während der Erntezeit besuchten uns oft fremde Männer. Mein Vater sagte dann meist: „Max“ oder „Sepp, du weißt am Montag hat der Michel die Maschine, soll ich mich zerreißen?“ Die Mädchen waren nett zu mir. Vom langen Knien in der Kirche bekam ich Kopfweh. Die Sonntage waren ausgefüllt mit Fußball und Kino. Vor dem Beichtunterricht sagten die Mutigsten: „Ich habe genascht, ich habe gestohlen, ich habe die Katze beim Schwanz gezogen.“ Bald lernte ich, dass die Wahrheit verhasst ist. Zuhause wurde nicht viel diskutiert. Mit fünfzehn hatte ich das Gesicht voller Pickel. Einmal hörte ich im Radio Akkordeonmusik, dass ich mich auf den Boden warf und weinte. Gibt einer das Rauchen auf, fallen Worte wie willensschwach, ohne Charakter, Lunge, pelziges Gefühl. Es ist eine uralte Weisheit, dass Leute, die einen Hund haben, liebesbedürftig sind. Hunde gelten mehr als Kinder.

TRÄUME

Heute ist der Geburtstag meines Vaters. Mutter holt ihn ans Telefon. „Natürlich, ich komme zu der Feier“, sage ich. Mein Mund ist ganz trocken, schmeckt nach Eisen und Blut. Ich schalte den CD-Spieler ein: PACO DE LUCIA PLAYS MANUEL DE FALLA. Gegenüber der südländische Koch, wie immer mit nacktem Oberkörper. Ich weiß nicht, was er von Beruf ist, ich bezeichne ihn nur so. Wochenlang sieht man ihn nicht, dann steht er plötzlich wieder auf dem Balkon. Auch meine neue Nachbarin hat sich bemerkbar gemacht. Sie spielt Querflöte. Tremolos, Synkopen. Sehr gefühlvoll, und aggressiv. Ich habe ihr zugehört heute früh. Jetzt steht sie hinter ihrem Fenster. Als sie mich sieht, stößt sie die Balkontür zu. Erst vor kurzem ist ein neuer Mieter eingezogen über mir. Kellner von Beruf, was ihm aber nicht das Recht gibt, sich mitten in der Nacht zu duschen oder Freunde mitzubringen. Glaube ich endlich weiterschlafen zu können, beginnt er wieder zu rumoren. Jetzt läuft der zweite Titel von Manuel De Falla – Einleitung mit Querflöte. Ich drehe die Lautstärke auf, drücke die Wiederholungstaste. Der Kellner über mir zeigt keine Reaktion. Auch meine Nachbarin nicht.

Ich ziehe mich an. Schließe die Tür hinter mir. Langsam gehe ich durch den Flur, bleibe wieder stehen. Der Zettel klebt weiterhin an der Tür. Das Namenschild noch nicht ausgewechselt. Ich kann hören, wie sie übt, sehr schräg jetzt und falsch. Womöglich ihre Antwort auf meine Lautstärke. Oder lebt sie mit einem Mann zusammen? Ich drücke zweimal auf die Klingeltaste. Niemand öffnet, kein Schatten im Türspion. Nur der Apotheker beobachtet mich jetzt beim Überqueren der Straße.

Die „Frau Chefin“ im Cafe, wie sie ihre Verkäuferinnen vor der Kundschaft zusammenschreit, schließlich weiterbedient, als sei nichts geschehen. „Haben Sie gesehen, heute gibt es jedes Stück Torte wieder zum halben Preis!“ Ihr spöttischer Mund dabei, ihre blutroten Wangen.

Vor dem Eingang zur U-Bahn ein Akkordeonspieler. Seine Mütze ist leer. Während ich vorbeigehe, beginnt er LA PALOMA zu improvisieren. Als wüsste er, dass mich das Lied an meinen Vater erinnert.

Von der Zentralbank aus Roswitha angerufen. Sie behauptet, alle Briefe von mir weggeworfen zu haben. „Weggeworfen?“, frage ich. „Nicht alle“, sagt sie, „ich habe aussortiert!“

Auf der Toilette ein Spiegel. Für einen Moment weiß ich nicht, wie alt ich bin. Meine Haare über der Stirn leicht angegraut, schmale Lippen. Sechsunddreißig Jahre alt! Die Augen ruhig. Im Gesicht nichts Befremdendes festzustellen.

Ich frage mich, was sie mir zu sagen gehabt hätte gestern (und ich weiß, dass sie zwei Mal angerufen hat – ohne ihren Namen zu nennen), kurz vor Mitternacht, wo ich doch „gestorben“ bin für sie.

Der Chef fragt: „Wie alt ist Ihr Vater?“ Ich antworte nicht, weil jemand dazwischenkommt. Jetzt glaubt er womöglich, ich will ihm etwas verheimlichen. Ich weiß, das klingt übertrieben, aber ich kenne den Chef.

Ich stehe als einziger Kunde in einer Buchhandlung, betrachte ein paar Neuerscheinungen, die auf einem Tisch ausliegen. Ich blättere darin, suche eine bestimmte Passage, die mich sehr interessiert, als mir plötzlich ein Mann gegenübersteht. Ich blicke nicht auf zu ihm, nur bis zu sei ner Jackentasche. Eine Hand steckt darin, und der Daumen ist zu sehen. Er steht völlig unbeweglich, wie ausgestopft vor mir. Ich lege die Bücher zurück auf den Tisch, gehe langsam zum Ausgang. Obwohl ich nichts gekauft habe, drückt mir die Verkäuferin einen Kassenzettel in die Hand.

Ich putze drei Paar Schuhe, kaum bin ich fertig damit, beginne ich von vorne: Kleine rote Stöckelschuhe.

Was ist Stolz?

Man kann reden mit dem Chef, ich weiß, fast über alles. Wenn er gut gelaunt ist, erzählt er mir sogar seine Träume. Gibt sie aber als die eines Bekannten oder Verwandten aus oder er tut so, als seien sie aus einem Witzheft. Ich mache es genauso. Er verbindet sie dann mit einer Frage, die ich nicht beantworten kann. Manchmal erscheint er mir nicht ganz geheuer. Kaum habe ich es gedacht, entgegnet er: „Herr Breidenbach, Sie sind mir nicht mehr ganz geheuer!“

Bevor ich die Expedition verlasse, sammle ich die Geschäftspost ein. Mein Kollege Richard, der alles und jeden ausnutzt, um nach oben zu kommen, meint: „Du kennst dich doch mit Träumen aus.“ – „Nein“, entgegne ich, „geh lieber zum Chef!“ Den Satz hätte ich besser nicht gesagt. „Was“, sagt er, „delegieren kannst du auch?“

DAS HÜNDCHEN

Die U-Bahn ist hoffnungslos überfüllt. Ein Halbwüchsiger zwängt sich durch die Tür, steht unvermittelt neben mir. Modegeck mit Pomade im Haar und seidigen Wimpern, widerlich! Womöglich erklärt ihm das Fernsehen täglich, er sei das neue Traumgesicht. Er riecht nicht, er stinkt! Demonstrativ halte ich mir die Nase zu. Der Riemen seiner übergroßen Umhängetasche drückt ihm die Schulter platt. Was versteckt er darin? „Mördervideos?“ – „Kinderpornos?“ – „Kleine bunte Kügelchen?“ Die Frau vor mir mit dem Supermarktgesicht sieht mich an, als wüsste sie alles über mich. Der Junge raubt mir die Luft! Ich blicke zur Seite und gleich wieder hin. Jetzt senkt sie ihren Blick. Die U-Bahn verlangsamt ihre Fahrt, bleibt stehen. Bloß kein Gespräch beginnen, mit niemandem! Ich schließe meine Augen. Unerwartet fährt die U-Bahn weiter. Der Junge steigt aus mit mir. Jetzt bloß kein falsches Wort! Die Briefe liegen feucht und zer knittert in meiner Hand. Vor einem BACKSHOP bleibe ich stehen. Widerwillig öffne ich die Tür, da fällt mir die Fahrkarte aus der Hand. „Zwei Brezen“, sage ich, „und zwei Semmeln.“ Die Brezen gebe ich gleich wieder zurück, als ich sehe, wie versalzen sie sind. „Zwei Brötchen also“, sagt die Verkäuferin. „Nein, zwei Semmeln!“, entgegne ich.

Vor dem Postgebäude steht eine Frau in weißgeblümtem Kleid. Ein kleines Hündchen blickt fragend zu ihr auf. Ich verlangsame meinen Schritt. Blaue Augen, schmale Nase, sinnlicher Mund, dicht daneben ein kleines Muttermal. Gelangweilt betrachtet sie ein Plakat. Jetzt blickt sie sich um. Ich gehe weiter. Sie hat mich bemerkt! Sie rollt ihre Zunge im Mund. Ihre hohen Backenknochen bewegen sich langsam. Sie hat schöne lange Fingernägel. Sie flüstert etwas, was ich nicht verstehe. Sie kommt auf mich zu. Langsam strafft sie ihren Körper. Deutlich zeichnen sich ihre Brüste ab unter dem Kleid. Wie entwaffnet bleibe ich stehen. Nur ein Schritt trennt uns noch. Sie bläht ihre Nüstern. Ich spüre ihren Atem. Ich rieche ihr scharfes Parfüm. Ich fühle sie, ich spüre sie! Das Hündchen hat etwas bemerkt, tänzelt auf mich zu, schnüffelt an meinen Schuhen. „Darf es mit in die