If the Moon Triumphs - Fam Schaper - E-Book

If the Moon Triumphs E-Book

Fam Schaper

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Beschreibung

»Das ist die Götterdämmerung, der Weltenbrand.«

Lilith ist eine Hexe ohne Zirkel. Sie hat der Magie abgeschworen, um ein normales Leben zu führen. Als sich dann jedoch ihr One-Night-Stand Marek in einen Werwolf verwandelt, ist sie gezwungen, sich ihrem Erbe zu stellen. Denn in Prag geschehen merkwürdige Dinge und der Winter endet nicht. Auf ihrer Suche nach Antworten stößt Lilith auf eine dunkle Verschwörung. Jemand hat das Ende der Menschheit beschworen. Und nur Lilith kann es aufhalten, doch der Preis dafür ist Mareks Leben. Nicht bereit, ihn zu opfern, bleibt ihr nur bis zum nächsten Vollmond Zeit …

Nordische Mythologie, Hexen und WerwölfeUrban Romantasy in Prag. Mit den beliebten Tropes Forced Proximity, Found Family & Slow Burn. Perfekt für Fans von Danielle Jensen und Kristen Ciccarelli.


"If the Moon Triumphs"  von Fam Schaper ist ein in sich abgeschlossener Einzelband, erschienen im Loomlight Verlag. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Lilith ist eine Hexe ohne Zirkel. Sie hat ihrer ungezähmten Magie abgeschworen, um ein normales Leben zu führen. Als sich dann jedoch ihr One-Night-Stand Marek in einen Werwolf verwandelt, ist sie gezwungen, sich ihrem Erbe zu stellen. Denn in Prag geschehen merkwürdige Dinge und der Winter endet nicht. Auf ihrer Suche nach Antworten stoßen Lilith und Marek auf eine dunkle Verschwörung. Jemand hat das Ende der Menschheit beschworen. Und nur gemeinsam können sie es aufhalten. Doch der Preis dafür ist Mareks Leben. Nicht bereit, ihn zu opfern, bleibt ihr nur bis zum nächsten Vollmond Zeit …

Nordische Mythologie, Hexen und Werwölfe – Urban Romantasy in Prag

Die Autorin

© Schaper Kommunikation

Fam Schaper wurde 1997 in der Nähe von Frankfurt am Main geboren, lebt aber seit einigen Jahren in Berlin. Sie hat schon New Adult-Romane veröffentlicht, doch seit ihrer Kindheit schlägt ihr Herz für Fantasy-Geschichten. Ihre Zeit verbringt sie am liebsten mit Freunden im Park, in Secondhand- und natürlich Buchläden. Neben ihrer Arbeit als Autorin ist sie auch als Lektorin tätig – sie beschäftigt sich also den ganzen Tag mit Geschichten und möchte damit auf keinen Fall wieder aufhören.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Loomlight auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Fam Schaper

If the Moon Triumphs

Loomlight

Liebe Leser:innen,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte.

Auf der letzten Seite findest du eine Themenübersicht,

die Spoiler für die Geschichte enthält.

Entscheide bitte für dich selbst,

ob du diese Warnung liest.

Wir wünschen dir das bestmögliche Leseerlebnis!

Fam Schaper und das Loomlight-Team

Für meinen Hexenzirkel,

meine tollen Freunde.

Ich liebe euch!

Playlist

Monsters – Ruelle

Dog Days Are Over – Florence + The Machine

W.I.T.C.H. – Devon Cole

Running with the Wolves – AURORA

Arsonist’s Lullaby – Hozier

Full Moon – The Black Ghosts

Line It Up (feat. LP) – Palaye Royale

How Villains Are Made – Madalen Duke

Trouble – Valerie Broussard

Game Of Survival – Ruelle

Seven Devils – Florence + The Machine

Holding Out for a Hero – Nothing but Thieves

you should see me in a crown – Billie Eilish

The Beginning of the End – Klergy, Valerie Broussard

Dear Arkansas Daughter – Lady Lamb

Nothing Matters – The Last Dinner Party

Black Magic – Magic Wands

Which Witch – Florence + The Machine

Civilian – Wye Oak

Yellow Flicker Beat – Lorde

Touch – Sleeping at Last

Breakeven – The Script

Kapitel 1

Eine Hexe braucht einen Zirkel.

Diese melodramatische Nachricht erwartet mich auf meinem Handy, als ich mit dröhnenden Kopfschmerzen in einem fremden Bett aufwache.

Meine Patentante Astrid sollte sich den Satz auf T-Shirts drucken lassen, denn ich kann nicht mehr zählen, wie oft sie ihn im letzten Jahr gesagt hat. Warum sie glaubt, nach der hundertfünfunddreißigsten Wiederholung eine andere Reaktion von mir zu erhalten als sonst, weiß ich nicht. Viel deutlicher kann ich nicht werden.

Ich habe kein Interesse, Teil des Zirkels zu sein. Ich habe kein Interesse an Magie.

Ich habe kein Interesse, eine Hexe zu sein.

Und ich habe ganz sicher kein Interesse an dem nackten Kerl, der seelenruhig neben mir schläft.

Ganz langsam bewege ich mich Richtung Bettkante. Natürlich quietscht das Bettgestell lautstark unter mir. Der Kerl regt sich, dreht mir sein Gesicht zu, doch seine Augen bleiben geschlossen.

Ich unterdrücke ein erleichtertes Seufzen.

Ich möchte nicht, dass er mir Frühstück anbietet, sondern weg sein, bevor er aufwacht.

Trotzdem verharre ich noch einen Moment unter der warmen Decke, da durch das angelehnte Fenster kalter Wind ins Zimmer dringt. Der Vorhang flattert wie ein müder Vogel mit seinen Flügeln. Sonnenstrahlen fallen aufs Bett. Dieses lächerlich sanfte Licht, das es nur ganz früh am Morgen gibt. Es scheint sein Gesicht zu streicheln. Dunkle Locken hängen ihm in die Stirn. Seine Züge sind so entspannt, als könnte er das Wort »Sorge« nicht einmal buchstabieren.

Das Bild, das sich mir bietet, ist so intim, dass mein Hals auf einmal zu eng ist, um zu schlucken.

Furchtbar.

Gestern bin ich auf die Dating-App gegangen, weil ich mich nach einem anstrengenden Abendessen mit meiner Patentante von meinen eigenen Gedanken ablenken wollte. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass dieses Date so … nah werden würde.

Ich schüttle meinen Kopf, als könnte ich die Erinnerungen an letzte Nacht abschütteln wie Staubflusen aus einer Decke.

Ich habe kein Interesse an ihm.

Also setze ich mich endlich in Bewegung, was das Bettgestell natürlich wieder aufschreien lässt. Zum Glück schläft er seelenruhig weiter. Der Fußboden ist eiskalt und sofort überzieht Gänsehaut meinen nackten Körper.

Schnell und so leise wie möglich tapse ich durch sein Zimmer und sammle meine Kleidung ein. Unterwäsche, BH, Socken. Sobald der Stoff der Socken sich an meine Haut schmiegt, fühle ich mich direkt besser, obwohl mein Mund noch immer staubtrocken ist und es hinter meiner Stirn pocht. Zu viel Wein. Definitiv zu viel Wein.

Die halbvolle Flasche, die wir gestern mit in sein Schlafzimmer genommen haben, steht noch auf dem Nachttisch. Wir waren zu beschäftigt, um sie auszutrinken.

Bevor ich mich an Details erinnern kann, schlüpfe ich in meine Jeans, Shirt und den dicken Pullover, den man im Winter in Prag definitiv braucht.

Auf meinem Handy suche ich nach der schnellsten Verbindung nach Hause, während ich mit meiner freien Hand bereits nach der Klinke greife. Aus irgendeinem Grund drücke ich sie jedoch noch nicht herunter, sondern verharre wie festgefroren an der Stelle. Ich starre die Tür vor mir so vorwurfsvoll an, als könnte ich sie für meine desaströsen Entscheidungen im letzten Jahr verantwortlich machen.

Du wirst dich nicht noch mal zu ihm umdrehen.

Doch natürlich drehe ich mich schon einen Moment später zu ihm um.

Marek.

So heißt er.

Nicht dass das eine Rolle spielt. Gleich werde ich seine Wohnung verlassen und ihn nie wieder sehen – und hoffentlich auch nie wieder an ihn denken.

Wir haben uns gestern über eine Dating-App kennengelernt, zu viel getrunken und miteinander geschlafen. Keine besonders originelle Geschichte. Auch keine besonders romantische. Und trotzdem war da … etwas zwischen uns.

Ich schüttle erneut den Kopf, obwohl das auch nichts an den hartnäckigen Gedanken ändert. Sie sind nicht wie Staubflusen in einer Decke. Sie sind wie Karamellbonbons am Gaumen. Klebrig und schwer loszuwerden.

Endlich wende ich mich von ihm ab, öffne die Schlafzimmertür und trete hinaus. Meine Schuhe und meine Jacke sind im Flur, der so lang ist, dass es mir vorkommt, als würde mich ein halber Kilometer von der Wohnungstür trennen.

Ich höre die Dusche hinter der geschlossenen Badezimmertür laufen, was wohl bedeutet, dass sein Mitbewohner schon wach ist. Da ich ihm nicht begegnen will, schlüpfe ich schnell in meine Jacke und in meine Stiefel. Ein Fehler, wie sich herausstellt. Denn ich falle leicht zur Seite, stolpere über ein Paar herumliegende Sportschuhe, und kann mich nur knapp an der Wand abfangen, bevor ich der Länge nach auf dem Fußboden lande. Dabei schmeiße ich den Ständer mit den Regenschirmen um – und mache sehr viel Krach.

Mein Herz wummert in meiner Brust, ich halte den Atem an.

»Lily?«, dringt es durch die angelehnte Schlafzimmertür. Er klingt verschlafen, seine Stimme ist belegt und müde und es hört sich ein bisschen so an, als würde ich noch neben ihm liegen und er mir meinen Namen vertraut ins Ohr flüstern.

Fuck, ich muss wirklich hier raus.

Laut knarzend warnt das Parkett mich vor, dass er näher kommt. Der Weg zur Wohnungstür ist zu weit, um der peinlichen Morgen-Danach-Routine zu entkommen.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, habe ich meine Hände schon erhoben. Eine richte ich auf den Blumenstrauß, der neben einer verwelkten Topfpflanze auf der Kommode steht, die andere auf seine Zimmertür.

Energie kribbelt in meinen Fingerspitzen, wandert durch meinen rechten Arm, rauscht dann durch meinen ganzen Körper und verlässt mich durch die linke Hand.

Das Gefühl ist so allumfassend, dass sich die Zeit für mich auszudehnen scheint. Dabei weiß ich, dass der ganze Prozess nur den Bruchteil einer Sekunde dauert.

Mareks Zimmertür schließt sich. Ich höre, wie er daran rüttelt, aber sie lässt sich nicht öffnen. Zumindest solange meine Magie hält. Ich sprinte zur Tür, reiße sie auf und flüchte ins Treppenhaus. Im Augenwinkel bemerke ich den nun verwelkten Blumenstrauß.

Ich laufe einfach an der Bushaltestelle vorbei, die mir mein Handy angezeigt hat, da ich zu viel Energie habe, um stehen zu bleiben. Der Wind peitscht durch die alten, schmalen Gassen, mein Mantel zerrt an mir, zieht mich zurück. Und doch spüre ich keine Kälte.

Schnellen Schrittes gehe ich unter einem Torbogen aus altem Stein entlang. Die Zeit hat manche Steine dunkler gefärbt als andere und mir kommt es so vor, als würde ich die Welt so glasklar wahrnehmen, dass ich das genaue Alter dieses Gebäudes mit bloßem Auge feststellen könnte.

Ich will mich miserabel fühlen, doch ich kann die Macht noch immer so unglaublich deutlich in meinem Körper pulsieren spüren. Wie ein zweites Herz. Wie ein lebendiges Wesen. Magie ist so viel berauschender als Alkohol. Mein Kater ist fort. Meine Hände sind warm. Sie sind nie warm. Meine Gedanken werden immer schneller.

Fuck, ich wollte das doch nie wieder tun.

Ich bin keine Hexe mehr, ermahne ich mich.

Ich habe der Magie aus guten Gründen abgeschworen. Aus sehr guten Gründen.

Doch gerade sind sie so weit weg, dass ich mich kaum noch an sie erinnern kann. So geht es mir immer, wenn ich gezaubert habe, aber dieses Gefühl ist nie von Dauer. Wenn das High nachlässt, bleiben nur meine Schuldgefühle zurück.

Magie ist Energie. Ich kann sie nicht aus dem Nichts wirken, sondern gewinne sie aus meiner Umgebung. Der Blumenstrauß ist der lebende – jetzt tote – Beweis.

Es wirkt harmlos. Und dieser Zauber war es auch, denn ein Blumenstrauß hat nicht viel Energie, die ich ihm nehmen könnte. Doch ich habe schon Magie von Orten beschafft, wo ich nie nach ihr hätte suchen dürfen …

Ich schaudere. Langsam lichtet sich der goldene Nebel, der sich nach dem Zaubern immer in meinem Schädel festsetzt. Und dahinter kann ich ausmachen, was mich dazu gebracht hat, meinem Erbe den Rücken zuzukehren.

Der Wind dringt durch die Nähte meines Mantels. Meine Zähne klappern leicht aufeinander. Ich begrüße die Kälte. Mein Kopf klart auf. Die Magie zieht sich aus meinem Körper zurück, bevor ich mit ihr Schaden anrichten kann.

Meine Patentante Astrid würde mir einen Vortrag halten, wäre sie jetzt hier. Geheimhaltung ist für Hexen das oberste Gebot. Dass ich in unmittelbarer Nähe zu zwei menschlichen Zeugen gezaubert habe und das auch noch ohne triftigen Grund – einem unangenehmen Gespräch zu entgehen, zählt nicht – ist grobe Fahrlässigkeit. Hexen wurden bereits vor Jahrhunderten verfolgt – die weiblichen mehr als die männlichen. Es ist uns nie gut bekommen, wenn die Menschen von uns erfahren haben. So viele von meinen Vorfahrinnen hat man in Seen ertränkt oder auf den Scheiterhaufen verbrannt. Ich habe ihr Andenken heute mit Füßen getreten.

Gut, dass ich keine Hexe mehr bin.

Dass mein Handy in diesem Moment in meiner Tasche klingelt, ist für mich eine willkommene Ablenkung von meinen dunklen Gedanken. Es ist Melli, die Erasmus-Studentin, die mit mir in einem kleinen Co-Working-Café nahe der Uni jobbt. Ich räuspere mich.

»Hey«, kriege ich ein bisschen heiser hervor.

»Wo steckst du? Du hättest schon vor fünfzehn Minuten hier sein sollen.«

Ein erleichtertes Seufzen kommt mir über die Lippen. Meine Schicht im Café zu vergessen, ist ein so wunderbar menschliches Problem. Es ist so normal. Damit kann ich gerade so viel besser umgehen als mit magischen Patentanten, intimen Tinder-Dates und meiner Unfähigkeit, meine Magie zu unterdrücken.

»Ich bin in zehn Minuten da. Kannst du mir den Rücken freihalten?«

»Ich hab Tommy schon gesagt, dass du einen Arzttermin hast«, meint sie seufzend. Unser Manager Tommy glaubt ihr jede Ausrede. Keine Ahnung, wie sie das hinkriegt.

»Danke dir. Bis gleich!«

Sobald ich auflege, merke ich, dass in der Zwischenzeit eine Nachricht von meiner Patentante Astrid eingegangen ist. Sie ist noch ein bisschen pathetischer als die erste. Wie wütend sie unser Streit von gestern Abend noch immer macht, kann ich deutlich in jedem Wort lesen.

Wir sind Nachfahrinnen der glorreichen Walküren.

Das schmeißt man nicht einfach weg!

Ich schmeiße gar nichts weg, denke ich wütend. Und schon habe ich wieder das Bedürfnis, sie anzuschreien. Genauso wie gestern Abend, als ich so hektisch von meinem Stuhl aufgestanden bin, dass er polternd hinter mir zu Boden gegangen ist.

Ich zwinge mich, das Handy wegzustecken und tief durchzuatmen, um meine Wut zu zügeln.

Während ich sehr bewusst ein- und ausatme, fällt mein Blick auf eine Pfütze vor mir. Das sanfte Morgenlicht spiegelt sich im Wasser, das sich zwischen den unebenen Pflastersteinen gesammelt hat, die sich vermutlich schon vor zweihundert Jahren durch schwere Kutschräder verformt haben.

Noch einmal glitzert die Oberfläche wie ein Edelstein. Dann erlischt das Licht.

Ich sehe gen Himmel. Eine dicke, graue Wolke hat die Sonne so vollkommen geschluckt, als wollte sie sie nie wieder hergeben. Ich stehe dort und warte, bis die Sonne auf der anderen Seite der Wolke wieder hervorkommt. Eine Minute vergeht. Zwei. Doch die Sonne kehrt nicht zurück.

Meine Wut ist erloschen. Genauso wie das Licht.

»Was ist nur mit dem Wetter los?«, fragt schon der zehnte Kunde, der während meiner Schicht das Café betritt. Neben der Tür stapeln sich die Regenschirme, eine große Wasserlache bildet sich darunter. Doch Melli und ich haben es schon vor einer Stunde aufgegeben, den Boden zu wischen, weil er nach nur fünf Minuten sowieso wieder mit matschigen Fußabdrücken bedeckt ist.

Die Sonne bleibt verschwunden, weswegen es mir so vorkommt wie mitten in der Nacht, obwohl es gerade einmal später Nachmittag ist. Es regnet so stark, als würde der Himmel einen Frühjahrsputz veranstalten.

Unwillkürlich spähe ich immer wieder durch die bodentiefe Fensterfront. Egal, wie sehr ich es auch versuche, mein Leben als Hexe hinter mir zu lassen, diese starke Verbindung zur Natur kann ich nicht ablegen. Sie ist an mir festgenäht. Und eine ungute Vorahnung, dass das hier nicht einfach nur ein typischer, beschissener, dunkler Wintertag ist, hängt in der Luft wie ein zu aufdringliches Parfüm.

»Zwei Cappuccinos mit Hafermilch«, sagt Melli und holt mich zurück hinter die hölzerne Theke, wo sich die Getränkebestellungen nur so stapeln. Der ganze Campus scheint sich an diesem Nachmittag im Café versammelt zu haben. Jeder Tisch ist belegt. Meine Ohren surren.

Die nächsten Stunden müssen wir so viele Bestellungen abarbeiten, dass ich gar keine Zeit habe, über irgendwas anderes als Kaffeebohnen und Milchschaum nachzudenken.

Erst fünfzehn Minuten vor Ladenschluss wird es ruhiger und ich fühle mich auf eine angenehme – menschliche – Weise erschöpft. Meine Schultern sind ein bisschen verkrampft von den immer gleichen Bewegungsabläufen und meine Beine sind müde vom langen Stehen.

»Wieso bist du denn zu spät gekommen heute Morgen?«, fragt mich Melli, als sie anfängt, die Kaffeemaschine zu putzen.

»Tinder-Date und zu viel Wein«, sage ich knapp.

Melli deckt mich, wenn ich zu spät komme. Dafür reinige ich am Ende des Tages den Entsafter, weil sie darauf keinen Bock hat. Trotzdem würde ich uns nicht als Freundinnen bezeichnen. Ich bin nie so ganz mit ihr warm geworden, weil mir ihre gute Laune nie echt vorkommt und sie mir Fragen stellt, die mir einfach zu persönlich sind.

»Uuuuh«, macht Melli sofort. »Und wie war’s?« Damit bestätigt sie prompt meine Vorbehalte.

»Okay«, sage ich, obwohl es sich wie eine Lüge anfühlt.

»Dafür, dass du angeblich so verkatert warst, hattest du heute Morgen einen ziemlichen Glow, als du hier reingekommen bist«, meint Melli und klingt dabei seltsam misstrauisch. Fast schon vorwurfsvoll. Sie lässt es so klingen, als müsste ich mich für meinen angeblichen Glow rechtfertigen, was ich zwar nicht tun muss, schuldig fühle ich mich trotzdem. Sie hat wahrgenommen, dass ich anders aussah als sonst. Was an der Magie lag, die ich zum Glück nicht länger in meinem Körper spüre.

Ich zucke nur mit den Schultern, weil mir keine bessere Entgegnung auf ihre Aussage einfällt, und wische den Boden. Die braunen Fußspuren schwinden, bis die Fliesen nicht mehr verraten, wie viele Menschen heute hier gewesen sind.

Als ich mit dem Aufräumen fertig bin, wende ich mich Melli zu und ertappe sie beim Tagträumen. Sie starrt die Fensterfront an, als würde sie hinter dem Glas ganz viel erkennen, dabei geht alles in der abendlichen Dunkelheit unter.

Sie sieht auf und als sie meinem Blick begegnet, wirkt sie schuldbewusst.

Ich will, dass dieser seltsame Tag mit diesen seltsamen Begegnungen und seltsamen Gefühlen und dieser seltsamen Vorahnung, die ich einfach nicht loswerde, endlich vorbei ist.

Mein Handy vibriert mehrmals, als wir gerade unsere Sachen aus unseren Spinden im Mitarbeiterraum holen. Erleichtert, weil ich denke, dass mich das vor einem weiteren Gespräch mit Melli bewahrt, will ich rangehen, als mir mein Display neue Nachrichten von Marek anzeigt. Mein Rausschleichen hat wohl nicht gereicht, um ihm klarzumachen, dass ich an einer Wiederholung von letzter Nacht kein Interesse habe.

»Uuuuh, ist das der Typ?«, fragt Melli, die sich sofort ungefragt über meinen Handybildschirm beugt, während ich seinen Chat überfliege.

hey

wieso bist du heute morgen weg?

kannst du noch mal vorbeikommen?

ich muss mit dir reden

irgendwas passiert mit mir, was ich mir nicht erklären kann

»Ich hasse es, wenn Männer nicht dazu in der Lage sind, über ihre Gefühle zu sprechen«, regt sich Melli in meinem Namen auf. »Wieso sagt er nicht einfach, dass er dich mag? Irgendwas passiert mit ihm? Als wären Gefühle eine Krankheit.«

Ich gehe nicht auf sie ein und will das Match schon löschen, weil sich nur bei der Erwähnung des Worts Gefühle mein Hals so stark zuschnürt, dass ich kaum noch atmen kann.

Da bekomme ich noch eine Nachricht von ihm.

und du hast deine ohrringe vergessen

Sogar mit Beweisfoto.

Intuitiv greife ich an meine Ohrläppchen, wo sonst kleine, goldene Stecker sitzen. Sobald ich meine nackte Haut berühre, werden meine Hände feucht. Verdammt! Die Ohrringe gehörten meiner Mutter und ohne sie fühle ich mich plötzlich nackt und ungeschützt. Ich muss zurück.

»Zeig mal sein Profil.«

Ich hatte kurz ganz vergessen, dass Melli überhaupt noch da ist, bis sie mir ungefragt das Handy aus der Hand nimmt. Doch ich beschwere mich nicht, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, mich für meinen kopflosen Abgang heute Morgen zu verfluchen. Ich will keine Nähe, die über körperliche hinausgeht. One-Night-Stands ohne Frühstück am nächsten Morgen haben sich deswegen für mich sehr bewährt. Ich hasse es, dass ich nun von meinen Prinzipien, niemanden mehr als einmal zu treffen, abweichen muss.

Fuck.

»Oh, der ist süß«, kommentiert Melli fachmännisch, als würde sie kein Urteil über einen realen Menschen, sondern über ein Produkt treffen, das sie überlegt zu kaufen und schon mit den Angeboten von Konkurrenzfirmen verglichen hat.

»Mh«, mache ich und nehme ihr das Handy wieder ab, auf dem jetzt sein Profil prangt.

Marek sieht gut auf seinen Fotos aus. Er hat strahlend grüne Augen und Locken, die wirken, als würden sie sich unter den Fingerspitzen wie Seide anfühlen – tun sie wirklich. Er lächelt offen und ehrlich. Doch das war nicht der Grund, warum ich mich mit ihm getroffen habe. Es war ein einziger Satz.

In seiner Bio steht:

Random Facts über mich

Ich habe keine Ahnung, warum ich immer in Prag studieren wollte. Es hat sich einfach richtig angefühlt.

Ich habe jeden Film geguckt, in dem Keanu Reeves mitspielt (weil der Mann großartig ist).

Und ich träume nicht.

Diese vier letzten Worte lösen auch jetzt wieder etwas in mir aus.

Ich träume nicht.

Es mag nicht wie ein großes Eingeständnis klingen, doch für eine Hexe ist es genau das. Träume sind von großer Bedeutung. Sie zeigen die Zukunft. Die Vergangenheit. Sie sagen viel über eine Hexe aus. Noch mehr sagt es über eine Hexe aus, wenn sie nicht träumt. Sie wirkt unberechenbar.

Meine Magie ist auch ohne die Tatsache, dass ich noch nie in meinem Leben geträumt habe, schon anders und gefährlich genug, was mich mein sogenannter Zirkel niemals hat vergessen lassen.

Deswegen habe ich mich entschieden, keine Hexe mehr zu sein.

Ich schreibe ihm schnell, dass ich mich gleich auf den Weg zu ihm mache, und stecke das Handy weg.

»Viel Spaß bei Runde zwei«, sagt Melli und wackelt mit den Augenbrauen, als wir den Laden hinter uns abschließen. Mit ihrer übertrieben freundlichen Art wirkt sie auf mich manchmal wie ein Roboter, der eine Gebrauchsanweisung darüber gelesen hat, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und diesen Punkten nun akribisch folgt.

Ihr perfektes Lächeln verrutscht um einige Millimeter, sobald sie wie ich zum Himmel schaut, wo sich Sturmwolken bedrohlich auftürmen. Sie wirken unnatürlich dunkel, der Mond unnatürlich hell, als würde er gar nicht dort oben hingehören.

»Bis morgen.« Melli fängt sich als Erste von uns beiden, winkt und macht sich auf den Heimweg.

Vielleicht bilde ich mir nur ein, dass sie das Wetter genauso beunruhigt wie mich, damit ich mir nicht mehr so anders vorkomme.

Immer anders.

Kein Mensch.

Aber auch nicht wie andere Hexen.

Meine Patentante hat unrecht.

Ich brauche keinen Zirkel.

Ich brauche einfach meine Ruhe.

Du kannst das, rede ich mir gut zu, während ich extrem langsam die Treppen hinauf zu Mareks Wohnung erklimme. Wenn ich noch langsamer werde, laufe ich irgendwann rückwärts.

Ich verstehe selbst nicht so genau, warum mir die ganze Sache so schwerfällt. Normalerweise kann ich mit casual Dating sehr gut umgehen, kann kommunizieren, dass ich nichts Ernstes will, und auch kurze awkwarde Momente, die unvermeidbar sind, überspielen. Aber gerade ist mir das irgendwie alles zu viel.

Ich straffe die Schultern und laufe ein bisschen schneller, um mir zu beweisen, dass das Date gestern auch nur eines von vielen war und genauso unbedeutend wie alle anderen. Beim letzten Treppenabsatz nehme ich immer zwei Stufen auf einmal. Und dann entdecke ich ihn.

Marek lehnt im Rahmen seiner offenen Tür. In seiner Wohnung ist es heller als im schlecht beleuchteten Treppenhaus, weswegen er sich als dunkle Silhouette gegen das Licht in seinem Rücken absetzt.

Würde es nach mir gehen, hätte er meine Ohrringe schon in der Hand, würde sie mir geben und ich könnte gehen, ohne noch mal einen Fuß in seine Wohnung zu setzen.

Aber es geht natürlich nicht nach mir.

Als ich zwei Schritte vor ihm zum Stehen komme, stellen sich alle Härchen auf meinen Armen auf. So ging es mir auch gestern bei unserer ersten Begegnung. Die Vorahnung, die wie ein Parfum in der Luft hängt, ist zurück. Doch ich kann sie nicht greifen.

Dass ich noch nichts gesagt habe und ihn nur wortlos anstarre, fällt mir erst auf, als er mich ein bisschen verwirrt mustert.

»Hey«, sagt er, seine Stimme rau.

»Hey«, gebe ich zurück.

Er macht einen Schritt zur Seite, damit ich eintreten kann.

Ich zögere, denn dieser Moment fühlt sich bedeutsam an. Wie der Beginn von etwas.

Meine Patentante Astrid sagt immer, dass nicht Magie unsere wahre Gabe ist, sondern dieses ausgeprägte Gefühl in uns, das uns warnt und auf das wir immer hören sollten.

Aber gestern hat Astrid auch gesagt, dass ich es bereuen würde, den Hexen den Rücken zu kehren. Wenn ich einen Rat von ihr bereits ignoriere, kann ich das genauso auch mit einem zweiten machen.

Also gebe ich mir einen Ruck. Die Tür fällt mit einem sanften Klicken ins Schloss. Marek berührt mich nicht, aber ich spüre seine Präsenz deutlich hinter mir.

Ich ziehe meine Jacke aus, lasse meine Schuhe aber an, um ihm wortlos klarzumachen, dass ich nicht vorhabe, lange zu bleiben.

Er geht voraus in sein Zimmer und ich folge ihm.

»Ich wollte nur kurz meine Ohrringe holen. Ich werde dich nicht lang stören«, sage ich und lasse seine Zimmertür offen.

Marek dreht sich zu mir um. Jetzt ist er nicht mehr nur eine dunkle Silhouette im Gegenlicht. Ich kann seine Züge erkennen und zucke fast ein bisschen vor ihm zurück. Er wirkt ausgemergelt, als hätte er den ganzen Tag starke Schmerzen gehabt.

»Irgendwas ist mit mir los«, sagt er gehetzt und atemlos. »Ich spüre …« Er vollendet das Wort nicht, sondern blickt aus dem Fenster. Der Mond leuchtet noch ein bisschen stärker als vor einer halben Stunde noch. Er ist voll. Trotzdem sehen seine Kanten so scharf aus, als könnte man sich an ihnen schneiden.

Die Haare auf meinen Armen stellen sich auf und bleiben stehen. Auch als ich mir über die Haut reibe.

Marek wendet sich mir zu und ich muss dem Impuls widerstehen, vor ihm zurückzuweichen.

Seine grünen Augen sind angelaufen wie nasses Metall. Doch sie sind nicht rostig rot, sondern stechend silbern. Als würde sich der Mond darin spiegeln wie auf einer ruhigen Wasseroberfläche, dabei hat er dem Fenster bereits den Rücken zugewandt.

»Was passiert mit mir?«, fragt er mich verzweifelt, doch ich habe keine Antwort.

Ich unterdrücke einen Schrei, als Marek ohne Vorwarnung vornüberkippt und schwer auf den Knien landet. Mondlicht flutet sein Zimmer und scheint ihn zu ertränken. Er bäumt sich auf. Doch er wehrt sich nicht gegen das Licht. Er wehrt sich gegen sich selbst.

Seiner Kehle entkommt ein Ton, der kaum noch menschlich klingt. Er ist viel zu tief. Und dann … knurrt er. Ich sollte rennen. Doch ich rühre mich nicht. Ich verharre auf der Stelle und starre Marek an.

Er bäumt sich auf, sein Shirt reißt. Haare bedecken seine Hände. Krallen schießen hervor.

Das dürfte nicht passieren. Und deswegen redet sich ein Teil meines Gehirns auch ein, es würde nicht passieren.

Das ist der Teil meines Gehirns, der ganz sicher eines Tages für meinen Tod verantwortlich sein wird.

Vielleicht auch heute schon.

Ich blinzle. Und dann steht er vor mir. Ein zwei Meter großer Wolf mit mondgrauem Fell, langen Krallen und noch längeren Zähnen. Er starrt mich aus silbrigen Augen an. Ich starre zurück. Der Jäger und seine Beute.

Und dann springt er auf mich zu.

Kapitel 2

Ich finde endlich meinen Überlebensinstinkt, den ich in den letzten Minuten verlegt zu haben scheine.

Ich hechte zurück, springe in den Flur und knalle Mareks Zimmertür hinter mir zu. Als sich der Wolf von der anderen Seite gegen die Tür wirft, vibriert mein Kiefer von der Wucht des Aufpralls. Das Schloss knirscht gefährlich.

»FUCK!«, schreie ich und stemme mich gegen das Holz. Dass ich Magie wirke, spüre ich erst, als sie mich flutet wie Licht an einem warmen Sommertag. Die groß gewachsenen Monstera-Pflanzen im Flur schrumpeln tot in sich zusammen – zumindest die, die nicht ohnehin schon verwelkt waren –, zum Glück ist die Tür stark genug, um auch dem nächsten Angriff zu widerstehen. Der Wolf gibt jedoch nicht nach. Aber meine Magie wird es irgendwann tun.

»What the fuck!«

Ich erschrecke so stark, dass ich die Tür fast loslasse.

Irgendwann in den letzten Sekunden muss der hochgewachsene, schlaksige Typ in Jogginghose und Uni-Pulli, den ich für Mareks Mitbewohner halte, neben mir aufgetaucht sein, doch ich war zu sehr damit beschäftigt zu überleben, sodass ich ihn erst jetzt bemerke.

Wie viel hat er gesehen?

Mir bricht kalter Schweiß aus.

Habe ich gerade vor einem Menschen gezaubert?

Ein besonders starker Stoß gegen die Tür, der mich fast gegen die Wand gegenüber schleudert, erinnert mich daran, dass ich größere Probleme habe als die Geheimhaltung von Magie.

Ein bedrohliches Knurren dringt durch die Tür, durch die sich jetzt ein Riss zieht, und der Typ vor mir wird bleicher als die Tapete hinter ihm.

»Hilf mir«, schreie ich. Zu meiner Überraschung rennt er sofort zu mir und stemmt sich rücklings gegen die Tür.

»Drück dich dagegen«, befehle ich ihm, obwohl sein schlaksiger Körper denkbar ungeeignet scheint, einen Wolf aufzuhalten.

Ich schiebe eine Kommode aus dem Flur vor die Tür.

Wieder schmeißt sich der schwere Körper von innen dagegen. Das ganze Haus scheint zu rütteln. Bücher fallen aus dem Regal und gehen polternd zu Boden.

Und dann dringt ein so bedrohliches Knurren durch die Tür, dass mir Übelkeit die Speiseröhre hinaufwandert.

»Was war das?« Mareks Mitbewohner starrt mich aus riesigen Augen an.

Wie gern hätte ich eine Antwort für ihn. Doch ich habe keine Ahnung, was hier passiert. Nur weil ich als Hexe aufgewachsen bin, heißt das noch lange nicht, dass sich ständig Männer vor mir in bösartige Wölfe verwandeln. Das ist auch für mich eine völlig neue Erfahrung.

Noch einmal spüre ich die Erschütterung des schweren Körpers wie ein Erdbeben. Er knurrt. Und dann ist es auf einmal beunruhigend still. Ich kann mein Herz wieder in meinen Ohren wummern hören.

»Was war das?«, wiederholt Mareks Mitbewohner, noch schriller als zuvor.

Ich spüre die Magie durch meinen Körper fließen, doch gerade ist nicht der richtige Moment, um sich darüber aufzuregen, dass ich gezaubert habe. Erst mal muss ich diesen Abend überleben. Und dafür brauche ich mehr Kraft.

Ich renne in die Küche, erblicke den Obstkorb und lege meine Hand darauf. Die roten Äpfel verfaulen im Zeitraffer.

»Was zur Hölle?«

Als ich mich umdrehe, blicke ich Mareks verstörtem Mitbewohner entgegen, der schon wieder viel mehr gesehen hat, als er sollte. Darum kümmere ich mich später.

Ich renne zurück zu Mareks Zimmer. Sein Mitbewohner folgt mir. Allerdings wirkt er wie in Trance, als wäre er in einer Schockstarre, aus der er sich noch nicht ganz lösen kann.

Ich würde gern vor all dem hier weglaufen, aber ich kann Marek schlecht in der Gestalt eines Wolfs zurücklassen. Am Ende frisst er noch seinen Mitbewohner.

Ich lausche. Hinter der Tür ist es still. Also schiebe ich die Kommode beiseite. Die gestohlene Energie pulsiert stärker durch meinen Körper als mein eigener Herzschlag. Sie will befreit werden. In Magie gewandelt werden. Aber ich unterdrücke sie. Bis ich sie brauche.

Langsam öffne ich die Tür einen Spaltbreit. Dann reiße ich sie komplett auf.

Der Wolf ist fort.

Das Fenster steht offen. Die Vorhänge flattern nicht mehr wie an diesem Morgen träge im Wind, sondern schlagen heftig, als wollten sie abheben, um dieser Situation zu entfliehen. Ich kann es ihnen nicht verübeln.

So schnell ich kann, renne ich zum Fenster und starre nach unten auf die Straße. Dort kann ich nur noch ausmachen, wie die riesige Gestalt des Wolfs in eine Gasse einbiegt und dann aus meinem Blickfeld verschwindet.

»Was zur Hölle?« Wenn Mareks Mitbewohner seine Augen noch weiter aufmacht, fallen sie ihm noch aus dem Gesicht. Er steht direkt neben mir und lehnt sich so weit aus dem offenen Fenster, dass ich Sorge habe, dass er gleich rausfällt.

Ich packe ihn am Kragen seines Pullis und ziehe ihn zurück in Mareks Zimmer.

»War das Marek?«, fragt er panisch. Seine Stimme ist eine Oktave nach oben gesprungen. »Das war Marek, oder? Das muss er gewesen sein. Er war ein Tier. Und er hat sich gegen die Tür geworfen und die Tür ist gesplittert. Und Marek ist ein Wolf und ich weiß nicht …« Er redet, ohne Luft zu holen, und hört erst damit auf, als ich ihn grob an den Oberarmen packe.

»Reiß dich zusammen!«, schreie ich. Meine Stimme ist leider ebenfalls eine verräterische Oktave nach oben gehüpft, aber da er sowieso gleich alles vergessen wird, spielt es keine Rolle.

Ich atme tief durch und verstärke meinen Griff um seine Schultern, gegen den er nicht einmal Anstalten macht, sich zu wehren. »Vergiss, was du hier gesehen hast«, sage ich. Schon will ich meine linke Hand auf seine Stirn legen, um einen Zauber zu wirken, der ihm einen Blackout bescheren wird, sodass er, wenn er aus seiner Ohnmacht aufwacht, nur dröhnende Kopfschmerzen, das Gefühl, zu viel getrunken zu haben, und vage Erinnerungen behalten wird.

Doch er schüttelt vehement den Kopf.

»Ich kann dir helfen.«

»Kannst du nicht«, entgegne ich ungeduldig. In den Gassen Prags ist ein Monster unterwegs, das ich dringend einfangen muss. Ich habe vielleicht keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber ich weiß mit sehr großer Sicherheit, dass ich den ganzen Prager Zirkel an der Backe habe, wenn ich das nicht löse, bevor es auffällt. Ich stehe unter Zeitdruck.

Mareks Mitbewohner weicht mir aus, als ich versuche, meine Hand auf seine Stirn zu legen.

»Ich bin ruhig. Siehst du? Du wolltest, dass ich mich beruhige. Das habe ich. Und ich bin vielleicht überfordert und stehe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unter Schock, aber ich habe gesehen, wie du gezaubert hast. Da ich noch nie in meinem Leben Drogen genommen habe und nur sehr selten trinke, bin ich mir sicher, dass es keine Halluzination war. Als Kind habe ich mir immer gewünscht, ich könnte ein Zauberer sein oder ein Krieger oder am besten ein Wikinger. Leider bin ich nichts davon geworden.«

Ich hebe wieder meine Hand. »Es ist zu deinem Besten, alles zu vergessen.«

Er wehrt meine Hand ab und nimmt sie so sanft in seine, dass ich sie ihm jederzeit wieder entziehen könnte. »Da hast du vielleicht recht. Aber du kennst Marek nicht gut. Ich schon. Wenn er das war, dann kann ich dir helfen, ihn zu finden. Ich weiß, wo er hingehen würde. Sobald das Adrenalin nachlässt, werde ich vermutlich durchdrehen, also wird dir dann sowieso keine andere Wahl bleiben, als mich alles vergessen zu lassen.«

Eigentlich will ich ihm klarmachen, dass das aus mehr als einem Grund ein absurder Vorschlag ist. Er darf als Mensch nichts von der Existenz von Magie wissen. Und Marek ist nicht mehr Marek. Irgendwie – ich muss noch herausfinden wie – ist er zu einem Wolf geworden.

Zögernd lasse ich die Hände sinken, weil Mareks Mitbewohner leider mit einer Sache recht hat: Ich habe keinen Anhaltspunkt, wo ich nach Marek suchen soll. Und vielleicht steckt ja noch ein Teil von seinem früheren Selbst in ihm, selbst wenn sich sein Körper in einen Wolf verwandelt hat.

Als ich heute Morgen aufgewacht bin, waren mein Kater, der nackte Kerl neben mir und meine wütende Patentante noch meine größten Probleme. Das waren gute Zeiten.

»Na gut«, sage ich also. »Aber es ist gefährlich.«

»Das ist mir egal«, sagt der schlaksige Kerl vor mir, der gar nicht so wirkt, als wäre es ihm egal. Doch als ich in den Flur eile, um meine Jacke anzuziehen, folgt er mir. Und das tut er auch noch, als ich schließlich auf die Straßen Prags trete.

Der Mond strahlt hell. Die Sterne rahmen ihn zu allen Seiten ein. Dann flackert einer von ihnen, als wäre er keine Millionen Jahre alte Sonne, sondern nur eine in die Jahre gekommene Straßenlaterne. Und erlischt. »Er ist hier lang«, sage ich, um meine Gedanken zu vertreiben und laufe zügig los. Die Energie in meinen Adern macht mich ruhelos, da sie nicht dazu bestimmt ist, in meinem Körper gefangen gehalten zu werden. Sie will ausbrechen. Früher habe ich wie alle anderen Hexen stets Kristalle bei mir getragen, in die ich in so einer Situation die Energie übertragen konnte, bis ich sie wieder brauche. Doch ich habe auch sie zurückgelassen, als ich meiner Herkunft den Rücken gekehrt habe. Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Unruhe, die meinen Körper vibrieren lässt, auszuhalten.

Über Prag liegt auch an diesem seltsamen Abend die vertraute Geräuschkulisse. Das Grölen betrunkener Studenten vermischt sich mit dem babylonischen Sprachgewirr der vielen Touristen. Neben uns öffnet jemand die Tür zu einem Restaurant und ein 80s-Song wabert zu uns aufs nasse Kopfsteinpflaster, das den goldenen Glanz der Straßenlaternen reflektiert, die schon vor Jahrhunderten hier standen.

Doch obwohl alles so wirkt wie immer, kommt es mir doch so vor, als wäre die Welt dumpfer geworden. Als wären die Bässe in dem Song nicht mehr so tief und das Lachen der Studenten nicht so gelöst wie sonst. Irgendwas hat sich heute auf der Welt verschoben. Ich weiß es einfach.

Nicht dein Problem, ermahne ich mich. Ich werde Marek finden, ihn irgendwie wieder in einen Menschen verwandeln – noch keine Ahnung wie – und mich dann wieder um mein normales, menschliches Leben kümmern. Ohne Magie, ohne Hexen, ohne Zirkel.

»Hier lang«, meint Mareks Mitbewohner und deutet auf den Teil eines übergroßen Pfotenabdrucks, den der Wolf in dem Matsch hinterlassen hat, wo das alte Kopfsteinpflaster über die Jahre aufgebrochen ist.

Ich folge ihm, während er mich ansieht, als wollte er für seine Entdeckung ein Lob hören.

»Ich bin Dario«, sagt er, als er wohl eingesehen hat, dass er das von mir nicht erhalten wird.

»Lily«, entgegne ich widerwillig.

Wir laufen weiter und für die nächsten zwei Minuten nimmt er mein Schweigen hin, bis ausgerechnet ich es nicht mehr ertragen kann.

»Wieso drehst du nicht mehr durch?«, entfährt es mir geradezu vorwurfsvoll. »In der Wohnung hast du noch fast den Verstand verloren und jetzt bist du so ruhig, als wäre das alles normal.«

»Mit alles meinst du, dass mein Mitbewohner sich in einen Wolf und du unsere Obstschale in ein Vanitas-Stilllebengemälde verwandelt hast?«

Mir entfährt ein Geräusch, das wie ein verunglücktes Lachen klingt.

»Mach dir nichts draus. Unser Obst wird immer schlecht, bevor ich alles essen kann. Und unsere Topfpflanzen finden auch so ständig einen schnellen Tod, ohne dass du nachhelfen musst.«

Diesmal entlockt er mir wenigstens ein müdes Lächeln.

Wir entdecken Kratzspuren an einem besonders alten Haus, das bestimmt denkmalgeschützt ist. Sie gehen so tief, dass Teile der Fassade auf den Boden gebröckelt sind.

Ich betrachte Dario von der Seite. Er ist so dünn, dass ihn die Krallen des Wolfs bestimmt mit einem Schlag durchbohren könnten. Wenn ich blinzle, sehe ich ihn bereits verblutend vor mir auf dem Boden liegen. Ich sollte ihn dazu bringen, umzudrehen.

Doch dann erreichen wir die nächste Weggabelung. Dort hat der Wolf keine Spuren hinterlassen. Ich brauche Darios Hilfe vielleicht doch.

Fragend blicke ich Dario von der Seite an.

»Hier lang«, meint er nur und läuft so bestimmt weiter, als bestünde kein Zweifel daran, welchen Weg der Wolf eingeschlagen hat. Ich folge ihm, weil mir, wenn ich mal ganz ehrlich mit mir selbst bin, auch nicht wirklich eine andere Wahl bleibt.

»Und ich wirke vielleicht ruhiger als vorhin«, fährt er fort, während wir um die nächste Ecke biegen. »Aber innerlich schreie ich aus voller Kehle.«

»Ich auch«, gebe ich widerwillig zu. In der Dunkelheit nach einem entlaufenen Wolf zu suchen, der einen mit einem starken Schlag umbringen könnte, verbindet wohl. Wer hätte das gedacht.

»Ich habe vorher nicht an so was geglaubt«, fährt er fort. Ich vermute, dass unnötig viel zu reden ihm gegen seine Nervosität hilft, also unterbreche ich ihn nicht. »Also an Verwandlungen und Zauber und so was. Ich meine, seit meiner Kindheit lese ich gerne Fantasyromane und habe mir immer gewünscht, dass es real wäre. So ein Abenteuer kam mir spannender als mein eigenes Leben vor. Wem geht es nicht so? Und ich studiere im Hauptfach nordische Mythologie, also kenne ich mich aus mit Legenden.«

Ich stocke kurz, als wären seine Worte Steine, über die ich stolpern kann. Doch er merkt es nicht und redet einfach weiter, schneller und schneller, über seine Lieblingsfächer und Lieblingscharaktere bei Herr der Ringe und warum die Darstellung von Loki und Thor in den Marvel-Filmen so falsch ist. Doch ich höre kaum noch zu. Denn mein Herz rauscht mir zu laut in den Ohren.

Kann das ein Zufall sein?

Ich schlafe mit einem Mann, der nicht träumt. Er verwandelt sich in einen Wolf.

Und dann mache ich mich gemeinsam mit seinem Mitbewohner auf die Suche, der ein Fan von nordischer Mythologie ist, der Quelle all meiner Kräfte. Schließlich waren unsere Vorfahrinnen die Walküren, die Kriegerinnen der nordischen Götter.

Das Schicksal leitet uns alle, höre ich Astrids pathetische Stimme viel zu laut in meinen Ohren dröhnen.

Doch ich ignoriere sie, genauso wie ich es auch tue, wenn sie tatsächlich neben mir steht, und ermahne mich, dass ich es mir gerade wirklich nicht leisten kann, meinen Fokus zu verlieren.

»Wo laufen wir eigentlich hin?«, unterbreche ich Dario irgendwann, weil mir seine Ausführungen über die nordischen Götter inzwischen Angst machen. Fast so sehr wie die silbrigen Augen des Wolfs.

Aber nur fast.

»Marek ist gern am Wasser. Da ist so eine Stelle, die er besonders mag«, erklärt Dario.

Wir biegen noch zweimal ab, ehe wir den Fluss erreichen. Heute Abend ist er eine pechschwarze, vollkommen glatte Oberfläche, die mich an ein Messer erinnert. Es durchschneidet Prag in zwei Seiten. Auf der anderen Seite thront an der Spitze des Hügels die Prager Burg, die wie jeden Tag bewachend auf die Stadt herabblickt.

Die Brücke ist nur wenige Meter von uns entfernt. Die Straßenlaternen, die sie flankieren, werfen lange Schatten und die Statuen aus Stein wirken wie echte Menschen, die bedrohlich zu uns herüberstarren.

Dario läuft an der Brücke vorbei, aber wir halten uns am Wasser.

»Was bist du?«, fragt Dario mich schließlich. Ich weiß, dass er diese Frage, schon seitdem wir seine Wohnung verlassen haben, wie ein schweres Gepäckstück mit sich herumschleppt.

Ich habe keine Ahnung, was ich entgegnen soll. Doch eine Antwort bleibt mir erspart. Ein Schrei durchreißt die Nacht. Ich renne auf den Ursprung des Geräuschs zu, Dario folgt mir schwer atmend, trotzdem drehe ich mich nicht zu ihm um. Die Kraft in mir lässt mich fast fliegen. Sie weiß, dass ich mich dem Punkt nähere, wo sich meine Magie entladen will. Sie will die Energie endlich wieder abgeben.

Ich erreiche die Gasse, aus der der Schrei kam. Der Wolf hat mir den Rücken zugewandt. Er starrt seinem Opfer nach. Ich kann nicht viel erkennen. Nur, dass es eine menschliche Gestalt ist, die schwerfällig davonwankt.

Ich schmecke das metallische Aroma von Blut in der Luft.

»Hey«, schreie ich, bevor der Wolf die Gestalt erneut angreifen kann.

Der mächtige Körper ist so viel agiler, als er sein dürfte. In nur dem Bruchteil einer Sekunde hat sich das Monster in meine Richtung gedreht. Blut tropft ihm aus den Mundwinkeln und von den langen Krallen. Die Zähne blitzen im Mondlicht. Seine Augen scheinen in Brand zu stehen. Es ist silbernes Feuer, das Zerstörung verheißt.

In diesem Moment weiß ich bereits, dass die Kraft in meinen Adern nicht stark genug sein wird. Dass ich nur verlieren kann.

Trotzdem zögere ich nicht.

Ich hebe die Hände und die Balkone, die Jahrhunderte an derselben Stelle im ersten Stock eines alten Steinhauses verbracht haben, krachen auf das Monster herab. Wütend brüllt es auf, als der Stein ihn an der Schläfe trifft. Er will auf mich zuspringen, doch ich hebe die Arme höher. Meine Fingerspitzen brennen, weil ich so viel Magie auf einmal durch meine Haut presse, doch ich ignoriere den Schmerz, der mir schon mein ganzes Leben lang ein bisschen zu gut gefallen hat.

Die schön geformten Metallstäbe des Balkons lösen sich. Die Blumen und Wellen biegen sich zu Fesseln, nur weil ich es will. Die Macht lässt es in meinem Kopf klingeln. Ich möchte, dass etwas geschieht und dann geschieht es. Magie ist pure Ekstase und es ist so leicht, in ihr verloren zu gehen und zu vergessen, warum man sie eigentlich wirkt.

Ich konzentriere mich auf die Fesseln, die sich nun um die Glieder des Wolfs schlingen und versuchen, ihn zu Boden zu ringen. Sie sehen lebendig aus. Wie Schlangen winden sie sich um den Körper des Wolfs. Doch statt zu zischen, kratzen sie übereinander und riechen nach Rost.

Der Wolf wehrt sich. Mit ganzer Kraft. Mit allem, was er hat. Und ich spüre seinen Widerstand in meinen Armen. Ich beginne mich zu fühlen, als hätte ich den ganzen Tag Gewichte gestemmt. Die Kraft, die ich mir geborgt habe, schwindet. Doch ich darf nicht aufgeben.

Nicht, solange es in dieser Gasse noch immer nach Blut riecht und ich nicht weiß, wie viele Pfützen, die ich im dämmrigen Mondlicht erkenne, nur mit Wasser gefüllt sind. Der Wolf hat sich schon fast befreit, die Ketten gesprengt, die Schlangen getötet. Da durchflutet mich neue Kraft. So mächtig, dass der Wolf mit einem Ächzen zu Boden geht und sich kaum noch rühren kann. Er wimmert wie ein Welpe, obwohl er noch immer zwei Meter groß ist und Blut an seinen Zähnen klebt.

Ein weiteres Wimmern ertönt. Doch es klingt menschlich. Ich kann mich nicht umwenden, um herauszufinden, woher es kommt. Ich kann nur den Wolf anstarren, dessen Augen inzwischen angstvoll geweitet sind. In mir pocht ein zweiter Herzschlag, der die Kontrolle über alles übernommen hat.

»Lilith!«

Astrids strenge Stimme bringt mich zurück in die Gegenwart. Abrupt drehe ich mich um und sehe in ihre braunen Augen. Meine Patentante steht nur einen Meter von mir entfernt, mit gerader Haltung, die stolze Oberhexe, die sie nun mal ist. Sie ist natürlich nicht allein, denke ich sarkastisch, denn eine Hexe braucht schließlich einen Zirkel. Neben ihr entdecke ich Morgana, die einzige Freundin, die ich jemals hatte, und …

Melli, meine Kollegin im Coffeeshop!

»Lilith!«, wiederholt Astrid noch strenger und deutet auf einen Sack neben sich. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es gar kein Sack ist, sondern ein in sich zusammengesunkener Mensch.

Ich zögere eine Sekunde, dann lasse ich quälend langsam die Arme sinken, während mein eigener Herzschlag wieder lauter wird als mein verräterischer, verführender zweiter, dem ich niemals vertrauen dürfte.

Es ist Dario.

Er fällt noch weiter in sich zusammen. Seine Augenlider flattern, als wollten sie sich öffnen, können es aber nicht. Dazu fehlt ihnen die Kraft.

Weil ich sie ihm genommen habe.

Kapitel 3

Ich bin wieder ein hilfloses, ängstliches Kind, das viel zu mächtig ist für seinen kleinen Körper.

Ich presse meine Fäuste auf meine Augen, als könnte ich die Erinnerungen so zurück in meinen Schädel drücken. Doch es funktioniert nicht.

Ich friere. Bis auf die Knochen. Ich habe nie gewusst, dass man so frieren kann. Zwei dunkle Gestalten nähern sich uns. Ich weiß, dass sie uns etwas antun wollen. Meine Eltern stehen vor mir. Sie wollen mich beschützen. Doch ich will auch sie beschützen. Deswegen greife ich nach meiner Magie. So mächtig. So allumfassend. Die Angreifer fallen. So wie meine Eltern.

»Lilith.«

Sie sagt meinen Namen viel sanfter, als ich es verdient habe.

Ich spüre das harte Holz des Stuhls, auf dem ich sitze, und meine feuchten Handflächen, die ich mir noch immer ins Gesicht drücke. Obwohl ich niemals wieder hierherkommen wollte, bin ich zurück im Konvent, der Zentrale und gleichzeitig dem Wohnhaus der Hexen, sitze auf dem Flur und warte darauf, dass ich erfahre, was ich wieder angerichtet habe.

»Lilith«, wiederholt sie. Diesmal mit mehr Nachdruck, aber immer noch schrecklich sanft.

Ich will sie nicht ansehen, trotzdem öffne ich die Augen und blicke in ihre hellblauen, die so durchsichtig sind wie der klarste Bergsee. Sie sind fast farblos. Das Blau schimmert nur leicht unter der Oberfläche, als würde sich der Himmel darin spiegeln.

Auch ihr Blick ist sanft. Natürlich ist er das.

Morgana war schon immer die sanfteste Seele auf der Welt. Selbst die Träume, die sie jede Nacht heimsuchen, haben ihr nicht einen Tropfen Zynismus eingeflößt.

»Ihm geht es wieder gut«, beschwichtigt sie mich. Sie geht vor meinem Stuhl in die Hocke, als wäre ich ein kleines Kind, und will nach meinen Händen greifen.

Reflexartig ziehe ich sie zurück.

Morgana lächelt wissend, als hätte sie genau mit dieser Reaktion gerechnet. Vermutlich hat sie das. Sie kennt mich viel zu gut.

»Du hast ihn nicht verletzt«, fährt sie fort.

»Ich habe ihn verletzt«, erwidere ich heftig.

»Ohne bleibende Schäden«, beharrt sie.

Wir starren uns in die Augen, weil keine von uns nachgeben will. Das war schon immer so. Deswegen habe ich auch nicht mit ihr gestritten, bevor ich den Hexen den Rücken gekehrt habe. Ich bin einfach gegangen.

»Du wolltest die Menschen in dieser Stadt beschützen.«

Ihre verständnisvollen Worte haben schon immer mehr wehgetan als die kritischen und ängstlichen Blicke, die mir die anderen Hexen zugeworfen haben. Die Nekromantin, haben sie immer hinter vorgehaltener Hand geflüstert, wenn ich durch diese Flure gelaufen bin. Ich musste mir einreden, dass mir die Meinung aller anderen egal war, weil mir gar keine andere Wahl blieb.

Nekromanten sind Hexen, die die Energie zum Zaubern auch aus Menschen ziehen können. Sie sind in der Hexengemeinschaft gefürchtet und werden meist ausgegrenzt, auch wenn die Hexen das niemals zugeben würden, da sie sich Zusammenhalt so verdammt groß auf die eigene Fahne schreiben.

Ich kann es ihnen nicht verübeln, dass sie mich für gefährlich halten, schließlich habe ich ihnen so viele Beweise dafür geliefert. Schon als wir Kinder waren, hat Morgana mir stets das Gefühl gegeben, es wäre überflüssig, mich für meine Taten zu schämen. Doch das ist eine Lüge. Ich sollte mich schämen, weil ich die Kontrolle verloren habe.

Der zweite Herzschlag in mir hat nach einer Machtquelle gesucht und Dario gefunden. Ich bin eine Diebin. Ich bin in seinen Körper eingebrochen und habe gestohlen, was niemals mir gehören sollte.

Ich starre in die Bergseen, die auf meiner Augenhöhe schweben. Meine füllen sich mit Tränen.

»Ich hätte dich damals fast umgebracht«, hauche ich.

Und trotzdem war Morgana nicht wütend auf mich gewesen. Das habe ich nicht ertragen.

»Hast du aber nicht«, sagt sie, als wäre es deswegen weniger schlimm. »Eine Hexe braucht einen Zirkel.«

Ich kann das Schnauben nicht unterdrücken. »Astrid hat dich also geschickt.«

Morgana schüttelt tadelnd den Kopf, dabei fliegen ihre feuerroten Locken wild hin und her. »Astrid hat mich nicht geschickt. Ich wollte mit dir reden.«

Jetzt fühle ich mich noch mehr wie ein Arschloch.

»Sorry«, murmle ich in mich hinein. »Dario wird also wieder?«

»Richtig«, sagt sie aufmunternd.

»Und Marek?«

Ich kann sie nicht mehr ansehen, also wandert mein Blick an ihrem rechten Ohr vorbei zur waldgrünen Tapete, die von den weißen, auf dem Kopf stehenden Lilien durchbrochen ist. Das Symbol des Prager Hexenzirkels. Dazwischen hängen alte Gemälde und neue Fotos von jeder Hexe, die jemals hier gelebt hat. An manchen Stellen ist die Wand kaum noch zu sehen. Keine Hexe wird vergessen. Denn wir halten zueinander, höre ich Astrids Stimme in meinem Kopf. Hexen sind stark. Aber nur gemeinsam.

Genau das ist der Punkt. Ich will nicht stark sein, darf es nicht sein. Deswegen bin ich allein.

»Er ist kein Wolf mehr. Das ist doch schon mal was«, meint Morgana. Sie hockt immer noch vor mir, obwohl ihre Beine längst eingeschlafen sein müssen.

»Wie habt ihr das hinbekommen?«

»Haben wir nicht«, sagt sie. »Der Mond ist untergegangen und er wurde wieder zum Menschen.«

»Vollmond?«, frage ich.

Morgana nickt nur.

»Also wird es wieder passieren.«

»Höchstwahrscheinlich.«

Wenigstens versucht sie nicht, mich vor der Wahrheit zu beschützen.

»Hast du …«, setzt Morgana an, bringt es aber natürlich nicht über sich, die Frage zu beenden. Ich weiß trotzdem, worauf sie hinauswill. Morgana ist wie ein Buch, das ich sehr oft gelesen habe. Ich kenne das Ende bereits.

»Ich habe ihn nicht verwandelt«, sage ich. Und stocke. »Zumindest nicht wissentlich.«

»Was ist denn passiert?«

»Ich habe mit ihm …« Ich verschlucke mich an der Wahrheit. Doch ich bin auch ein Buch, das Morgana sehr oft von vorne bis hinten gelesen hat.

»Du hast mit ihm geschlafen.«

Ich kann mich an so viele Gespräche mit Morgana erinnern, die wir bis mitten in die Nacht geführt haben und die von Kichern begleitet wurden, als wir darüber sprachen, wie ich mich nachts in einen Club geschlichen hatte, um mit Jungs zu flirten und zu knutschen. Diese Gespräche haben mich vergessen lassen, dass ein Hexer mich niemals küssen würde, weil er Angst vor mir hat, so wie alle anderen auch. Ich wünschte, wir könnten auch jetzt kichern, um damit den Ernst der Lage zu vergessen, aber wir sind keine Teenager mehr, sondern zweiundzwanzig Jahre alt. Wir können uns nicht mehr vor den schwierigen Wahrheiten verstecken.

»Und dann bin ich zurück, weil ich meine Ohrringe vergessen hatte.«

Ich greife nach meinen Ohrläppchen, die noch immer nackt sind. Ein Seufzen entringt sich meiner Kehle, als mir klar wird, dass ich noch einmal in diese Wohnung zurückkehren muss.

»Und dann hat er sich verwandelt?«

Ich nicke. »Einfach so. Aus dem Nichts. Ich habe so was noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht.«

Wir schweigen. Ich höre Schritte in der Ferne, die von den schweren grünen Teppichen, die durchs ganze Gebäude verlaufen, gedämpft werden. Doch sie entfernen sich wieder.

Ich mustere Morgana. Ihre Haut ist genauso hell und klar wie früher und erinnert mich noch immer an die makellose Oberfläche einer Perle. Doch Morgana ist nicht nur schön. Sie trägt eine der wichtigsten Aufgaben im Zirkel mit Würde und Gelassenheit, worum ich sie schon als kleines Mädchen bewundert – und gleichermaßen beneidet – habe.

Sie ist die Traumdeuterin des Prager Zirkels und alle Hexen kommen mit ihren Träumen zu Morgana, damit sie ihnen deren Bedeutung erklären kann. Alle Hexen – fast alle Hexen – werfen bei Nacht Fischernetze aus, doch nur Morgana kann am nächsten Morgen sagen, was sie damit gefangen haben.

Am bedeutungsvollsten allerdings sind ihre eigenen Träume und sie träumt so intensiv wie niemand sonst. Manchmal sah sie morgens nach dem Aufwachen erschöpfter aus als abends vorm Einschlafen. Ihr Schlaf ist kein Rückzugsort wie das schwarze Loch, in das ich jede Nacht stürze. In ihrem warten Lebensgeschichten, Dramen, Tragödien auf sie, gemalt auf Tausende Leinwände, gesungen aus Tausenden Kehlen. Das Schicksal selbst ergreift bei Nacht ihre Hand und zeigt ihr, was es für uns alle geplant hat.

Vor Jahren hat mir Morgana mal erzählt, mit welchem Teil ihrer Aufgabe sie am meisten zu kämpfen hat.

»Ich kämpfe nicht mit dem Wissen. Ich kämpfe nicht mit all der Trauer und dem Leid, das ich schon kenne, bevor es geschieht. Ich kämpfe mit der Aufgabe, zu wissen, wann ich anderen davon erzählen sollte und wann ich es für mich behalte. Ich bin eine Prophetin. Aber die Mythen aus allen Kulturen dieser Welt verraten, dass Prophezeiungen mehr Unheil anrichten, als sie letztendlich verhindern.«

In ihren Augen liegt heute nur Zuneigung. Doch ich erinnere mich an diesen einen Morgen, als sie nach einem besonders intensiven Traum neben mir aufgeschreckt ist. Bis zu dem Tag, an dem ich sterbe, werde ich ihren Gesichtsausdruck nicht vergessen. Sie hat mich angesehen, als wäre ich der Ursprung allen Übels auf dieser Welt. Sie hat mir nie verraten, was sie in dieser Nacht gesehen hat. Sie hat es niemandem verraten.

Doch weil ich diesen Blick aus ihren Augen kenne, habe ich ihrem Gesicht seither misstraut, wenn es nur von Sanftheit gesprochen hat. Es kann nur eine Lüge sein.

»Irgendwas passiert hier.« Auf einmal flüstert Morgana und sieht sich zu beiden Seiten um, um sicherzugehen, dass wir immer noch allein sind. Hat sie Angst, belauscht zu werden? »Die Oberhexen wollen es nicht erklären.«

»Nichts Neues, würde ich sagen.«

»Das nicht. Aber … ich hatte Träume.«

Sofort sitze ich aufrechter auf dem Stuhl. »Was hast du gesehen?«

Trauer trübt ihren Blick. Sie setzt an, doch bevor sie es mir verraten kann, werden wir unterbrochen.

»Lilith!«

Wir zucken beide ertappt zusammen, dabei haben wir nichts Verbotenes getan.

Astrid steht im Türrahmen ihres Büros und sieht zu uns herüber. Wenn sie meinen Namen sagt, klingt es, als wäre ich ein Soldat, der noch nicht richtig salutiert.

Morgana erhebt sich und richtet reflexartig ihre Bluse. So verhält man sich in Anwesenheit der Oberhexen.

Astrid schenkt ihr jedoch keine Beachtung, weil ihre ganze Aufmerksamkeit auf mir ruht. Meine Patentante ist streng. Sie ist aber auch die einzige Familie, die mir noch geblieben ist.

Sie trägt ein Wickelkleid aus schwerem, weinrotem Samtstoff und ein farblich passendes Brillengestell.