Ihr müsst bleiben, ich darf gehen - Dietmar Wischmeyer - E-Book

Ihr müsst bleiben, ich darf gehen E-Book

Dietmar Wischmeyer

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Beschreibung

Er ist der fünfte apokalyptische Reiter, immer unterwegs zwischen Fallbeil und Senkgrube – Dietmar Wischmeyer. In diesem Buch widmet er sich der Gattung »Deutsche Menschen«, all jenen Bekloppten und Bescheuerten, die uns Tag für Tag zeigen, in welchem Land wir eigentlich leben: vom Dirndlbegeisterten FDP-Brüderle über Dauercamper an der Autobahn bis hin zum ohrenbetäubenden Wacken- Festival, das man buchstäblich nur kopfschüttelnd ertragen kann ...

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Das Buch

Neue hinreißend niederträchtige Geschichten, Portraits und Satiren von einem der erfolgreichsten Protagonisten der deutschen Humorwirtschaft.

Dietmar Wischmeyer entlarvt die Deutschen erneut als Volk der Doofen und Deppen: vom Dirndl-begeisterten Brüderle über Dauercamper an der Autobahn bis hin zum ohrenbetäubenden Wacken-Festival, das man buchstäblich nur kopfschüttelnd ertragen kann.

»Seit der WM 2006 haben die Deutschen angeblich angefangen, sich selbst zu mögen. Jedes einzelne verkaufte Buch von Dietmar Wischmeyer hilft, diesen verhängnisvollen Trend zu stoppen.«

Oliver Welke

»Wischmeyers Geschichten zählen zum Besten, was es in Zeiten inflationärer Prosecco-Bespaßung zu hören und lesen gibt – schwarzhumorig, wortgewaltig und liebenswert subjektiv.«

Hans Werner Olm

Der Autor

Dietmar Wischmeyer, Radiomacher (u.a. »Wischmeyers Schwarzbuch« bei radio eins rbb), Autor und TV-Kolumnist (heute-show im ZDF), zählt zu den erfolgreichsten Komikern Deutschlands. Er erfand das legendäre Frühstyxradio, schuf die beliebte Comedy-Serie »Der kleine Tierfreund« und tourt jedes Jahr mit wechselndem Programm durch Deutschland.

DIETMAR WISCHMEYER

Ihr müsst bleiben,ich darf gehen

Zu Besuch bei deutschen Menschen

ullstein extra

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN978-3-8437-0620-9

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013Fotos im Buch: Dietmar Wischmeyer, Udo Karduk,Ralf Vielhauer, Nora Köhler, Harm WörnerUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotive: Frank Wilde

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

eBook:Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Vorneweg:

Ihr müsst bleiben, ich darf gehen

Wie hält sich der Mensch nur gegenseitig aus?

Das ist die Frage aller Fragen.

Gar nicht, lautet die Antwort, die uns täglich über die Medien erreicht: Ehegattensplitting mit der Axt, Amoklauf und Bürgerkrieg: Der Mensch zeigt auf vielerlei Weise seine Abscheu vor dem Nächsten. Ist man zwangsweise eingepfercht mit anderen Steißgeburten, im Lift, im Ferienflieger, im An-sich-Handy-freien-ICE-Abteil, beginnt man fast sofort mit Betreten der Klause die anderen zu hassen.

Man malt sich aus, wie sie wohl reagierten, wenn Panik ausbräche: Der fette Tortenarsch dort hinten oder die Moschus emittierende Wachtel neben dem Eingang. Und doch wohnt diesen Momenten auch ein Quäntchen Glück inne: Wenn die Tür sich öffnet und jeder seiner Wege geht, dann wird zur Gewissheit, dass man zumindest diese Tröten nie im Leben wiedersieht. Noch größer ist das Glück, wenn man zu den vom Schicksal Begünstigten gehört, die einen unseligen Ort auf Nimmerwiedersehen verlassen dürfen: Schulabschluss oder Haftentlassung – wie ergötzlich ist der Blick in die traurigen Gesichter jener, die zurückbleiben müssen: Pädagogikvollzugsbeamte, Wärter: Lebenslängliche allesamt. So muss auch den Apologeten der menschlich wertvollen Begegnung gesagt sein: Selten haftet ihr einzig Freude an, viel häufiger wird einem warm ums Herz, wenn man Leute nie wiedersieht. Es stellt sich nun die Frage, ob wir dieses kleine Glück am Wegesrand nicht absichtlich herbeiführen können.

Hier kommt die tröstliche Antwort: Yes, we can! Dazu muss man gezielt Ausflüge in die Zwangsgemeinschaften anderer unternehmen. Sich mal unter die Gäste einer betrieblichen Weihnachtsfeier mischen, die Ortsgruppensitzung einer Partei oder anonym den Elternabend der 9 b besuchen. Dort sitzt man dann und kann sich wohlig gruseln an dem unglaublichen Schwachsinn, der verzapft wird, man darf verstohlen beobachten, wie Eitelkeit und Dummheit die Klinge kreuzen. Je länger man dem Treiben zuschaut, desto größer und schöner wächst eine Gewissheit heran. Die anderen im Mief ihrer Gemeinschaft zurücklassend, öffnet man still und leis’ die Tür hinaus in die Freiheit und flüstert, tief durchdrungen vom Glück:

Ihr müsst bleiben, ich darf gehen.

Allen Lesern dieses Buches wünsche ich ebensolche Momente, wenn sie in die folgenden Geschichten eintreten.

Arbeit

Grundübel allen irdischen Seins

Am Totensonntag öffnen sich nicht die Gräber, sondern die Kollegen machen das, was sie immer machen, nämlich: tot bleiben. Warum stehen dann ausgerechnet am Tag der Arbeit landesweit die Räder still? Es ist nur einer der tausend Widersprüche, die an der Erbsünde der Menschheit haften. Als die einstigen Jäger und Beerensammler den Ackerbau entdeckten, war’s mit der Dolce Vita vorbei. Statt dem todbringenden Mammut auf den Pelz zu rücken, zog der alte Kämpe den Hakenpflug durch den Dreck. Dies war die Erfindung der Arbeit und gleichzeitig die Ur-Demütigung des Mannes. Noch bis vor wenigen Jahren gab es auch bei uns Gegenden, in denen Männer, die das Dorf verlassen mussten, um »auf Arbeit« zu gehen, als Versager und Parias galten. Demgegenüber steht die Heiligsprechung des Arbeiters im Sozialismus, der Arbeit als solcher bei den Protestanten und dem Arbeitsplatz als Ort der Sehnsucht im Versorgungsstaat. Gerade gelesen: Eine Stadtverwaltung rechtfertigt das Aufstellen von weiteren schikanösen Radarfallen mit dem Argument, dadurch würden Arbeitsplätze in der Arschbreitsitzerbude gesichert. Anderes Beispiel: Wochenlang ging ein Jammern durch die Medien, als die Drogeriehölle Schlecker endlich pleiteging. Es wurde den Arbeitsplätzen hinterhergetrauert, statt sich darüber zu freuen, dass niemand mehr sein Leben für so einen Scheißladen verschwenden musste. Selbst bei den hedonistischen Grünen rechtfertigt die Schaffung von Arbeitsplätzen fast alles, solange sie nicht selber dort den Tag vergeuden müssen. Auf der anderen Seite wird für bedingungsloses Grundeinkommen und höhere Hartz-IV-Sätze gestritten – Lebensformen, die ohne Lohnarbeit auskommen. Wohin soll’s denn nun gehen? So viel ist gewiss: Die Produktivität unserer Gesellschaft hängt nicht davon ab, dass hunderttausend Spaten-Paulis einen Bahndamm aufschütten, sondern davon, dass wenige hochqualifizierte Kräfte die Innovationsmaschinerie weiter befeuern. Wie also hält man den restlichen Besatz der mitteleuropäischen Taiga bei Laune? Blödmann-Fernsehen, Fußball, Shopping-Sucht hilft – aber der beste Haftplatz für den latent nörgelbereiten Bürger ist immer noch der Arbeitsplatz. Da steht er unter ständiger Aufsicht, sozialer Kontrolle, und der Kopf hat zu tun. Ein ganzes Volk in Lohnabhängigkeit ist deshalb der Traum einer jeden Partei, denn wenn er arbeiten muss, denkt der Mensch nicht darüber nach, wie er um sein kleines Leben beschissen wird.

Monogamie

Bei Bier würd’s vielleicht funktionieren

Monogamie: auch so eine lästige Erfindung der Menschheit. Wie die Straßenverkehrsordnung funktioniert sie leidlich gut, weil sie kein Mensch wirklich einhält. Bei einer Autofahrt von mehr als 50 Kilometer im Stadt-Land-Mix hätte der durchschnittliche Deutsche sein Punktekonto vollgeladen – würden denn alle Verfehlungen geahndet. Hier zehn Klamotten zu schnell, dort etwas zu dicht aufgefahren, einem Fußgänger den Vogel gezeigt – was man halt so macht, um im Kreise der anderen Vollidioten nicht komplett durchzudrehen. Da geht’s in der monogamen Verkehrsordnung weniger hektisch zu: Die Übertretungen sind weitaus seltener, wenn sie denn aber ans Tageslicht geraten, hagelt es Breitseiten. Da werden berufliche oder zumindest finanzielle Existenzen vernichtet und Kontaktsperren zum eigenen Fleisch und Blut errichtet – alles nur wegen der beschissenen Natur. Denn damit wir uns überhaupt an ein gleichartiges Säugetier binden, bedarf es der Ausschüttung eines Hormons namens Oxytocin. Mutter und Säugling kleben damit zusammen, aber auch Mann und Frau. Wie’s die Andersrummen zusammenhält, da rätselt der Biologe anscheinend noch. Die monogam lebende Präriewühlmaus hat den Arsch voll Oxytocin, ihre Cousine, die Bergwühlmaus nicht, die nämlich ferkelt rum wie einst im alten Rom. Injiziert man nun dem hedonistischen Kameraden Oxytocin, ist Schluss mit dem wirren Rumgevögel. Der Mensch – namentlich die männliche Version – ist nun ähnlich gestrickt wie die Prärievariante. Nach sieben Jahren Paarbindung geht der Oxytocinwert in den Keller, das hat die Natur mal so eingerichtet, weil im Pleistozän die Blagen dann schon das Abitur hatten und flügge wurden. Heute bleibt die Fruchtfolge länger im Nest, und Elterntiere hält nicht mehr der Hormonspiegel zusammen, sondern der Geist von Stalingrad: durchhalten gegen alle Vernunft. Wenn die Welt dann nach einem weiteren Jahrzehnt sexueller Dürre wieder mehr Vorstellung wird als eiserner Wille, bricht der Trieb durch die Asphaltdecke der Konvention, und angewelkte Politiker oder Generäle bespringen, was ihnen vor die Flinte gerät. Wer will es ihnen verdenken, zu Hause wohnt ein großes warmes Tier, das ihnen vertraut erscheint wie ein altes Sofa – aber wer treibt’s schon mit einem alten Sofa? Um die eruptive Entladung nach Jahrzehnten stählerner Monogamie zu vermeiden, erfand der Mensch die Scheinheiligkeit: Geliebte, Seitensprünge, Eine-Nacht-Ständer oder »Ich-muss-heute-länger-im-Büro-bleiben-Schatz«-Ausflüchte. So funktioniert die monogame Welt bis heute nach dem Prinzip des Sich-nicht-erwischen-Lassens, und ein jeder wurschtelt sich irgendwie durch, genau wie im Straßenverkehr. Doch das moralische Provisorium hat bald ein Ende. Wir alle werden zu monogamen Bergwühlmäusen, denn die Wissenschaft hat festgestellt, dass Oxytocin als Spray, täglich oben in den Zinken reingeblasen, verhindert, dass unten die Gurke sich außerehelich einen blasen lässt. Schöne neue Welt – wieder ein Spaß weniger!

Nichtreligiöse Gefühle

Zentralrat der Aufgeklärten in Deutschland

»Ich fühle mich in meinen nichtreligiösen Gefühlen belästigt.« Seltsamerweise hört man diesen Satz nie, obwohl das göttliche Geschwurbel allmählich beängstigende Ausmaße annimmt. Da reden äußerlich ganz normal wirkende Mitbürger in meiner Gegenwart von Wesen, die es offensichtlich gar nicht gibt. Da werden Ansichten und Handlungsweisen damit begründet, dass es genauso irgendwo aufgeschrieben stehe und der Autor gar kein Mensch sei, sondern wieder dieses merkwürdige Wesen. Ich bin ja durchaus bereit, eine gewisse Nähe zum Irrsinn zu tolerieren, aber man muss sich doch nicht vollkommen lächerlich machen! Über das Programm des neuen Papstes wird selbst in seriösen Medien gesagt, es würde in enger Abstimmung mit Gott entworfen. Dass der Papst selber diesen Unsinn glaubt, geht vollkommen in Ordnung, denn sonst wäre er ja arbeitslos, aber mir möge man doch bitte nicht so einen Bären aufbinden. Verarschen kann ich mich alleine. Meinetwegen können Menschen so viel religiöse Gefühle haben, wie in dem Hohlraum zwischen ihren Ohren Platz findet – es gib Schlimmeres. Zum einträglichen Miteinander in einem modernen Gemeinwesen gehört allerdings, anderen nicht mehr als nötig mit seiner spezifischen Jenseits-Macke auf die Nüsse zu gehen. Nicht draußen rumlaufen wie eine Vogelscheuche, keine schwachsinnigen Druckwerke verteilen, keine Menschen in die Luft sprengen, nur von Manitu reden, wenn man ausdrücklich darum gebeten wird. Wird all das eingehalten, bleiben meine nichtreligiösen Gefühle unversehrt. Im Gegenzug bin ich dann auch gerne bereit, diesen ganzen religiösen Kram um mich herum einfach schweigend hinzunehmen. Das Grundgesetz garantiert die freie Religionsausübung, die freie Nichtreligionsausübung allerdings auch. Ein neuer Papst ist eine tolle Sache und für dessen Anhänger bestimmt genauso ein irres Gefühl, wie es der Triple-Sieg für Bayern-Fans war – das freut mich für alle, denen es ein paar Endorphine zusätzlich ins System bläst. Mir ist es aber egal. Da kann man auch mal Rücksicht drauf nehmen.

Dreiste Lüge auf Kosten von Behinderten.

Alkohol

Pro mille contra bonum

Der Widersprüche sind gar viele in unserer trauten Gesellschaft, einen der merkwürdigsten aufzuzeigen ist mein heutiges Begehr. Aber jetzt Schluss mit dem schwülstigen Geblubber: Es geht ums Saufen. Also ums richtige Saufen, das von Alkohol. Wie einige vielleicht aus eigener leidvoller Erfahrung wissen, sinkt der zugestandene Alkpegel beim Chauffieren eines PKW kontinuierlich. Zurzeit sind’s offiziell 0,5 Promille, aber wer sich drauf verlässt, ist der Angeschmierte, so viel zur Rechtsicherheit in diesem Lande. Sollte nämlich ein Schutzmann der Meinung sein, das Fahrverhalten sei auffällig – sagen wir mal tatsächlich 30 fahren, wo 30 auf dem Schild steht –, dann darf schon ab 0,3 Promille die Fleppe kassiert werden. Wird man – beim folgenden Wort bitte laut lachen – unschuldig in einen Unfall verwickelt, womöglich absichtlich übergemöllert, und hat als Opfer schlappe 0,2 Promille auf dem Kessel, dann gilt man als mitschuldig weil zum Teil unzurechnungsfähig. So, und jetzt schauen wir uns die Sache mit dem Alkohol in der Rechtsprechung mal von anderer Seite an. Hat man zum Beispiel seinen Eherochen mit der Axt geviertelt und war so schlau, sich vorher eine Flasche Doppelkorn ins Gedärm zu schütten, dann ist man sogar voll unzurechnungsfähig. Das steigert aber nicht die Strafe, sondern mildert sie. Wie das? Verkehrsopfer mit ein, zwei Bieren im Pansen werden an die Kandare genommen, vollbreite Mörder hingegen in Schutz. Da sträubt sich das Rechtsempfinden des derzeitigen Nichtmörders ein wenig, und er stellt folgende Überlegung an. Sollte ich demnächst von einem Wachtmeister im PKW angehalten werden wegen angeblich beobachteter Verhaltensauffälligkeit und habe leichtsinnigerweise nur ein Glas Wein getrunken, dann wird aber ruck, zuck vom Rücksitz eine Pulle Krambambuli gefingert und stehend eingeflößt. Jetzt noch schnell dem Verkehrsförster die Bleispritze aus dem Holster gerissen und – krawumm! – das Licht ausgeblasen. Warum? Als sturzbetrunkener Affektausknipser können wir uns nun der Mildtätigkeit des Gerichts sicher sein. Ein kleines Problem liegt vielleicht in der Person des Opfers: Beamten genießen ja einen besonderen Umnietungsvorbehalt seitens des Gesetzgebers, solche wie uns darf man wesentlich ungesühnter in den einspurigen Timetunnel befördern. Wie dem auch sei, eins ist gewiss: Die angebliche Alkoholfahrt, die zu all dem führte, gerät bei einem Kapitalverbrechen leicht ins Hintertreffen. Wir kommen natürlich in den Knast, werden dort professionell ohne Zuzahlung therapiert, behalten den Führerschein, die drei Punkte in Flensburg sind auch weg, bis wir wieder draußen sind, und mit etwas Glück wurden wir in der JVA zum Mediengestalter oder staatlich geprüften Event-Manager ausgebildet. Na, Blut geleckt? Dann Prost. Alkohol – es kommt eben drauf an, was man draus macht.

Der große Knast

Utopie gar nicht mal so nirgendwo

Es gibt keine Utopien mehr, die großen gesellschaftlichen Leitbilder sind tot. Kein vernünftiger Mensch glaubt mehr an den Kommunismus, die Gleichheit aller Menschen oder auch nur die gerechtere Verteilung des Wohlstands auf Erden. Nicht mal Sahra Wagenheber will noch das Klo auf halber Treppe für alle – lieber frisst sie mit dem alten Salon-Linken im Saarland Kaviar aus der eigenen Dose. Die einzig verbliebene, halbwegs realistische Vorstellung von der Zukunft der Menschheit haben die Zeugen Jehovas: Das große Strafgericht kommt – irgendwann is Schluss mit lustig! Und obwohl sich niemand traut, es öffentlich zu sagen, steuern alle Gesellschaften, besonders so hochentwickelte wie die unsere, einem unterschwelligen Ideal entgegen. Diese Gesellschaftsutopie ist der große Knast. Immer mehr wandelt sich die hiesige Menschenansammlung in eine Lebensvollzugsanstalt. Jedes Zucken ist reglementiert, und für jede noch so kleine Übertretung gibt’s was auf die Mütze. Hier nicht rauchen, dort nicht parken, Müll zwölffach sortieren und trennen. Die Kacke, die nach dem Besuch beim Griechen in der Kloschüssel liegt, ist als Sondermüll zu entsorgen. Ausgehverbot für Männer nach 22 Uhr ist nur noch eine Frage der Zeit. Überall lauert eine Webcam, und nicht nur Google und Fratzenbuch habe längst ein Bewegungsprofil über uns angelegt. Was noch fehlt an Infos, stellt die verblödete Datenkrampe freiwillig selbst ins Netz. Und wenn die Halbe-Hähnchen-Partei »Piraten« nicht schon im Embryonalstadium abgetaucht wäre, dann hätte man sich schon bald nach den Trotteln von den GRÜNEN zurückgesehnt.

Ja, so schaut er aus, der virtuelle Gesamtknast, auf den wir uns zubewegen. Kein Ort, nirgends, über dem nicht eine Drohne kreist und ausspäht, was wir so treiben hienieden auf dem Planeten, den wir uns einst untertan machten. Von außen werden wir aus dem All fotografiert, und in uns drin hat der Onkel Doktor heimlich mit der letzen Tetanus-Spritze einen Nano-Chip implantiert. Der gehört der Krankenkasse, einem Tiefkühlpizza-Produzenten oder wer sonst noch über unser Inneres Bescheid wissen will und die Penunzen auf den Tresen gelegt hat. Doch siehe, erhebt der Romantiker seinen Finger, die Gedanken aber sind frei. Denkste! In deinem Hirn läuft jetzt folgender Film: eine bunte Frühlingswiese mit Tausenden von Schmetterlingen, dann kommt ein Hubschrauber, rattatatatatata, reißt die Luke auf und wirft einen großen Kübel Hundescheiße ab. Sag nicht, dass du das jetzt nicht vor Augen hattest. Und wenn ich das schon schaffe, was vermag dann erst RTL II oder die Regierung?

Gut und böse

Gar nicht mehr so leicht zu unterscheiden

In Meck-Pomm und auch vereinzelt in Sachsen sind braune Biobauern aufgetaucht, also Nazis mit Ökosiegel, den grünen Daumen zum Deutschen Gruß erhoben. Wie gemein vom rechten Rand! Die Nazis haben wohl vor gar nichts mehr Respekt. Erst machen sie uns die Springerstiefel und das Lonsdale-T-Shirt madig und nun auch noch den handgeformten Ziegenkäse. Stell dir vor, du gehst bewusst und aufgeklärt in den Bioladen, kaufst ein paar bei Vollmond abgepellte Maiskolben und ahnst nicht einmal, dass dahinter der Bio-Nazi lauert, der mit dem brutalen Maishäcksler dem fremdländischen Kukuruz die Köpfe absäbelt. Und des Nachts schleicht ein anderer brauner Bursche auf sein Kürbisfeld, um allen Kürbissen Schnäuzer aufzupinseln oder Kopftücher umzubinden. Mit dem deutschen Spaten wütet er auf dem Acker, zerschmettert Kopf um Kopf, nur um aus den Kernen wertvolles Kürbiskernöl für die ahnungslosen Selbstgestrickten in den Reformhäusern zu gewinnen.

Die heile Welt des bewussten Essers ist beschädigt: braune Biobauern, Hilfe! Schon melden sich besorgte Bürger, die gesehen haben wollen, wie sich Nazis Energiesparleuchten kaufen. Dürfen die das überhaupt? Gehört die Energiesparleuchte nicht zum linken Kulturgut? Ist es nicht schon schlimm genug, dass es Schwule in der FDP, ja sogar in der CSU gibt? Gehört nicht schwul sein zum linken Selbstverständnis? Alte Gewissheiten gehen verloren: Wird es schon bald einen Gesprächskreis aufgeklärter Faschisten in der NPD geben, in dem über soziale Gerechtigkeit diskutiert wird? Werden Frauen in Führungspositionen genau solche Riesenarschlöcher sein wie Männer? Wer sind denn die Guten, wer die Bösen? War nicht Adolf Hitler genau wie Mahatma Gandhi Vegetarier? Und ist nicht der Kampfpanzer Leopard 2 besser gedämmt als ein Niedrigenergiehaus? Wenn man den Mais in die Tanks unserer Autos kippt, ist das gut gegen den Klimawandel, und in Afrika breitet sich die Sahara nicht so schnell aus – aber das ist dem Afrikaner scheißegal, denn er ist schon tot, weil unsere Autos ihm den Mais weggefressen haben. Und wie ist das mit braunem Zucker, kommt der auch von den Nazis oder wird er fair gehandelt aus Jamaika importiert? Ist die Nussschnitte mit radioaktiven Nüssen aus Skandinavien schlimmer oder besser als die mit Nüssen aus China, die von Kinderhänden geknackt werden? Ach scheiße – gib mir noch’n Bier! Aber eins von hier!

Versorgungslücke

Früher nannte man es »Leben«

Der demographische Wandel beginnt schon sehr früh, so ab 35 Lenzen etwa mit einer Versorgungslücke im Hirn des Bundesblödmanns nebst Begattin. Ab da nämlich macht er sich im Wesentlichen nur noch Gedanken darüber, wie er seine fetten Jahre ab 60 fristet. Vorbei die Zeit, in der noch 70-Jährige Unternehmen gründeten und voller Tatendrang in die Zukunft blickten, besser als sieches Dahingreisen war es allemal. Heute dagegen soll das Rentenalter ja eine richtige Sause sein: mit eigenem PKW, dem Winter auf Malle und die halbe Woche mit Fahrradhelm am langen Arm im Wartezimmer des Facharztes rumscharwenzeln. Aber anstatt in Verzückung zu geraten, geht die Angst um vor der Versorgungslücke, den dunklen Jahren zwischen Fettlebe und Moderkiste. Was wird sein, wenn man sich kein eigenes Auto mehr leisten kann? Uaarhhhhhh, Hilfe, Mobilitätslücke! Was wird sein, wenn man zu klapprig ist, um am teuren Eigenheim noch auf die Leiter zu steigen? Alarm: Dachrinnensaubermachlücke! Das ganze Alter ist eine einzige Lücke – wohl dem, der es schafft, passgenau abzukratzen, also: Just in dem Moment, wenn der letzte Happen Riesterrente verzehrt ist und der Tank im Mercedes A-Klasse leergefahren ist, zack, fällt Opa tot von der Leiter. So erfüllt kann das Leben sein, wenn sich ein Mosaiksteinchen ins nächste fügt und nirgends eine Lücke lässt für das Unvorhergesehene – früher nannte man es Leben. Ob nun das Rentenalter gar so schröcklich ist, voll drohender Altersarmut und Pflegenotstand, will ich mal dahingestellt lassen. Allein dessen gemutmaßtes Eintreffen lähmt schon eine Generation davor, was sag ich, »eine«? Ist das Bibbern vorm demographischen Wandel nicht schon Gegenstand der Pädagogikanstalten? Eine ganze Gesellschaft macht sich zur Geisel der eigenen zusammenphantasierten Zukunftsszenarien, statt in jedem Alter tatendurstig in den nächsten Tag zu blicken. Gibt es etwas Erbärmlicheres als dieses junge Ehepaar aus der Werbung, das sich beim Sparkassenvertreter ein drittes Loch in den gemeinsamen Arsch freut, weil endlich die Versorgungslücke bis zum Verwesungsfrieden geschlossen ist? Da wünsche ich noch alles Gute bei der Abwicklung der Restlaufzeiten im Leben und viel Erfolg beim Rückbau der irdischen Hülle.