Im Angesicht des Anthropozäns - Ian Angus - E-Book

Im Angesicht des Anthropozäns E-Book

Ian Angus

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Beschreibung

»Der Titel dieses Buches ist zweideutig. Einerseits verdeutlicht er, dass der Menschheit im 21. Jahrhundert ein dramatischer Wandel unserer Umwelt bevorsteht – nicht nur zunehmende Verschmutzung und ein wärmeres Klima, sondern eine Krise des Erdsystems, hervorgerufen durch die Menschen. Der Titel ist aber auch eine Aufforderung an alle, denen die Zukunft der Menschheit am Herzen liegt, einzusehen, dass ein Überleben im Anthropozän einen radikalen sozialen Wandel voraussetzt.« – Ian Angus Angetrieben durch den unerbittlichen Drang des Kapitalismus nach Wachstum hat die rasante Verbrennung fossiler Brennstoffe unsere Welt innerhalb weniger Jahrhunderte an den Rand einer Katastrophe geführt. Es geht nicht mehr bloß um die ›Verschmutzung‹ unserer ›Umwelt‹, um steigende Temperaturen, übersäuerte Ozeane oder aussterbende Tierarten. Vielmehr ist das gesamte planetare System mittlerweile derart im Ungleichgewicht, dass bald große Gebiete unbewohnbar sein werden und unsere Zivilisation selbst bedroht ist. Die Tatsache, dass die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde maßgeblich durch die Menschheit beeinflusst werden, hat dem gegenwärtigen Erdzeitalter einen eigenen Namen eingebracht: das Anthropozän. Ian Angus schlägt eine Brücke von den Naturwissenschaften zu den Sozialwissenschaften: Anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse über die physikalischen Ursachen und Folgen des aktuellen Wandels erläutert er, was die planetare Notlage verursacht hat. Aber er untersucht auch die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die der Krise zugrunde liegen. Das Überleben im Anthropozän, so Angus, erfordert einen radikalen sozialen Wandel, der den fossilen Kapitalismus durch eine neue, ökosozialistische Gesellschaft ersetzt.

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Seitenzahl: 374

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Für Lis

meine Partnerin im Leben, in der Liebe und der Hoffnung.

Du ermöglichst mir alles.

Es ist 3:23 Uhr morgens

und ich bin wach

denn meine Ururenkel

lassen mich nicht schlafen

meine Ururenkel

fragen mich in meinen Träumen:

Was hast du getan, als der Planet geplündert wurde?

Was hast du getan, als man die Erde zerstückelte?

Sicher hast du etwas unternommen,

als die Jahreszeiten aussetzten?

Als die Säugetiere, Reptilien, Vögel, als alle starben?

Hast du die Straßen mit deinem Protest erfüllt

als uns die Demokratie genommen wurde?

Was hast du getan

als

du

das alles

wusstest?

Drew Dellinger: »Hyroglyphic Stairway«

Ian Angus

Im Angesicht des Anthropozäns

Klima und Gesellschaft in der Krise

aus dem Englischen übersetzt von Christof Mackinger

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Ian Angus: Im Angesicht des Anthropozäns

aus dem Englischen übersetzt von Christof Mackinger

1. Auflage, August 2020

eBook UNRAST Verlag, Oktober 2020

ISBN 978-3-95405-069-7

Titel der Originalausgabe: Facing the Anthropocene.

Fossil Capitalism and the Crisis of the Earth System

© 2016 Monthly Review Press

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de – [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: David Hellgermann, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

  Abkürzungsverzeichnis

  Eine ökosozialistische Perspektive entwickeln und durchsetzen – Vorwort zur deutschen Ausgabe

  Vorwort

Teil Eins – Ein völlig neuartiger Zustand

  Eins: Eine zweite Kopernikanische Wende

  Zwei: Die Große Beschleunigung

  Drei: Wann hat das Anthropozän begonnen?

  Vier: Kipppunkte, Klimachaos und planetare Grenzen

  Fünf: Die erste Beinahe-Katastrophe

  Sechs: Ein neuer (und tödlicher) klimatischer Zustand

Teil Zwei – Fossiler Kapitalismus

  Sieben: Kapitalistische Zeit vs. Zeit der Natur

  Acht: Die Entstehung des fossilen Kapitalismus

  Neun: Krieg, Klassenkampf und billiges Erdöl

  Zehn: Beschleunigt ins Anthropozän

  Elf: Wir sitzen nicht alle im selben Boot

Teil Drei – Die Alternative

  Zwölf: Ökosozialismus und menschliche Solidarität

  Dreizehn: Die Bewegung der Zukunft

  Anhang: Verwirrungen und Missverständnisse

  Nachwort zur deutschen Ausgabe

  Endnoten

Abkürzungsverzeichnis

AWG

Anthropocene Working Group (Arbeitsgruppe zum Anthropozän)

BRICS

Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika

CH

4

Methan

CO

2

Kohlenstoffdioxid

FCKW

Fluorchlorkohlenwasserstoff

ICS

International Commission on Stratigraphy (Internationale Kommission für Stratigraphie)

IGBP

Internationales Geosphären-Biosphären Programm

INDC

Intended Nationally Determined Contributions (Beabsichtigte national festgelegte Beiträge)

IUGS

International Union of Geological Sciences (Internationale Vereinigung der Geowissenschaften)

IPCC

Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat)

MEA

Millennium Ecosystem Assessment (Ökosystem-Jahrtausend-Bewertung)

N

2

O

Distickstoffmonoxid

NASA

National Aeronautics and Space Administration (Nationale Aeronautik- und Raumfahrtbehörde)

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

PIK

Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung

ppm

Parts per million (Anteile pro Million)

ppmv

Parts per million by volume (Anteile pro Million (Volumenverhältnis))

ppbv

Parts per billion by volume (Anteile pro Milliarde (Volumenverhältnis))

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Sowjetunion

UV

ultraviolette Strahlung

WBGT

Wet-Bulb Globe Temperature

Eine ökosozialistische Perspektive entwickeln und durchsetzenVorwort zur deutschen Ausgabe

Christian Zeller, 16. Juli 2020

Ian Angus kommt das Verdienst zu, mit dem Buch Im Angesicht des Anthropozäns die Erkenntnisse der Erdsystemforschung mit dem Projekt einer ökosozialistischen Gesellschaft zu verbinden. Das ist ihm außerordentlich gut gelungen. Ian Angus argumentiert gut verständlich und überzeugend, dass die Ergebnisse der Erdsystemforschung eine ökosozialistische Alternative geradezu aufdrängen und Ökosozialist*innen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in ihren theoretischen Konzeptionen und gesellschaftlichen Perspektiven berücksichtigen müssen. Ohne ein Verständnis der ökologischen und erdsystemischen Prozesse ist es nicht möglich, eine emanzipatorische Perspektive zu entwickeln.

Ian Angus zählt zu den Intellektuellen, die inspiriert durch die Arbeiten von John Bellamy Foster und Paul Burkett die ökologische Dimension von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie aufgreifen und weiterentwickeln. Er zählt zu den profiliertesten Fürsprechern einer revolutionären ökosozialistischen Perspektive. Ian Angus war seit den 1960er-Jahren in sozialistischen Organisationen in Kanada aktiv und beteiligte sich in den 1970er-Jahren an Formierungsversuchen revolutionär-sozialistischer Organisationen. Seit den frühen 1980er-Jahren betätigte er sich als unabhängiger marxistischer Autor, Bildungsarbeiter und Aktivist. 2007 lancierte er die weit beachtete ökosozialistische Internetzeitschrift Climate and Capitalism. Zusammen mit Michael Löwy und Jovel Kovel gründete er im selben Jahr das Ecosocialist International Network. Er beteiligte sich an der Ausarbeitung der im Januar 2009 auf dem Weltsozialforum von Belém beschlossenen Belém Ecosocialist Declaration (Löwy 2016: 163-172; Angus 2009: 231-236), die als Grundlage für die weitere Entwicklung dieses internationalen ökosozialistischen Netzwerks dienen sollte. Leider versandete dieser erste ökosozialistische Zusammenschluss. Im Januar 2020 initiierten John Molyneux und andere einen weiteren Versuch zur internationalen Formierung und gründeten das Global Ecosocialist Network (Löwy 2020). Das GEN verfolgt das Ziel, ökosozialistische Perspektiven in Bewegungen und Gewerkschaften voranzutreiben und zu verankern. Auch in diese vielversprechende Initiative bringt sich Ian Angus aktiv mit weitreichenden Denkanstößen ein.

Ian Angus ist ein Intellektueller, der Bewegungen vorantreiben will. In diesem Sinne gab er 2009 den breit angelegten Sammelband The Global Fight for Climate Justice: Anticapitalist Responses to Global Warming and Environmental Destruction heraus. Damit intervenierte er in die entstehende Klimabewegung. Antikapitalistische und ökosozialistische Aktivist*innen aus verschiedensten Ländern der Welt antworten in diesem Buch auf zwei zentrale Fragen unserer Zeit: Warum zerstört der Kapitalismus die Bedingungen, die das Leben auf der Erde ermöglichen? Wie können wir diese Zerstörung stoppen, bevor es zu spät ist? Die Autor*innen weisen auf den Zusammenhang der ökologischen Zerstörungen und der Armut hin, enthüllen die Vorstellung eines ökologischen Kapitalismus als Illusion oder Propaganda und dokumentieren Ansätze einer ökosozialistischen Programmatik (Angus 2009). Zusammen mit Simon Butler argumentiert Ian Angus im 2011 erschienen Buch Too Many People? Population, Immigration, and the Environmental Crisis gegen reaktionäre Strömungen im Umweltdiskurs. Die beiden Autoren widerlegen gut verständlich den Mythos, dass das Bevölkerungswachstum Ursache der Umweltzerstörung sei. Gleichermaßen entkräften sie den Irrglauben der Konsumentensouveränität und zeigen, dass vielmehr die Art und Weise der Produktion und somit die Akkumulation des Kapitals infrage zu stellen ist (Angus und Butler 2011). Mit Facing the Anthropocene, dessen deutsche Übersetzung hiermit nun vorliegt, gelingt Ian Angus (2016) ein schlüssig argumentiertes Werk, um den Dialog zwischen Naturwissenschaftler*innen und Ökosozialist*innen voranzutreiben und um sozialistische Aktivist*innen dazu anzuregen, sich mit wichtigen Erkenntnissen der Erdsystemforschung auseinanderzusetzen. Seine 2017 unter dem Titel A Redder Shade of Green: Intersections of Science and Socialism herausgegebene Sammlung von Essays, Interviews und Redebeiträgen setzt diesen fruchtbaren Dialog fort (Angus 2017).Wer sich dem Schaffen von Ian Angus lieber anhand kürzerer Artikel annähern will, suche nach seinen zahlreichen Beiträgen in Zeitschriften wie Monthly Review, New Scientist, International Socialism und in der bereits erwähnten Internetzeitschrift Climate and Capitalism.

Dankenswerterweise gibt der Unrast Verlag dieses wichtige Buch in deutscher Sprache heraus. Die Umwelt- und Klimabewegung sowie sozialistische Aktivist*innen und Theoretiker*innen haben die stark von John Bellamy Forster, Paul Burkett, Victor Wallis und Ian Angus geprägte ökosozialistische Debatte noch kaum aufgegriffen. Mit dem Buch Im Angesicht des Anthropozäns haben nun auch deutschsprachige Leser*innen die Gelegenheit, diesen äußerst anregenden ökomarxistischen Zugang kennenzulernen. Ich hoffe sehr, dass das Buch auf reges Interesse stößt.

Das ist umso wichtiger, als kürzlich in deutscher Sprache etliche Bücher zum Anthropozän erschienen sind und zur Auseinandersetzung einladen. So hat Michael Müller (2019) einen Band mit Schlüsseltexten von Paul Crutzen herausgeben. Crutzen führte im Jahr 2000 den Begriff Anthropozän ein und verficht ihn seither in der Wissenschaftswelt. Eine kurze und gut verständliche Einführung in die wissenschaftlichen Debatten über das »Anthropozän als wissenschaftliche Hypothese« und über die Frage, wann dieses begann, bietet Erle Ellis (2020). Gerade diese beiden Bücher, die beide nicht auf die Zwänge der kapitalistischen Produktionsweise eingehen, zeigen allerdings auch, wie wichtig die von Ian Angus vertretene ökosozialistische Perspektive ist.

Anthropozän: naturwissenschaftliche Erkenntnisse und ökosozialistische Perspektive zusammenbringen

Ian Angus präsentiert im ersten Teil von Im Angesicht des Anthropozäns wichtige Erkenntnisse der Erdsystemforschung, die bislang in der Öffentlichkeit wenig beachtetet und auch von Sozialist*innen kaum aufgegriffen wurden. Er zeigt eindrücklich, dass das Erdsystem qualitativen Veränderungen unterliegt, die sich diskontinuierlich und abrupt vollziehen. Die durch die kapitalistische Industrialisierung verursachten Veränderungen haben die Erde in eine erdgeschichtliche Epoche geführt, die namhafte Naturwissenschaftler*innen als Anthropozän bezeichnen. Die stabile Phase des Holozäns, die nach der letzten Eiszeit einsetzte und rund 11.700 Jahre dauerte, ist vorbei. Doch genau die angenehme Klimakonfiguration des Holozäns ermöglichte erst die Entwicklung der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen. Der Übergang in die neue geologische Epoche des Anthropozäns, die sich ihrerseits weiterhin auf unvorhersehbare und gefährliche Weise verändert, stellt die menschliche Gesellschaft vor eine unermessliche Herausforderung, deren Tragweite noch kaum abzuschätzen ist.

Diese Veränderungen des Erdsystems sind Ergebnis der Durchsetzung der kapitalistischen fossilen Produktionsweise, deren Zwänge und Prozesse Ian Angus im zweiten Teil des Buches offenlegt. Die Fülle der durch die kapitalistische Akkumulationsdynamik ausgelösten Veränderungen des Erdsystems bewirkten einen qualitativen Bruch. Darum ist das Anthropozän nicht nur ein biophysisches, sondern auch ein sozial-ökologisches Phänomen. Die kapitalistische Industrialisierung eröffnete einen Prozess, der schließlich mit der Mitte des 20. Jahrhunderts in Gang gesetzten ›Großen Beschleunigung‹ dazu führte, dass der Planet Erde in das neue geologische Zeitalter des Anthropozäns eintrat.

Im dritten Teil argumentiert Angus überzeugend, dass sich nur mit einer ökosozialistischen Gesellschaftsveränderung, die mit den Zwängen der Kapitalakkumulation, des Profits und der Konkurrenz bricht, das Anthropozän auf eine lebens- und gesellschaftsfreundliche Weise gestalten lässt.

Das Erdsystem verändert sich dramatisch

Die Erderhitzung ist die offensichtliche ökologische Herausforderung unserer Zeit. Das Budget der Treibhausgasemissionen ist aufgebraucht. Wenn sich die Temperatur noch etwas mehr erhöht, drohen Kipppunkte erreicht zu werden, die eine verhängnisvolle Eigendynamik auslösen und die Erderhitzung zusätzlich antreiben. Eine derartige Kaskade von sich gegenseitig verstärkenden Mechanismen führt dazu, dass sich die Erde zu einem heißen Planeten entwickelt, der für die gegenwärtigen menschlichen Gesellschaften und für viele weitere Arten nur noch eingeschränkt bewohnbar ist (Steffen, et al. 2018).

Allerdings haben weitere ökologische Belastungen ein bedrohliches Maß angenommen. Die ›Große Beschleunigung‹ ließ spätestens seit den 1950er-Jahren alle relevanten Tragfähigkeitskennzahlen steil ansteigen, so stark, dass mittlerweile die planetaren Grenzen in vielen Bereichen erreicht oder überschritten sind (Rockström, et al. 2009; Steffen, et al. 2015). Die Forscher*innen des internationalen Planetary Boundaries Programms stellten fest, dass die Weltgesellschaft bereits mehrere Grenzen überschritten hat oder kurz davor ist, sie zu überschreiten. Dazu zählen der Verlust der Biodiversität, die Versauerung der Ozeane, Landnutzungsänderungen durch Abholzung und der Stickstoff- und Phosphoreintrag in die Biosphäre und Atmosphäre (Steffen, et al. 2015, vgl. Kapitel 4 in diesem Buch). Der Eingriff in den globalen biochemischen Stickstoffkreislauf durch den Eintrag industriell hergestellten reaktiven Stickstoffs ist noch weitreichender als die globalen Kohlenstoffdioxidemissionen (Angus 2019; Ellis 2020: 89 ff.). Die umfassende ökologische Krise ist Ausdruck des Widerspruchs zwischen den planetaren Grenzen des Wachstums und der endlosen Akkumulationsdynamik des Kapitals (Mahnkopf 2014; Harvey 2014; Chesnais 2016, vgl. Kapitel 7 in diesem Buch).

In diesem strategischen Zusammenhang erinnert uns Ian Angus an ein wichtiges Kennzeichen der Naturgeschichte, das wir beachten müssen. Die Entwicklungen verlaufen nicht linear. Die erdgeschichtlichen Prozesse schlagen in ihrer Kombination und Quantität an bestimmten Momenten plötzlich in eine neue Qualität um und läuten damit ein neues Erdzeitalter ein (vgl. Kapitel 4 in diesem Buch). Im Anthropozän haben sich diese Veränderungen massiv beschleunigt. Auch die gesellschaftlichen Entwicklungen verlaufen nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft. Das gilt ganz besonders für die kapitalistische Produktionsweise. Stabile Phasen werden durch eine Häufung von Krisen abgelöst. Je nach gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen können diese Krisen durch revolutionäre Umwälzungen in eine neue gesellschaftliche Ordnung münden.

Wir befinden uns in einer dramatischen Situation. Die atmosphärische Treibhausgaskonzentration steigt weiterhin an. Die Gesellschaften sind nicht einem allmählichen Klimawandel ausgesetzt, vielmehr drohen abrupte Veränderungen und eine Häufung von Wetterextremen, die wiederum gesellschaftliche Katastrophen auslösen. Die Interessensvertreter*innen des Kapitals und die Regierungen, gefangen in ihrer Logik der Wettbewerbsfähigkeit, sind weder willens noch in der Lage, die Produktion, den Transport und den Konsum so stark zu dekarbonisieren, dass die Erwärmung auf 1,5 ° Celsius begrenzt wird. Dieses Ziel lässt sich nur verwirklichen, wenn in den imperialistischen Ländern einschließlich China radikale industrielle Rück- und Umbauprogramme umgesetzt werden. Das ist allerdings unter den gegebenen Machtverhältnissen und ohne Bruch mit der kapitalistischen Profit- und Konkurrenzlogik nicht erreichbar. Die großen Konzerne werden nicht bereit sein, ihr mit den fossilen Energieträgern verbundenes Kapital entwerten zu lassen. Darum sind die sozialen Anliegen der Arbeiter*innenbewegungen, mit den Kämpfen der feministischen Bewegungen und Umweltbewegungen in einem ökosozialistischen Programm zu vereinen. Ian Angus plädiert für den Aufbau einer internationalen ökosozialistischen Bewegung (vgl. Kapitel 12 in diesem Buch). Diesem Vorhaben schließe ich mich uneingeschränkt an. Ich stelle im Folgenden einige Überlegungen an, über die sich eine neu zu formierende ökosozialistische Bewegung verständigen sollte.

Mit einer ökosozialistischen Umwälzung den ökologischen Riss beheben

Zunächst geht es um das Verständnis der kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsweise. Diese beruht auf drei miteinander verschlungenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Erstens stützt sich die kapitalistische Produktionsweise darauf, dass Unternehmen unter dem Zwang der Konkurrenz Kapital akkumulieren und möglichst überdurchschnittliche Profite erzielen müssen. Damit ist der Zwang zu Wachstum und zu einem steigenden Ressourcenverbrauch verbunden. Im Zuge der Produktion neuer Werte eignet sich das Kapital unbezahlte Mehrarbeit in Form eines Mehrwerts durch die Ausbeutung der Lohnarbeit an.

Zweitens können die Lohnarbeitenden nur arbeiten, wenn sie ernährt, aufgezogen, gebildet, gepflegt und umsorgt werden. Es braucht also auch jene, welche die Lohnabhängigen reproduzieren. Das sind zumeist Frauen. Das heißt, die Aneignung unbezahlter Mehrarbeit in Form des Mehrwerts ist auf die Erschließung unbezahlter reproduktiver Arbeit angewiesen.

Drittens beruht der ganze Verwertungsprozess des Kapitals auf dem Raubbau an der Natur. Jeder Produktionsprozess, jeder Transportvorgang und jede Konsumtätigkeit ist immer zugleich auch eine Interaktion mit der Natur. Marx bezeichnete das mit dem treffenden Begriff des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur. Wenn wir also einen anderen Umgang mit der Natur pflegen wollen, müssen wir anders und weniger produzieren, den Transport anders organisieren und anders konsumieren.

Diese drei Verhältnisse bestimmen die gesellschaftlich und räumlich ungleiche Entwicklung und sind ihrerseits Ausdruck derselben. Die kapitalistische Produktionsweise bringt den Imperialismus hervor und damit unterschiedliche Formen von Dominanz und von Wertetransfers von dominierten zu dominierenden Ländern. Die Ausbeutung der Lohnarbeit und der Reproduktionsarbeit sowie der Raubbau an der Natur und die internationale imperialistische Expansion gehen zwingend miteinander einher. Eine emanzipatorische Umwälzung der Gesellschaft zur sozialen Befreiung muss eine Überwindung dieser Verhältnisse durchsetzen.

Warum sind diese Feststellungen wichtig? Sie unterstreichen, dass sich alle ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen nur gemeinsam anpacken lassen und dabei immer die globale Dimension zu beachten ist. Es lässt sich nicht zuerst das Klima retten und anschließend die Frage der Diskriminierung und Ausbeutung angehen.

Die kapitalistische Produktionsweise entstand auf der Grundlage fossiler Brennstoffe. Auch die weitere Entwicklung basierte auf der Extraktion von Kohle, Öl und Gas (Altvater 2010: 138 f.; Malm 2016: 11 f., 16). Die Verbindung zwischen kapitalistischer Akkumulation und fossilen Energieträgern hat sich seither nicht gelockert. Seit das Finanzkapital ab den späten 1970er-Jahren zunehmend das Kommando über die Prozesse der Kapitalakkumulation – also die Produktion und Bereitstellung von Infrastruktur sowie, durch die private Verschuldung, sogar über den Konsum – übernommen hat, schreiten die Ausbeutung der Arbeit und die Plünderung der Natur weltweit noch schrankenloser voran (Chesnais 2016). Die Digitalisierung der Ökonomie geht ebensowenig mit einer Defossilisierung einher, denn auch sie erfordert eine energetische Grundlage und weitere Treibhausgasemissionen.

Die erforderliche Reduzierung der Emissionen würde zwangsläufig die rasche Entwertung einer riesigen Kapitalmenge, die mit den fossilen Energieträgern verbunden ist, zur Folge haben. Für die Energiekonzerne stellen ihre Reserven an Kohle, Öl und Gas Kapital dar, das sie profitabel verwerten wollen. Auf dieses Kapital werden sie freiwillig nicht verzichten. Darum widersetzen sich die wichtigsten Sektoren des Kapitals dieser Entwertung mit aller Kraft. Weil die fossilen Treibstoffe in alle Aspekte unseres Alltagslebens eingewoben sind, ist die erforderliche Defossilisierung eine umfassende gesellschaftliche Aufgabe.

Die Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie ausgelöst und beschleunigt, aber nicht verursacht wurde, ist durch einen massiven Einbruch der Wirtschaftsleistung auf globaler Ebene und tiefe gesellschaftliche Krisen gekennzeichnet. Nichts deutet darauf hin, dass die kapitalistischen Gesellschaften in den nächsten Jahren wieder zu einer stabilen Entwicklung zurückfinden. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise ist ein historischer Einschnitt von weit umfassenderem Ausmaß als die Krise 2007–2009. Sie ist für das Kapital und die Staaten eine riesige Herausforderung. Die Regierungen bremsen die gemäß der kapitalistischen Logik eigentlich anstehende Kapitalentwertung. Mit einer zusätzlichen, bislang unvorstellbaren Aufblähung der Staatsverschuldung stützen sie Konzerne des fossilistischen Kapitals, nicht zuletzt Fluggesellschaften, Flugzeugbauer und die Automobilindustrie. Damit bekräftigen sie einmal mehr, dass sie die Klimaerhitzung als nachrangiges Problem ansehen. Zugleich lösen sie mit diesen Programmen aber das grundsätzliche Problem nicht, Bedingungen zu schaffen, die es dem Kapital ermöglichen, neue Absatzmärkte profitabel zu erschließen. Das ist die zentrale Herausforderung für das Kapital. Genau darum ist anzunehmen, dass das Kapital mit umfassenden industriellen Restrukturierungen auf Kosten der Lohnabhängigen, der reproduktiv Arbeitenden und der Natur reagieren wird, um seinen endlosen Hunger nach Mehrwert zu stillen. Doch so groß die eigenen Widersprüche auch sein mögen, die kapitalistische Produktionsweise wird daran nicht zusammenbrechen (Harvey 2014). Sofern die Lohnabhängigen keinen Widerstand leisten und eine glaubwürdige gesellschaftliche Alternative durchsetzen, wird sich die kapitalistische Produktions- und Herrschaftsweise anpassen, dabei allerdings auf immer barbarischere Herrschaftsmechanismen zurückgreifen. Die kapitalistische Produktionsweise kann nur noch fortbestehen, indem sie einer zunehmend größeren Zahl von Menschen die Chancen auf Selbstverwirklichung entzieht, deren Lebensbedingungen verschlechtert oder gar deren unmittelbare physische Existenz infrage stellt und schließlich den Planeten im Anthropozän in eine lebensfeindliche Konfiguration treibt.

Die Ungleichheiten, die Verarmung und der Ausschluss großer Teile der Weltbevölkerung sowie der zerstörerische Stoffwechsel mit der Natur machen mit aller Deutlichkeit klar, dass mit der kapitalistischen Produktionsweise zu brechen ist. Diesen Bruch gilt es theoretisch und praktisch in der Alltagspolitik zu vollziehen. Entscheidend ist es, das politische und gesellschaftliche Kräfteverhältnis in den alltäglichen Auseinandersetzungen zu verändern und dabei gleichzeitig immer auch die Perspektive einer grundlegenden ökosozialistischen Umwälzung im Auge zu behalten.

Die kapitalistische Produktionsweise praktiziert einen gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur, der dazu drängt, die planetaren Grenzen zu missachten (Angus 2019). Die ›Tretmühle‹ der Akkumulation mündet in eine planetare Überbelastung und einen »allumfassenden Bruch in der menschlichen Beziehung mit der Natur« (Foster, et al. 2010: 17 f., 47). Dieser ökologische Riss ist Ergebnis eines gesellschaftlichen Risses: der Herrschaft von Menschen über Menschen (Marx 1894: 821). Foster, Clark und York argumentieren, dass die Analyse des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur den Schlüssel biete, um die Herausforderung der planetaren Grenzen zu verstehen (Foster, et al. 2010: 46). Die mit den Zerstörungen einhergehenden Katastrophen gefährden das physische Überleben von Millionen von Menschen und stellen die Reproduktion ganzer Gesellschaften infrage (Chesnais und Serfati 2004). In diesem Stoffwechsel kommt auch der ökologische Imperialismus zum Ausdruck, der durch Extraktion von ›Ressourcen‹ und die Erschließung von ›Senken‹ Zerstörungen der Umwelt auf die dominierten und abhängigen Länder abwälzt (Foster, et al. 2010: 345 ff., 370). Auch der Verlauf der Corona-Pandemie ist in die imperialistisch strukturierte Arbeitsteilung einzuordnen. Aufgrund der fehlenden Infrastruktur, der prekären Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung und der verbrecherischen Politik der politischen Eliten führt die Ausbreitung der Covid-19-Erkrankungen zur Auslöschung von Hunderttausenden von Menschen in Lateinamerika, Afrika und armen asiatischen Ländern.

Der Mensch ist Teil der Natur. Darum ist die Gesundheit des Menschen ein zentrales ökologisches Problem. Die Corona-Pandemie hat eine umfassende Gesundheitskrise offengelegt. Die Pandemie wirft auch die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit der Natur auf. Das Überspringen von Viren auf den Menschen wird durch die industrielle Landwirtschaft und das Vordringen in bislang wenig erschlossene Lebensräume von Tieren zunehmend wahrscheinlicher. Zugleich erweisen sich Fleischfabriken mit ihren prekären Arbeitsbedingungen in vielen Ländern als regelrechte Infektionsherde. Die Pandemie zeigt, wie sehr die gesellschaftlichen Verhältnisse mit der Natur gestört sind.

Karl Marx begriff den Arbeitsprozess als die Triebkraft dieser Stoffwechselinteraktion (Marx 1867: 192). Entscheidend für das Verständnis des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur ist, dass der Mensch durch seine konkrete Arbeit im Produktionsprozess diesen Stoffwechsel praktiziert. Dabei ist es unerheblich, ob die dabei erzeugten Waren materiell oder immateriell sind: Auch scheinbar immaterielle Dienstleistungen und Produkte wie Software verschlingen Naturstoff und Energie. Das Verständnis des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur durch Arbeit beruht auf der Auffassung, dass der Mensch durch Arbeit seine Existenzbedingungen herstellt und laufend verändert. In diesem Sinne ist die Arbeit eine anthropologische Konstante, sie nimmt allerdings je nach der Form der notwendigen Existenzsicherung einen spezifischen gesellschaftlichen und historischen Charakter an. Harribey schreibt dazu: »Arbeit ist sowohl Faktor sozialer Integration als auch Faktor der Entfremdung« (Harribey 2011: 27).

Die Zentralität der Arbeit und somit auch der Arbeitsprozesse, Arbeitsbedingungen, Arbeitsverhältnisse, Arbeitszeit und Arbeitsinhalte im gesamten Prozess der Produktion und Reproduktion und somit auch im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur ist in der Tat der entscheidende Aspekt einer ökosozialistischen Perspektive. Das betone ich hier ausdrücklich. Denn in weiten Teilen der Klimabewegung und im öffentlichen Diskurs dominieren individualistische Vorstellungen des Konsumverzichts und marktwirtschaftliche Vorschläge. Radikale Anhänger*innen des Postwachstums oder von Degrowth-Perspektiven plädieren für alternative Modelle solidarischen Wirtschaftens. Andere setzen gar auf den Staat und erwarten von ihm als Gesetzgeber konsequente Schritte. So unterschiedlich diese Positionen auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen, dass sie den Charakter und die Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit sowie den produktiven Apparat nicht antasten. Diese Selbstbeschränkung ist zu überwinden. Um den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur durch Arbeit ökologisch und gerecht zu organisieren, muss die Produktion komplett um- und teilweise rückgebaut sowie die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gerecht verteilt werden. Angesichts des erforderlichen Um- und Rückbaus bislang wichtiger Wirtschaftssektoren ist dieses Anliegen strategisch zentral für ein emanzipatorisches und ökologisches Gesellschaftsprojekt.

Für den Aufbau einer ökosozialistischen Bewegung ist es unumgänglich, den Bankrott der klassischen Arbeiter*innenbewegung gegenüber den ökologischen Herausforderungen anzuerkennen. Die Mehrheitsströmungen der Arbeiter*innenbewegung betrachteten die Natur gewissermaßen als Maschine und den Menschen als Maschinenführer. Mit dieser irrigen und instrumentalistischen Sichtweise ist es unmöglich, den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur umsichtig zu organisieren und die Zerstörungen zu begrenzen. Die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften huldigen seit dem späten 19. Jahrhundert einer Wachstumsideologie, um auf der Grundlage der Plünderung der Natur und der Ausbeutung der Menschen hier und in den imperialistisch dominierten Ländern den Wohlstand der hiesigen Lohnabhängigen zu steigern und die gesellschaftlichen Widersprüche zu übertünchen. Die Mehrheit der Arbeiter*innenbewegung war nicht in der Lage, eine kritische Position zum individuellen Massenverkehr, zur Industrialisierung der Landwirtschaft und zu Kernkraftwerken zu entwickeln (Tanuro 2011: 78 f.; 2015: 178). In diesem Sinne gehen der keynesianische Wohlfahrtsstaat und die stabile Phase des Fordismus mit seiner Massenproduktion und dem damit verbundenen Massenkonsum mit der Großen Beschleunigung samt ihren ökologischen Zerstörungen einher. Der endgültige Übertritt in das Anthropozän ist gewissermaßen die ökologische Kehrseite des Neo- bzw. Spätkapitalismus in der ›glorreichen Phase‹ nach dem Zweiten Weltkrieg. Die großen Gewerkschaften und die sozialdemokratischen Parteien verfolgen den ökologischen Zerstörungskurs bis heute. Das unterstreichen sie in der gegenwärtigen Krise einmal mehr, wenn sie der Subventionierung von Fluggesellschaften, Autokonzernen und anderen Unternehmen des fossilen Komplexes mit Steuergeldern der Lohnabhängigen zustimmen.

Zu dieser Bilanz gehört auch das Desaster, das die bürokratischen Diktaturen und Kommandowirtschaften in der ehemaligen UdSSR, in China und den Ländern Osteuropas anrichteten, sowohl im Hinblick auf die menschliche Emanzipation als auch auf den Stoffwechsel mit der Natur. Die stalinistisch-bürokratischen Diktaturen ahmten die kapitalistische Industrialisierung auf ihre despotische Weise nach und praktizierten ein Wachstumsmodell, das den kapitalistischen Raubbau an der Natur teilweise noch übertraf (vgl. Kapitel 12 in diesem Buch).

Um eine emanzipatorische Perspektive voranzutreiben, gilt es, eine Strategie zu entwickeln, die die folgenden Elemente beinhaltet: Ausgangspunkt sind erstens die individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse auf regionaler, nationaler und globaler Ebene, und zwar im Kontext der durch die Natur vorgegebenen Beschränkungen. Deren Befriedigung ist im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise nicht möglich. Ebenso wenig respektiert die auf grenzenloser Kapitalakkumulation beruhende kapitalistische Produktionsweise die Grenzen der Ökosysteme. Daher ist zweitens theoretisch und praktisch mit der Logik des Profits und der Konkurrenz sowie mit den Herrschaftsorganen zu brechen. Eine alternative Orientierung besteht drittens in der demokratischen gesellschaftlichen Aneignung der wichtigsten Ressourcen und der zentralen Produktionsmittel. Ich verwende den Begriff der gesellschaftlichen Aneignung im dreifachen Sinne einer Methode, einer politischen Strategie und einer realen Praxis. Anknüpfungspunkte gibt es in den meisten alltäglichen konkreten Auseinandersetzungen. Zentraler Gedanke ist immer die Selbsttätigkeit der Betroffenen. Diese Methode, Strategie und Praxis der gesellschaftlichen Aneignung soll dazu beitragen, einen Neuformierungsprozess einer vielfältigen Bewegung der Lohnabhängigen in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit voranzutreiben, also eine Formierung als Gemeinschaften der arbeitenden Klassen. Die vorgeschlagenen Orientierungen haben einen Doppelcharakter. Sie beginnen als Reformen und verfügen zugleich in ihrer Summe über eine inhärente Dynamik, die den Zwängen der Kapitalakkumulation widerspricht. Sie stellen die gemeinschaftliche Selbstermächtigung und gesellschaftliche Aneignung gegen die kapitalistische Ausbeutung der Arbeit, Entmündigung und Unterwerfung der großen Mehrheit der Menschen sowie die Plünderung und Zerstörung der Natur (Zeller 2020: 74 ff.).

Der notwendige Rückbau und die Konversion von Industrien erfordern Planung. Nur mit gesellschaftlicher Planung lässt sich dieser umfangreiche Prozess so gestalten, dass er nicht mit großer Arbeitslosigkeit, der Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung und umfassender Armut einhergeht. Auch die gesellschaftliche Aneignung der strategischen Wirtschaftssektoren macht nur in Verbindung mit demokratischer Planung wirklich Sinn. Denn wenn die sozialisierten Betriebe nicht wie private Unternehmen in Konkurrenz zueinander gestellt werden, muss es einen Allokationsmechanismus geben, der über den Markt hinausweist. Unter gesellschaftlicher Planung verstehe ich einen offenen Prozess und eine öffentliche Auseinandersetzung über mögliche erwünschte Zustände und die Maßnahmen, die zu treffen sind, um diese Ziele zu erreichen. Dieser Prozess erfordert, dass die Beschäftigten und Bürger*innen in demokratisch legitimierten Strukturen alternative Szenarios und Optionen ausarbeiten und in gesellschaftlichen Debatten einander gegenüberstellen. Diese alternativen Optionen sind in demokratischen Entscheidungsprozessen zu bestimmen. Hierfür braucht es allerdings auch die geeigneten Räteinstitutionen.

Der Kampf für Defossilisierung der Gesellschaft ist mit der Konstituierung einer neuen, pluralen Bewegung der Lohnabhängigen zu verbinden. Dieser Prozess der Neuzusammensetzung und Neuformierung einer Bewegung als organisierte Gemeinschaft der arbeitenden Klassen kann nur gelingen, wenn sich gewerkschaftliche Neuansätze und Impulse aus den Frauenbewegungen, den Umweltbewegungen und den Bewegungen gegen Rassismus verbinden und gegenseitig befruchten. Das setzt voraus, dass die Gewerkschaften sich ebenfalls als soziale Bewegungen verstehen und den Lohnabhängigen in sämtlichen Belangen – von den Arbeitsbedingungen über die Sozialversicherungen, die Gesundheit bis hin zu den Wohnbedingungen und der Qualität der Betreuungseinrichtung für die Kinder – beistehen. Um eine derartige Orientierung voranzutreiben, braucht es die Formierung einer ökosozialistischen Bewegung. Hierzu sind auch pluralistische ökosozialistische Organisationen nötig, um kollektiv bisherige Erfahrungen zu verarbeiten, von Bewegungen auf der ganzen Welt zu lernen, wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Ausarbeitung von politischen und gesellschaftlichen Alternativen zu verarbeiten und in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen taktisch und strategisch angemessen einzugreifen.

Literatur

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Vorwort

»Die Erde ist weder deshalb verschmutzt, weil der Mensch ein besonders schmutziges Tier ist, noch weil es so viele Exemplare von ihm gibt. Der Fehler liegt in der menschlichen Gesellschaft – in der Art und Weise, wie diese Gesellschaft die Reichtümer schafft, verteilt und nutzt, die die menschliche Arbeit den natürlichen Ressourcen dieses Planeten abgewinnt. Wenn aber der soziale Ursprung der Krise erkannt ist, dann kann man damit beginnen, soziale Maßnahmen zu konzipieren, die geeignet wären, sie zu beheben.«

Barry Commoner[1]

In den letzten zwanzig Jahren ist den Geowissenschaften ein enormer Forschungssprung gelungen, indem Forschungserkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen zusammengeführt wurden, um so unser Verständnis des Erdsystems als Ganzes zu erweitern.

Eine zentrale Erkenntnis war dabei, dass in der planetaren Entwicklung ein neues und gefährliches Zeitalter begonnen hat – das Anthropozän. Gleichzeitig haben Ökosozialist*innen Marx’ Darstellung wiederentdeckt und weiterentwickelt, dass der Kapitalismus einen »unheilbaren Riss […] in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen […] Stoffwechsels« hervorruft, was unweigerlich zur ökologischen Krise führt. Diese beiden Entwicklungen sind bisher, trotz ihrer wechselseitigen Relevanz, voneinander getrennt wahrgenommen worden.

Im Angesicht des Anthropozäns will dazu beitragen, die Gräben zwischen den Naturwissenschaften und dem Ökosozialismus zu überwinden. Ich will damit Sozialist*innen davon überzeugen, dass es zentraler Bestandteil unseres Programms, unserer Theorie und unseres Handelns im 21. Jahrhundert sein muss, Antworten auf das Anthropozän zu finden. Ich will aber auch Naturwissenschaftler*innen und Umweltschützer*innen verdeutlichen, dass der Ökomarxismus ein wichtiges ökonomisches und soziales Verständnis bietet, das in den meisten Diskussionen über das neue Zeitalter fehlt.

Der Titel dieses Buches ist zweideutig. Einerseits verdeutlicht er, dass der Menschheit im 21. Jahrhundert ein dramatischer Wandel unserer Umwelt bevorsteht – nicht nur zunehmende Verschmutzung und ein wärmeres Klima, sondern eine Krise des Erdsystems, hervorgerufen durch die Menschen. Der Titel ist aber auch eine Aufforderung an alle, denen die Zukunft der Menschheit am Herzen liegt, einzusehen, dass ein Überleben im Anthropozän einen radikalen sozialen Wandel voraussetzt. Dafür muss der fossile Kapitalismus von einer ökologischen Gesellschaft, dem Ökosozialismus, abgelöst werden.

Die globale ökologische Krise ist das wichtigste Problem unserer Zeit. Der gegenwärtige Kampf zur Eindämmung der vom Kapitalismus verursachten Schäden ist die Grundlage des Sozialismus von morgen. Und trotzdem wird der Aufbau des Sozialismus im Anthropozän Herausforderungen mit sich bringen, die sich Sozialist*innen des 20. Jahrhunderts nicht vorzustellen wagten. Sie zu verstehen und ihnen zu begegnen, sollte ganz oben auf der sozialistischen Agenda stehen.

Im Angesicht des Anthropozäns wird sicher nicht der letzte Beitrag zu dieser Diskussion sein. Ich kenne nicht alle Antworten und die bevorstehende Aufgabe ist überwältigend; bitte betrachte dies also als den Beginn einer Diskussion und nicht als finale Erklärung. Ich freue mich über Antworten, Ergänzungen und natürlich auch Widerspruch. Das Online-Journal, das ich herausgebe, climateandcapitalism.com, ist ein Forum für weiterführende Diskussionen der Themen, die in dem vorliegenden Buch aufgeworfen werden.

Das Buch unterteilt sich in drei Teile:

Teil Eins: Ein völlig neuartiger Zustand

[A]

In den letzten beiden Jahrzehnten haben Wissenschaftler*innen beunruhigende Erkenntnisse über die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand unseres Planeten erlangt – weitgehend unbeachtet von Mainstream-Medien und auch von vielen Umweltschützer*innen. Sie kamen dabei zu dem Schluss, dass die Erde in eine neue, noch nie dagewesene Epoche eingetreten ist, die sie das Anthropozän nennen.

Teil Zwei: Der fossile KapitalismusIn Teil Eins wird das Anthropozän als ein Phänomen der

Biophysik

diskutiert. Um es aber wirklich zu verstehen, müssen wir es als

sozio-ökonomisches

Phänomen fassen, als ein Ergebnis des Aufstiegs des Kapitalismus mitsamt seiner Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen.

Teil Drei: Die AlternativeEin anderes Anthropozän ist möglich, wenn der Großteil der Menschen Widerstand leistet. Was können unsere Ziele sein und welche Bewegung brauchen wir, um sie zu erreichen?

Im Anhang finden sich zwei kurze Beiträge zu zwei verbreiteten Missverständnissen zum Anthropozän innerhalb der Linken: zu der Behauptung, Wissenschaftler*innen würden der gesamten Menschheit gleichermaßen die Verantwortung für die Klimakrise zuschreiben, und zu der daran geknüpften Annahme, die Wissenschaft hätte der neuen Epoche einen unpassenden Namen gegeben.

Was dieses Buch nicht tut

Es diskutiert nicht die Klimawissenschaften. Wissenschaftler*innen sagen einhellig: Treibhausgasemissionen, vor allem bedingt durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe und die Abholzung der Wälder, haben die Durchschnittstemperatur der Erde erheblich ansteigen lassen – und sie tun es weiterhin. Unklar ist nur, wie schnell und wie hoch die Temperaturen steigen werden, wenn nichts getan wird, um die Emissionen zu senken oder zu stoppen. Alle, die das leugnen, ignorieren entweder die Wissenschaft oder lügen wissentlich. Jene Menschen werden dieses Buch wahrscheinlich ohnehin nicht lesen, falls doch, werde ich sie wohl nicht überzeugen können.

Dieses Buch beschreibt die Notlage des Planeten nicht vollständig. Es handelt von der Entdeckung, den Auswirkungen und den sozioökonomischen Ursachen des Anthropozäns; ein Fokus, für den wichtige Themen, wie die Abnahme an Biodiversität und der Rückgang der verfügbaren Trinkwasserressourcen, ausgespart bleiben oder zumindest zurückgestellt werden müssen. Man könnte ein dickes Buch schreiben über jede der neun planetaren Grenzen, die Gefahr laufen, überschritten zu werden, und auch das müsste unvollständig bleiben. Für Leser*innen, die gerne mehr erfahren wollen, findet sich weiterführende Literatur auf climateandcapitalism.com.

Die Wahrheit ist immer konkret

Vieles, was über die ökologische Entwicklung geschrieben wurde, reduziert die menschliche Geschichte auf das Bevölkerungswachstum und den technologischen Wandel, wobei beide einfach so zu passieren scheinen. Warum aber manche Gesellschaften höhere Geburtenraten haben als andere, warum die alten Griechen Dampfkraft nur für Spielzeug nutzten und warum die industrielle Revolution nur in England und nicht in Indien oder China stattfand, wird nicht hinterfragt.

Sind erst einmal einige abstrakte ökologische Prinzipien definiert, die alle Gesellschaften in allen Epochen verbinden, sind offenbar weitere Erklärungen überflüssig. Auch Sozialist*innen sind nicht davor gefeit. Ich habe ein ganzes Regal voller linker Bücher und Pamphlete, die alle beweisen, dass die Umweltzerstörung auf Kapitalakkumulation basiert, und sie alle kommen direkt zu dem Schluss, zum Kampf für den Sozialismus aufzurufen. Aber wie manifestiert sich die umweltzerstörerische Kraft des Kapitalismus wirklich? Ist die heutige ökologische Krise einfach eine Neuauflage vergangener Probleme oder ist sie etwas Neues oder gar etwas komplett anderes? Wie müssten sich unsere Strategien und Taktiken anpassen, falls Letzteres zutrifft? Viel zu oft werden solche Fragen einfach ausgeblendet.

Noch beunruhigender sind in diesem Kontext Artikel von Linken, die das Konzept des Anthropozäns an sich kritisieren oder verwerfen und deren erste Reaktion auf eine neue Wissenschaft darin besteht, vor einer möglichen politischen Verunreinigung durch ideologisch verdächtige Wissenschaftler*innen zu warnen. Für manche ist anscheinend alles jenseits eines expliziten Anti-Kapitalismus eine gefährliche Ablenkung.

Als Charles Darwin im Jahr 1859 sein Buch Über die Entstehung der Arten veröffentlichte, lasen es Marx und Engels aufmerksam. Sie haben Vorlesungen bekannter Wissenschaftler*innen besucht, die wenige ihrer politischer Ansichten teilten. Ihre privaten Korrespondenzen zeigen auch, dass sie nicht alles für richtig befanden, was Darwin geschrieben hat. Sie haben ihn aber auch nicht öffentlich angegriffen, weil er kein Sozialist war. Vielmehr taten sie alles, um die neusten Erkenntnisse der Wissenschaft in ihre Arbeit und Weltsicht aufzunehmen. Jene, die heute gegen das Anthropozän wettern, sollten sich fragen: »WWMET? – Was würden Marx und Engels tun?«. Was Marx und Engels sicher nicht tun würden, ist jedenfalls klar: eine Trennlinie zwischen den Sozial- und Naturwissenschaften ziehen.

Anstatt sich als Zuschauer*innen über die fehlende Gesellschaftsanalyse der Wissenschaftler*innen zu beschweren (oder noch schlimmer, die Wissenschaft als Ganzes abzulehnen), sollten Sozialist*innen das Projekt Anthropozän als eine Chance sehen, die ökomarxistische Analyse mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu vereinen – für eine sozialökologische Sicht auf die Ursprünge, die Art und die Ausrichtung der gegenwärtigen Krise. Eine solche Verbindung zu wagen, ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung eines Programms und einer Strategie für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Solange wir nicht verstehen, was das kapitalistische Himmelfahrtskommando antreibt, können wir es nicht aufhalten.

Vor fast 50 Jahren schon hat Barry Commoner, ein Vorreiter in Sachen Umweltschutz, vor »den schwerwiegenden Gegensätzen zwischen dem privatwirtschaftlichen System und der ökologischen Basis, auf die es angewiesen ist«[2] gewarnt. Es ist jetzt an der Zeit – es war schon damals an der Zeit –, solche Warnungen ernst zu nehmen und das System zu verändern.

Danksagung

John Bellamy Foster bin ich zu tiefstem Dank verpflichtet, er ist Herausgeber der Monthly Review und ein anerkannter Autor zu Ökomarxismus und Ökonomie. Er gab mir von Anfang an, als ich einen kurzen Artikel über das Anthropozän vorschlug, und während der Entstehung dieses Buches regelmäßig Inputs und detaillierte Kommentare und Vorschläge. Das vorliegende Buch wäre nicht ohne seine anhaltende Unterstützung und seinen Zuspruch möglich gewesen.

Clive Hamilton, Robert Nixon, Peter Sale, Will Steffen, Philip Wright und Jan Zalasiewicz haben sich während ihrer Arbeit Zeit genommen, mir Fragen zu ihren Fachgebieten per E-Mail zu beantworten.

Jeff White las verschiedene Entwürfe Korrektur, korrigierte die Fußnoten und machte Schwächen im Text ausfindig. Lis Angus, John Riddell und Fred Magdoff halfen mir mit ihrer Kritik, das Thema und neue Perspektiven darauf zu durchdenken und meine Ideen klarer zu artikulieren.

Mir war es eine Freude, mit dem Team von Monthly Review Press, Michael Yates, Martin Paddio und Susie Day, zusammenzuarbeiten. Erin Clermont hat meinen letzten Entwurf redigiert und für die Veröffentlichung aufbereitet.

Teile von Im Angesicht des Anthropozäns wurden vorab in Climate & Capitalism, der Monthly Review und anderswo veröffentlicht. Sie alle wurden für dieses Buch überarbeitet und aktualisiert. Vielen Dank an Drew Dellinger für die Erlaubnis, einen Auszug aus »Hieroglyphic Stairway« abzudrucken, der aus der Sammlung Love Letter to the Milky Way (White Cloud Press, 2011) stammt.

»Systemwandel statt Klimawandel« in Kapitel 12 wurde von Terry Townsend für die Green Left Weekly 2007 geschrieben. Terry, der das unverzichtbare Links International Journal of Socialist Renewal herausgibt, war so nett, mir zu erlauben, eine aktualisierte Fassung davon zu veröffentlichen.

»Der Düngemittel-Fußabdruck« in Kapitel 10 wurde zuerst im September 2015 von der Non-Profit-Organisation GRAIN veröffentlicht. GRAIN bietet sein exzellentes Material kostenlos und ohne Copyright an.

TEIL EINSEin völlig neuartiger Zustand

Fast ein ganzes Jahrzehnt, nachdem es im Jahr 2000 erstmals in der wissenschaftlichen Literatur auftauchte, blieb das Wort Anthropozän exklusiv im Gebrauch von Expert*innen der Geowissenschaften. Man nutzte es kaum, und noch seltener wurde es außerhalb wissenschaftlicher Zirkel diskutiert.

2011 hingegen bringt es das Stichwort Anthropozän in Internetsuchdiensten auf 450.000 Treffer, »Willkommen im Anthropozän« lautete eine Schlagzeile des Economist, die Royal Society widmete dem Anthropozän eine ganze Ausgabe ihres Journals, der Dalai Lama hielt dazu ein Seminar ab und der Vatikan beauftragte und veröffentlichte einen Bericht dazu.

Inzwischen gibt es drei akademische Zeitschriften, die sich dem Anthropozän widmen. Es ist Thema Dutzender Bücher, Hunderter wissenschaftlicher Papers und unzähliger Artikel in Zeitungen, Magazinen, auf Websites und Blogs. Es gab Ausstellungen über Kunst im Anthropozän, Konferenzen über die Menschheit im Anthropozän, Romane über die Liebe darin und sogar ein Heavy Metal Album mit dem Titel The Anthropocene Extinction (Ausrottung im Anthropozän).

Im Comic Dilbert fragt der Dinosaurier seine Smartwatch nach der Zeit und diese antwortet: »Es ist die Epoche des Anthropozäns.«

Selten zuvor ist ein wissenschaftlicher Begriff so schnell allgemein anerkannt und benutzt worden. Und noch seltener war ein wissenschaftlicher Begriff Gegenstand von so viel Fehlinformation und Verwirrung. Der australische Umweltschützer Clive Hamilton hat sich berechtigterweise beschwert, dass vieles, was zum Thema geschrieben wird, von Leuten kommt, »die nie die Handvoll Grundsatz-Papers über die Definition des Anthropozäns gelesen haben und deshalb keine Ahnung davon haben, worüber sie sprechen«[3].

Dieses Buch versucht nicht, alle politischen und philosophischen Debatten wiederzugeben, die sich um das Anthropozän entsponnen haben, es will auch keine spezialisierten Fachdebatten führen. Vielmehr soll es das grundsätzliche Hintergrundwissen und den notwendigen Kontext liefern, um zu begreifen, was das Anthropozän ist und worin seine Bedeutung liegt. Dieses Wissen ist notwendig für den Aufbau einer erfolgreichen ökosozialistischen Bewegung heute und wird für die Ausgestaltung einer post-kapitalistischen Gesellschaft von morgen entscheidend sein.

Teil Eins beschreibt, wie Wissenschaftler*innen dazu kamen, einen qualitativen Sprung in den zentralsten physischen Eigenschaften der Erde auszumachen, und was daraus für alles Leben, inklusive des menschlichen, folgt.

EINSEine zweite Kopernikanische Wende

»In einer ganzen Reihe zentraler Parameter hat sich das Erdsystem außerhalb des Rahmens natürlicher Variabilität der letzten 500.000 Jahre begeben. Die auftretenden Änderungen im System Erde sind in ihrem Ausmaß und ihrer Geschwindigkeit noch nie dagewesen. Die Erde befindet sich aktuell in einem völlig neuartigen Zustand.«

Amsterdamer Erklärung zum Globalen Wandel (2001)[4]

Der Begriff Anthropozän wurde drei Mal geprägt.

1922 hat der sowjetische Geologe Petrovich Pavlov ›Anthropozän‹ oder ›Anthropogen‹ vorgeschlagen, um die Zeitspanne seit dem ersten Auftreten des modernen Menschen vor 160.000 Jahren zu benennen. Beide Begriffe wurden von sowjetischen Geolog*innen vorübergehend genutzt, haben sich aber darüber hinaus nicht durchgesetzt.

In den 1980er-Jahren benutzte der Meeresbiologe Eugene Stoermer die Bezeichnung in einigen veröffentlichten Artikeln, jedoch ohne Nachahmer*innen.

Aber aller guten Dinge sind drei: Der Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen erneuerte den Begriff im Jahr 2000 bei einem Treffen des Internationalen Geosphären-Biosphären Programms (IGBP) in Cuernavaca, Mexiko. Der damalige Geschäftsführer des IGBP, Will Steffen war damals dabei:

»Als Wissenschaftler*innen dem IGBP-Projekt über ihre Forschung zur Paläoökologie berichteten, bezogen sie sich wiederholt auf das Holozän, die jüngste Epoche der Erdgeschichte, um den Kontext ihrer Arbeit zu veranschaulichen. Paul, einer der Vizevorsitzenden des IGBP, regte sich wegen der ständigen Benutzung des Begriffs zunehmend auf. Schließlich unterbrach er plötzlich das Gespräch: ›Hört auf dieses Wort zu benutzen. Wir befinden uns nicht mehr im Holozän. Wir leben im … im … im … (er suchte nach dem richtigen Begriff) … im Anthropozän!‹«[5]

Fünf Jahre zuvor hatte Crutzen den Nobelpreis für seine Arbeit gewonnen. Darin wies er nach, dass weitläufig benutzte Chemikalien die oberste Ozonschicht in der äußersten Erdatmosphäre zerstören, was potenziell katastrophale Folgen für das Leben auf der Erde haben könnte. In seiner Rede bei der Preisverleihung sagte er, seine Forschung zum Ozon zeige ihm, dass sich das Gleichgewicht der Kräfte auf der Erde dramatisch wandle. Es sei ihm nun »völlig klar«, sagte er, »dass die menschlichen Aktivitäten dermaßen zugenommen haben, dass sie mit den natürlichen Prozessen mithalten und in die natürlichen Prozesse eingreifen«.[6] In seinem Zwischenruf beim IGBP-Treffen im Jahr 2000 kristallisierte sich seine Erkenntnis in einem einzigen Wort: Anthropozän. »Ich habe das Wort einfach spontan erfunden«, sagte er. »Alle waren geschockt, aber das Wort ist geblieben.«[7]

Crutzen war damals so etwas wie ein wissenschaftlicher Superstar: Dem Institute for Scientific Information zufolge war er zwischen 1991 und 2001 der weltweit meistzitierte Autor der Geowissenschaften.[8] Natürlich hat seine Bekanntheit dazu beigetragen, dass seine Artikel zum Anthropozän viel Aufmerksamkeit erlangten und der Idee dahinter breitere Akzeptanz bescherten.

Steffen, Crutzen und der Umwelthistoriker John McNeill erklärten später, warum man den neuen Begriff brauche:

Die Beschreibung Anthropozän […] legt nahe, dass die Erde ihre natürliche Epoche, den aktuellen, zwischeneiszeitlichen Zustand namens Holozän, hinter sich gelassen hat. Die Aktivitäten der Menschheit sind dermaßen umfassend und wesentlich geworden, dass sie mit den großen Kräften der Natur konkurrieren und die Erde in eine planetare Terra incognita verwandeln. Die Erde bewegt sich sehr schnell auf einen wärmeren und wahrscheinlich nasseren Zustand zu, mit geringerer Biodiversität und weniger Bewaldung.«[9]

»Ein völlig neuartiger Zustand«, »planetare Terra incognita« – solche Formulierungen werden nicht leichtsinnig benutzt. Die Erde ist in eine neue Epoche eingetreten; eine Epoche, die sich wahrscheinlich auch weiterhin in unvorhersehbarer und gefährlicher Weise verändern wird. Und das ist beileibe keine Übertreibung oder Mutmaßung: Das ist die zentrale Erkenntnis eines der größten wissenschaftlichen Projekte überhaupt, ein Projekt, das uns zeigt, dass wir auf ganz neue Weise über den Planeten nachdenken müssen.

Die Erde als ganzheitliches System