Im Angesicht des Zorns - Mick Saunter - E-Book

Im Angesicht des Zorns E-Book

Mick Saunter

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Beschreibung

Bonn wird von einer grausamen Mordserie erschüttert. Kommissar Lucien Bartholomè stößt bei den Ermittlungen immer wieder auf die Decker AG, ein milliardenschweres Pharmaunternehmen. Alle Opfer stehen im Dunstkreis dieses Unternehmens. Was aber hat es mit den Mitteilungen des Mörders auf sich, die er jeweils an den Tatorten hinterlässt? Und worauf bezieht sich die Jahreszahl 1958?

Eine Kölner Professorin für katholische Theologie bringt Licht ins Dunkel und findet einen Bezug zu Dantes Inferno. Dies bringt die Ermittlungen ins Rollen. Als die Kommissare die Zusammenhänge erkennen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn der Täter schläft nicht und sein nächstes Opfer ist bereits gewählt.

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Bestimmung
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Liebe
Anhang
Weitere Veröffentlichungen

Mick Saunter

 

Im Angesicht des Zorns

Über das Buch:

 

Lucien Bartholomé von der Bonner Polizeidirektion und sein neuer Kollege Simon Glauber können nicht glauben, was sie an den Tatorten eines Serienmörders vorfinden, der die Stadt in Angst und Schrecken versetzt: Die technisch ausgefeilten Tötungsmethoden sind derart bizarr und menschenverachtend, dass es keine Vergleiche gibt – und keine Spuren. Die einzigen Hinweise sind zurückgelassene Post-its mit einem Buchstaben darauf, die in keiner Reihenfolge einen Sinn ergeben. Erst durch den Hinweis einer Kölner Professorin für katholische Theologie findet sich eine Erklärung für deren Bedeutung – aber nichts, was zum Täter führen könnte.

 

Da erhält Bartholomé einen Anruf – und es geschieht ein weiteres Verbrechen, für das es in der Geschichte der Bundesrepublik keinen Vergleich gibt.

 

 

Über den Autor:

 

 

Mick Saunter, 1957 in Wuppertal geboren, flog mit sechzehn vom Gymnasium, wurde Eisenwarenkaufmann, war Funker beim Bund, fuhr Lkw, verkaufte Versicherungen und arbeitete in einer Autowerkstatt. Lernte das Tischler-Handwerk und holte den Schulabschluss nach, gründete eine Familie, studierte Holztechnik, und plante über viele Jahre Läden in ganz Deutschland. In der Lebensmitte lernte er eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung kennen. Das veränderte in seinem Leben alles: Er lernte neu, arbeitete viele Jahre für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen. Dabei wurde ihm klar, wie unendlich wichtig es ist, das Leben mit dem zu verbringen, was man wirklich will – und fing mit fast sechzig an zu schreiben.

Er lebt und schreibt im Bergischen Land.

 

Mehr über den Autor unter www.saunter.de

Mick Saunter

 

Im Angesicht des Zorns

 

Kommissar Bartholomé 1

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die

Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Oktober © 2023 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Katrin Gönnewig

 

Korrektorat: Tino Falke

https://www.tinofalke.de/lektorat/

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 355726831, Adobe Stock ID 124573637, Adobe Stock ID 187265706 und freepik.com.

 

Die Personen in dieser Geschichte, die Unternehmen und die Zusammenhänge, in denen reale Orte genannt werden, sind natürlich frei erfunden.

 

Aber die Geschehnisse, um die es geht und von denen die Figuren des Dramas in einen Abgrund aus Verzweiflung, Gewalt und Terror gezogen werden, beruhen auf wahren Begebenheiten.

 

 

 

 

 

»Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf.

Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.«

 

Bertolt Brecht

 

 

 

 

 

 

Gier

 

 

 

 

»Und als es das vierte Siegel auftat,

hörte ich die Stimme der vierten Gestalt sagen: Komm!

Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd.

Und der darauf saß, dessen Name war: der Tod,

und die Hölle folgte ihm nach.«

 

Aus der Offenbarung des Johannes

 

 

 

 

 

»Haben Sie etwas Neues für uns, Ben? Irgendwas?« Die Bundespräsidentin sah ihren Assistenten hilfesuchend an – ihre müden, rot geränderten Augen zeigten überdeutlich, wie unendlich belastend die Situation für sie war, und wie verzweifelt sie sein musste.

»Tut mir leid, nein.« Er schüttelte den Kopf, fast schon ein wenig schuldbewusst zog er ihn zwischen die Schultern. Obwohl er an dem Ereignis, das die Krise ausgelöst hatte, nicht beteiligt und zum wiederholten Male nur der Überbringer der schlechten Nachricht war, fühlte er sich mitbetroffen. Er litt mit der Bundespräsidentin und ihrem Mann Daniel, die unruhig darauf warteten, dass sie vor die Kameras treten konnten, die im Empfangssaal der Villa Hammerschmidt aufgebaut waren. Die halbe Welt würde dabei Zeuge werden, wenn sich Rosemarie Ilten, die oberste Repräsentantin des Deutschen Volkes, gemeinsam mit ihrem Ehemann das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik außerhalb ihrer repräsentativen Aufgaben zu einer politischen Situation äußern und dadurch aktiv in das Geschehen eingreifen würde. Die Welt wäre danach eine andere, und die Folgen wären unabsehbar. Gerade auch deshalb, weil sie in der Bevölkerung ein so hohes Ansehen und eine so hohe Glaubwürdigkeit erreicht hatte, wie es ihre männlichen Amtsvorgänger der vergangenen Jahrzehnte nie gelungen war. Die Mehrheit der Deutschen vertraute ihr – da waren sich alle einig.

»Nichts, Frau Präsidentin. Es tut mir wirklich sehr leid. Ich habe gerade noch mit den Vertretern der Sicherheitsdienste gesprochen: Es gibt keinerlei Hinweise darauf, wo er festgehalten wird.«

»Danke.«

Sie drehte sich wieder zum Fenster, sah hinaus in den verschneiten Park der Villa und hinunter zum Rhein. Millionen Eiskristalle glitzerten auf den schneebedeckten Rasenflächen und an den Bäumen, und über dem Fluss waberten Eisnebelschwaden.

Eine Mitarbeiterin des Bundespresse- und Informationsamtes mit Headset auf dem Kopf trat in das Kaminzimmer. Sie hob die Hand, spreizte die Finger, als Rosemarie Ilten sie fragend ansah.

»Noch fünf Minuten, Frau Präsidentin.«

Ilten nickte.

Gesundheitsminister Jan Ahaus hatte gemeinsam mit der Frau den Raum betreten. Er setzte sich auf das Sofa, das den Iltens gegenüberstand, und wartete, bis sie das Zimmer wieder verlassen hatte. Dann rutschte er auf dem Polster nach vorn und schob seine Brille zurecht. »Rosemarie, ich bitte dich nochmals inständig, das nicht zu tun! Du wirst in unserem Land so etwas wie einen Volksaufstand auslösen, wenn du mit dem Material an die Öffentlichkeit gehst!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du weißt, ich habe keine andere Wahl: Wenn ich nicht das tue, was die Entführer verlangen, sehen wir ihn nicht mehr lebend wieder – das haben sie mehrmals wiederholt!«

»Aber hast du völlig vergessen, was damals in der Regierung Schmidt beschlossen wurde? Der 15. September 77? Als Hans-Martin Schleyers Entführer versuchten Terroristen freizupressen? ›Eine Regierung dürfe sich nicht erpressen lassen‹, sagte Helmut Schmidt damals! Und jetzt willst …«

Daniel fuhr hoch, das Gesicht rot vor Zorn und Anspannung.

»Was aber? Nichts aber! Gar nichts aber, zum Teufel! Es geht hier um mehr als Politik! Begreifen Sie das überhaupt? Es geht um ein Leben, es geht um Menschlichkeit! Um Ethik! Wenn Sie überhaupt jemals in ihrem Leben davon gehört haben sollten, Sie mit Ihrem … Ihrem … Ach, Scheiße, verflucht noch mal! Außerdem ist es sowieso endlich an der Zeit, dass die Bevölkerung erfährt, warum ihr so lange nichts getan habt – obwohl es schon viel zu lange dringend nötig gewesen wäre! Dass ihr und eure Lobbyisten es schon wieder geschafft habt, das zu verhindern, ist eine Schande für die gesamte sogenannte Politik in Deutschland! Und überhaupt: Wenn Sie hier schon Schmidt zitieren, dann erinnern Sie sich gefälligst auch daran, was er ein paar Jahre später dem Spiegel gesagt hat – das haben Sie doch sicher auch nicht vergessen! Und auch damals gab es eine Nachrichtensperre, auch damals wurde die Öffentlichkeit bewusst – bewusst! – außen vor gehalten, weil Sie und Ihresgleichen, sogar Ihre Parteiführer der Meinung waren, dass es so besser wäre: das Volk unwissend zu halten. Feudalismus war das geradezu! Blödsinn: Wieso sage ich überhaupt war? Ist! Und Sie schimpfen sich Politiker? Demokrat? Dass Sie sich nicht schämen, sie arrogantes, aalglattes …«

Die Präsidentin hielt ihn zurück, als sie den Minister ansah.

»Daniel hat recht, Jan; und das weißt du auch selbst, wenn du ehrlich bist. Aber vor allem wollen wir alles tun, damit nicht noch mehr Menschenleben sinnlos für etwas geopfert werden, für das es keine, wirklich überhaupt keine ethische und moralische Legitimation mehr gibt! Versteht ihr alle das denn nicht? Dass es dabei nicht nur um uns geht, sondern um die Menschen?«

Ahaus schüttelte den Kopf, nahm die Brille ab und wischte sich den Schweiß aus den Augen.

»Du weißt, dass dich das dein Amt kosten wird!«

Ilten lachte bitter.

»Im Ernst? Du glaubst, dass ich nach dieser Geschichte noch weitermachen will? Mach dich nicht noch lächerlicher, als du es ohnehin schon bist, ich bitte dich wirklich! Und jetzt lass uns allein.«

 

Ahaus sah aus, als wäre er geohrfeigt worden, als er das Kaminzimmer verließ. Sein Blick wanderte durch den mit Presseleuten vollgestopften Empfangssaal bis zu einem Mann, der an dem Durchgang zum Terrassenzimmer stand und ihn erwartungsvoll ansah. Ahaus schüttelte kaum merklich den Kopf. Der andere nickte, drehte sich um und trat zu einem Mann und einer Frau, die nur wenige Schritte hinter dem Durchgang warteten. Sie trugen Presseausweise, die sie als Mitarbeiter einer großen deutschen Nachrichtenagentur auswiesen.

»Also, es sieht bisher ganz so aus, als würden Sie tatsächlich zum Einsatz kommen«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Sie wissen Bescheid: Ihre Plätze sind direkt neben der Tür zum Kaminzimmer. Minister Ahaus wird nach der Präsidentin eintreten. Auch wenn die Leute vom Protokoll ihn bitten werden, sich auf seinen Platz zu begeben, er bleibt dort stehen, bis die Präsidentin mit ihrer Ansprache anfängt, und sorgt dafür, dass die Tür nur angelehnt bleibt. Sobald Sie Ihr Signal bekommen, greifen Sie ein. Haben Sie verstanden? Nicht eine Sekunde früher! Aber auch keine später!«

Beide nickten.

»Gut. Im Kaminzimmer wird die Balkontür zum Garten nicht abgeschlossen sein, dort können Sie hinaus. Die Sicherheitsbeamten sind angewiesen, die Sicherheit der Präsidentin zu gewährleisten. Es besteht also eine gute Chance, dass Sie die Villa über den Fluchtweg verlassen können; aber natürlich bleibt ein Restrisiko, das wissen Sie. Falls es Ihnen nicht gelingt, werden wie vereinbart die von ihnen angegebenen Personen ihre Prämien erhalten, dafür verbürge ich mich!«

Hinter ihnen kam eine Sicherheitsbeamtin des Präsidialamtes die Treppe herunter, die die Aufgabe hatte, die oberen Räume der Villa zu überprüfen und das Stockwerk für die Dauer der Pressekonferenz abzuriegeln. Ihr Blick fiel auf die drei zusammenstehenden Personen: Sie hatte in ihrer langjährigen Tätigkeit genug Intuition entwickelt, um zu wissen, dass dies keine der normalen Besucher waren; das mussten sie sein.

Sie griff zur Tasche, die sie über der Schulter trug, sah sich unauffällig um und trat zu der Gruppe.

 

 

 

 

 

Hass

 

 

 

 

»Gehet durch das enge Tor!

Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt;

und es sind ihrer viele, die auf ihm wandeln.

Und die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt;

und wenige sind ihrer, die ihn finden.«

 

Aus dem Evangelium des Matthäus

 

1

 

Acht Wochen zuvor

 

»Liebling!«, rief Cathy. Trotz des Rauschens des Föhns hörte er an ihrer Stimme, wie fröhlich sie war.

»Mh-mmhh …«

Peter beschäftigte sich gerade mit den Nachrichten, die ihm sein Smartphone präsentierte, weil irgendein Algorithmus meinte, dass sie ihn interessieren könnten. Aber was um alles in der Welt sollte er damit anfangen, dass er erfuhr, was eine neudeutsch als Influencerin bezeichnete Tussi mit ihrem Privatjet anstellte?

Dass die Welt immer weiter aus den Fugen geriet, war ja nichts Neues, schließlich hatten er und Cathy fast täglich mit solchen Typen zu tun, die die Grenzen der Ethik immer weiter steckten: Ihre Arbeit als Anwälte brachte es mit sich, dass sie die Interessen der Shareholder und des Marktes irgendwie zusammenbrachten – egal, ob der Markt dies forderte oder nicht. Werbung war eben alles, und alles war Werbung. Und ihre gut bezahlten Jobs hingen schließlich davon ab.

Das Rauschen brach ab.

»Darling? Bist du schon so weit?« Cathys amerikanischer Akzent wurde dann besonders deutlich, wenn sich ihre Stimme hob, weil sie wegen etwas ungehalten wurde.

Er wischte über den Screen, drückte die Taste, die den Bildschirm verdunkelte, und warf das Handy aufs Bett.

»Gleich – wenn du freundlicherweise mal das Bad freimachst, dann komm ich endlich zum …«

»Das will ich gar nicht wissen!« Cathy kam gerade ins Schlafzimmer und hatte nur ein großes Handtuch um den Körper geschlungen. Peter musterte sie begeistert. Sie war bereits frisiert und hatte das an Kosmetik aufgetragen, was sie für nötig hielt: Wimperntusche und Nagellack war alles, was sie benutzte, und heute war beides dunkelgrün. Ihre rehbraunen Augen und ihre leicht bronzefarbene Haut schienen dadurch noch mehr zu leuchten als sonst. Ihr smaragdgrünes Etuikleid, das sie heute tragen würde und das so perfekt zu ihren kastanienbraunen Haaren passte, lag bereits auf dem Bett. Er fand, dass sie wie immer einfach hinreißend aussah – vor allem, weil sie auf Make-up verzichtete. Sie war der Typ Frau, die durch die üblichen Kosmetikprodukte nur unattraktiver wurde; und das ging nun wirklich nicht!

»Weißt du was?«

»Was denn?«

»Ich werde mal wieder derjenige sein, der von allen beneidet wird!«

Sie lachte. »Du bist ein Schmeichler! Aber mach ruhig so weiter! Was willst du anziehen?«

»Sag du es mir: den Blauen oder den Schwarzen?«

»Der Schwarze ist nicht schwarz, sondern anthrazitfarben, und du sollst den Blauen anziehen. Damit siehst du jugendlicher und dynamischer aus!«

»Aber bei dem Anlass heute, meinst du ni…«

»Nein, verlass dich doch endlich mal auf mich! Ich hab dir ein passendes Einstecktuch mitgebracht – du wirst der Hingucker auf der Konferenz!«

Sie zog die schmale Schachtel mit dem Tuch aus der obersten Schublade ihrer Kommode und warf es ihm in den Schoß. Dann ließ sie das Handtuch fallen; und Peter dachte bestimmt zum fünften Mal an diesem Nachmittag, was es für ein Glück war, dass sie sich kennengelernt hatten.

 

»Das Taxi wartet bereits!« Sie stand schon in der Tür, den beigen Cashmeremantel nur über die Schultern gelegt, und sah ihn auffordernd an – als wollte sie sagen: »Nun mach schon endlich!« – und stieg in den Aufzug.

Peter sah sich kurz um, ob auch alles ausgeschaltet war, tastete kurz die Taschen des Jacketts nach Handy und Geldbörse ab. Dann zog er den Mantel über, griff im Vorübergehen nach den Schlüsseln und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Er lief die zwei Etagen zu Fuß hinunter.

Cathy saß schon im Fond des Wagens, einem ziemlich neu aussehenden, dunkelblauen Daimler. Als er einstieg, trommelte sie gut gelaunt und aufgeregt mit den Fingern auf die Sitzfläche der Rückbank. Was für eine Einladung! Sie auf einem Empfang der UN und der europäischen Gesundheitsminister! Ihre Eltern würden platzen vor Stolz, wenn sie ihnen davon erzählte.

»Wohin soll es denn gehen?« Der Fahrer drehte sich um, sah sie freundlich an. Er war etwas älter, sicher schon über die sechzig. Mit seinem grauen Bart und der Hornbrille sah er irgendwie gemütlich aus, dachte Cathy. Er trug einen alten, zerknitterten Freizeithut in einer undefinierbar gewordenen Farbe, an dem ein Union-Jack-Pin steckte.

»Zum UN-Campus, bitte.«

Er schnallte sich an. »Ah, sicher sie wollen zu der Veranstaltung der Gesundheitsminister. Großer Bahnhof dort. Okay, alles klar.«

Als der Wagen anfuhr, verriegelten sich die Türen automatisch.

Cathy vergaß den Gedanken an den Akzent und schüttelte den Kopf, als sie sich an Peter anlehnte.

»Ich glaub, ich werde mich niemals an dieses automatische Verschließen gewöhnen. In unserer Familienkutsche musste man noch die Knöpfe runterdrücken, wenn man sie von innen verriegeln wollte.«

Peter lachte. »Euer alter Bulli! Ja, wenn deine Eltern den mal behalten hätten! Der wäre heute richtig was wert. Aber im Ernst, Cathy, du weißt doch, dass du jederzeit die Türen trotzdem aufmachen kannst. Sie sind doch nur von außen verschlossen, damit niemand einfach so rein kann. Die modernen Zentralverriegelungen sind absolut sicher, da kann nichts schiefgehen.«

Nach wenigen Minuten bogen sie auf die A 542 Richtung Innenstadt ab. Plötzlich nahm der Fahrer den Hut ab, schob sich etwas über den Mund und streifte zwei elastische Bänder über die Ohren.

Peter lachte. »Was ist denn das? Ein Mundschutz? Haben Sie Angst, Sie stecken sich bei uns mit etwas an? Gegen Influenza sind wir geimpft!«

Der Fahrer antwortete nicht sofort, sondern drückte auf einen Knopf unter dem Armaturenbrett. Die Türverriegelung klickte erneut. Dann sah er in den Rückspiegel: Sein Mund und seine Nase waren von einer Atemschutzmaske mit Filtern umschlossen. Seine Stimme klang gedämpft und undeutlich, als er antwortete. »Keine Sorge, ich denke nicht, dass von Ihnen irgendeine gesundheitliche Gefahr für mich ausgeht – wo sie beide doch so gut von ihrem Arbeitgeber mit medizinischem Schutz versorgt werden! Nicht wahr, Cathy und Peter?«

Cathy richtete sich alarmiert auf. »Woher wissen Sie, wo wir arbeiten? Wer sind Sie? Peter!«

Wieso ist mir vorher der Akzent nicht aufgefallen?, dachte Peter. Und woher kennt uns der alte Sack? Das gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. »Halten Sie an und lassen Sie uns aussteigen. Los! Sofort! Wir werden uns über Sie beschweren, darauf können Sie sich verlassen! Halten Sie an!« Er zog am Türgriff, aber die Tür war verriegelt. »Was soll denn das? Machen Sie gefälligst sofort die Verriegelung auf! Und halten Sie endlich an! Haben Sie gehört? He!«

Er wollte sich gerade abschnallen, um nach vorn zu greifen – da zischte es aus den Lüftungsschlitzen der Klimaanlage: Vor ihnen quoll etwas wie ein feiner, fast durchsichtiger Nebel empor, der sich schnell verbreitete und sie einhüllte.

»Entspannt euch, es ist gleich vorbei. Es tut auch nicht weh! Atmet ruhig weiter, das Aerosol reagiert erst mit der Feuchtigkeit in euren Lungen. Keine Angst, wirklich, ich versprech’s: Daran werdet ihr ganz sicher keinen Schaden nehmen!«

Er kicherte leise. Es klang ein wenig irre und Cathy überlief ein kalter Schauer.

Peter versuchte die Luft anzuhalten, fingerte fieberhaft nach dem Gurtschloss und dem Einstecktuch, um es sich vor Mund und Nase zu halten. Aber es war bereits zu spät. Eine bleierne Müdigkeit überkam ihn und Cathy ging es nicht besser.

Der Fahrer sah wieder in den Rückspiegel.

»Und jetzt sage ich etwas, auf das ich mich schon seit vielen, vielen Wochen freue! Kennt ihr den Clown aus Stephen Kings ES? Pennywise? Was er sagt, wenn er die Kinder lockt?« Er räusperte sich.

Schon unfähig sich zu bewegen, und durch den Nebel der nahenden Bewusstlosigkeit hörten Cathy und Peter ihn, von widerlichen Schmatzlauten untermalt, mit einer honigsüßen und vor Erwartung zitternden Stimme sagen: »Kinder, wenn wir uns unten wiedersehen, dann werdet ihr fliegen!«

 

2

 

»Wo sind denn Cathy Meyer und Peter Holms, Frau Kerns? Sie sollten doch längst hier sein!«, hatte Annette Kerns’ Chef, Dr. Kurt Breidenbach, der Geschäftsführer der Bereiche Communication and Research der Decker AG, sie verärgert gefragt, als er zur Konferenz der europäischen Gesundheitsminister im UN-Campus eintraf. Er zeigte auf die beiden leeren Plätze in der dritten Reihe des Konferenzsaales: So etwas passte nicht in das Bild, das er von der geballten Präsenz ihres Unternehmens den EU-Gesundheitsministern und ihrer Entourage gegenüber abzugeben gedachte. Schließlich standen große Veränderungen in der medizinischen Versorgung der Bundesrepublik Deutschland und der EU bevor; und da konnte jeder noch so kleine Fehler in der Präsentation der Firma unangenehm auffallen – und es spielte kaum eine Rolle, ob es sich dabei um einen solch bedeutenden Global Player wie Decker handelte. Andere Konzerne warteten nur auf Fehler. Und dem CEO entging nie etwas: Er war dafür gefürchtet, alles mitzubekommen und über alles und jeden informiert zu sein.

»Ich weiß es nicht«, hatte sie geantwortet, »ich habe schon mehrfach versucht sie zu erreichen, aber vergeblich. Soll ich Dr. Farinata und seine Sekretärin holen? Sie haben nur Stehplätze auf dem Gang.«

Breidenbach überlegte und nickte. »Machen Sie das. Danke, Frau Kerns«, sagte er und ging noch einmal ins Foyer.

Unmittelbar darauf vibrierte ihr Handy. Die Messenger-Nachricht ließ sie nach kurzem Zögern ihren Platz verlassen – und brachte sie in die Hand ihrer Entführer. Wie hatte sie nur so unendlich dumm sein können? Hunderte Male hatte sie sich seitdem gefragt, wie sie auf einen solch simplen Trick hatte hereinfallen können. Aber eigentlich war die Erklärung einfach: Ihr Wagen, ein weißer Alfa Romeo Spider Veloce von 1968, war ihr Ein und Alles; und die Sorge, dass damit etwas geschehen sein sollte, war gerade so, als ob sie selbst verletzt worden wäre. Wahrscheinlich hatte ihr Entführer darauf vertraut, dass sie so reagieren würde. Und trotz aller Warnungen und Berichte, die sie in ihrem Leben über solche Situationen schon gehört und gelesen hatte – jedes Mal hatte sie sich kopfschüttelnd gefragt, wie einfältig man denn eigentlich sein musste, dass einem so etwas in der heutigen Zeit geschehen konnte –, war sie genauso, wie ein dummes, gutgläubiges Lamm in die Falle gegangen.

Als sie zu ihrem Stellplatz auf dem vorletzten Parkdeck des Campus-Parkhauses kam, hatte ein älterer, etwas schusselig wirkender Mann neben dem Spider gestanden, dessen schuldbewusster Gesichtsausdruck ebenso zerknautscht und beinahe liebenswert hilflos gewirkt hatte wie sein alberner Hut; und trotz ihres Ärgers empfand sie bei seinem Anblick spontan so etwas wie Mitleid mit ihm: einfach nur ein alter, ungeschickter Fahrer, der besser seinen Führerschein schon längst hätte zurückgeben sollen. Mit dem alten Ford-Transit-Kastenwagen, der direkt danebenstand, war er offenbar beim Rangieren gegen das Heck ihres Wagen gestoßen und hatte damit den Alarm ausgelöst. Er empfing sie erleichtert, redete mit einem englischen Akzent sofort von seiner Schuld. Sicher ein Mitarbeiter der UN, dachte sie; einer der Hausmeister vielleicht. Es täte ihm entsetzlich leid und er wisse gar nicht, wie ihm so etwas – und genau in diesem Moment, sie erinnerte sich mit absoluter Gewissheit an seine Worte, genau in diesem Moment wurde direkt neben ihr die Schiebetür des Ford aufgerissen. Blitzschnell und mit überwältigender Kraft wurde sie von einem weiteren Mann in das Wageninnere gerissen. Völlig überrumpelt kam der Impuls, um Hilfe zu rufen, zu spät. Sofort wurde ihr etwas vor Mund und Nase gepresst – sie dachte, sie würde ersticken, als es Nacht um sie wurde.

Als sie wieder aufwachte, lag sie in diesem Bett: ordentlich zugedeckt, die Kissen aufgeschüttelt, am Fußgelenk eine stabile Kette, die sie an das Bett fesselte – und über ihr eine flackernde Leuchte.

Zu Anfang hatte sie befürchtet, dass sie das Opfer eines perversen Vergewaltigers geworden wäre. Sie bekam regelmäßig zu essen und zu trinken; aber warum sie hier gefangen gehalten wurde, was sie zu erwarten hatte, wusste sie nicht. Der Mann – es war der, den sie für den alten, vertrottelten Hausmeister gehalten hatte – sagte nie etwas. Er antwortete auf keine ihrer Fragen, lächelte nur freundlich, stellte das Tablett auf einem Hocker ab und ging wieder. Die Kette war gerade so lang, dass sie an das Essen, zum WC und zu dem Waschbecken kam, aber nicht bis zur Tür – oder gar bis zu dem Mann. Der Raum war kahl – bis auf das Bett: ein älteres, unglaublich kitschiges Luxus-Polster-Rundbett, mit bordeauxrotem Samtvelour bezogen, dessen Opulenz die leere Kargheit des Raumes ins Absurde verkehrte – einen größeren Gegensatz hätte sie sich nicht vorstellen können. Die Seidenbettwäsche und die dicken Kissen und Decken waren von guter Qualität; genau wie das Essen, das sie erhielt: immer aus frischen Zutaten, und liebevoll angerichtet.

Jetzt näherte sich wieder jemand und machte sich am Türschloss zu schaffen.

 

Sie zog sich verängstigt auf dem Bett so weit zurück, wie es ging, die Decke bis zum Kinn hochgezogen – so, als könnte sie ihr Schutz vor etwas bieten. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, ein Riegel wurde beiseitegeschoben. Dann öffnete sich die schwarze Stahltür: Der Mann, der ihr täglich ein Tablett mit Essen brachte, stand im Rahmen. Sie wusste nicht, welche Tageszeit es war oder wie viele Stunden zwischen seinen kurzen Besuchen lagen. Das dämmrige, ständig flackernde Kunstlicht aus der in der Decke eingelassenen Leuchte erlosch nie, die Fenster waren mit Stahlplatten verdunkelt, die davorgeschraubt waren. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren; und dass es keine Geräusche außer ihren eigenen gab, sorgte dafür, dass sie das Gefühl hatte, allmählich durchzudrehen.

Diesmal hatte er kein Tablett dabei.

Zitternd richtete sie sich auf.

»Was wollen Sie? Geben Sie mir endlich eine Antwort, sagen Sie mir, warum ich hier bin! Bitte! Ich halte es nicht mehr aus hier – ich werde verrückt, in dieser Stille und der Ungewissheit!«

Er sah sie genauso ruhig und freundlich an, wie er es bisher immer getan hatte. Dann ging er zu dem Hocker, rückte damit näher an das Bett und setzte sich. Sie zog die Decke noch enger um sich: Jetzt geschieht es, dachte sie verzweifelt, jetzt wird er mich vergewaltigen!

Adrenalin schoss durch den Körper, in ihre Arme, ihre Beine, und die Panik vor dem, was sie die ganze Zeit befürchtet hatte, ließ ihr Zittern in ein haltloses Beben übergehen.

Er hob beschwichtigend die Hände. »Hello, Miss Kerns. Keine Angst, ich habe nicht vor, Ihnen etwas anzutun. Jedenfalls nicht das, was Sie erwarten, offenbar. Nein, Sie sind hier wegen etwas anderem. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, weshalb? Irgendeine Vorstellung? Ich hoffe doch, dass Sie die vergangene Zeit hier dafür genutzt haben, darüber nachzudenken!«

Natürlich hatte sie das, sie konnte an fast nichts anderes denken. Aber sie konnte nur den Kopf schütteln. »Nein, ich weiß es nicht. Sagen Sie es mir endlich, bitte!«

»Nein. Natürlich nicht, was sonst.« Traurig lächelnd nickte er. »Natürlich wissen Sie es nicht. Aber ich habe auch nicht erwartet, dass Sie selbst darauf kommen, warum Sie hier sind. Das wäre wohl auch zu viel verlangt, von einem Menschen, wie sie es sind. Isn’t it? Schließlich glauben Sie wie alle anderen, dass Sie immer nur das getan haben, was von Ihnen verlangt wurde. Wie sollten Sie da auch so etwas wie ein Schuldgefühl entwickeln?«

Sie starrte ihn angsterfüllt an. Was meinte er? Und welche anderen?

Ihre Gedanken rasten, Abertausende Bilder ihres Lebens blitzten für Sekundenbruchteile in ihrem Inneren auf und verschwanden wieder – ohne dass sie ihr einen Grund gaben für das, was er andeutete. Sie hatte nie etwas Unrechtes getan, nie jemanden verletzt, betrogen oder bedroht; sie war sich ganz sicher, dass sie sich nie, wirklich nie, etwas hatte zuschulden kommen lassen.

Das Adrenalin ließ ihr Herz rasen und Schweiß trat ihr auf die Stirn. Trotzdem regte sich so etwas wie verzweifelte Neugier und Widerstand in ihr. Was meinte dieser Kerl nur? »Was denn? Welche Schuld?«

»Die Schuld, die dazu geführt hat, dass Sie hier sind. Sie sind hier, um für Ihre Schuld zu bezahlen. Was sonst?« Er schwieg und sein Blick bekam etwas Hartes und Entschlossenes. Er stand auf, griff in die Tasche.

Erneut schoss Adrenalin durch ihren Kreislauf, Puls und Blutdruck stiegen blitzschnell. Ihr Atem raste, wurde zu einem keuchenden Hyperventilieren.

Er zog eine aufgezogene Spritze, eine Sprayflasche und eine Atemschutzmaske heraus. Die Spritze und die Flasche legte er auf den Stuhl, setzte die Maske auf, rückte sie zurecht. Seine Stimme klang dumpf unter ihr hervor. »Es geht schneller, wenn Sie einfach einatmen. Wenn Sie versuchen die Luft anzuhalten, quälen Sie sich selbst nur unnötig. Das ist ein Aerosol, das Sie bewusstlos macht. Sie werden es nicht spüren, wirklich nicht. Und wenn es Sie beruhigt: Es geht nicht um Vergewaltigung oder sonst so etwas. Es geht allein um die Begleichung Ihrer Schuld! Begreifen Sie?«

Sein Blick wurde hart. »Es geht um 1958!«

Dann hob er die Flasche, hielt die Öffnung in Richtung ihres Gesichts und drückte auf den Sprühkopf.

Annette Kerns hatte keine Zeit, um über das nachzudenken, was er da angedeutet hatte. Ein Nebel aus feinsten Tröpfchen einer geruchlosen Flüssigkeit legte sich auf ihr Gesicht – als sie ihn einatmete, schwand ihr Bewusstsein. Wie aus einem anderen Zimmer hörte sie die immer leiser werdende Stimme des Mannes. »Sie haben es gewusst und sie hätten es in eine andere Richtung lenken können. Aber Sie haben die Sprache dafür benutzt, um mit den Ängsten und Wünschen derjenigen zu spielen, die für …«

Ihr Kopf sackte haltlos nach vorn.

Der Mann wartete etwa eine Minute und sah sie seltsam mitleidig an. Dann setzte er sich zu ihr auf die Bettkante, schob die Decke beiseite. Er griff nach ihrem linken Arm, drückte eine Armvene ab, setzte die Spritze an, stach ein und drückte den Kolben hinunter – das Sedativum verteilte sich schnell in ihrem Blutkreislauf und der schmale, kleine Körper entspannte sich völlig, wurde ganz weich.

Er stand wieder auf, zog sie näher an den Rand der Matratze. Dann hob er sie hoch. Sie war leicht, sie zu tragen würde ihm trotz seines Alters keine Mühe machen. Er legte sie sich über die Schulter und ging durch die Tür in den Gang dahinter.

 

3

 

»Ja?«

»Ich bin es. Es hat angefangen.«

Sie brach in Tränen aus.

»Nicht! Es ist alles gut so!Sie haben es verdient. Jeder von ihnen. Und sie werden dafür bezahlen, was sie getan haben. Sie haben es verdient, dass sie leiden. Oh, verflucht sollen sie sein – wie sehr sie es verdient haben! Du und ich, wir wissen es, nicht wahr? Warum haben sie sie nur …« Er verstummte, als der Schmerz kam. Wütend schlug er sich auf die Brust.

Aufschluchzend holte sie Luft. »Ja, ich weiß. Aber … es ist jetzt anders. Bisher war es nur Theorie, nur ein Vorhaben. Jetzt … jetzt ist es real; und es ist so schrecklich für mich zu wissen, wie es enden wird! Wie es mit dir enden wird. Verstehst du?«

Wieder brach sich die Verzweiflung als ein lautes Schluchzen den Weg aus ihrer Seele.

»Bist du noch da?«

»Ja.«

»Was machst du jetzt?«

»Ich schaue, wie weit es schon fortgeschritten ist. Damit ich den zweiten Schritt nicht zu früh mache. Sie sollen gemeinsam sterben.«

»Ist sie schon …«

»Ja. Ich habe sie gerade in den Tank hineingelassen.«

Sie malte sich aus, was mit der Frau geschah. Würgend vor Entsetzen schrie sie auf. »Wie … wie kannst du nur so etwas tun?«

Das Atmen fiel ihm schwer – der Druck, der Schmerz in seiner Brust drohte übermächtig zu werden.

Er wusste die Antwort selbst nicht. Irgendwoher war er gekommen: dieser Wille, es so zu machen; aber es war richtig so, daran hatte er keinerlei Zweifel.

»Haben sie denn auch nur einmal auf das geschaut, was sie getan haben? Haben sie auch nur einmal wirklich hinterfragt, was die ihnen aufgetragen haben? Denen war es doch von Anfang an völlig egal, was mit uns geschieht!«

Er verstummte. Wieder musste er eine Pause machen – der Druck auf der Brust wurde stärker und die Atemnot zwang ihn dazu. Es ist wichtig, dass ich bis zum Schluss durchhalte. Niemand außer mir würde es noch tun können.

Wie wird es wohl sein, wenn es zu Ende geht?Wenn ich den neunten Kreis betrete.

Wieder musste er an sie denken und der Druck verschwand. Was hatten diese Bestien mit ihnen gemacht?

Was haben sie ihnen denn schon getan? Es sind doch noch Kinder!

Wie aus dichtem Nebel drang ihre Stimme zu ihm durch.

»Es … es ist nicht richtig, hörst du? Ich habe es euch immer gesagt, es ist nicht richtig! Was wir tun ist nicht besser als das, was sie getan haben!«

»Und die Kinder? Was ist mit euren Kindern? Meinst du, er würde … Meinst du … Nein, es ist mehr als gerecht! Er würde es auch so sehen. Ich kenne ihn!«

Ich kannte ihn, durchzuckte es ihn.

Brüllender, blutroter, weiß glühender Zorn überrollte alle anderen Gefühle.

»Sie werden um Gnade winseln! Um Erlösung! Aber warum sollte ich Gnade walten lassen? Warum? Waren sie denn gnädig? Mit dir? Mit uns? Mit den anderen? Nein! Nein, es ist richtig so: Sie werden leiden und ihre Qualen werden endlos sein. Ich werde sie leiden lassen. Sie sollen es am eigenen Leib spüren, was es heißt, in einer Hölle gefangen zu sein, aus der es kein Entfliehen gibt. So wie wir. Wie du. Wie …«

Fast schon besinnungslos vor Entsetzen legte sie auf.

Meine Kinder!, schrie es in ihr.

 

 

 

4

 

Zwei Wochen später

Der 1. Montag

 

Das Streifenhörnchen hat zweifelsohne recht gehabt, dachte er. Ich hätte es niemals geglaubt. Nie!

Als ihn sein neuer Assistent von zu Hause abgeholt hatte und Bartholomé von ihm wissen wollte, worum es ging, hatte Glauber den Kopf geschüttelt, er wisse es nicht – worauf Bartholomé etwas Undeutliches murmelte, dass sich wie Débutant anhörte.

»Bitte?«

»Rien – schauen Sie lieber auf die Straße!«

Glauber trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. Er war immer auf dem Sprung sich aufzuregen, wenn sein neuer, aus Belgien stammender Chef einen seiner Sprüche losließ. Zum einen, weil er sich nie ganz sicher war, was die französischen Ausdrücke bedeuteten; und auch, weil er sich insgeheim meistens angesprochen fühlte, weil er meinte, dass er von seinem Vorgesetzten nicht respektiert wurde.

Bof nannte ihn Bartholomé, wenn er glaubte, dass er es nicht mitbekam, Spießer, und einen Paragrafenreiter noch dazu. Das französische Wort dafür war ihm noch nicht wieder eingefallen: Seine Französischkenntnisse aus seiner Kindheit reichten dafür dann doch nicht aus. Glauber sprach dafür von ihm, wenn er nicht im Dienst war, vom Wagges. So nannte man im Rheinland die Belgier: einen Wackerstein.

»Ich weiß nur, dass zwei Tote gefunden wurden, unter äußerst seltsamen Umständen. Der Kollege vom Streifendienst sagt, dass wir uns das selbst ansehen müssten, sonst würden wir es nicht glauben.«

Bartholomé hatte unwillig gegrunzt und ihn fragend angesehen.

»Doch«, sagte Glauber und bog von der Stadtautobahn ab, »genau so hat er es gesagt: Komm her, du glaubst es sonst nicht.«

»Ein Bekannter?«

»Bin mit ihm Streife gefahren. Früher. Vor der Schule. Ist zuverlässig.«

Ja, das ist er tatsächlich, dachte Bartholomé, nachdem sie am Fundort eingetroffen waren. Wenn mir das jemand vorher geschildert hätte, würde ich ihn ausgelacht haben. Selbst dem Polizeipräsidenten personnellement hätte ich es nicht geglaubt! Ich hätte ihn gefragt, ob er nach einer ausufernden Feier noch nicht wieder nüchtern sei!

Fassungslos standen Hauptkommissar Bartholomé und Kommissaranwärter Glauber neben Dr.-Ing. Klaus Schultz, dem Leiter der Kriminaltechnik, in einem weitläufigen, von ein paar großen elektrischen Radiatoren sehr stark aufgeheizten Kellerraum vor etwas, das irgendwie an eine überdimensionierte Vogelvoliere erinnerte – aber definitiv etwas völlig anderes darstellte: ein offenbar tödliches Folterinstrument.

»Merde alors! Was zur Hölle ist das?« Bartholomé hielt sich einen Zeigefinger unter die Nase, um sich von dem Gestank abzulenken, während sich Glauber ein paar Tropfen Minzöl oberhalb der Oberlippe rieb.

Der Forensiker grinste, als er das sah. »Hilft nicht lange. Aber das werden Sie schon noch selbst herausfinden – oder, Lutz?«

Glauber stutzte. Wieso nannte er seinen Chef Lutz?

Bartholomé nickte. »Hallo, Klaus. Ja, lass ihn mal ruhig. Also, sag mal: Was ist denn das hier?«

»Das ist eine umgebaute Bodyflying-Anlage, mit der Fallschirmspringer sonst das Verhalten im freien Fall üben: Von unten erzeugt ein starker Rotor einen nach oben gerichteten Luftstrom, der so kräftig ist, dass du darauf fliegen kannst. Geile Sache das, hab ich auch schon mal probiert. Macht Laune. Aber den beiden hier hat es definitiv nicht gefallen.«

Auf dem Gitter, das den Boden des Käfigs bildete, lagen zwei nackte Leichen, eine Frau und ein Mann. Beide waren von Hämatomen übersät, hatten unzählige Kratz- und Schürfwunden am Körper. Es stank fürchterlich nach Urin, Kot, Erbrochenem und beginnender Verwesung. Nach oben war der Käfig mit einem weiteren Gitter verschlossen.

»Und was sind das für große Ventilatoren links und rechts? Gehören die auch zu so was?«

»Das sind Windmaschinen. Ich kenn so was aus Theater- oder Filmproduktionen. Die blasen einen um, wenn sie richtig auf Touren kommen. Orkanstärke. Aber zu so einer Anlage gehören sie eigentlich nicht.«

Bartholomé ging langsam um die Anlage herum. »Und wozu dienen die hier?«

Klaus Schultz zuckte mit den Schultern. »Ich könnte es euch ja zeigen, aber dann würden möglicherweise Spuren vernichtet, und besonders pietätvoll wäre es auch nicht gerade. Der Mann von den Stadtwerken könnte es dir erklären, was er gesehen hat – wenn er noch da wäre.«

»Von den Stadtwerken?«

»Ja, ein Techniker: Jemandem war aufgefallen, dass in dieser verlassenen Fabrik auf einmal ein starker Stromverbraucher aktiv sein musste, obwohl hier erst in ein paar Wochen ein Abbruchunternehmen anfangen würde. Hier soll ein neuer Think Tank entstehen, die alte Fabrik wird abgerissen. Aber er ist gleich mit dem Notarzt ins Klinikum. Er hatte eine Herzattacke, nachdem er das hier gefunden hat und gerade noch den Notruf absetzen konnte. Armer Kerl – der geht so schnell bestimmt nicht wieder in einen Keller! Also: Wenn die Körper auf dem Luftpolster schweben, schalten sich abwechselnd die Windmaschinen zu und blasen sie hin und her, gegeneinander und gegen die Gitterwände; und zwar ziemlich unsanft, könnte ich mir vorstellen. Und wenn der Bodenrotor schlagartig abschaltet, fallen sie aus etwa ein bis zwei Meter Höhe auf das harte Gitter, und aufeinander – ihr seht ja die ganzen blauen Flecken! Unser Elektroniker will es ausprobieren, wenn die Lei… also wenn die beiden abgeholt worden sind. Aber anhand der Schaltungen ist er sich sicher. Übrigens, wenn ihr genau hinschaut«, er zeigte auf die Gitter, »sind die so engmaschig, dass man sich nicht daran festhalten könnte, die Finger passen nicht dazwischen. Keine Möglichkeit, sich festzuhalten. Nie.«

Glauber war ziemlich blass, als er näher an das Gitter trat.

»Und die ganzen Kratzspuren sind …«

»Ja, sie haben wohl wieder und wieder versucht sich gegenseitig festzuhalten, könnte ich mir denken; und das hat eben nicht immer geklappt. Ihre schön lackierten Fingernägel stecken zum Teil in seiner Haut, zum Teil an den Gittern. Schau, hier.«

Bartholomé stand still vor der geöffnetem Gittertüre, die einen freien Blick auf die Toten zuließ. Das massive Schloss hatten sie aufflexen müssen, es war mit Sekundenkleber verschlossen gewesen.

Die Frau musste sehr schön gewesen sein, bevor sie hier hineingesteckt wurde. Sie wirkte wie jemand, die sehr auf ihr Äußeres geachtet hatte. Sicher war auch ihre Haut perfekt gepflegt gewesen – jetzt schien sie irgendwie wie altes Pergament: Sie war trocken und brüchig, sehr fahl und schuppig. Die Lippen waren rissig und aufgeplatzt, sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, die tief eingesunken waren. Ihr Nagellack war dunkelgrün und er meinte, einen Rest von dazu passender, verschmierter Wimperntusche in den verklebten Wimpern und auf ihren Jochbeinen zu erkennen. Und der Kerl sah auch nicht besser aus – von den zahlreichen Kratzwunden abgesehen, mit denen er übersät war und die sicher von ihren Nägeln stammten, als sie verzweifelt versuchte sich an ihm festhalten.

»Was ist mit ihrer Haut?«

»Dehydriert. Völlig. Sie sind hier wahrscheinlich schon etliche Tage eingesperrt gewesen. Ständiger Wind sorgt dafür, dass Haut so wird. Dann die Adrenalinausschüttungen durch den permanenten Stress, niemals zur Ruhe kommen zu können, nichts zu essen. Das alles zusammen hat sie umgebracht. Die Autopsie wird Genaueres finden, aber ich denke, dass ich richtig liege. Und sie sind sicher verdurstet, nachdem die Flaschen Wasser leer waren.«

Er grinste freudlos.

»Wer weiß, was sie hier durchgemacht haben: wenn sie tatsächlich immer und immer wieder Tag und Nacht herumgewirbelt wurden.«

Bartholomé bekam mit, wie die Augenlider seines Assistenten zu flattern begannen.

»Glauber, machen Sie, dass sie rauskommen und sich erst mal etwas erholen. Los, raus jetzt!Bevor Sie uns hier noch zusammenklappen! Allez!«

Glauber sah auf. Kurz sah es so aus, als wollte er widersprechen; dann drehte er sich blitzartig um und rannte aus dem Raum.

Klaus Schultz sah ihm nach. »Er gewöhnt sich noch dran, Lutz, ich seh das.«

»Ja, wird er. Ist ja auch nicht zu beneiden, der Bof: gerade frisch von der Schule, und dann so ein Dreck hier!« Er sah sich um. »Habt ihr noch was anderes für mich?«

Der Forensiker zeigte auf ein Markierungsschild neben einem Post-it-Zettel, der mitten im Raum auf dem Boden lag: Mit einem breiten, blutroten Filzmarker war ein großes L. darauf geschrieben, sonst nichts.

»Und? Hast du eine Idee? Was bedeutet ›L.‹?«

Schultz zuckte mit den Schultern.

 

5

 

Glauber hatte sich einen Becher Kräutertee gemacht und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Bartholomé war gerade von seiner Berichterstattung beim Polizeipräsidenten zurückgekehrt. Ihre Chefin war noch bis zum Wochenende auf einem Seminar für Führungskräfte in München. Bis zu ihrer Rückkehr führten Polizeipräsident Frank Heuer und ihr Assistent, Kriminalratanwärter Andreas Drickes, kommissarisch die Bonner Kriminalkommissariate. Sie sollten ihn über den Stand ihrer weiteren Ermittlungen informieren und sich beeilen.

»Die Stadtwerke Bonn können nichts anderes sagen als das, was wir schon wissen: Der plötzliche Anstieg des Stromverbrauchs war registriert worden und es wurde jemand geschickt, nach der Ursache zu sehen, das war alles«, sagte Glauber und sah vom Monitor auf.

Bartholomé schob sich ein Stück Schokolade in den Mund.

»Niemand ist etwas aufgefallen? Also von den Anwohnern? Irgendwelchen Halbgaren, die sich herumgetrieben haben oder so? Keiner hat was gehört?«

Glauber schüttelte den Kopf.

---ENDE DER LESEPROBE---